stileto zu wetzen, aber ein anderer bravo könnte mir ja seinen

Degen antragen.«

 

»Ein bravo.« Ich dachte nach. »Jawohl, eine solche Tat würde

 

mich zu einem richtigen bravo machen, nicht wahr?«

Woraufhin sie sich girrend vernehmen ließ: »Und ich würde viel

lieber einen schneidigen bravo lieben als jemand, der sich an

die Ehefrauen anderer Männer heranmacht.«

 

»Im Schrank daheim steht ein Degen«, murmelte ich. »Der muß

meinem Vater oder einem seiner Brüder gehört haben. Er ist

alt, aber gut gepflegt und scharf.«

 

»Ihr werdet nie beschuldigt werden oder auch nur in Verdacht

geraten. Mein Gatte muß viele Feinde haben -welcher

bedeutende Mann hätte das nicht? Und zwar Feinde seines

Alters und auch seines Standes. Kein Mensch würde auf den

Gedanken kommen, einen solchen Grünschn... ich meine einen

so jungen Mann zu v-verdächtigen, der kein erkennbares Motiv

 

hat, ihm nach dem Leben zu trachten. Ihr braucht Euch nur im Schutz der Dunkelheit an ihn heranzumachen, wenn er allein ist, und dafür zu sorgen, dass er auf der Stelle hinüber ist und nicht noch so lange am Leben bleibt, eine Beschreibung von Euch abgeben zu können...«

»Nein«, fiel ich ihr ins Wort. »Es wäre besser, ich könnte ihn bei einer Versammlung von seinesgleichen finden, an der auch seine wirklichen Feinde teilnehmen. Könnte ich es unter solchen Umständen unbemerkt tun... Aber nein.« Plötzlich ging mir auf, dass das, womit ich in Gedanken spielte, Mord war, und so schloß ich lahm: »Das wäre wohl unmöglich.«

»Nicht f-für einen richtigen bravo«, erklärte Ilaria sanft wie ein Täubchen. »Nicht für jemand, dem hinterher so reicher Lohn winkt.«

Sie rückte mir wieder näher und fuhr fort, sich zu bewegen und mich mit dem Versprechen dieser Belohnung zu quälen. Das aber weckte mehrere widerstreitende Gefühle in mir; mein Körper jedoch richtete sich nur nach einem und hob seinen Taktstock, um den Einsatz für einen Fanfarenstoß zu geben.

»Nein«, sagte Ilaria, wehrte mich ab und wurde sehr sachlich. »Ein Musiklehrer kann die erste Lektion ohne Honorar geben, bloß um zu zeigen, was man alles lernen kann. Wenn Ihr jedoch weiteren Unterricht wollt, und das auch noch für Fortgeschrittene, d ann müßt Ihr ihn Euch verdienen.«

Es war sehr klug von ihr, mich fortzuschicken, solange mein Appetit nicht ganz gestillt war. So, wie die Dinge standen, verließ ich das Haus -wieder durch den Dienstboteneingang -, bebend und gierend, so, als hätte ich überhaupt keine Befriedigung gefunden. Geführt und dirigiert wurde ich gleichsam durch meinen Taktstock, und der kannte kein anderes Ziel, als mich zu Ilarias Nest zurückzuführen, gleichgültig, was mich das kostete. Es gab auch noch andere Ereignisse, die sich offenbar verschworen hatten, eben dieses Ziel zu erreichen. Als ich um den Häuserblock herumkam, stellte ich fest, dass es auf der Piazza San Marco von aufgeregt durcheinanderredenden Menschen wimmelte; und ein

uniformierter Ausrufer verkündete die große Neuigkeit. Den Dogen Ranieri Zeno hatte an diesem Tage in seinen Palastgemächern der Schlag getroffen. Der Doge war tot. Der Rat sollte zusammentreten, um seinen Nachfolger zu wählen. Ganz Venedig sollte drei Tage lang Trauer tragen, danach der Doge Zeno bestattet werden.

Nun, dachte ich beim Gehen, wenn ein großer Doge sterben kann, warum dann nicht ein weniger hochgestellter Edelmann? Und dann ging mir auf, dass die Bestattungsfeierlichkeiten gewiß mehr als eine Versammlung von weniger hochgestellten Adligen nach sich zog. Unter ihnen würde sich bestimmt der Gatte meiner Herzensdame befinden, und - wie sie angedeutet hatte - zweifellos auch etliche von seinen Neidern und Feinden.

In den nächsten drei Tagen lag der Doge Zeno feierlich in seinem Palast aufgebahrt. Respektvoll erwiesen ihm tagsüber die Bürger die letzte Ehre, und bei Nacht hielt die berufsmäßige Totenwache Wache an der Bahre. Ich verbrachte den größten Teil dieser Zeit in meinem Zimmer und übte mit dem alten, aber immer noch hiebfesten Degen, bis ich eine große Fertigkeit gewann, hochmögende Ehegatten niederzuschlagen und zu erstechen. Am meisten Schwierigkeiten bereitete es mir, den Degen überhaupt zu tragen, denn er war fast so lang wie meine Beine. Auch konnte ich ihn nicht einfach mit blanker Klinge in den Gürtel oder sonstwohin stecken; schließlich hätte ich mir den eigenen Fuß durchstechen können. Um die Waffe überhaupt herumzutragen, mußte ich sie in eine Scheide hineinstecken, die sie womöglich noch ungefüger machte. Außerdem war ich, um sie zu verbergen, gezwungen, meinen alles umhüllenden Umhang umzunehmen, der es mir wiederum unmöglich machte, rasch zu ziehen und blitzschnelle Ausfälle zu machen.

Inzwischen schmiedete ich listige Pläne. Am zweiten Tag der Totenwache schrieb ich eine Nachricht und bemühte mich, die Buchstaben in meiner Schuljungenhandschrift besonders sorgfältig zu schreiben: »Wird er sowohl bei der Bestattung als auch bei der Amtseinführung zugegen sein?« Dann betrachtete ich das Geschriebene kritisch und unterstrich das er, damit auch ja kein Zweifel herrsche, wer gemeint sei. Sodann unterschrieb ich, so dass auch nicht der geringste Zweifel aufkommen könne, von wem dies Billett stammte. Auch vertraute ich die Botschaft keinem Dienstboten an, sondern trug sie selbs t zur casa muta und wartete wiederum unendlich lange, bis ich ihn in dunkle Trauerkleidung gehüllt das Haus verlassen sah. Daraufhin lief ich ums Haus herum zum Dienstboteneingang, übergab das Billett an die alte Hexe von Türhüterin und sagte ihr, ich würde auf die Antwort warten.

Nach einer Weile kehrte sie zurück, brachte jedoch keine Antwort, sondern winkte mir mit ihrem gichtigen Finger. Wieder folgte ich ihr bis in Ilarias Gemächer und sah dort meine Dame das Geschriebene studieren. Irgendwie schien sie erregt und versäumte es, mich in irgendeiner Weise liebevoll zu begrüßen, sondern sagte nur: »Selbstverständlich kann ich lesen, aber aus Eurer erbärmlichen Handschrift werde ich nicht schlau. Lest es mir vor.«

Ich tat, wie mir geheißen, und sie sagte, jawohl, wie jedes andere Mitglied des Großen Venezianischen Rates werde ihr Gatte sowohl an den Bestattungsfeierlichkeiten für den verstorbenen Dogen als auch an der Inthronisation des neuen teilnehmen, sobald dieser gewählt worden sei. »Warum fragt Ihr?«

»Das gibt mir zwei Möglichkeiten«, erklärte ich. »Ich werde versuchen, Euch meine Ergebenheit am Tag der Bestattung zu beweisen. Sollte sich das als unmöglich erweisen, werde ich zumindest eine bessere Vorstellung haben, wie ich bei der nächsten Versammlung der Edelleute vorzugehen habe.«

Sie nahm mir das Billett ab und sah mich an. »Ich sehe meinen Namen nicht auf dem Papier.«

»Selbstverständlich nicht«, sagte ich, der erfahrene

Verschwörer. »Ich würde doch nie eine lustrisima

kompromittieren.«

 

»Und steht Euer Name darauf?«

 

»Jawohl.« Voller Stolz zeigte ich darauf. »Hier. Das ist mein

Name, meine Dame.«

»Ich habe gelernt, dass es nicht immer klug ist, Dinge dem

 

Papier zu überantworten.« Sie faltete den Bogen zusammen

und steckte ihn sich ins Mieder. »Ich werde dies sicher

verwahren.« Schon wollte ich ihr sagen, sie solle den Zettel

doch zerreißen, doch fuhr sie -weiterhin ungehalten -fort und

sagte: »Ich hoffe, Ihr seid Euch darüber im klaren, wie töricht es

von Euch war, ungerufen hierherzukommen.«

 

»Ich habe so lange gewartet, bis er das Haus verließ.«

»Aber wenn sonst jemand -einer von den Verwandten oder

Freunden -dagewesen wäre? Jetzt hört mir mal gut zu Ihr

 

werdet nicht wieder hierherkommen, es sei denn, ich ließe

Euch rufen.«

Ich lächelte. »Bis wir frei sind...«

»Bis ich Euch rufen lasse. Und jetzt geht, und zwar rasch. Ich

 

erwarte -ich meine, er kann jeden Augenblick wieder hier

 

sein.«

So ging ich heim und übte weiter. Als am nächsten Abend die

pompe funebri begannen, war ich unter den Gaffern zu fi nden.

In Venedig wird selbst der Beerdigung auch des einfachsten

Bürgersmanns dadurch Würde verliehen, dass die Familie sich

soviel Prunk wie nur irgend möglich leistet; kein Wunder daher,

dass die Bestattung eines Dogen überaus glanzvoll verlief. Der

Tote lag nicht in einem Sarg, sondern -angetan mit seinen

schönsten Staatsgewändern -auf einer offenen Bahre; seine

steifen Hände umklammerten den Amtsstab; das Gesicht

hatten die Zeremonienmeister gleichsam mit dem Ausdruck

höchster Frömmigkeit erstarren lassen. Seine Witwe, die

Dogaressa, wich nicht von seiner Seite und war dermaßen dicht

verschleiert, dass nur ihre weiße Hand, die sie auf die Schulter

ihres verstorbenen Gatten gelegt hatte, zu sehen war.

 

Zunächst wurde die Bahre auf das Dach des großen herzoglichen buzino d'oro niedergelegt, an dessen Bugspriet das goldviolette Banner des Dogen auf halbmast wehte. Die Barke wurde feierlich gemessen -so dass die vierzig Ruder sich kaum zu bewegen schienen -die Hauptkanäle der Stadt entlanggerudert. Um sie herum und vor allem hinter ihr drängten sich schwarze Trauergondeln, mit Trauerflor ausgeschmückte bafeli und burchielli mit den Ratsmitgliedern, der Signoria und der Qua-rantia sowie der vornehmsten Priester und den Angehörigen der Zünfte an Bord, wobei das gesamte Gefolge abwechselnd sang und betete. Nachdem der Tote genügend auf den Wasserwegen auf und ab gefahren worden war, wurde seine Bahre von der Barke herunter auf die Schultern von acht seiner Edelleute gehoben. Da der corteggio sich durch alle Hauptstraßen der Stadt zu winden hatte und da so viele von den Bahrenträgern betagte Herren waren, wechselten sie sich oft mit anderen Männern ab. Auch hier folgten der Bahre die Dogaressa und alle anderen Trauernden vom Herzogshof, jetzt jedoch zu Fuß. Die Musikanten spielten klagend-gemessene Weisen, und Abordnungen von den Brüderschaften der Flagellanten taten schlaff, als geißelten sie sich; zum Schluß kamen alle anderen Venezianer, die nicht gerade verkrüppelt oder zu jung waren.

Während der Wasserprozession konnte ich nichts anderes tun, als zusammen mit den anderen Bürgern vom Ufer aus zuzusehen. Als sie an Land fortgesetzt wurde, fand ich, dass das Glück mir in meinem Plan zu Hilfe kam. Denn jetzt wälzte sich von See her auch der abendliche caligo heran, und eingehüllt vom Nebel wurden die Trauerfeierlichkeiten womöglich noch schwermütiger, klangen die Musik gedämpfter und die Gesänge womöglich noch unheimlicher.

Fackeln wurden entlang des Trauerweges angezündet, und die meisten der Mitziehenden zogen Kerzen hervor und steckten sie an. Eine Weile marschierte ich unter der gewöhnlichen Herde einher -oder humpelte vielmehr, da der Degen an meinem linken Bein mich zwang, dieses steif zu schwingen und schob mich allmählich bis in die vorderste Reihe der

Menge vor. Dort erkannte ich, dass nahezu alle offiziellen Trauergäste bis auf die Priester Umhang und Kapuze trugen. Damit war gewährleistet, dass ich nicht auffiel; im Nebel konnte man mich durchaus für einen der Künstler oder Handwerker halten. Nicht einmal meine geringe Größe fiel auf; denn zur Prozession gehörten zahlreiche verschleierte Frauen, die auch nicht größer waren als ich, sowie ein paar kapuzenbewehrte Zwerge und Bucklige, die sogar noch kleiner waren als ich. Infolgedessen gelang es mir, mich unmerklich und unbehindert unter die Trauernden vom Hofstaat des Dogen und sogar noch weiter vorzuschieben, bis ich von Bahre und Bahrenträgern nur mehr durch das Glied der Priester getrennt war, die ihr rituelles

pimpirimpara herunterleierten, ihre Weihrauchgefäße

schwenkten und den Nebel durch den Weihrauch noch

verdichteten.

 

Ich war nicht der einzige unverdächtige Mitmarschierer. Da alle anderen gleichfalls in wallende Gewänder und in dichten Nebel eingehüllt waren, fiel es mir schwer, mein Opfer zu erkennen. Doch der Marsch durch die Straßen dauerte lange genug, dass ich Gelegenheit hatte, mich vorsichtig von einer Seite zur anderen zu schieben und dabei eines jeden Mannes unter der Kapuze hervorschauendes Profil genau ins Auge zu fassen; auf diese Weise entdeckte ich schließlich Ilarias Gatten und ließ ihn fortan keinen Moment mehr aus dem Auge.

Die günstige Gelegenheit für mich ergab sich, als der corteggio aus einer engen Gasse auf die gepflasterte Uferböschung des Nordufers hinauskam - als er auf die Tote Lagune zustieß, nicht weit von der Stelle entfernt, wo der Treidelkahn der Kinder vertäut war, wiewohl dieser im Nebel und der sich immer mehr verdichtenden Dunkelheit unsichtbar blieb. Am Ufer hatte die Barke des Dogen festgemacht, denn diese hatte die Stadt umrundet, um vor uns dort zu sein und auf ihn zu warten und von dort aus die letzte Fahrt mit ihm anzutreten -zur Toteninsel, die so weit vom Ufer aus gleichfalls unsichtbar war. Die Trauernden wurlten durcheinander, als alle, die der Bahre zunächst gingen, den Trägern halfen, sie an Bord der Barke zu heben, und das gab mir die Gelegenheit, mich unter sie zu mischen. Ich drängelte mich vor, bis ich unmittelbar neben meinem Opfer stand, und bei dem ganzen Geschiebe und Gedränge merkte niemand etwas von der Mühe, die ich damit hatte, meinen Degen aus der Scheide zu ziehen. Glücklicherweise gelang es Ilarias Gatten nicht, seine Schulter unter die Bahre zu schieben -sonst hätte ich nicht nur ihn erstochen, sondern auch noch dafür gesorgt, dass der Doge in die Tote Lagune gefallen wäre.

Was freilich zu Boden fiel, war die schwere Scheide; irgendwie war sie beim Blankziehen aus dem Gehänge an meinem Gürtel herausgerutscht. Klirrend fiel sie auf das Kopfsteinpflaster und verriet auch weiterhin geräuschvoll ihr Vorhandensein, da viele sich bewegende Füße auf ihr herumtrampelten und sie umherstießen. Das Herz klopfte mir bis zum Hals hinauf und wäre mir ums Haar aus dem Mund gesprungen, als ausgerechnet Ilarias Gatte sich bückte und die Scheide aufhob. Aber er stieß keinen Schrei aus, sondern reichte sie mir mit den überaus freundlichen Worten zurück: »Hier, junger Mann, das habt Ihr fallen lassen.« Ich stand immer noch unmittelbar neben ihm, und beide wurden wir immer noch von der Menge um uns herum geschoben und gestoßen; ich hatte den Degen unter dem Umhang in der Hand, und dies wäre genau der richtige Augenblick gewesen zuzustoßen -doch wie sollte ich? Er hatte mich vor dem unmittelbaren Entdecktwerden gerettet; konnte ich ihn als Dank dafür niederstechen?

Doch dann ließ sich leise zischend eine andere Stimme neben mir vernehmen: »Du dummer asenazzol«, jemand anders stieß einen röchelnden Laut aus, und etwas Metallisches blinkte im Licht der Fackeln aus. All das vollzog sich am Rande meines Gesichtsfeldes, und so blieben meine Eindrücke bruchstückhaft und verworren. Allerdings schien es derjenige von den Priestern zu sein, der ein goldenes Weihrauchgefäß geschwenkt und dann unversehens statt dessen etwas Silbriges geschwungen hatte. Sodann sank langsam Ilarias Gatte in mein Blickfeld, machte den Mund auf und würgte etwas hervor, das bei diesem Licht schwarz aussah. Ich hatte ihm nichts getan, wohl aber war ihm etwas geschehen. Er wankte

und fiel gegen die anderen Männer in der gedrängt stehenden

 

Gruppe, und er und zwei andere fielen zu Boden.

Dann legte sich mir eine harte Hand auf die Schulter, von der

ich mich freilich losriß; der Schwung dieser Bewegung trug mich

heraus aus dem Mittelpunkt des Tumultes. Während ich mich

durch die Reihen der Außenstehenden drängte und ein paar

von ihnen dabei anrempelte, dass sie mir Platz machten, ließ

ich meine Degenscheide ein zweites Mal fallen, blieb jedoch

keinen Moment stehen. Ich war von Panik ergriffen und konnte

an nichts anderes denken als daran, die Beine in die Hand zu

nehmen. Hinter mir hörte ich erstaunte und empörte Rufe, doch

hatte ich mich mittlerweile ein ganzes Stück von den vielen

Fackeln und Kerzen entfernt und war eingehüllt von Nebel und

Dunkel.

 

Ich lief weiter die Uferböschung entlang, bis ich zwei neue

Gestalten vor mir im nebligen Dunkel auftauchen sah. Ich hätte

ausweichen können, doch erkannte ich, dass es sich um die

Gestalten von Kindern handelte, die sich nach wenigen

Augenblicken als Ubaldo und Doris Tagia-bue entpuppten. Mir

fiel ein Stein von der Seele, endlich jemand vor mir zu haben,

den ich kannte -und noch nicht erwachsen war. Ich versuchte,

ein frohes Gesicht aufzusetzen, zog dabei jedoch vermutlich

eine Grimasse; trotzdem begrüßte ich sie äußerst fröhlich:

 

»Doris, du bist immer noch sauber geschrubbt.«

 

»Was man von dir nicht behaupten kann«, sagte sie und zeigte

auf mich.

Ich sah an mir herunter. Die Vorderseite meines Umhangs war

 

vollgesogen mit mehr als caligo-Nebel. Sie war mit

 

leuchtendrotem Blut bespritzt.

»Und im Gesicht bist du bleich wie ein Grabstein«, sagte

Ubaldo. »Was ist geschehen, Marco?«

 

»Ich bin... ums Haar wäre ich zu einem bravo geworden«, sagte

ich, und fast hätte mir die Stimme versagt. Sie starrten mich an,

und ich erklärte es. Es tat gut, es jemand zu erzählen, der mit

der ganzen Sache nichts zu tun hatte. »Meine Dame hat mich

ausgeschickt, einen Mann zu erschlagen. Aber ich meine, er ist

 

gestorben, ehe ich es habe tun können. Ein anderer Feind muß

mir zuvorgekommen sein -oder aber einen bravo in Dienst

genommen haben.«

 

»Du glaubst, er ist tot?« rief Ubaldo aus.

»Es geschah ja alles auf einmal. Ich mußte fliehen.

Wahrscheinlich werde ich nicht erfahren, was wirklich

 

geschehen ist, bis die Ausrufer von der Nachtwache es

verkünden.«

»Und wo war das?«

»Dahinten, wo der tote Doge gerade auf seine Barke gehoben

 

wird. Oder vielleicht ist es noch nicht geschehen. Es ist ja ein

 

Riesendurcheinander.«

»Ich könnte hinlaufen und nachsehen. Ich kann es dir schneller

sagen als ein Ausrufer.«

 

»Ja«, sagte ich. »Aber sieh dich vor, Boldo. Sie werden jeden

 

Fremden verdächtigen.«

Er lief in die Richtung, aus der ich gekommen war, und Doris

und ich nahmen auf einem Poller am Wasser Platz. Ernst

blickte sie mich an,

 

und dann sagte sie: »Der Mann war der Gatte der Dame.« Zwar

hatte sie es nicht als Frage formuliert, doch ich nickte stumm.

»Und du hoffst, seinen Platz einzunehmen.«

 

»Das habe ich bereits«, erklärte ich so prahlerisch, wie ich es in

diesem Augenblick fertigbrachte. Doris schien

zusammenzufahren, und so fügte ich wahrheitsgemäß hinzu:

»Einmal jedenfalls.«

 

Dieser Nachmittag schien jetzt in weiter Ferne zu liegen, und im

Moment verspürte ich nicht das geringste Verlangen, ihn zu

wiederholen. Sonderbar, dachte ich bei mir, wie Angst die Glut

eines Mannes ersticken kann. Denn selbst wenn ich jetzt in

Ilarias Gemach wäre, und sie wäre nackt und lächelte

einladend, ich könnte einfach nicht...

 

»Kann sein, dass du in Teufels Küche kommst«, ließ Doris sich

vernehmen, woraufhin bei mir auch noch der Rest der Glut

erlosch.

 

»Das glaube ich nicht«, sagte ich, mehr in dem Bemühen, mich

selbst zu überzeugen als das Mädchen. »Ich habe weiter nichts

Schlimmes getan, als zu sein, wo ich nicht hingehörte.

Außerdem bin ich entschlüpft, ohne erwischt oder erkannt

worden zu sein. Nicht einmal das weiß man also. Bis auf dich,

jetzt.«

 

»Und was geschieht als nächstes?«

»Wenn der Mann tot ist, wird meine Dame mich bald zu sich

rufen, um mich dankbar in die Arme zu schließen. Nun werde

ich einigermaßen beschämt zu diesem Treffen gehen, denn

schließlich hatte ich gehofft, ihr als kühner bravo

gegenüberzutreten, als derjenige, der ihren Unterdrücker

erschlagen hat.« Mir kam ein Gedanke. »Aber jetzt kann ich

 

jedenfalls reinen Gewissens zu ihr gehen.« Der Gedanke

heiterte mich ein wenig auf.

»Und wenn er nicht tot is t?«

Das bißchen Freude verflüchtigte sich. An diese Möglichkeit

 

hatte ich noch nicht einmal gedacht. Ich schwieg, saß einfach

da und versuchte, mir darüber klarzuwerden, was ich dann tun oder zu tun gezwungen sein könnte.

 

»Vielleicht«, wagte Doris daraufhin sehr leise zu sagen,

»könntest du dann mich an ihrer Stelle zu deiner smanza

nehmen.«

 

Ich knirschte mit den Zähnen. »Warum kommst du mir immer

wieder mit diesem lächerlichen Vorschlag? Vor allem jetzt, wo

ich so viele andere Probleme am Hals habe?«

 

»Wärest du einverstanden gewesen, als ich es dir zum ersten

 

Mal antrug, hättest du jetzt nicht so viele Probleme.«

Das war entweder weibliche oder jugendliche Unlogik und

spürbar absurd. Gleichwohl enthielt dieser Satz genug

Wahrheit, um mich grausam antworten zu lassen. »Die Dona

Ilaria ist schön; du bist das nicht. Sie ist eine Frau; du bist ein

Kind. Sie verdient das Dona vor ihrem Namen, und auch ich

gehöre zu den Ene Aca. Nie hätte ich eine Frau zur Dame

meines Herzens machen können, die nicht hochwohlgeboren

ist, und...«

 

»Edel gehandelt hat sie aber nicht; und du auch nicht.«

Ich jedoch ließ mich nicht beirren. »Sie ist immer sauber und

wohlduftend; du jedoch hast gerade erst entdeckt, dass man

sich überhaupt waschen kann. Sie versteht sich himmlisch

 

darauf, einen Mann zu lieben; du jedoch wirst nie mehr können

als das Schwein Malgarita...«

»Wenn deine Dame sich so gut auf das öftere versteht, wirst du

 

es ja wohl von ihr gelernt haben und könntest wiederum du

 

mich lehren...«

»Da hast du es! Eine Dame würde nie ein Wort wie öftere in

den Mund nehmen! Ilaria nennt das musicare.«

 

»Dann bringe mir bei, wie eine Dame zu reden. Und lehre mich,

 

wie eine Dame zu musicare.«

»Das ganze ist unerträglich! Wo ich doch über soviel anderes

nachzudenken habe -warum sitze ich da hier und streite mit

einem Schwachkopf wie dir?« Ich stand auf und erklärte streng:

»Doris, du giltst doch als anständiges Mädchen. Warum

erbietest du dich immer wieder, es nicht zu sein?«

 

»Weil...« Sie senkte den Kopf, so dass ihr helles Haar wie ein

Wasserfall nach vorn fiel und ihren Gesichtsausdruck verbarg.

»Weil das alles ist, was ich zu bieten habe.«

 

»Ola, Marco!« rief Ubaldo, der immer klarere Gestalt annahm,

als er aus dem Nebel herauskam und schließlich schwer

atmend vor uns stand.

 

»Was hast du herausgefunden?«

 

»Eines laß mich dir gleich sagen! Sei froh, dass du nicht der

bravo bist, auf dessen Kappe dies geht.«

»Auf dessen Kappe was genau geht?« fragte ich plötzlich voller

 

Angst.

»Den Mann umgebracht zu haben. Den, von dem du

 

gesprochen hast. Ja, er ist tot. Sie haben den Degen, mit dem

er erstochen worden ist.«

»Den haben sie nicht!« verwahrte ich mich. »Der Degen, den

 

sie haben, das muß meiner sein, und daran ist kein Blut.«

 

Ubaldo zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls haben sie die

Waffe gefunden, und so werden sie zweifellos auch einen

sassin finden. Sie werden jemand finden müssen, dem sie die

Schuld in die Schuhe schieben können -an der Ermordung

dieses Mannes.«

 

»Das war nur Ilarias Gatte.«

»Aber der nächste Doge.«

»Was?«

»Eben der. Wäre dies nicht gekommen, hätten die Ausrufer

 

morgen verkündet, dass er der neue Doge von Venedig sei.

Sacro! Jedenfalls habe ich das gehört, und zwar nicht einmal,

sondern mehrere Male. Der Rat hatte ihn erwählt, Seiner

Serenita Zeno nachzufolgen. Sie haben nur das Ende der

pompe funebri abgewartet, um es verkünden zu lassen.«

 

»Oh, Dio mio« Ich hätte es gesagt, doch Doris sagte es an

 

meiner Stelle.

»Jetzt muß die Wahl noch einmal wiederholt werden. Aber

nicht, ehe sie nicht den bravo gefunden haben, der es getan

hat. Hier handelt es sich nicht um eine einfache Hinterhof-

Messerstecherei, bei der einer erdolcht wurde. Nach dem, was

ich gehört habe, hat es so was in der Geschichte der Republik

noch nie gegeben.«

 

»Dio mio!« hauchte Doris abermals, um mich dann zu fragen:

 

»Und was willst du jetzt tun?«

Nach einigem Nachdenken -sofern man das, was ich in dem

aufgewühlten Gemütszustand tat, Nachdenken nennen kann -,

sagte ich: »Vielleicht gehe ich jetzt besser nicht nach Hause.

Kann ich in einer Ecke eures Kahns schlafen?«

 

So also verbrachte ich die Nacht: auf einer Schütte aus

stinkenden Lumpen, ohne ein Auge zuzumachen; vielmehr

starrte ich an die Decke, funkelte diese an und war dabei

hellwach. Als Doris irgendwann in den frühen Morgenstunden

 

hörte, dass ich mich unruhig von einer Seite auf die andere wälzte, kam sie herbeigekrochen und fragte mich, ob sie mich in den Arm nehmen und einfach halten solle. Ich jedoch fauchte sie nur an, woraufhin sie sich wieder zurückschlich. Sie und Ubaldo und all die anderen Hafenrangen schliefen noch, als die Dämmerung heraufkroch und die Sonne anfing, ihre Finger durch die vielen Risse in dem alten Kahn zu stecken. Da stand ich auf, ließ meinen blutverschmierten Umhang zurück und schlüpfte hinaus in den Morgen.

Die ganze Stadt war rosig und bernsteinfarben überhaucht, und jeder Stein funkelte vom Tau, den der caligo zurückgelassen hatte. Mir hingegen war alles andere als strahlend zumute, und mir war, als wäre ich nicht nur äußerlich von einem schmutzigen Braun, sondern auch in meinem Mund. Ziellos wanderte ich durch die erwachenden Straßen, wobei die Tatsache, dass ich immer wieder in irgendwelche Gassen abbog, dadurch bestimmt wurde, dass ich vor irgendwelchen Menschen zurückscheute, die zu so früher Stunde bereits auf den Beinen waren. Nach und nach jedoch füllten sich die Straßen, und es waren der Menschen zu viele, um einem jeden aus dem Weg zu gehen, und ich hörte die Glocken die terza läuten, womit der Arbeitstag begann. Infolgedessen ließ ich mich in Richtung Lagune zur Riva Ca' de Dio treiben und betrat das Lagerhaus der Compagnia Polo. Wahrscheinlich hatte ich irgendwie dumpf den Wunsch, den Schreiber Isidoro Priulu zu fragen, ob er mich rasch und unauffällig als Schiffsjungen auf einem bald auslaufenden Schiff unterbringen könne.

Ich schlurfte so niedergeschlagen in sein kleines Kontor hinein, dass es eine Weile dauerte, ehe mir klar wurde, dass der Raum im Gegensatz zu sonst gesteckt voll war und Maistro Doro zu einer Schar von Besuchern gerade sagte: »Ich kann Euch nur sagen, dass er schon seit über zwanzig Jahren keinen Fuß mehr nach Venedig hinein gesetzt hat. Ich wiederhole: Messer Marco Polo hat seit vielen Jahren in Konstantinopel gelebt und lebt noch immer dort. Wen Ihr mir nicht glauben wollt hier kommt sein Neffe, der übrigens denselben Namen trägt, und der bestätigen kann...«

Ich fuhr stehenden Fußes herum, um wieder ins Freie zu gelangen; denn inzwischen war mir klargeworden, dass es sich bei der Menge um nicht mehr denn zwei Menschen handelte, freilich um zwei außerordentlich vierschrötige uniformierte gastaldi von der Quarantia. Ehe ich entkommen konnte, knurrte einer von ihnen: »Denselben Namen, eh? Und sieh dir an, was für ein schuldbewußtes Gesicht er macht!« Woraufhin der andere die Hand vorschnellen ließ und meinen Oberarm umklammerte.

Nun, ich wurde abgeführt, und dem Schreiber und den Lagerarbeitern fielen fast die Augen aus dem Kopf. Wir hatten nicht weit zu gehen; trotzdem kam mir der Weg länger vor als jede Reise, die ich bisher unternommen hatte. Schwächlich wehrte ich mich gegen den eisernen Griff der gastaldi und flehte mehr wie ein halbwüchsiger Junge denn ein bravo mit Tränen in den Augen zu erfahren, wessen man mich beschuldigte, doch die unerschütterlichen Büttel würdigten mich keines Wortes. Während wir die Riva entlang an dichtgedrängten Menschen vorüberkamen, denen gleichfalls die Augen aus dem Kopf fielen, jagten die Fragen sich in meinem Kopf: War eine Belohnung ausgesetzt worden? Wer war es, der mich verriet? Ob Doris oder Ubaldo geplaudert hatten? Wir gingen über die Strohbrücke hinüber, gingen aber nicht ganz bis zu jenem Eingang, der von der Piazzetta in den Dogenpalast hineinführte. Am Weizentor bogen wir in die Torresella ein, die neben dem Palast steht und die letzte Erinnerung daran war, dass in grauen Vorzeiten hier eine befestigte Burg gestanden hatte. Diese Torresella war jetzt das offizielle Staatsgefängnis von Venedig, doch nennen die Insassen den Turm ganz anders. Das Gefängnis wird so genannt, wie unsere Vorfahren die Flammengrube nannten, ehe das Christentum sie lehrte, diese Hölle zu nennen. Das Gefängnis heißt vukano.

Mitten aus dem strahlend rosa-und bernsteinfarbenen Morgen wurde ich herausgerissen und in eine orba geworfen, was sich vielleicht nicht sonderlich schlimm anhört, es sei denn, es bedeutet »geblendet«. Eine orba ist eine Zelle, gerade groß genug, dass ein einzelner Mensch Platz darin hat, ein Steingeviert ohne Bank noch Stuhl und ohne auch nur die kleinste Öffnung, die Licht oder Luft hereingelassen hätte. Da stand ich in absoluter Finsternis auf so engem Raum, dass man das Gefühl hatte, ersticken zu müsseen; und es stank pestilenzialisch. Der Boden war fausthoch bedeckt mit einem klebrigen Brei, und meine Füße gaben schmatzende Laute von sich, sobald ich sie bewegte. Infolgedessen unternahm ich nicht einmal den Versuch, mich niederzusetzen. Die Mauern waren mit einem schwammigen Schleim bedeckt, der sich bei Berührung zusammenzuziehen schien. Folglich lehnte ich mich nicht einmal dagegen; und als ich des Stehens müde wurde, ging ich nur in die Hocke. Schmerz durchzuckte mich, als mir nach und nach aufging, wo ich war und was aus mir geworden war. Ich, Marco Polo, Sohn des Ene-Aca-Hauses Polo, ich, der ich einen Namen trug, der ins Libro d'Oro eingetragen war - bis vor kurzem ein freier Mann, ein sorgloser Jüngling, dem es freistand, durch die ganze Welt zu streifen, wenn ihm der Sinn danach gestanden hätte -, ich steckte im Kerker, entehrt, verachtet und in ein Loch gesperrt, das nicht einmal eine Ratte aus freien Stücken bewohnt hätte. Ach, wie ich weinte.

Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser blinden Zelle saß. Mindestens jedoch den Rest dieses Tages, wenn es auch zwei oder drei Tage gewesen sein können, denn wiewohl ich mir größte Mühe gab, meine vor Angst rumorenden Eingeweide unter Kontrolle zu behalten, ich erhöhte mehrere Male den Brei auf dem Boden. Als schließlich eine Wache kam, mich hinauszulassen, nahm ich an, dass man mich als unschuldig freiließ, und so frohlockte ich innerlich. Selbst wenn man mich für schuldig befunden hätte, den designierten Dogen erdolcht zu haben, ich war überzeugt, genug dafür gebüßt zu haben, so groß war meine Zerknirschung, und so sehr hatte ich geschworen, alles zu bedauern. Freilich, mein Frohlocken wurde erstickt, als die Wache mir sagte, ich hätte erst die erste und vermutlich geringste der Bestrafungen hinter mir -dass die orba nur ein Ort des vorübergehenden Gewahrsams sei, in der ein Gefangener bis zu einer ersten Befragung festgehalten

wird. So wurde ich denn vor ein Tribunal gebracht, das Signori della Notte, ›Herren der Nacht‹, genannt wird. Irgendwo in einem der höher gelegenen Räume des vulcano mußte ich vor einem langen Tisch Aufstellung nehmen, hinter dem acht ernst dreinblickende ältere Männer in schwarzen Gewändern saßen. Ich wurde so hingestellt, dass ich ihrem Tisch nicht zu nahe kam, und die beiden Wachen links und rechts von mir kamen mir gleichfalls nicht zu nahe; ich muß genauso entsetzlich gestunken haben, wie ich mir vorkam. Und wenn ich auch noch so grauenhaft aussah, muß ich wahrhaftig ausgesehen haben wie der Inbegriff eines niedrigen und tierischen Verbrechers.

Die Signon della Notte wechselten einander ab, mir zunächst ein paar harmlose Fragen zu stellen: wie ich hieße und wie alt ich sei, wo ich wohnte, und dann Einzelheiten aus der Geschichte meiner Familie und dergleichen. Dann sagte einer von ihnen und bezog sich dabei auf ein vor ihm liegendes Stück Papier: »Es müssen noch viele andere Fragen gestellt werden, ehe wir zur Verurteilung kommen. Doch dies e Befragung muß verschoben werden, bis ein Bruder der Gerechtigkeit beauftragt worden ist, als Euer Advokat zu füngieren; denn Ihr werdet eines Verbrechens beschuldigt, auf das die Todesstrafe steht...«

Beschuldigt - Ich war dermaßen vor den Kopf geschlagen, dass ich das meiste dessen, was der Mann hinterher noch sagte, nicht mitbekam. Nur Doris oder Ubaldo konnten mich beschuldigen, denn nur sie wußten, dass ich je in der Nähe des Ermordeten gewesen war. Doch wie sollte einer von ihnen das so rasch getan haben? Und wen hatten sie bewegen können, die Denunziation aufzuschreiben, damit sie sie in eine der Schnauzen hatten hineinstecken können?

Der ältere Herr schloß seine Rede an mich mit der Frage: »Habt Ihr noch irgendwelche Anmerkungen zu dieser überaus schwerwiegenden Beschuldigung zu machen?«

Ich räusperte mich und sagte zögernd: »Wer -wer beschuldigt mich dessen, Messere?« Es war wahnwitzig, das zu fragen, und ich konnte vernünftigerweise auch nicht erwarten, eine Antwort zu bekommen, doch war dies eben die Frage, die mich zumeist beschäftigte. Und zu meiner größten Verwunderung antwortete der Signore della Notte:

»Das habt Ihr selbst getan, junger Messere.« Ich muß ungläubig gezwinkert haben, denn er fügte noch hinzu: »Habt Ihr dies nicht geschrieben?« und las mir von dem Stück Papier vor: »Wird er bei der Bestattung als auch bei der Amtseinführung zugegen sein?« Ja, ich bin sicher, dass ich ihn fassungslos angezwinkert habe, denn er fügte noch hinzu: »Und unterschrieben ist mit Marco Polo.«

Ich ging wie ein Schlafwandler, als die Wachen mich die Treppen hinunterbrachten an einen Ort, den sie Brunnenschacht nannten, das tiefste Verlies des vulcano. Doch selbst das sei noch nicht der richtige Kerker, erklärten sie mir; nach meiner rechtmäßigen Verurteilung müsse ich darauf gefaßt sein, in den Dunklen Garten verlegt zu werden, wohin man die Verurteilten vor der Urteilsvollstreckung bringe. Rauh auflachend, schlossen sie eine dicke, aber nur kniehohe Holzluke auf, stießen mich hindurch und ließen die Luke mit einem dumpfen Laut wieder zufallen, der sich anhörte wie ein Totengeläut.

Diese Zelle war wenigstens wesentlich größer als die orba, und in der niedrigen Luke gab es zumindest ein Loch. Dieses Loch war zu klein, als dass es mir erlaubt hätte, drohend die Faust hinter meinen sich entfernenden Kerkermeistern her zu schütteln. Immerhin gestattete es, genug Luft und Licht durchzulassen, so dass die Zelle nicht vollkommen dunkel war. Als meine Augen sich an das Dämmer gewöhnt hatten, erkannte ich, dass die Zelle mit einem Eimer samt Deckel ausgestattet war, der als pissota dienen sollte; außerdem wies er zwei nackte Bretter auf -Pritschen, auf deren einer ich schlafen sollte. Außer einem unordentlichen Haufen in der Ecke, der aussah, als handelte es sich um Bettzeug, konnte ich

nichts erkennen, doch als ich mich ihm näherte, bewegte der

 

Haufen sich, erhob sich und entpuppte sich als ein Mann.

»Salamelech!« sagte er heiser. Die Begrüßung klang

fremdländisch. Ich verengte die Augen und erkannte das

rotgraue verfilzte Bart-und Haupthaar. Es gehörte dem zudio,

dessen öffentlicher Auspeitschung ich an jenem Tag

beigewohnt hatte, der so viel süßere Erinnerungen für mich

barg.

 

»Mordecai«, stellte er sich vor. »Mordecai Cartafilo.« Und

stellte mir dann die Frage, die alle Gefangenen einander bei der

ersten Begegnung stellen: »Weshalb hat man Euch

eingesperrt?«

 

»Wegen Mordes«, sagte ich und schniefte. »Und Verrat, wie ich

 

meine, und lesa-maesta, und noch ein paar andere Dinge.«

»Mord reicht«, sagte er trocken. »Keine Bange, Bürschlein. Die

anderen Kleinigkeiten werden sie einfach übersehen. Dafür

könnt Ihr nicht bestraft werden, nachdem man Euch erst für

Mord bestraft hat. So was wäre doppelte Bestrafung, und das

ist per Gesetz verboten.«

 

Ich bedachte ihn mit einem säuerlichen Blick. »Ihr scherzt, alter

 

Mann.«

Er zuckte mit den Achseln. »Man erhellt das Dunkel, so gut es

geht.«

 

Düsteren Gedanken nachhängend, saßen wir eine Weile in der

Finsternis. Dann sagte ich: »Ihr sitzt wegen Wuchers hier ein,

nicht wahr?«

 

»Nein, das stimmt nicht. Ich bin nur hier, weil eine gewisse

 

Dame mich des Wuchers beschuldigt hat.«

»Welch ein Zufall! Ich sitze auch -zumindest indirekt -einer

Dame wegen hier.«

 

»Nun, ich habe ›Dame‹ nur gesagt, um das Geschlecht anzudeuten. In Wahrheit ist sie« -er spuckte auf den Boden »eine Sheauesa kämve.«

»Ich verstehe Eure fremden Wörter nicht.« »Eine feine Hündin von einer Hure«, sagte er, als spuckte er noch immer aus. »Sie hat sich ein Darlehen von mir erbeten und als Pfand ein paar Liebesbriefe dagelassen. Als sie nicht bezahlen konnte und ich ihr die Briefe nicht zurückgeben wollte,

sorgte sie dafür, dass ich sie niemand anders aushändigen konnte.« Mitfühlend schüttelte ich den Kopf. »Euer Fall ist ein trauriger

Fall, meiner jedoch ein ironischer. Meine Dame erbat sich einen Gefallen von mir und versprach sich selbst als Belohnung. Der Gefallen wurde erwiesen, aber nicht von mir. Trotzdem bin ich jetzt hier -eine Belohnung, wie ich sie mir nun nicht gerade erträumt habe. Aber davon weiß meine Dame vermutlich noch nicht einmal. Wenn das nicht Ironie ist?«

»Che ilantä!«

»Jawohl, Ilaria! Ihr kennt die Dame?«

»Was?« Er funkelte mich an. »Eure kärove heißt auch Ilaria?«

Jetzt war es an mir, ihn anzufunkeln. »Wie könnt Ihr es wagen,

 

meine Dame eine hündische Hure zu nennen?«

Und dann hörten wir auf, einander anzufunkeln, setzten uns auf

die Pritsche und verglichen unsere Erfahrungen, doch wie wir

es auch drehten und wendeten, es stellte sich heraus, dass wir

beide dieselbe Dona Ilaria gekannt hatten. Ich vertraute

 

Cartafilo mein ganzes Abenteuer an und schloß mit den

Worten:

»Ihr jedoch habt Liebesbriefe erwähnt. Ich habe ihr nie welche

 

geschickt.«

 

Er sagte: »Tut mir leid, es sagen zu müssen, aber die Briefe

trugen auch nicht Eure Unterschrift.«

»Dann hat sie die ganze Zeit über jemand anders geliebt?«

»So sieht es aus.«

 

»Dann hat sie mich nur verführt, damit ich den bravo für sie

 

spielte«,

brummte ich. »Ich bin also nichts weiter gewesen als ein

grünschnäbliger Gimpel! Ich muß wirklich frevelhaft dumm

gewesen sein!«

 

»So sieht es aus.«

»Und die einzige Nachricht, die ich unterschrieben habe diejenige, die die Signori della Notte jetzt haben -, die hat

 

bestimmt sie in die Schnauze gesteckt. Aber warum mir so

etwas antun?«

»Sie hat keinerlei Verwendung mehr für ihren bravo. Ihr Gatte

 

ist tot, ihr Liebhaber steht ihr zur Verfügung -folglich seid Ihr

nichts weiter als eine Belastung, die sie loswerden muß.«

 

»Aber ich habe ihren Gatten doch nicht umgebracht.«

»Ja, wer denn? Vermutlich der Liebhaber. Erwartet Ihr etwa,

dass sie den verrät, wo sie Euch hat, den sie aufopfern kann,

damit sie ungeschoren davonkommt?« Darauf wußte ich keine

Antwort. Nach einer Weile fragte er: »Habt Ihr jemals von der

lamia gehört''«

 

»Von der lamia! Das heißt: Hexe.«

»Das trifft es nicht genau. Eine lamia kann die Gestalt einer

sehr jungen und überaus schönen Hexe annehmen. Sie macht

junge Männer verliebt in sich. Hat sie einen umgarnt, liebt sie

ihn mit einer Wollust und einem Fleiß, dass er vollkommen

ausgepumpt ist. Sobald er schlaff und hilflos ist, frißt sie ihn bei

lebendigem Leibe. Das ist selbstverständlich nur eine Sage,

allerdings eine sonderbar überzeugende Sage, die sich seit

Urzeiten hält. Ich bin ihr noch in jedem Land begegnet, das ich

rund ums Mittelländische Meer besucht habe. Und ich bin ein

 

weitgereister Mann. Merkwürdig, wie viele unterschiedliche

Völker an die Blutrünstigkeit der Schönheit glauben«

Ich dachte darüber nach und sagte: »Sie hat gelächelt, als sie

 

zusah, wie Ihr ausgepeitscht wurdet, alter Mann.«

 

»Das wundert mich kein bißchen. Wahrscheinlich erreicht sie

einen Höhepunkt sinnlichen Genusses, wenn sie zusieht, wie

Ihr dem Fleischmacher überantwortet werdet.«

 

»Dem was?«

 

»So nennen wir alten Gefängnisinsassen den Henker -den

Fleischmacher.«

Verzweifelt schrie ich auf. »Aber man kann mich nicht henken!

 

Ich bin unschuldig! Ich bin ein Ene Aca. Eigentlich dürfte man

 

mich nicht mal mit einem Juden zusammensperren.«

»Ach, verzeiht, Hoher Gebieter. Das schlechte Licht hier

drinnen hat meine Sehkraft beeinträchtigt. Ich hatte gemeint, es

mit einem gemeinen Gefangenen des Vulkanschachts zu

halten.«

 

»Ich bin kein gemeiner Bürgerlicher.«

»Dann verzeiht abermals!« sagte er und griff von seiner

Pritsche zu der meinigen hinüber. Dann nahm er etwas von

meinem Wams ab und hielt es sich nahe vor die Augen. »Auch

nur ein Floh.« Sagte es und zerquetschte den Floh zwischen

 

den Fingernägeln, dass es knackte. »Mir kommt er genauso

gemein vor wie die meinigen.«

Ich knurrte: »Mit Eurem Augenlicht ist doch alles in Ordnung.«

»Wenn Ihr wirklich von Adel seid, junger Marco, müßt Ihr tun,

 

was alle adligen jungen Gefangenen tun. Setzt Himmel und

Hölle in Bewegung, damit Ihr eine bessere Zelle bekommt. Eine

Einzelzelle mit einem Fenster, das auf die Gasse oder auf

einen Kanal hinausgeht. Dann könnt Ihr einen Bindfaden

hinunterlassen und Nachrichten hinausgehen lassen oder Euch

leckeres Essen heraufholen. Das ist zwar nicht erlaubt, aber

sobald es sich um einen Adligen handelt, drückt die Behörde

ein Auge zu.«

 

»Wenn man Euch so hört, sollte man denken, dass Ihr meint,

ich bliebe eine lange Zeit hier.«

»Nein.« Er seufzte. »Wahrscheinlich nicht lange.«

 

Was er mit dieser Antwort andeutete, ließ mir die Haare zu

Berge stehen. »Und ich sage Euch nochmals, ich bin

unschuldig, alter Narr.«

 

Woraufhin er nicht minder laut und verächtlich antwortete:

»Warum mir das sagen, unglückseliger mamzarl Erzählt das

doch den Signori della Notfei Auch ich bin unschuldig -und

trotzdem sitze ich hier und verfaule bei lebendigem Leib.«

 

»Moment! Ich hab' eine Idee«, sagte ich. »Wir schmachten hier

beide wegen der Lügen und Intrigen der Dame Ilaria. Wenn wir

das beide zusammen den Signori erzählen, müßten sie doch

mißtrauisch werden, was ihre Glaubwürdigkeit und ihre

Wahrheitsliebe betrifft.«

 

Zweifelnd schüttelte Mordecai den Kopf. »Wem würden sie

glauben? Sie ist die Witwe eines Mannes, der ums Haar Doge

geworden wäre. Ihr seid jemand, der des Mordes angeklagt ist,

und ich einer, der wegen Wucher verurteilt wurde.«

 

»Ihr mögt recht haben«, sagte ich, und aller Mut sank mir. »Ein

 

Jammer, dass Ihr Jude seid.«

Er faßte mich scharf in sein keineswegs trübes Auge und

erklärte: »Das sagt man mir immer wieder. Warum tut Ihr das?«

 

»Ach... nur, dass man dem Zeugnis eines Juden von

 

vornherein weniger glaubt.«

»Das habe ich schon oft erfahren müssen. Und ich frage mich,

warum?«

 

»Nun... weil ihr unseren Herrn Jesus umgebracht habt.«

Er schnaubte und sagte: »Ich -was Ihr nicht sagt!« Wie

angewidert von mir, wandte er mir den Rücken zu, streckte sich

auf seiner Pritsche aus und zog sein wallendes Gewand um

 

sich. Dann murmelte er, an die Wand gerichtet: »Ich habe nur

zwei Worte zu dem Mann gesagt... zwei Worte nur...«

Dann schlief er offenbar ein.

Nachdem eine lange und bedrückende Zeit vergangen und das

 

Loch in der Tür dunkel geworden war, wurde diese schließlich

geräuschvoll aufgeschlossen; zwei Wachen krochen hindurch

und schleppten einen großen Kübel herein. Der alte Cartafilo

 

hörte auf zu schnarchen und setzte sich erwartungsvoll auf. Die

Wächter drückten ihm wie mir ein Holzbrett in die Hand und

klatschten aus dem Kübel einen klebrigen, lauwarmen Brei

darauf. Dann ließen sie ein schwaches Lämpchen zurück, ein

Schälchen Fischtran, in dem blakend ein Lumpendocht glomm,

gingen zurück und knallten die Tür hinter sich zu. Zweifelnd

blickte ich unser Essen an.

 

»Grütze«, erklärte Mordecai mir gierig und stopfte sie sich mit

zwei Fingern in den Mund. »Ist zwar ein Holosh, aber Ihr tätet

gut daran, sie zu essen. Es ist die einzige Mahlzeit am Tag, die

wir bekommen. Sonst bekommt Ihr nichts.«

 

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich. »Ihr könnt meine haben.«

Fast hätte er sie mir entrissen, und schmatzend verzehrte er

beide Portionen. Nachdem er das getan hatte, setzte er sich hin

und saugte geräuschvoll an den Zähnen, als wolle er sich nicht

 

das geringste entgehen lassen. Unter schorfigen Brauen hervor

blickte er mich an und sagte schließlich:

»Was würdet Ihr für gewöhnlich zu Abend essen?«

»Nun... vielleicht einen Teller tagiadele mit persuto... und zum

 

Trinken einen zabagion...«

»Bongusto«, sagte er sardonisch. »Mit so feinen Dingen kann

ich zwar nicht aufwarten, aber vielleicht mögt Ihr einige von

diesen.« Bei diesen Worten fuhr er suchend in seinem Gewand

herum. »Die tolerante venezianische Gesetzgebung gestattet

es mir, selbst im Gefängnis ein paar religiöse Dinge zu

beachten.« Mir war unerfindlich, was das mit dem viereckigen

weißen Gebäck zu tun hätte, das er zum Vorschein brachte und

 

mir reichte. Gleichwohl aß ich es dankbar, obwohl es eigentlich

nach nichts schmeckte, und ich dankte ihm.

Als am nächsten Abend Essenszeit war, hatte ich einen

 

solchen Hunger, dass ich nicht mehr wählerisch war. Vermutlich

hätte ich die Gefängnisgrütze auch gegessen, weil sie so etwas

wie Abwechslung bedeutete, denn sonst gab es nichts zu tun

als dazusitzen, auf einer Pritsche ohne jedes Bettzeug zu

schlafen, die zwei oder drei Schritte zu machen, welche die

Zelle zu machen erlaubte, und sich gelegentlich mit Cartafilo zu

 

unterhalten. Aber genau so vergingen die Tage, einer nach dem anderen, unterbrochen nur durch das Hell-und Dunkelwerden des Türlochs, das täglich dreimalige Gebet des zudio und die Ankunft des abscheulichen Essens am Abend.

Vielleicht war das ganze für Mordecai keine so furchtbare Erfahrung, denn so gut ich es wußte, hatte er all seine Tage vorher in seinem zellenähnlichen Geldwechslerstübchen an der merceria hockend verbracht, was auch nicht wesentlich anders gewesen sein kann. Ich jedoch war frei und ungebunden gewesen und hatte viele Freunde gehabt; hier im vulcano eingesperrt zu sein, war gleichbedeutend mit Lebendigbegraben-Sein. Dabei dämmerte mir, dass ich noch dankbar sein mußte, wenigstens etwas Gesellschaft in meinem vorzeitigen Grab zu haben, selbst wenn es nur die eines Juden war, der sich nicht durch besondere Redseligkeit auszeichnete. Eines Tages erwähnte ich ihm gegenüber, ich hätte zwar schon mehrere Arten von Bestrafungen erlebt, die an den Säulen von Marco und Todaro verabreicht worden wären, jedoch noch nie eine Hinrichtung.

Er sagte; »Das liegt daran, dass diese meistens innerhalb dieser Mauern vorgenommen werden, so dass nicht einmal die Mitgefangenen etwas davon merken, bis sie vorüber sind. Der zum Tode Verurteilte wird in eine der sogenannten Zellen der Giardmi Foschi gesteckt, und diese Zellen haben vergitterte Fenster. Der Fleischmacher wartet geduldig draußen vor der Zelle ab, bis dieser einmal vor das Fenster hintritt und ihm den Rücken zuwendet. Diesen Augenblick benutzt er, dem Unglücklichen durch das Fenster die Garotte um den Hals zu werfen, so dass diesem entweder die Nackenwirbel brechen oder er erwürgt wird. Die Dunklen Gärten liegen auf der Kanalseite dieses Gebäudes; dort befindet sich im Korridor eine Steinplatte, die man herausnehmen kann. Nachts wird dann der Leichnam durch dieses geheime Loch in ein wartendes Boot hinuntergelassen und von diesem zur Sepoltüra Püblica geschafft. Erst wenn das geschehen ist, wird die Hinrichtung bekanntgegeben. Auf diese Weise wird alles ohne Aufheben erledigt. Venedig legt keinen Wert darauf, in aller Welt

hinauszuposaunen, dass die alte römische lege de tagion hier

noch so häufig Anwendung findet. Infolgedessen gibt es nur

wenige öffentliche Hinrichtungen. Diese Hinrichtung wird nur

bei wirklich ganz abscheulichen Verbrechen vorgenommen.«

 

»Verbrechen wie zum Beispiel?« fragte ich.

»Zu meiner Zeit wurde ein Mann öffentlich hingerichtet, weil er

einer Nonne Gewalt angetan hatte; ein anderer, weil er einem

Ausländer einige der Geheimnisse der Glasherstellung und bläserei von Murano verraten hatte. Die Ermordung eines

Mannes, der kurz davor stand, zum Dogen gewählt zu werden,

 

wird wohl ähnlich bewertet werden, nehme ich an, falls es das

ist, weshalb Ihr fragt.«

Ich schluckte. »Und... und wie wird öffentlich... hingerichtet?«

»Der Schuldige muß zwischen den beiden Säulen niederknien

 

und wird vom Fleischmacher enthauptet. Doch zuvor trennt der

Fleischmacher jenen Teil des Körpers ab, der das Verbrechen

begangen hat. Der Nonnenschänder wurde selbstverständlich

seines Glieds beraubt und dem Glasarbeiter die Zunge

herausgeschnitten. Dem Verurteilten wird auf dem Gang

zwischen den beiden Säulen das abgetrennte Körperteil an

einer Schnur um den Hals gehängt. In Eurem Fall, nehme ich

an, wird es wohl nur die rechte Hand sein.«

 

»Und nur mein Kopf«, sagte ich mit belegter Stimme.

»Versucht, nicht zu lachen«, sagte Mordecai.

»Lachen?« schrie ich entsetzt -um dann doch zu lachene, so

 

absurd waren seine Worte. »Ihr beliebt wieder zu scherzen,

alter Mann.«

 

Er zuckte mit den Achseln. »Man tut, was man kann.«

Eines Tages wurde das Einerlei meiner Gefangenschaft

unterbrochen. Die Tür wurde entriegelt, und ein Fremder trat

gebückt herein. Es handelte sich um einen ziemlich jungen

Mann, der nicht eine Uniform trug, sondern die Kutte der

Bruderschaft der Gerechtigkeit; er stellte sich mir als Fratello

Ugo vor.

 

»Schon jetzt«, sagte er flott, »schuldet Ihr für Logis und

Verpflegung in diesem Staatsgefängnis ein beträchtliches

casermagio. Seid Ihr arm, habt Ihr ein Anrecht auf Hilfe von der

Bruderschaft. Sie wird das casermagio für die gesamte Dauer

Eurer Einkerkerung zahlen. Ich bin lizenzierter Advokat und

werde Euch nach bestem Vermögen vertreten. Außerdem bin

ich bereit, Botschaften nach draußen zu tragen und solche zu

Euch hereinbringen. Und Euch manchen kleinen Trost

beschaffen - Salz für Euer Essen zum Beis piel, Öl für Eure

Lampe, derlei Dinge.« Und mit einem Blick auf den alten

Cartafilo setzte er noch hinzu: »Außerdem kann ich dafür

sorgen, dass Ihr eine Zelle für Euch allein bekommt.«

 

Ich erklärte: »Ich bezweifle, dass ich woanders weniger

 

unglücklich wäre, Fra Ugo. Ich bleibe in dieser hier.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte er. »Nun, ich habe mich mit dem

Haus Polo in Verbindung gesetzt, denn offenbar seid Ihr ja,

wenn auch noch minderjährig, nominell dessen Oberhaupt.

Deshalb könnt Ihr es Euch ja durchaus leisten, das casermagio

selber zu zahlen und Euch auch noch einen Advokaten Eurer

Wahl zu nehmen. Ihr braucht nur die notwendigen pagheri

auszustellen und die Firma zu beauftragen, sie einzulösen.«

 

Unsicher sagte ich: »Das würde für die Firma nur eine

öffentliche Demütigung darstellen. Außerdem weiß ich nicht, ob

ich ein Recht habe, die Mittel der Firma einfach so

auszugeben...«

 

»Und zwar für eine verlorene Sache«, ergänzte er noch und

 

nickte zustimmend. »Das verstehe ich sehr gut.«

Erschrocken fing ich an, das Gegenteil zu beteuern: »Damit

wollte ich keineswegs sagen... das heißt, ich hoffe doch...«

 

»Wenn Ihr das eine nicht wollt, müßtet Ihr die Hilfe der

Bruderschaft der Gerechtigkeit in Anspruch nehmen. Damit die

dafür aufgewendeten Gelder wieder hereinkommen, ist es der

Bruderschaft gestattet, zwei Bettler auf die Straße zu schicken,

die von den Bürgern der Stadt milde Gaben erbitten für den

unglückseligen Marco P...«

 

»Amore Dei!« rief ich aus. »Das wäre ja noch unendlich viel

 

demütigender.«

»Ihr braucht Eure Wahl nicht auf der Stelle zu treffen.

Unterhalten wir uns statt dessen lieber über Euren Fall. Wie

wollt Ihr Euch verteidigen?«

 

»Mich verteidigen?« sagte ich entrüstet. »Nicht verteidigen,

 

sondern protestieren, meine Unschuld beteuern.«

Bruder Ugo warf wieder einen Blick zu dem Juden hinüber, und

zwar diesmal einen angewiderten, gleichsam als argwöhne er,

 

dass man mir bereits Ratschläge erteilt hätte. Mordecai

begnügte sich damit, ein belustigt-skep tisches Gesicht

aufzusetzen.

 

Ich fuhr fort: »Als ersten Zeugen rufe ich Dona Ilaria auf. Wenn

 

sie gezwungen ist, unser...«

»Sie wird nicht vorgeladen werden«, fiel mir der Fratre ins Wort.

»Das würden die Signori della Notte nicht erlauben. Diese

Dame hat vor kurzem einen überaus schmerzlichen Verlust

erlitten und ist noch tief gebeugt vor Gram.«

 

Höhnisch erklärte ich: »Wollt Ihr mir etwa weismachen, sie

 

trauerte um ihren Gatten...?«

»Nun«, sagte er mit Bedacht, »wenn auch vielleicht das nicht,

so könnt Ihr doch sicher sein, dass sie zu erkennen gibt, tief

bekümmert darüber zu sein, dass sie jetzt nicht die Dogaressa

von Venedig ist.«

 

Cartafilo ließ einen Laut vernehmen, der sich anhörte wie ein

unterdrücktes Kichern. Vielleicht habe auch ich einen Laut von

mir gegeben -einen Laut des Entsetzens -, denn diese

Möglichkeit war mir bisher noch nicht in den Sinn gekommen.

Ilaria mußte ja vor Enttäuschung und Wut kochen. Als sie sich

darum bemüht hatte, dass man ihr den Gatten vom Hals

schaffte, war sie im Traum nicht darauf gekommen, welche

Ehre ihm -und damit auch ihr -zuteil werden sollte. Folglich

war sie jetzt bestimmt geneigt, ihren eigenen Anteil an dem

ganzen Geschehen zu vergessen und zu verdrängen;

wahrscheinlich verzehrte sie sich vor Verlangen, sich für den ihr

entgangenen Titel zu rächen. Dabei spielte es gewiß keine

 

Rolle, wem gegenüber sie ihrem Zorn Luft machte, und wer

 

stellte schon ein leichteres Ziel dar als ich?

»Wenn Ihr unschuldig seid, Messer Marco«, sagte Ugo, »wer

hat den Mann dann ermordet?«

 

Ich sagte: »Ich glaube, es war ein Priester.«

Lange ließ Bruder Ugo den Blick auf mir ruhen, ehe er

schließlich gegen die Zellentür klopfte, um hinausgelassen zu

werden. Als die Tür knarrend in Kniehöhe unter ihm aufging,

sagte er zu mir: »Ich schlage vor, Ihr sucht Euch selbst einen

Advokaten, der Euch vertritt. Wenn Ihr vorhabt, einen

ehrwürdigen Priester zu beschuldigen und Euer wichtigster

Zeuge eine auf vendeta bedachte Dame ist, braucht Ihr den

besten Rechtsbeistand, den es in der gesamten Republik gibt.

 

Ciao.«

Nachdem er gegangen war, sagte ich zu Mordecai: »Alle Welt geht davon aus, dass mein Schicksal besiegelt ist, gleichgültig, ob ich schuldig bin oder nicht. Es muß doch irgendein Gesetz geben, das die Unschuldigen davor bewahrt, widerrechtlich verurteilt zu werden.«

»Aber mit Sicherheit gibt es das. Doch gibt es auch eine alte Weisheit, die da lautet: Die Gesetze Venedigs sind von erhabener Gerechtigkeit und werden gewissenhaft beachtet... für die Dauer einer Woche. Gebt Euch keinen allzu hochfliegenden Hoffnungen hin!«

»Ich hätte größere Hoffnungen, wenn ich mehr Hilfe hätte«, erklärte ich. »Und Ihr könntet uns beiden helfen. Überlaßt Fra Ugo nur jene Briefe, die Ihr besitzt -soll er sie doch als Beweis vorbringen. Dann fiele zumindest ein Schatten des Verdachts auf die saubere Dame samt ihrem Geliebten.«

Er sah mich aus seinen dunklen Brombeeraugen an, kratzte sich nachdenklich den verfilzten Bart und sagte: »Ihr meint, das wäre gleichsam Christenpflicht?«

»Aber gewiß doch, ja. Um mir das Leben zu retten und Euch die Freiheit zu verschaffen. Jedenfalls sehe ich nichts Unchristliches darin.«

»Dann muß ich leider sagen, dass ich einer anderen Moral anhänge; denn mir ist das unmöglich. Ich habe das nicht getan, um mich vor der Auspeitschung zu bewahren, und werde es auch für uns beide nicht tun.«

Ungläubig starrte ich ihn an: »Aber warum um alles in der Welt

nicht?« »Mein Gewerbe beruht auf Vertrauen. Nur darauf gründet es sich. Ich bin der einzige Geldverleiher, der derlei Dokumente als Pfand nimmt. Das kann ich nur deshalb tun, weil ich meinerseits darauf vertraue, dass meine Klienten das Darlehen samt aufgelaufener Zinsen auch wirklich zurückzahlen. Die Klienten ihrerseits verpfänden solche Papiere nur deshalb bei mir, weil sie sich darauf verlassen, dass ich den Inhalt nie preisgebe. Meint Ihr, Frauen würden sonst Liebesbriefe aus der Hand geben?«

»Aber wie ich Euch schon gesagt habe, alter Mann: Kein Mensch traut einem Juden. Bedenkt doch nur, wie die Dame Ilaria Euch Euer Vertrauen mit Verrat gedankt hat. Ist das nicht Beweis genug dafür, dass sie Euch nicht für vertrauenswürdig hielt?«

»Gewiß beweist das etwas«, sagte er mit schief verzogenem Mund. »Aber wenn ich das in mich gesetzte Vertrauen auch nur ein einziges Mal enttäusche -und sei es auch als Reaktion auf die schändlichste Provokation -, kann ich den von mir erwählten Beruf an den Nagel hängen. Nicht, weil andere mich für verachtenswert hielten, sondern weil ich es täte.«

»Welchen Beruf, alter Narr, der Ihr seid? Es ist doch möglich, dass Ihr für den Rest Eures Lebens hier eingekerkert bleibt. Das habt Ihr selbst gesagt! Ihr könnt Euch nicht an irgendwelche Grundsätze halten...«

»Ich kann mich an mein Gewissen halten. Das mag ein geringer Trost sein, aber es ist der einzige, der mir geblieben ist: nämlich der, hier zu sitzen, meine Floh- und Wanzenstiche zu kratzen, zuzusehen, wie mein einst üppig im Fleisch stehender Körper nur mehr Haut und Knochen ist -und mich

gegenüber der christlichen Moral überlegen zu fühlen, die mich

 

hierhergebracht hat.«

»Flöhen könnt Ihr Euch draußen genauso gut wie hier«, fauchte

ich ihn an.

 

»Zito! Genug! Narren zu Weisen machen zu wollen, ist ein

töricht Unterfangen! Wir wollen nicht weiter darüber reden.

Schaut, mein Junge, hier auf dem Boden sind zwei Spinnen,

große fette Spinnen. Wollen wir ein Wettrennen mit ihnen

veranstalten und unermeßliche Reichtümer dagegen verwetten,

wessen Spinne gewinnt. Ihr könnt sie Euch aussuchen...«

 

Weitere Zeit verging, und dann kam Bruder Ugo wieder, tauchte

gewissermaßen durch die niedrige Türluke hindurch auf. Mit

umdüsterter Stirn wartete ich, dass er etwas genauso

Entmutigendes sagte wie voriges Mal, doch was er dann

schließlich sagte, war überwältigend :

 

»Euer Vater und sein Bruder sind nach Venedig

 

zurückgekehrt.«

»Was?« Ich rang nach Atem, konnte es einfach nicht fassen.

»Ihr meint, ihre Leichen sind hierhergebracht worden, damit sie

hier beigesetzt werden? Zur Bestattung in der Heimaterde?«

 

»Ich meine, sie sind hier. Heil und lebendig.«

 

»Lebendig? Nachdem sie fast zehn Jahre lang nichts von sich

haben hören lassen?«

»Jawohl. Alle ihre Bekannten sind genauso wie vom Donner

 

gerührt, wie Ihr es seid. Die ganze Zunft der Kaufleute redet

von nichts anderem. Es heißt, sie trügen eine Botschaft aus der

fernen Tatarei zum Papst in Rom. Doch zum Glück -zu Eurem

Glück, junger Messer Marco -sind sie erst nach Venedig

gekommen, um von hier aus nach Rom weiterzureisen.«

 

»Warum zu meinem Glück?« fragte ich, und mir zitterten die

Knie.

 

»Hätten sie denn zu einem günstigeren Augenblick kommen

können? In diesem Augenblick sind sie dabei, ein Bittgesuch an

die Quarantia zu stellen -sie wollen Euch besuchen, und das

wird für gewöhnlich nur dem Advokaten eines Gefangenen

erlaubt. Wer weiß, vielleicht gelingt es Eurem Vater und Onkel,

das Gericht milde zu stimmen. Und wenn sonst nichts, sollte

allein ihre Anwesenheit beim Verfahren Euch moralisch eine

Stütze sein. Und Euch etwas das Rückgrat stärken, wenn Ihr

den Gang zu den Säulen antreten müßt.« Nach dieser

fragwürdigen Ermunterung ließ er mich wieder allein. Mordecai

und ich saßen da und ergingen uns bis tief in die Nacht in den

phantastischsten Spekulationen. Wir waren immer noch dabei

zu reden, als das coprifuoco verklungen war und ein Wächter

uns durch das Loch in der Tür zugerufen hatte, wir sollten die

schwache Tranfunzel auf dem Boden löschen.

 

Weitere vier oder fünf Tage mußten vergehen, Tage voller

Unruhe für mich, doch dann ging die Tür wieder knarrend auf,

und ein Mann kroch herein, ein Mann, so beleibt, dass er Mühe

hatte, sich durch die Luke hindurchzuzwängen. Als er es

endlich geschafft hatte, richtete er sich auf und schien sich

immer weiter aufzurichten -so groß war er. Ich hatte nicht die

geringste Ahnung, mit jemand verwandt zu sein, der so groß

war wie er. Er war ebenso behaart wie beleibt, das Haupthaar

zerzaust, der bläulichschwarze Bart starr und kratzig. Aus

einschüchternder Höhe schaute er auf mich herab, und seine

Stimme klang geringschätzig, als er dröhnend zu mir sagte:

 

»Ja, wenn das nicht die größte merda mit Brotkruste drauf ist!«

Verschüchtert sagte ich: »Benvegnuo, caro pare.«

»Ich bin nicht dein Vater, du Unglücksrabe! Ich bin dein Onkel

 

Mafio.«

»Benvegnüo, caro zio. Kommt denn mein Vater nicht?«

»Nein. Es ist uns nur gelungen, die Besuchserlaubnis für einen

 

zu erlangen, und er sollte ja aus Trauer um deine Mutter in

Abgeschiedenheit verbleiben.«

»Oh, ja.«

 

»In Wahrheit ist es jedoch so, dass er vollauf damit beschäftigt

 

ist, seiner nächsten Frau den Hof zu machen.«

Das versetzte mir einen mächtigen Stoß. »Wie bitte? Wie kann

er nur?«

 

»Wer bist du, dass du es dir leis ten kannst, so mißbilligend zu

reden, du mißratener scagaron? Da kommt der arme Mann aus

der Fremde nach Hause, bloß um festzustellen, dass sein Weib

längst unter der Erde ist, ihre Zofe auf Nimmerwiedersehen

verschwunden, ein wertvoller Sklave verloren, sein Freund, der

Doge, ist tot -und sein Sohn, die Hoffnung der Familie, im

Kerker mit der Anklage des gemeinsten Meuchelmordes, den

es in der Geschichte Venedigs je gegeben!« Um auf diesen

Erguß noch so laut, dass jeder im vulcano es hören mußte,

hinzuzusetzen: »Sag mir die Wahrheit! Hast du es getan?«

 

»Nein, Herr Onkel«, sagte ich verzagt. »Doch was hat das alles

 

mit einer neuen Frau zu tun?«

Nicht mehr ganz so tönend, aber dafür in mißbilligendem Ton

sagte er: »Dein Vater ist Frauen blind ergeben. Aus

irgendeinem Grund liebt er es, verheiratet zu sein.«

 

»Dann hat er eine merkwürdige Art gewählt, meiner Mutter das

zu zeigen«, sagte ich. »Einfach fortzureisen und sich nicht

wieder blicken zu lassen.«

 

»Und er wird auch wieder fortreisen«, sagte Onkel Mafio. »Das

ist ja der Grund, warum er eine vernünftige Frau braucht, die

das Familienvermögen zusammenhält. Er hat nicht die Zeit, erst

auf noch einen Sohn zu warten. Da muß es eben eine andere

Frau sein.«

 

»Warum denn überhaupt etwas anderes?« fragte ich. »Er hat

 

schließlich einen Sohn.«

Mit Worten antwortete mein Onkel nicht auf diese Erklärung. Er

musterte mich nur kalt von Kopf bis Fuß und blickte sich dann

langsam in der kleinen, dämmrig erhellten und moderig

riechenden Zelle um.

 

Kleinlaut sagte ich: »Ich hatte gehofft, Ihr könntet mich hier

herausholen.«

 

»Nein, rauspauken mußt du dich selbst«, erklärte mein Onkel, und mir sank das Herz. Gleichwohl sah er sich weiter forschend im Raum um und sagte, gleichsam als denke er laut: »Von allen Schrecken, die eine Stadt befallen können, hat Venedig immer am meisten Angst vor einer Feuersbrunst gehabt. Ganz besonders bedrohlich wäre es, wenn eine solche auf den Dogenpalast und die darin enthaltenen stadteigenen Schätze übergriffe, oder auch auf die Basilika San Marco mit ihren womöglich noch unersetzlicheren Schätzen. Da aber der Palast neben diesem Kerker steht und die Kirche an die andere Seite angrenzt, haben die Wächter hier im vulcano immer besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen -und tun das vermutlich auch heute noch -, so dass selbst die kleinste Lampenflamme sorgfältig überwacht wird.«

»Aber ja doch, sie...« »Halt du den Mund! Das tun sie, denn wenn nächtens eine solche Lampe zum Beispiel diese Holzplanken in Brand setzte, gäbe das dringende Hilferufe und würde schrecklich viel mit Wassereimern hin-und hergelaufen werden. Ein solcher Gefangener müßte aus der brennenden Zelle herausgelassen werden, um das Feuer zu löschen. Und im Rauch, und überhaupt dem ganzen Durcheinander, könnte dieser Gefangene es bis zum Gang der Giardmi Foschi auf der Kanalseite des Gefängnisses schaffen; er könnte dann die nicht festsitzende Steinplatte in der Wand dort herausheben, die nach draußen führt. Und wenn er das, sagen wir, morgen nacht

schaffte, würde er höchstwahrscheinlich ein bateh vorfinden, das unmittelbar darunter auf dem Wasser dümpelt.« Endlich richtete Mafio die Augen wieder auf mich. Ich war viel

zu sehr damit beschäftigt, mir auszudenken, was ich sagen könnte, doch der alte Mordecai war es, der ungefragt das Wort ergriff:

»So was ist früher schon versucht und gemacht worden. Deshalb gibt es jetzt ein Gesetz, demzufolge jeder Gefangene, der versucht, einen Brand zu legen -gleichgültig, wie geringfügig sein ursprüngliches Vergehen auch sein mag -,

selbst zum Tod durchs Feuer verurteilt wird. Ein solcher

 

Urteilsspruch ist auch nicht anfechtbar.«

Woraufhin Onkel Mafio sardonisch sagte: »Danke,

Methusalem.« Und für mich bestimmt sagte er: »Da hast du

noch einen guten Grund gehört, warum du es nicht nur

versuchst, sondern auch wirklich schaffst.« Damit trat er gegen

die Tür, um die Wache herbeizurufen.

 

»Bis morgen abend, Neffe«, sagte er.

Den größten Teil der Nacht über lag ich wach. Nicht, dass die

Flucht eingehender Planung bedurfte; ich lag einfach wach da

und freute mich auf die Aussicht, bald wieder frei zu sein. Der

 

alte Cartafilo erhob sich unversehens wie aus tiefem Schlaf und

sagte:

»Ich hoffe, Eure Familie weiß, was sie tut. Denn ein weiteres

 

Gesetz sagt, dass der nächste Anverwandte für sein Verhalten

haftet. Ein Vater für den Sohn -khas vesholem -, ein Gatte für

eine weibliche Gefangene, der Herr für den Sklaven. Gelingt

einem Eingekerkerten die Flucht mittels Brandlegung, wird statt

seiner der für ihn Verantwortliche dem Feuertod

überantwortet.«

 

»Um die Gesetze scheint mein Onkel sich nicht sonderlich

große Sorgen zu machen«, sagte ich recht stolz. »Und Angst

davor, verbrannt zu werden, hat er offenbar auch nicht. Aber

ohne dass Ihr mitmacht, schaffe ich es nicht, Mordecai. Wir

müssen versuchen, zusammen auszubrechen. Was sagt Ihr

dazu?«

 

Er versank eine Weile in Schweigen, und dann murmelte er:

»Ich möchte meinen, der Feuertod ist dem langen Sterben

aufgrund der petechie, der Gefängniskrankheit, vorzuziehen.

Außerdem habe ich längst all meine Anverwandten überlebt.«

 

So geschah es, dass wir am nächsten Abend, als das

copnfuoco geläutet und die Wache uns befohlen hatte, das

Lämpchen zu löschen, nur den pissota-Eimer darüberstülpten

und das Flämmchen abschirmten. Nachdem die Wachen

vorübergegangen waren, schüttete ich den größten Teil des

Fischtrans auf die Planken unserer Pritschen aus. Mordecai

 

opferte noch sein Übergewand -das von Mehltau und Schimmel ohnehin schon ganz spakig war und bestimmt die Rauchentwicklung förderte -, das wir unter meine Pritsche stopften und mit Hilfe des Lampendochts in Brand setzten. Binnen weniger Augenblicke war der gesamte Raum von Rauch erfüllt und fing das Holz knisternd an zu brennen. Mordecai und ich wedelten mit Händen und Armen, versuchten, Rauch zum Türloch hinauszutreiben, und riefen zeternd: »Fuoco! Alfuoco!« und hörten draußen auf dem Gang viel Füßegetrappel.

Genauso, wie mein Onkel es vorausgesagt, kam es zu Aufregung und Durcheinander, und Mordecai und mir wurde befohlen, die Zelle zu verlassen, damit die Männer mit den Wassereimern hineinkriechen konnten. Rauch wölkte sich zugleich mit uns ins Freie, und die Wachen schoben uns beiseite, damit wir ihnen nicht im Weg standen. Es stand eine ganze Menge auf dem Gang, doch gaben sie auf uns wenig acht. So schlichen wir uns im Schutz von Rauch und Dunkelheit immer weiter den Gang hinunter, bis wir an eine Biegung gelangten. »Jetzt hier entlang« sagte Mordecai und jagte ihn mit einer für einen Mann seines Alters erstaunlichen Geschwindigkeit hinunter. Er war lange genug im Gefängnis gewesen, so dass er sich jetzt darin auskannte, und so führte er mich diesen Gang entlang und jenen, bis wir am Ende eines langgestreckten Raums Licht erblickten. An der Ecke blieb er stehen, spähte um sie herum und winkte mir, ihm weiter zu folgen. Wir bogen in einen kürzeren Gang ein, in dem zwar zwei oder drei Wandlampen brannten, der aber sonst leer war.

Mordecai kniete nieder, winkte mich heran, ihm zu helfen, und ich erkannte, dass ein großer Steinquader unten in der Mauer zwei eiserne Ringe zum Anfassen aufwies. Mordecai packte den einen, ich den anderen, und gemeinsam schoben wir die Steinplatte fort, die sich als dünner erwies als die anderen, die sie umgaben. Herrlich frische feuchte und nach Salz riechende Luft strömte durch die Öffnung herein. Ich richtete mich auf, um sie dankbar in die Lungen zu saugen, und gleich darauf wurde

ich niedergeschlagen. Eine Wache war von irgendwoher

herzugesprungen und schrie nach Hilfe.

Einen Moment gab es ein womöglich noch heilloseres

 

Durcheinander. Die Wache warf sich auf mich, und wir wälzten

uns auf dem Steinboden, während Mordecai neben dem Loch

kauerte und uns mit großen Augen zusah. Für einen Moment

saß ich oben auf dem Wächter, setzte ihm mein gesamtes

Körpergewicht auf die Brust und hielt ihm die Arme mit beiden

Knien auf dem Boden. Ich legte ihm beide Hände über den laut

auf und zu gehenden Mund, wandte mich nach Mordecai um

und keuchte: »Ich kann ihn nicht... lange festhalten.«

 

»Komm, Bursche«, sagte er. »Laß mich das machen.«

 

»Nein. Einer kann entkommen. Geht Ihr'« Ich hörte irgendwo

wieder Füßegetrappel. »Beeilt Euch!«

Mordecai steckte die Füße durchs Loch, drehte sich dann noch

 

einmal nach mir um und fragte: »Warum ich?«

Während ich schlug und zupackte, stieß ich stoßweise noch ein

 

paar letzte Worte aus: »Ihr habt mir -meine Wahl -Spinnen.

Macht, dass Ihr rauskommt.«

Mordecai bedachte mich mit einem erstaunt-fragenden Blick

 

und sagte dann langsam: »Der Lohn für eine mitzva ist noch

eine mitzva.« Mit diesen Worten glitt er durch die Öffnung und

verschwand. Ich hörte Wasser aufspritzen, dann wurde ich

überwältigt.

 

Ich wurde von rohen Händen durch die Gänge gestoßen und

buchstäblich in eine neue Zelle geworfen. Ich meine eine

andere uralte Zelle, versteht sich -allerdings eine andere.

Diese enthielt nur eine Pritsche, die Tür wies kein Loch auf, und

es fand sich nicht einmal so etwas wie ein Kerzenstummel

darin, sie zu erhellen. Dort saß ich mit schmerzenden

Gliedmaßen in der Dunkelheit und überdachte meine neue

Lage. Durch den Fluchtversuch hatte ich alle Hoffnung verwirkt,

jemals meine Unschuld beweisen zu können. Durch die

mißlungene Flucht hatte ich meinen Feuertod beschworen. Nur

für eines konnte ich dankbar sein: dafür, jetzt eine Zelle ganz

 

für mich allein zu haben. Damit hatte ich auch keinen

Zellengenossen, der hätte sehen können, wie ich weinte. Da die Wächter mich hinterher absichtlich beim Austeilen der abscheulichen Kerkergrütze übergingen und Dunkel und Eintönigkeit durch nichts unterbrochen wurden, weiß ich nicht, wie lange ich allein in der Zelle saß, ehe ein Besucher zu mir gelassen wurde. Bei diesem handelte es sich wieder um den Bruder der Gerechtigkeit.

Ich sagte: »Ich nehme an, meinem Onkel wurde die

Besuchserlaubnis entzogen.« »Und ich zweifle, dass er willens wäre zu kommen«, sagte Fra Ugo. »Er soll mörderisch geflucht haben, als er sah, dass der Neffe, den er da aus dem Wasser auffischte, sich als ältlicher Jude entpuppte.«

»Und da ich Eures Rechtsbeistands nun auch nicht mehr bedarf«, sagte ich resigniert, »darf ich annehmen, dass Ihr jetzt nur kommt, um den Gefangenen zu trösten.«

»Zumindest bringe ich Nachrichten, die Euch trösten könnten.

Denn heute morgen hat der Rat einen neuen Dogen gewählt.« »Ah, ja. Sie hatten die Wahl ja vertagt, bis sie den Mörder des Dogen Zeno hätten. Und jetzt haben sie mich. Warum, meint Ihr, sollte mich das trösten?«

»Vielleicht habt Ihr vergessen, dass Euer Vater und Onkel selbst Ratsmitglieder sind. Und seit ihrer wunderbaren Wiederkehr nach so langer Abwesenheit sind sie höchst beliebt im Kreis der Kaufleute. Infolgedessen konnten sie bei der Wahl merklich Einfluß auf sämtliche wahlberechtigten Kaufherren ausüben. Ein Mann namens Lorenzo Tiepolo wollte unbedingt Doge werden und war bereit, Eurem Vater und Eurem Onkel für die Stimmen der Kaufmannschaft gewisse Zugeständnisse zu machen.«

»Als da wären'« fragte ich und fühlte, wie Hoffnung in mir

aufkeimte. »Ein neugewählter Doge setzt bei seiner Amtsübernahme traditionellerweise stets gewisse Amnestien durch. Seine

Serenitä Tiepolo ist bereit, Euch Eure schändliche Brandstiftung zu vergeben, aufgrund derer ein gewisser Mordecai Cartafilo hat diesem Kerker entfliehen können.«

»Dann werde ich also nicht wegen Brandstiftung verbrannt, sondern verliere als Meuchelmörder nur meine Hand und meinen Kopf?«

»Nein, das tut Ihr nicht. Ihr habt recht, der sassin ist gefaßt worden; aber Ihr irrt Euch, wenn Ihr meint, Ihr wäret das. Ein anderer hat bekannt, die sassinäda begangen zu haben.«

Zum Glück war die Zelle zu klein, sonst wäre ich zu Boden gesunken. So wich ich nur einen Schritt zurück und prallte mit dem Kopf gegen die Wand.

Mit einer Langsamkeit, die zum Wahnsinnigwerden war, fuhr der Bruder fort: »Ich habe Euch ja gesagt, ich bringe tröstliche Nachrichten. Ihr habt mehr Fürsprecher, als Ihr wißt, und alle haben sie Himmel und Hölle für Euch in Bewegung gesetzt. Dieser zudio, dem Ihr zur Freiheit verhelfen habt, ist nicht einfach davongelaufen oder hat sich aufs nächstbeste Schiff begeben, das ihn in ein fernes Land bringen konnte. Ja, er hat sich nicht einmal in den überfüllten Gassen des jüdischen burgheto versteckt. Statt dessen ist er hingegangen, einen Priester aufzusuchen -keinen rabino, sondern einen richtigen christlichen Priester -, keinen geringeren als einen der Unterpriester der Basilika von San Marco.«

»Ich habe ja versucht, Euch von diesem Priester zu erzählen.« »Nun, es sieht aus, als wäre dieser Priester der heimliche Liebhaber der Dona Ilaria gewesen, doch hat sich diese wider ihn gekehrt und ihm ihre Gunst entzogen, als sie erkannte, dass sie so nahe daran war, Dogaressa von Venedig zu werden, und es dann doch nicht wurde -seinetwegen. Der Priester bereute nunmehr, so etwas Schändliches wie einen Mord begangen zu haben, und das noch, ohne etwas davon zu haben! Selbstverständlich hätte er auch weiterhin Schweigen bewahren und die Angelegenheit zwischen sich und dem Herrgott auf sich beruhen lassen können, doch dann suchte Mordecai Cartafilo ihn auf. Offenbar redete der Jude von

irgendwelchen Briefen, die man bei ihm versetzt hat, was

genügte, den Priester zu bewegen, sein Vergehen auch zu

bekennen. Jedenfalls hat er alles gebeichtet, dabei freilich auf

das Beichtgeheimnis gepocht, und steht jetzt unter Hausarrest

in seinen kanonischen Gemächern. Auch Dona Ilaria darf als

Mittäterin ihr Haus nicht verlas sen.«

 

»Und was geschieht jetzt?«

»Jetzt muß abgewartet werden, bis der neue Doge sein Amt

auch wirklich angetreten hat. Lorenzo Tiepolo wird gewiß nicht

wollen, dass er ausgerechnet bei Antritt seines Dogato in ein

schlechtes Licht gerät; denn jetzt geht es bei diesem Fall um

auch recht hochstehende Persönlichkeiten und nicht nur um

einen Jüngling, der versucht hat, den bravo zu spielen. Die

Witwe eines Anwärters auf die Dogenwürde, einen Priester von

San Marco... jedenfalls wird Doge Tiepolo alles tun, um den

Skandal so klein wie möglich zu halten. Vermutlich wird er

einwilligen, dass dem Priester von einem kirchlichen Gericht

der Prozeß gemacht wird und nicht von der Quarantia. Ich

würde meinen, dass der Priester in irgendeine abgelegene

Pfarrei auf dem venezianischen Festland verbannt wird. Auch

wird der Doge wohl anordnen, dass die Dame Ilaria in

irgendeinem abgelegenen Nonnenkloster den Schleier nimmt.

Dazu gibt es einen Präzedenzfall. Vor etwa hundert Jahren hat

es in Frankreich eine ähnliche Situation gegeben, bei der es

 

auch um einen Priester und um eine hochstehende Dame

ging.«

»Und was geschieht mit mir?«

»Sobald der Doge die weiße scufieta anlegt, wird er seine

 

Amnestie verkünden, unter die auch Ihr fallen dürftet. Die

Brandstiftung wird Euch verziehen, und von der sassinäda seid

Ihr bereits freigesprochen. Ihr werdet aus dem Kerker entlassen

werden.«

 

»Frei!«

»Nun, vielleicht ein bißchen freier, als Euch lieb sein wird.«

»Was?«

 

»Wie ich schon sagte, wird der Doge dafür sorgen, dass die ganze unerquickliche Angelegenheit möglichst bald vergessen wird... Setzt er Euch nur auf freien Fuß, und bleibt Ihr in Venedig, würdet Ihr nichts weiter sein als eine allgegenwärtige Erinnerung daran. Freigelassen werdet Ihr nur unter der Bedingung, gleichzeitig aus Venedig zu verschwinden. Ihr seid ein Ausgestoßener. Ihr habt Venedig für immer zu verlassen.«

Während der nächsten Tage blieb ich in der Zelle. Ich dachte über alles nach, was geschehen war. Der Gedanke, Venedig, la serenisima, la clarisima, verlassen zu sollen, schmerzte. Doch war das immer noch besser, als auf der Piazzetta zu sterben oder im vukano lebendig begraben zu sein. Ich war sogar imstande, Mitleid mit dem Priester zu haben, der an meiner Stelle den tödlichen Hieb des bravo ausgeführt hatte. Als junger Geistlicher an der Basilika hatte er gewiß auf eine glänzende Laufbahn in der Kirche gehofft; der jedoch mußte er im Exil auf dem Festland bestimmt entsagen. Ilaria drohte ein womöglich noch beklagenswerteres Exil, in dem ihr Schönheit und Begabung gewiß nichts mehr nützten. Aber vielleicht irrte ich mich da; immerhin hatte sie es fertiggebracht, sie als verheiratete Frau in reichem Maße zum Tragen zu bringen; vielleicht gelang es ihr auch als Braut Christi, das gleiche zu tun. Zumindest hatte sie reichlich Gelegenheit, die Lieder der Nonnen zu singen, wie sie es genannt hatte. Alles in allem waren wir drei im Vergleich zu dem unwiderruflichen Schicksal unseres Opfers durchaus glimpflich davongekommen.

Aus dem Gefängnis entlassen wurde ich womöglich noch formloser, als man mich dort eingeliefert hatte. Meine Wächter schlossen die Zellentür auf, führten mich Gänge entlang und Treppen hinunter, durch andere Türen, bis sie schließlich die letzte auftaten und mich hinausließen auf den Hof. Dort brauchte ich nur durchs Weizentor hinauszutreten auf die sonnenbeschienene Riva -dann war ich frei wie die kreisenden Möwen. Das war zwar ein gutes Gefühl, doch wäre mir noch wohler zumute gewesen, hätte ich mich waschen und mir etwas Sauberes überziehen können, ehe ich heraustrat. Ich war die ganze Zeit über ungewaschen geblieben und hatte auch dieselbe Kleidung angehabt und stank nach Fischtran, Rauch und dem Inhalt des pissota-Eimers. Meine Kleidung hing seit dem Kampf nach der fehlgeschlagenen Flucht in Fetzen an mir, und diese Fetzen waren schmutzig und zerknautscht. Außerdem sproß mir damals gerade der erste Bartflaum; viel zu sehen war davon gewiß nicht, doch trug er für mich zu dem Gefühl des Abgerissenseins durchaus bei. Ich hätte mir bessere Umstände für die erste Begegnung mit meinem Vater vorstellen können. Er und mein Onkel Mafio warteten an der Riva, beide waren sie in vornehme Gewänder gekleidet, wahrscheinlich dieselben, die sie im Rat und bei der Amtseinführung des Dogen getragen hatten.

»Siehe da, dein Sohn!« blökte mein Onkel. »Dein artistupendonazzisimo Sohnl Der Namensvetter unseres Bruders und unseres Schutzheiligen! Ist er nicht ein elendiger und winziger meschin, dass er für soviel Aufregung gesorgt hat?«

»Vater?« sagte ich furchtsam zu dem anderen Mann.

»Mein Junge?« sagte er geradezu zögernd, breitete dann aber doch die Arme aus. Ich hatte jemand noch Überwältigenderes als meinen Onkel

erwartet, denn schließlich war mein Vater der ältere von beiden. In Wirklichkeit aber war er blaß neben seinem Bruder; bei weitem nicht so groß und beleibt und mit einer viel sanfteren Stimme. Gleich meinem Onkel trug er den Bart eines Reisenden, nur, dass der seine fein gestutzt war. Auch waren Bart-und Haupthaar bei ihm nicht rabenschwarz wie bei meinem Onkel, sondern unscheinbar aschblond wie das meine auch.

»Mein Sohn. Mein armer, mutterloser Junge«, sagte mein Vater. Er schloß mich in die Arme, hielt mich dann jedoch auf Armeslänge von sich und sagte besorgt: »Riechst du immer so?«

»Nein, Vater. Nur bin ich eingeschlossen gewesen seit...« »Du vergißt, Nico, dass du es mit einem bravo, bonvivän und Spieler zwischen den Säulen zu tun hast«, erklärte mein Onkel

mit dröhnender Stimme. »Einem, der unglücklich verheirateten älteren Frauen den Hof macht, einem, der sich nächtens im Dunkeln herumdrückt und anderen mit dem Degen auflauert, einem Judenbefreier.« s »Nun ja«, sagte mein Vater nachsichtig. »Ein Küken muß die Flügel weit ausstrecken, dass sie übers Nest hinausreichen. Kommt, gehen wir heim.«

Die Bediensteten im Haus bewegten sich mit einer Beflissenheit und Fröhlichkeit, wie ich sie seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr erlebt hatte. Sie schienen sogar froh, mich wieder daheim zu sehen. Das Zimmermädchen beeilte sich, Wasser heiß zu machen, als ich sie darum bat, und Maistro Attilio lieh mir auf meine höfliche Bitte hin sein Rasiermesser. Ich badete mehrere Male, kratzte mir ohne großes Geschick und ungeübt den Flaum aus dem Gesicht, zog ein frisches Wams und frische Beinkleider an und gesellte mich dann zu meinem Vater und Onkel im Hauptraum, in dem der Kachelofen stand.

»Und jetzt«, sagte ich, »möchte ich alles über Eure Reisen

hören. Überhaupt alles über jeden Ort, den Ihr besucht habt.« »Großer Gott, nicht noch einmal«, stöhnte Onkel Mafio. »Man hat uns von nichts anderem reden lassen.«

»Dafür ist später immer noch Zeit, Marco«, sagte mein Vater. »Alles zu seiner Zeit. Sprechen wir jetzt erst einmal von deinen eigenen Abenteuern.«

»Damit ist es jetzt aus und vorbei«, sagte ich überstürzt. »Ich

würde lieber von Dingen hören, von denen ich nichts weiß.« Doch sie wollten nicht lockerlassen, und so berichtete ich freimütig von allem, was geschehen war, seit ich Ilaria zum ersten Mal flüchtig in San Marco erblickt hatte -auslassen tat ich nur den feurigen Nachmittag, den sie und ich zusammen verbracht hatten. Ich stellte es so dar, als hätte bloße jünglingshafte Schwärmerei mich dazu verleitet, etwas überaus Törichtes zu tun und den bravo zu spielen.

Als ich fertig war, seufzte mein Vater tief auf. »Ach, jede Frau

hätte dir den Kopf verdrehen können. Nun, du hast getan,

wovon du meintest, dass es das beste für dich wäre. Und wer

alles tut, was in seinen Kräften steht, tut viel. Die Folgen

allerdings waren tragisch, das muß man leider sagen. Ich habe

dem Dogen versprechen müssen, dass du Venedig verläßt,

mein Sohn. Nur -man muß bedenken, dass er auch wesentlich

härter mit dir hätte umspringen können.«

 

»Ich weiß«, sagte ich zerknirscht. »Und wohin soll ich gehen,

Vater? Soll ich mich aufmachen und das Schlaraffenland

suchen'«

 

»Mafio und ich haben in Rom zu tun, und du wirst uns

 

begleiten.«