Lautenmusik hört sie gerne, den Medienreport
mit mäßigem Interesse, das Echo des Tages ohne Anteilnahme,
Nachrichten gar: sie schläft. Am liebsten hört meine
Weihnachtsratte immer noch Schulfunk für alle. Gestern wurde
zwischen Steuer, Gebühren und anderen Abgaben unterschieden. Von
historischen Lasten, etwa vom Zehnten war in einem Hörbild die
Rede: wie die Bauern gepreßt unter Zinsvögten stöhnten, was alles
sie liefern mußten und wie ihnen für die Aussaat oft Korn nicht
genug blieb. Meine Weihnachtsratte huschte aufgeregt, witterte
interessiert.
Heute verbreitete sich der Schulfunk über vergangene und
gegenwärtige Produktionsmethoden der Landwirtschaft. Hörspielartig
war von Brandrodung, dann von der Dreifelderwirtschaft, von
Monokulturen, schließlich vom biodynamisehen Anbau, von Kompost,
Brennesselsud und so weiter die Rede. Still, wie in sich gekehrt,
saß sie in Richtung Radio, die runden Ohren gespitzt, alle
Witterhaare auf Habacht gestellt. Sogar »Der fröhliche Landmann«,
als abschließende Musik, gefiel ihr.
Jetzt schweigt das Dritte Programm. Weder sie noch ich wollen
hören, nach welchen Gesichtspunkten die Brüsseler Behörden den
Milchfluß dämmen oder neue Fangquoten für den Kabeljau bemessen.
Daß, nach Angaben der FAO, pro Weltsekunde dreikommafünf bis vier
Kinder verhungern, wissen wir schon. Mit meiner Weihnachtsratte bin
ich einig; ungeachtet aller beschwörenden Rufe »Es geht aufwärts!
Wir dürfen wieder hoffen!« läuft, schlittert, rutscht alles bergab,
dem statistisch gewissen Ende zu.
Vielleicht ist es aber auch so: der Schluß war schon. Es gibt uns
nicht mehr. Wir leben nur noch als ob, ein Reflex und demnächst
abklingendes Gezappel.
Oder wir werden von jemandem geträumt. Gott oder ein ähnlich
höheres Wesen, ein Übermotz träumt uns in Fortsetzungen, weil er
uns lieb hat oder komisch findet, deshalb nicht von uns lassen
kann, unser Gezappel nicht satt kriegt. In seinen Rückblenden, und
dank der medialen Gelüste eines göttlichen Prinzips, dauern wir an,
obgleich die letzte Vorstellung oder Ultemosch, wie die Rättin
sagt, längst stattgefunden hat: Unmerklich vergingen wir, weil sich
das Verhalten der Menschen, ihre laufenden Geschäfte,
Terminabsprachen und Schuldverschreibungen, ihre liebenswerten
Gewohnheiten und schrecklichen Zwänge selbst wenn sie das Ende an
einem Sonntag im Juni zufällig bemerkt hätten weder ändern noch
lösen, weder absagen noch aufheben ließen; so unveränderlich war
oder ist das Menschengeschlecht.
Als ob es uns immer noch gäbe, sagte ich zu meiner Weihnachtsratte:
Paß auf! Kurz vor den Mittagsnachrichten bringt das Dritte Programm
oft Chormusik, du schätzt doch Motetten. Dann will ich, während du
Schütz hörst, hoch ins Gerüst zu Malskat steigen. Er hat gute
Arbeit geleistet. Nach über fünfzig Figuren im Langhaus werden
demnächst im Hochchor einundzwanzig Heilige in Dreiergruppen stehen
und gotische Blicke werfen.
Ich habe mir Gerüstschuhe geliehen. Ich besuche ihn oben,
schmeichle, lobe seine kraftvollen Konturen, lache mit ihm über
dumme Pfaffen und schwätzende Kunstexperten, will aber, indem ich
rede und rede, etwas anderes, ihn überreden, wenn nicht ins
Ornament der Kapitelle, dann in Freifelder Sonnenblumen zu setzen,
die von Ratten gegen Taubenfraß geschützt werden. Einleuchtend
nenne ich diese Emblematik, zumal ja die Taube der Ratte
entspricht: gleich zäh werden beide zukünftig sein...
Malskat ist nicht abgeneigt. Ich biete ihm eine Zigarette an, Juno
natürlich. Wir plaudern über Filme mit Hansi Knoteck, die wir, jung
an Jahren, beide gesehen haben. Zwanglos kommen wir wieder auf
Tauben und Ratten zu sprechen. Er sagt: Es ließe sich dieses
hochgotische Motiv leicht auf die Pest zurückführen, jene Plage,
die ab Mitte des vierzehnten Jahrhunderts mit Hilfe der Schwarzen
Hausratte und einer inzwischen ausgestorbenen Feldtaubenart in ganz
Europa heimisch wurde, und als Gottesgeißel überall die
Christenmenschen lehrte, das Weltende kommen zu sehn, auch in
Lübeck, wo von zehn lebenden neun hingerafft wurden...
Neinnein! rufe ich und steige vom Gerüst. Das kriegen wir ohne
Ratten und Tauben hin. Uns ist keine Pest als Gottesgeißel
vonnöten. Der Mensch hat sich seit Malskats hochgotischen Zeiten
weiterentwickelt. Ganz aus sich, selbstherrlich, mündig endlich,
kann er Schluß mit sich machen und zwar gründlich, damit keine
Restbestände sich quälen müssen. Deshalb setzt er schon jetzt der
Natur und ihren Auswüchsen zu. Denn vor den Menschen muß dieser
Wald weg, das gefühlige Unterholz, die vernunftwidrige Ausflucht,
dieses unberechenbare König-Drosselbart-Reich...
Während noch immer Rotkäppchens Großmutter aus dem Wörterbuch
vergessene Wörter liest, die der Wolf, der zurückbleiben mußte,
gerne hört, und während die Grimmbrüder besorgt sind, es könne bei
den nun anlaufenden Aktionen der Märchengestalten zu Übertreibungen
und unkontrollierter Naturwüchsigkeit kommen; während Rapunzel mit
dem wachküssenden Prinzen Domino spielt und sich die Hexe mit der
Bösen Stiefmutter zum zeitüberbrückenden Mühlespiel findet; während
das Mädchen seinen davongeflogenen Händen nachsinnt, säen die Guten
und Bösen Feen, Raben und Krähen den Zaubersamen über Stadt und
Land, auf Wohnsilos und Betonpisten. Hoch über weitläufigen
Fabrikanlagen entlädt der fliegende Koffer unbemannt
Saatgut.
Auch auf festem Grund und Boden bekommen Industrielandschaften
unverhofften Besuch. Die Sieben Zwerge mixen Zaubersaft in die
Zapfsäulen der Tankstellen: abgezählt wenige Tröpfchen nur. In
U-Bahn-Stationen wird Rotkäppchens Korb leichter und leichter. Des
Mädchens abgehauene Hände sind im Mastengestänge übers Land
eilender Starkstromleitungen geschickt. Auf Bahnhöfen, unter
Brücken sieht man Schrate, Erdmännchen und sonstige Winzlinge: ihr
geschäftiger Eifer. An Ampelanlagen lassen die Sieben Geißlein was
fallen. Keine Schaltstelle, an der nicht Rattenköttel zeugnishaft
liegen; kein Schalltrichter, in den nicht Tauben ihre Kröpfe
entleeren.
Zauberer eilen über verkehrsreiche Plätze. Der große Merlin
überall. Jetzt begleitet er König Drosselbart, auf daß sich ihnen
Tür und Tor öffnet. Kohleund Atomkraftwerke besuchen sie, die
Farbwerke Hoechst und Bayer-Leverkusen. Wie hochvermögende Bosse,
umgeben von beflissenen Herren, besichtigen sie Fließbänder in
Wolfsburg, Köln, Nekkarsulm. Jetzt wird die Leopard-Montagestraße
der KraussMaffei-Werke begutachtet. Merlin memoriert keltische
Zaubersprüche, und Drosselbart erteilt Aufträge, diktiert
Lieferfristen.
Indessen haben sich auf dem Rhein-Main-Flughafen hübsch aufgemachte
Hexen und exotisch wirkende Wilde Männer unters reiselustige
Publikum gemischt: auf Rolltreppen, beim Einchecken und als
Stewardessen sehen wir sie. In Selbstbedienungsläden läßt Frau
Holle aus buntgeblümten Kopfkissen hier und da Daunenfedern
fliegen. Von Hochhäusern herab, in deren Etagen er Nadeln streute,
läßt das Tapfere Schneiderlein seine große Zwirnrolle
abspulen.
Kurz: Überall, wo sich Erwerbssinn regt, die Marktlücke entdeckt
ist, der Bedarf gekitzelt wird und sich das Bruttosozialprodukt zu
steigern verspricht, sind hier säende, dort tröpfelnde Kräfte
subversiv tätig, keine Ritze im System bleibt unbedacht. Selten
wurde das Getriebe der freien Marktwirtschaft aufmerksamer
gewartet.
Lautlos, ohne daß Untertitel erklären müssen, werden Sprüche
gemurmelt und Finger gekreuzt. In wechselnden Uniformen gelingt es
dem Standhaften Zinnsoldaten, militärische Sperrbezirke der
Bundeswehr und der verbündeten Schutzmacht zu betreten. Er wird,
weil plötzlich ranghoch befördert, von Standortkommandeuren
begrüßt. Er streichelt Panzer, Kanonen, Raketensilos, ist auf
schnellen Kriegsschiffen zu Gast. Als Co-Pilot steigt er in
überschallschnelle Flugzeuge. Sogar in Geheimakten darf er blättern
und läßt überall, auch im Verteidigungsministerium, einige
Kleinigkeiten körnchengroß liegen; so zerstreut ist der Standhafte
Zinnsoldat.
Und schon wird die Gegenkraft wirksam: zuerst zögerlich, als traue
der neue Frühling sich nicht, dann rasch und urplötzlich. Anfangs
sind nur vegetative Veränderungen erstaunlich, dann hat das
entfesselte Wachstum Menschenaufläufe zur Folge.
Pflanzen sprießen aus Schornsteinen und Brückenpfeilern, wuchern
und greifen um sich. Autobahnpisten brechen auf und geben schnell
rankendes Gewächs frei. Aus Fließbändern, Motoren, Rolltreppen,
Fahrstuhlschächten, Automaten und Kaufhauskassen quillt Grünzeug.
Die Kühltürme der Atomkraftwerke werden von Moos und Flechten
befallen, desgleichen einsatzbereite Panzer und Überschallflieger.
Algen übergrünen Fregatten und Raketenkreuzer bis hoch zur
Radaranlage, als seien alle Kriegsschiffe, was ihnen ohnehin
vorbestimmt ist, frühzeitig gesunken. Kletterpflanzen in
Starkstrommasten, die Fernsehtürme hinauf. Geschützrohre treiben
knospende, dann vielblättrige Äste. Bahnhöfe werden zu
Treibhäusern. Den Rhein-Main-Flughafen überschwemmt tollwütig Grün.
Aus allen Fenstern der Ministerien und Chefetagen kotzt sich Grün
aus, nimmt einzig Grün zu.
Wachstum! Überall legt die Natur sich quer. Seltsame, vorher nicht
gekannte Pflanzen fallen ihr ein, darunter solche, die Beton
zermürben, Mauern brechen, Stahlrohre biegen, solche, die
Karteikarten fressen und solche sogar, deren Saugnäpfe Daten
löschen. Moose und Flechten sprengen die Bank. Parkettböden treiben
Pilzkulturen. Mannshohe Buchstaben, die Firmennamen bilden, treiben
Ableger und werden unleserlich. Unwiderstehlich nimmt Natur
überhand. Kein Verkehr mehr in keine Richtung. Kein Rauch aus
Schornsteinen. Keine Abgase, dicke Luft. Die anfangs erschreckten
Menschen sind plötzlich lustig und haben Zeit.
Zwischen stillgelegten Produktionsanlagen, die sich zu botanischen
Gärten auswuchsen, und auf übergrünten Autobahnen schlendern
Grüppchen und Gruppen. Einzelne pflücken hier Blumen, entdecken
dort sündhaft süße Früchte. Jungen und Mädchen klettern an
rankenden Pflanzen hoch. Liebespaare hausen in Riesenerdbeeren.
Überall lädt diese Frucht zu hintersinnigen Spielen ein. Offen
steht allen der Garten der Lüste.
Deshalb halten Frauen und Männer, Kinder und Greise auf
verkrauteten Plätzen Schilder und Transparente hoch, auf denen zu
lesen steht: »Alle Macht den Märchen!« »Tief atmen, es lohnt
wieder!« »Die Grimmbrüder sollen uns regieren!« »Endlich das
richtige Wachstum!« »Wir fordern eine Märchenregierung!«
Während wir überall Menschen sehen, die sich lustvoll dem Müßiggang
hingeben, verengt sich das Bild auf Schirmgröße des Zauberspiegels.
Auch im Knusperhäuschen herrscht Freude. Arm in Arm: die Böse
Stiefmutter und die Hexe. Wie nie zuvor dürfen Hänsel und Gretel
kindlich sein. Einige Märchengestalten sind nach getaner Arbeit
zurück. Nicht nur das Mädchen ohne Hände, sogar Jorinde und
Joringel lächeln. Nur die Grimmbrüder wackeln mit den Köpfen
bedenklich. (Auch unser Herr Matzerath wird, sobald er aus Polen
zurück ist, gewiß Bedenken anmelden.)
»Das führt zu Chaos und Unzucht! Es muß aber eine gewisse Ordnung
geben. Und zwar von Staats wegen oder gottgewollt. So darf es nicht
weitergehen!« rufen abwechselnd Jacob und Wilhelm Grimm.
Nach einigem Zögern stimmen der Froschkönig nebst Dame,
Schneewittchen und der wachküssende Prinz den Grimmbrüdern zu.
Ermuntert von Schneewittchen sagt der Prinz: »Ich finde, daß es an
der Zeit ist, mein Dornröschen wachzuküssen.«
Rübezahl droht dem Prinzen Ohrfeigen an. Die Hexe und Gretel sind
vom Froschkönig bitter enttäuscht. Weil der Prinz weglaufen will,
stellt ihm Rumpelstilzchen ein Bein. Wie die Bösen Feen macht die
Hexe Grabschhände. Bevor sie ihn packen, wird der Prinz auf Hänsels
Weisung von den restlichen Zwergen mit einer Strähne aus Rapunzels
Haar gebunden und neben eine Stroh-, Moosund Blätterpuppe gelegt,
die Dornröschen gleichen soll; sogleich küßt er die Puppe. Nun
fallen die Zwerge über Schneewittchen her, wollen es ins Gebüsch
schleppen.
Die Grimmbrüder sind empört. Gewalttätigkeiten und seelische
Grausamkeiten waren ihnen schon immer zuwider. »Ihr solltet euch
schämen!« ruft Wilhelm. Und Jacob Grimm ruft: »Wollt ihr etwa auch
uns hindern zu gehen!?«
Zwar lassen die Sieben Zwerge von Schneewittchen ab, stampfen aber
und schütteln die Fäuste. Rübezahl bläst sich zum wütigen Berggeist
auf. Die Hexe macht gelbe Augen. Da sagen Hänsel und Gretel: »Laßt
die Grimmbrüder laufen.«»Sie werden eine neue und gute Regierung
bilden.« Darüber streiten die Märchengestalten, die sich inzwischen
alle vor der Pension eingefunden haben. Die Sieben Zwerge
agitieren, unterstützt von den Bösen Feen dagegen. Die Guten Feen,
der Froschkönig und seine Dame, Frau Holle und schließlich auch
König Drosselbart sind dafür. Während sich im Zauberspiegel der
Spruchbandaufruf »Die Grimmbrüder an die Macht!« mehrt, zeichnet
sich im Knusperhäuschen, dank Votum der Bösen Stiefmutter, eine
entsprechende Mehrheit ab. Nur Rumpelstilzchen, das Tapfere
Schneiderlein, die Zwerge und die Bösen Feen bleiben ablehnend.
Viele sind noch unentschlossen. Die Hände des Mädchens ohne Hände
spielen Stein Papier Schere. Die Hexe wirft Knöchlein. Rübezahl
bohrt in der Nase. Rotkäppchens Großmutter ruft überm Wörterbuch:
»Hier steht geschrieben: abstimmen!« Also stimmt eine klare
Mehrheit für »Laufen lassen«. Die Guten und Bösen Feen beraten
sich. Schließlich schreiben die drei Guten Feen mit blutenden
Fingern die Forderungen der Märchengestalten auf Seerosenblätter:
»Gute Luft! Reines Wasser! Gesunde Früchte!« Wie einfach, wie
bescheiden liest sich das.
Tänzerisch demonstrieren die Feen ihre Forderungen. Die Grimmbrüder
nehmen die Seerosenblätter wie Dokumente an sich und versprechen,
eine gute neue Regierung zu bilden. »Fortan sollen die Märchen
Mitsprache haben!« ruft Wilhelm.
Von den drei Guten Feen geleitet, verlassen sie die Lichtung um das
Knusperhäuschen. Einige Märchengestalten winken ihnen nach.
Nachdenklich sind die anderen. Der Froschkönig steigt in den
Brunnen. Die Dame legt sich. Der Froschkönig springt auf ihre
Stirn, will dann zur kindlichen, zur hexischen Stirn wechseln; aber
die Hexe wirft immer noch Knöchlein und Gretel steht finster
abseits.
Abermals beginnen die Hände des Mädchens mit sich Stein Papier
Schere zu spielen. Der wachküssende Prinz küßt wie von Sinnen die
Puppe. Rotkäppchens Großmutter liest dem Wolf Wörter aus
vergangener Zeit vor. Alle hoffen, daß dieses Märchen ein gutes
Ende nehmen möge.
»Einspruch! Ich sehe schwarz für den Film. Das
Gefälle dieser Geschichte«, ruft er, »ist zu katastrophal. Was soll
diese unmotivierte Toleranz! Niemals darf man die Grimmbrüder
einfach so laufen lassen.«
Da ist er und spricht dazwischen. Chef will er wieder und Produzent
sein. Dabei ist ihm die Polenreise schlecht bekommen. Sie hat ihn
altern lassen. Nicht mehr straff, knickbeinig steht er und meidet
den Spiegel. Sein grämlicher Blick ist voll innerer Pein. Zwar
immer noch maßgeschneidert, schlottert das Zeug an ihm. Was mag
unserem Herrn Matzerath unterwegs widerfahren sein?
Kaum hatte er die Rückreise angetreten, begann das Leiden. Als
heftiger Harndrang nötigte, alle fünfzig Kilometer, dann in
kürzeren Abständen, sobald sich links oder rechts der Chaussee
Gebüsch zeigte, angestrengt Wasser zu lassen, hatte unser Herr
Matzerath noch vermutet: »Das sind die Aufregungen, das
Wiedersehen, der Abschied, sowas schlägt auf die Blase.« Doch als
sich der Mercedes am Nachmittag Polens Westgrenze, dem Fluß Oder
näherte und das Wasserlassen zur Qual wurde, schmerzte,
schließlich, obgleich der Harndrang nicht nachließ, ergebnislos
blieb es tröpfelte kaum -, machte sich Bruno nicht nur als
Chauffeur Sorgen: »Wir werden, Herr Oskar, sobald wir im Westen
sind, in Braunschweig, spätestens in Hannover einen Arzt aufsuchen
müssen.«
So weich und bequem er saß, unser Herr Matzerath quälte sich durch
die DDR: Schweiß auf der Stirn. Seine Fingerchen trommelten oder
faßten die zittrigen Knie. Dieser inständige Drang, diese Furcht,
die Hose zu nässen.
Hinzukam, daß der häufige Halt des Mercedes auf freier Strecke,
dieser vergeblich erbitterte Versuch, beiseite der Autobahn, kaum
vom Gebüsch verdeckt, ein wenig, sei es auch nur ein Likörgläschen
voll zu pissen, den Verdacht der Volkspolizei in Gestalt einer
Streife erregte, so daß sich, nach angeordnetem Stop, ein Verhör zu
peinigend langem Aufenthalt auswuchs: die Verkehrspolizisten
wollten nicht begreifen, daß der Insasse eines Mercedes, dem
freilich der Mercedesstern fehlte, von solch banaler Unpäßlichkeit
befallen sein konnte. Umständlich nahmen sie alles, auch den in
Polen lokalisierten Diebstahl des Symbols zu Protokoll, wünschten
jedoch, als unser Herr Matzerath den Protokollführer aufforderte,
Augenzeuge seiner Unpäßlichkeit zu sein, nach kurzem Zögern Gute
Reise.
Wie gut, daß die Grenzkontrolle lässig verlief. Nicht erst in
Braunschweig oder Hannover gar, in Helmstedt wurde zu nächtlicher
Stunde die Städtische Krankenanstalt gesucht und
dank Brunos Spürsinn ohne längere Irrfahrt gefunden. Zappelig und
weinerlich war dem Patienten zumute, als der Notdienst leistende
Arzt seinen Unterleib abtastete und sogleich einen Urologen
herbeirief, der mit geschütztem Finger den Notfall auch rektal
untersuchte.
Ich weiß das alles aus erster Quelle. Oft genug hat er sein Malheur
ausgebreitet. Kaum aus Polen zurück, suchte er mein Ohr: »Für fidel
und gesund hielt ich mich. Und nun das. Eine Altmännerkrankheit.
Das Gebrechen der Greise. Der Urologe sprach von einer extrem
vergrößerten Prostata, Sie verstehen: Vorsteherdrüse. Es müsse
eingegriffen, operiert werden, demnächst. Entweder mit einer
Schlinge schabend verkleinernd durch die Harnröhre oder nach einem
Bauchschnitt radikal.« In Helmstedt wurde unserem Herrn Matzerath
nur ein Einmalkatheter gelegt, der ihn freilich enorm erleichterte,
so peinlich er den Eingriff empfand.
Genau tausendvierhundertsiebzig Milliliter Harn habe seine Blase
gefüllt, nein, überfüllt. Der Urologe »jung aber tüchtig«sei
angesichts dieser ablaufenden Menge erstaunt gewesen, doch habe er
die Erklärung: »Das waren die Aufregungen in Polen, Herr Doktor,
der hundertundsiebte Geburtstag meiner Großmutter, dieses
ergreifende Wiedersehen«, nicht gelten lassen. Es handle sich nicht
um die durchaus häufige Kirchweihverhaltung, sondern um ein
Dauerleiden, weshalb die Prostata demnächst verkleinert werden
müsse. »Nicht vor meinem sechzigsten Geburtstag!« rief vorhin noch
unser Herr Matzerath. Inzwischen hat man ihn mit einem
Dauerkatheter versorgt. Seitdem ist er, abgesehen von jenem häßlich
baumelnden Fremdkörper, so gut wie frei von Beschwerden. Dennoch
unterließ er es nicht, mehrere Ärzte
-»Kapazitäten!« sagt er aufzusuchen und von jedem Arzt vergeblich
den Freispruch zu erwarten. Er gibt mir Ratschläge, rät von Kaffee,
Alkohol, insbesondere von Weißwein und kaltem Bier ab, wird aber,
sobald ich ihn nach Einzelheiten seiner Polenreise befrage,
maulfaul bis zur Einsilbigkeit. Allenfalls höre ich etwa aus
Nebensätzen heraus: »Diese Solidarno[-Tragödie will nicht
aufhören... Streit bis in die Familie hinein... Immer wieder die
Politik... Das ist nichts für die Kaschuben... Ein schlimmes Ende
nimmt das... Und fortwährend kommt die Jungfrau Maria ins Spiel...
Wahrscheinlich ist mir Polens Geschick auf die Blase geschlagen.«
Als ich ihn direkter und familiär befragte, gab er nur knapp
Bescheid. Dochdoch, die Großmutter sei wohlauf. Über alle
Geschenke, besonders über die Schlümpfe, habe sie sich geradezu
kindlich gefreut. Sie erwäge sogar man stelle sich vor eine Reise
zu machen. Der sechzigste Geburtstag ihres Enkelkindes, das habe
sie gesagt: »Mecht miä schon välocken.« Natürlich sage ich unserem
Herrn Matzerath nicht, daß es ihn nicht mehr gibt; soll er doch
weiter so tun, als ob er Chef ist. Andere und selbst ich glauben ja
auch, daß es weitergeht irgendwie. Deshalb muß er nicht wissen, wie
es tatsächlich in der Kaschubei aussieht. Schlimm genug, daß er mit
einem Katheter heimgekehrt ist.
Also reden wir über »Grimms Wälder« und über die Falschen
Fuffziger, als mit Malskat im Gerüst alle Fälschungen hoch in Kurs
standen. Neinnein! Nie darf ihm zu Ohren kommen, daß es ihn, winzig
und mumienhaft, einzig als Altarschmuck noch gibt, Ratten zur
Andacht dienlich; denn alle Ärzte sagen: Keine Aufregungen! Unser
Herr Matzerath muß geschont werden.
Daß wir musikalisch sind, sollte bekannt sein;
falsch jedoch und dummer Aberglaube war jene vor dem Großen Knall
weitverbreitete und wie Unkraut nachwachsende Meinung, es sei uns
der Flötenton besonders lieb, es gehe von der Queroder Blockflöte
auf uns anziehende Kraft aus, es müsse nur jemand mit Fingern
geschickt und geschulten Lippen kommen, sein Flötchen bespielen,
ihm Triller und flinke Tonläufe entlocken, und schon wären wir
bereit, ihm, dem oft berufenen Rattenfänger, zu folgen und wie
blind in unser sorgsam vorbereitetes Verderben zu rennen, zum
Beispiel im Fluß Weser jämmerlich zu ersaufen.
Das war noch zur Hausrattenzeit. Lieberchen, sagte die Rättin zu
mir, wie sie neuerdings Herr oder Herrchen sagt. Ihre neue
Sprechweise macht mir ihr Rattenwelsch vertrauter, weil dem
üblichen Gezischel nun die Spitzen gekappt sind und sie sich
ländlich breit ausspricht. Lieberchen, sagte sie, von Hameln und so
weiter reden wir später. Nichts stimmt an dieser Legende. Aber
richtig ist, daß uns Ratten ein hoher, von keinem Menschenohr
jemals gehörter und keinem Instrument, ob Flöte oder Fiedel,
möglicher Ton gelingt, der über weite Distanz Nachrichten trägt und
dessen Sequenzen übrigens Forscher während der ausgehenden
Humanzeit mit Hilfe von Ultraschall ausgemessen haben, und zwar in
Boston, USADie Rättin prahlte ein wenig: Unser Infosystem! Dann
sagte sie: Es ließe sich aber auch wenn du willst, Herrchen unser
Tönen mit jenem Singsang vergleichen, den deine Frauen sie sagte
Weibsbilder als Gesang der Ohrenquallen gehört haben wollen, als
sie mit ihrem Schiff eine versunkene Stadt suchten. Zwar sprachen
sie von Medusengesang, doch war auch von einem musikalischen Papst
als Vorbild für das Quallensingen die Rede. Deshalb könnten unsere
Töne, wollte man sie ins Hörbare transponieren, an gregorianischen
Gesang erinnern, zumal des Menschengeschlechts sakrale Musik uns
immer schon lieb gewesen ist.
Mir war, als hörte ich schwellendes Psalmodieren, während die
Rättin auf mich einsprach: Schon während der frühchristlichen Zeit
sangen wir mit ihnen ohne daß sie uns hörten — in ihren
Fluchtbauten, den Katakomben. Mit ihnen haben wir unser Kyrie
entwickelt. Mit ihnen waren wir fromm. Und mit ihnen wurden wir
jahrhundertelang geschmäht und verfolgt. Wäre es doch bei diesem
Gleichklang geblieben: wir auf sie, sie auf uns eingestimmt. Ach,
ihre einstudierten Chöre! Ach, ihre Mehrstimmigkeit. Mit besonderer
Inbrunst sangen bis vor dem Knall die hier ansässigen Polen;
weshalb unser Singen, das immer häufiger die Hauptkirche Sankt
Marien bis hoch ins Gewölbe füllt, nicht frei ist von einer
gewissen, dem Volk der Polen nachgesagten Leidenschaft.
Neinnein, Herrchen! Kein Grund besteht, nationalistische Untertöne
zu befürchten. Zwar wissen wir immer noch, daß Ratte auf polnisch
Szczur hieß und scherzhaft rufen wir einander auch so oder
zärtlicher: Szczurzyca-, doch sind wir natürlich keine polnischen
Ratten. Die gab und gibt es so wenig, wie es portugiesische oder
ungarische Ratten gegeben hat oder posthuman gibt; wenngleich uns
der Mensch, seinem Zwang folgend, alles benennen zu müssen —
niemand kann sagen warum -, Rattus norvegicus genannt hat. Aber ein
bißchen polnisch sind wir dennoch, in dieser Gegend gewiß. Zum
Beispiel ist unsere Vorliebe für das Süßsaure und das Gekümmelte
auf den hier früher vorherrschenden Geschmack zurückzuführen,
weshalb wir, neben den Hauptfeldfrüchten, mit gutem Erfolg Gurken,
Kürbisse und Kümmel anbauen; auch dafür fanden sich Samentütchen in
unseren Fluchtbauten. Wir legen Schimmelund Pilzkulturen an. Indem
wir zarte Fäulnis beigeben, stellt sich Süßsaures her. Auch
charakterlich sind wir polnisch geprägt. Im Gegensatz zu den aus
dem Westen eingewanderten, nein, genauer, umgesiedelten
Rattenvölkern, die immer in alles System zu bringen versuchen,
leben wir sorgloser, doch nicht ohne bohrenden, manche sagen,
verbohrten Ernst. Wir erhoffen uns was. Unsere Gebete sind mit
Sehnsüchten überladen. Etwas Höheres, das nicht, noch nicht zu
haben ist die Polen haben es dazumal Freiheit genannt -, schwebt
uns wie greifbar vor...
Unsinn ist das! Vernunftwidrig! Die Rättin fiel sich ins Wort.
Natürlich gibt es keine polnischen und deutschen Ratten. Dafür sind
die Unterschiede zu gering. Nur an der Oberfläche unseres rattigen
Wesens sind wir gelegentlich gegensätzlich, wie während der
Hungerzeit, als wir uns in Glaubenssachen verbissen hatten. Sicher:
sie sind verwöhnt und zählen gerne auf, was alles sie im reichen
Westen gehabt und verloren haben. Sie bedauern uns und loben unsere
Bescheidenheit zu laut und zu oft. Ihre Ruhelosigkeit kennt keine
Pause. Auch ist ihnen ein Hang zum Besserwissen nicht abzugewöhnen;
aber manches, zum Beispiel, wie man die Lagerung von Saatgut
organisieren könnte, wissen sie besser. Da ihnen Freiheit nicht
allzu wichtig ist, sind sie ordentlicher als wir, auf manchmal
tickhafte Weise. Daß sie begonnen haben, im Hafengelände
fachkundiges Interesse an den Werftanlagen zu entwickeln, mag noch
angehen, wenn sie nun aber Schrauben und Schräubchen, Kugellager,
Gewinde und Bolzen zu sortieren und mühsam zu entrosten beginnen,
obendrein großspurig von ihrem Ersatzteillager reden, wirkt dieses
Getue lächerlich, zumal sie unseren eher spielerischen, doch nicht
ungeschickten Umgang mit metallenen Fundsachen verhöhnen; was wir
zu annähernd künstlerischen Gebilden montieren und vorm Artushof
oder auf den Beischlägen der Frauengasse zur Schau stellen, wird
oft mutwillig zerstört.
Ihr solltet das nicht so ernst nehmen, warf ich ein. Im Grunde
leiden die Deutschratten an ihren Ordnungszwängen. Sie bewundern
eure leichte Hand, diese Gabe zu improvisieren, euren eingeborenen
Kunstsinn. Wirklich sehenswert diese Figurinen aus
Schrott!
Ach was! sagte die Rättin, bloßer Zeitvertreib, Spielerei. Doch
unsere ernsthaften Bemühungen werden gleichfalls nicht anerkannt.
Immerhin kümmern wir uns um Altbauten, deren Zustand ihnen
gleichgültig ist. Ohne unsere Methode, mit Hilfe von Kalk, den wir
aus Muscheln im Schwemmsand gewinnen, und Sand, den der ständige
Wind in die Gassen weht, witterungsbeständigen Mörtel zu mischen,
würde die historische Bausubstanz der Rechtund Altstadt von GdaDsk
noch rascher verfallen. Sie aber reden besitzergreifend von unserem
Danzig. Gäbe es nicht den anhaltenden Zuzug restlicher Rattenvölker
aus Rußland, wo es, nach allen Berichten, immer noch schlimm
aussieht, könnten sich hiesige Konflikte, sagen wir ruhig, die
deutsch-polnischen Gegensätze abermals zuspitzen. Wie gut, daß es
die Russen gibt und nicht nur die und uns. Man weiß ja, wohin das
zu Zeiten des Menschengeschlechts und noch in posthumaner Zeit
geführt hat; denn als sich während der Hungerperiode unsereins
ineinander verbissen hatte, war nicht nur eifernd vom wahren
Glauben die Rede gewesen, es wurde auch Ihr Pollacken! Ihr Preußen!
geschimpft. Ach wie gut, Herrchen, rief die Rättin, daß uns alle,
seitdem wir Ackerbau betreiben und allesamt nicht mehr das
Tageslicht scheuen, eine Lautverschiebung eint. Unsere Sprache
gleicht sich den neuen Tätigkeiten und Gewohnheiten an. Sag,
Lieberchen, fällt dir nicht auf, daß wir neuerdings weicher,
gaumiger sprechen? Kein Fisteln, kein Gezischel mehr. Sogar tiefe
und breite Töne gelingen uns. Endungen auf kait und hait, früher
ungewohnte Wörter wie Saat, Dung, Gurke, Korn und nicht zuletzt
Sonnenblume werden klanghaft geläufig. Unsere vormals spitzen,
zischelnden Laute sind vollmundiger, aber auch flacher geworden,
sie geraten ins Breite. Das kommt, weil wir so oft über die Ernte,
das Kernestecken und immerzu übers Wetter reden. In ländlichen
Regionen wird besonders bräsig und braatsch gesprochen. In den
städtischen Revieren bilden sich Zwischentöne aus. Dort gelingen
das A und das O und das U wohlklingend. Wir üben Wörter wie:
Wehmut, Mohnblume und Abendrot.
Und ich hörte die Ratten städtisch daherreden und mit ländlichem
Zungenschlag. Auf dem Land wie in der Stadt sagten sie Zoagel oder
Zagel für Schwanz. Wenn von der Kälteperiode nach dem Großen Knall
die Rede war, hieß es: Daas war man inne Hubbrichkait, daas wiä
hädden all objefreeten. Räjen hieß Regen und Arfte Erbsen. Und die
Uralte nannten sie Olsche oder Olschke. Es klang gemütlich
stubenwarm, als hätte Anna Koljaiczeks Redeweise den Landwie
Stadtratten zur Lautverschiebung verholfen. Die Rättin sagte: Nu,
Lieberchen, mechts diä nich anheeren inne Kirch, waas jeiebt is auf
Ärntedank?
Nachdem sie mir, außer etlichen Schrottskulpturen, die, nach des
Menschen Bild geschaffen, auf dem Langen Markt ausgestellt standen,
Arbeitskolonnen gezeigt hatte, deren Aufgabe es war, bröckelndes
Altstadtgemäuer mit Kalkmörtel zu stabilisieren, zog mich die
Rättin ins Innere der Marienkirche, als müßte ich immer wieder in
jene gotische Seelenscheune geführt werden, die jedes Wort ins
Bedeutsame hebt.
Der Steinplattenboden und die eingelassenen Grabplatten der
Altdanziger Patriziergeschlechter lagen verdeckt, so dicht drängten
sich die versammelten Rattenvölker. Was leiderfüllt anhob, dann
jubelte, ein tieforgelnder und in hoher Lage silbriger Gesang, den
offenbar mehrere Chöre anstimmten, denn er war kunstvoll verwoben,
füllte die Hallenkirche bis ins Netzgewölbe der hoch oben
auslaufenden, ihren Schlußstein suchenden Pfeiler.
Die Rattenmesse in Sankt Marien hatte schon begonnen; oder war sie
ohne Anfang und Ende? Vom Westportal bis zum entrückten Hauptaltar,
auf dem, wie ich aus früheren Träumen wußte, ledern geschrumpft,
doch immer noch kenntlich, Anna Koljaiczek und ihr zu Füßen, von
brüchigen Röcken umwölkt, ihr Enkelsohn Oskar anbetungswürdig
waren, bewegten sich die Rattenvölker, indem sie gesungenem
Rhythmus gehorchten. Ein einziges Rattenvolk richtete sich auf.
Jede Ratte erhob sich in jeder. Sie standen auf den Hinterbeinen,
hielten die Rattenschnauzen mit vibrierendem Witterhaar hoch gegen
das Gewölbe, hatten aber ihre Vorderbeine nicht zum Gebet
verschränkt, streckten vielmehr feingegliederte Krallenhändchen,
wie von einem Sehnen ergriffen, indes sich ihr mehrchöriger Gesang
gleichfalls ins Sehnsüchtige verlor. Selbst ihre Schwänze standen
aufrecht, fädelten sich himmelwärts. Dann gingen sie wieder
vierbeinig zu Boden und zeigten, die dreischiffige Halle lang,
runde Rattenbuckel. Die Schwänze hatten sie allesamt
untergeschlagen. Demut übten sie, um sich abermals als
vieltausendköpfiges Rattenvolk aufzurichten, mit flehentlich
sehnender Gebärde.
Und wie ich sie flehen und beten sah die alten erdgrünen Ratten
zuhinterst, die jungen noch zinkgrünen zum Altar hin -, kam es mir
vor, als beteten sie nicht mehr auf katholische Weise, sondern mit
heidnischem Hintersinn; wie jene Feldfrüchte, die als Opfergaben
auf dem Altar gehäuft lagen, alle Devotionalien, etwa Anna
Koljaiczeks Rosenkranz und den schmiedeeisernen Schriftzug
überlagerten. Einzig die Schlümpfe und Golddukaten waren noch
kenntlich. Außer dem Üblichen diesmal Gurken und Kürbisse. Dennoch
herrschten Sonnenblumen vor. Und auch das hängende Kreuz überm
Altar war von schwellenden Fruchtkörben dergestalt überwuchert, daß
der genagelte Menschensohn nur noch geahnt werden konnte.
Nein! schrie ich. Das könnt ihr nicht machen! Heidnisch ist das,
Götzendienst, Lästerung...
Die Rättin flüsterte: Still, Herrchen. Siehst du nicht, wie
flehentlich sie die Sonne beschwören...
Aber ich bitte dich, Rättin, wollt ihr nicht wieder christlich und
wenn nicht christlich, dann wenigstens wieder katholisch
werden...
Eure Hallenkirchen, sagte sie, sind für vielerlei Glauben bestimmt
und wie geschaffen für uns...
Aber ich will das nicht! rief ich. Nicht mehr hören kann ich dieses
Jammern und Jeimern. Glauben war nie meine Stärke. Auf eure
Hoffnungen pfeif ich. Außerdem dürfte es unserem Herrn Matzerath
schwerfallen, als Winzling und luftgedörrt euch Rattenvölkern
Altarschmuck zu sein, wo er doch heimgekehrt, vor wenigen Tagen
leibhaftig aus Polen zurück ist. Die Reise hat ihm zugesetzt, das
Wiedersehen, der Abschied. Zu großer Druck, der nicht abfließen
will, macht ihm zu schaffen. Seitdem muß er einen Dauerkatheter
tragen Lästig ist das, ihm peinlich. Doch will ihn seine
Großmutter, sobald er demnächst sechzig wird, besuchen. Hörst du,
Rättin, sie will ihren Oskar leibhaftig besuchen...
Jaja, sagte sie noch immer denkst du dir deine Geschichte
fortgesetzt aus.
Und dann, und dann?
Dann kam die Währungsreform.
Und danach, was kam danach?
Was vorher fehlte, kam wunderbar Stück für Stück das meiste auf
Raten.
Und wie ging es weiter, als alles da war? Wir schafften uns Kinder
und Zubehör an Und die Kinder, was machten die Kinder dann? Fragen
stellten sie dumm, was davor gewesen und dann und danach
war.
Und? Habt ihr ausgepackt alles?
Wir erinnerten uns
an das Badewetter im Sommer neununddreißig. An was noch?
Schlimme Zeiten danach.
Und dann und danach?
Dann kam die Währungsreform.
DAS Z EHNTE
KAPITEL,indembeimFestaktein
Gewitter niedergeht, unserHerr Matzerath sich behauptet, die Rättin
dem treibenden Wrack Geheimnisse nachsagt, der Prinz davonläuft,
Neues aus Hamelnberichtet wird, die Ratten dichtgedrängt voller
Erwartung sind, keine Post Nachricht aus Travemünde bringt, doch zu
Beginn des neuenZeitalters die Glocken läuten.
Es ist meine See, an die viele Länder ufern,
vom östlichen Reval und Riga der baltischen Länder bis in ihre
westlichen Bodden und Buchten, mit den Marienkirchen in Lübeck,
Stralsund und Danzig, dem Dom zu Schwerin und Schleswig,
desgleichen mit der Johanneskirche in Stege auf Møn und der
gekalkten Kirche in Elmelunde, in vielen Städten Dänemarks, dann
lang den schonischen Stränden, der schwedischen Schärenküste, in
Ystad und Stockholm, sogar den Bottnischen Busen hoch, an Finnlands
Ufern, wie hoch nach Norden das Baltische Meer sich verläuft, auf
den Inseln Bornholm, Gotland, Rügen, im flachen oder gehügelten
Hinterland auch, überall dort, wo Ziegel gebacken wurden, reich an
Domen und Hallenkirchen, Ratund Zeughäusern, dazu gesegnet mit
Heiligengeisthospitälern und Sankt Georgshallen, mit
Zisterzienserund Franziskanerklöstern, die allesamt, nicht nur die
Bauten der Hanse im wendischen Quartier, der Backsteingotik
zugeordnet sind und meine See, die schwachsalzige, sanfte,
tückische, die quallenreiche Ostsee umsäumen. Zudem ist ein
jeglicher Bau mit Kunstschätzen vollgestopft. Hier wird das
Chorgestühl, dort das Zunftsilber bedeutend genannt. Dummstolze
Inschriften unter Patrizierwappen reden sich Demut vor Gott ein.
Überschlanke Madonnen muten dennoch geschwängert an. Flügelaltäre
und holzgeschnitzte Kreuzigungsgruppen sind sehenswert, auch das
Werkzeug der Peinkammern; und manchmal überraschen Reste
erstaunlicher Wandmalerei.
Vom Dom zu Schleswig an der Schlei, dessen Bilder auf Kalkputz der
Maler Malskat bis in den Kreuzgang hinein wieder gotisch gemacht
hatte, erzählte ich schon. Daß er dem Lübecker
Heiligengeisthospital unterm Lettner im Handumdrehen zu
hochgotischen Fresken verholfen haben soll, ist bis heute
umstritten. Doch verbürgt ist, wie er zuerst im Langhaus-Obergaden,
dann hoch im Chor jener Marienkirche tüchtig wird, die, trotz
französischer Kathedralenausmaße, als Mutterkirche aller
Backsteingotik gilt und deren Siebenhundertjahrfeier
bevorstand.
Malskat mußte sich eilen. Der Arbeitgeber Fey drängte. Schon hatte
man im Langhaus das Gerüst abgetragen. Ein Staatsakt war
vorgesehen. Sogar Sonderbriefmarken in zwei Werten der fünfzehner
Wert mattgrün, der fünfundzwanziger rotbraun -, die beide des
schnellen Malers Verkündigungsgruppe zum Motiv hatten, wurden in
Millionenauflage gedruckt und verkauft, weshalb der bevorstehenden
Feier Bedeutung zuwuchs und die Lübecker Kirchenleitung obendrein
Gewinn machte.
Die Schwarzröcke kassierten hundertachtzigtausend immer noch
neuglänzende Deutsche Mark, dem Maler jedoch, der, während das
Geschäft lief, ewig verschnupft hoch im Gerüst stand, brachten jene
Briefmarken, die heutzutage unter Sammlern ihren gesteigerten, ich
vermute, sündhaften Preis haben, keinen roten Heller. Er, der
Schöpfer der Verkündigungsgruppe, deren Ausdruck vom versammelten
Kunstverstand gelobt wurde, ging leer aus.
Allen Geschäften enthoben: man hätte ihn glatt vergessen können, so
vereinsamt hing Malskat hoch oben einem Gedanken an, der sich, dem
Bohrwurm gleich, nicht abstellen ließ. Und als am ersten September
des Jahres einundfünfzig endlich der Festakt in der Lübecker
Marienkirche stattfand, saß unser schwindelfreier Maler, der drei
Jahre lang zuerst im Langhaus. dann im Chor, fleißig gewesen war,
dennoch nicht im Mittelpunkt des festlichen Geschehens, etwa
zwischen geladenen Festgästen und Würdenträgern, wo, wie
selbstverständlich, sein Arbeitgeber saß, nein, ganz hinten im
Kirchenschiff, beim niederen Volk hatte er in vorletzter Reihe
Platz gefunden; so sehe ich ihn und frage mich, ob der Gedanke,
einmal gefaßt, immer noch bohrt. Und weit entrückt sahen ihn seine
einundzwanzig Chorheiligen, die in sieben Dreiergruppen auf
gemalten Säulenkonsolen standen, teils in seitlich weggeklappten
Spitzenschuhen, teils barfüßig.
Näher standen Malskat, der sich auf seiner Hinterbank stillhielt,
die vielen Heiligen im Langhaus. Jedes Joch des Obergaden zeugte
von ihm. Aus Farbresten, die bei leichter Berührung stäubten, nach
zuletzt noch vorhandenen Spuren, doch in der Regel aus sich heraus,
hatte er seine Fundgruben gegen Pfenniglohn erschöpft. Leer,
entleert saß Lothar Malskat auf der Hinterbank. In Dietrich Feys
altem Anzug saß er, den jener in Schleswig zu Kreuzgangszeiten
getragen hatte. Die Hose zu kurz, die Jacke in den Schultern zu
knapp. Es kniff ihn, so eingeengt saß er. Als jämmerliche Scheuche
mochten ihn von oben herab alle Heiligen sehen; und als späten
Konfirmanden sah ihn von fern, aus dem Stirnfeld des Chores seine
Jungfrau mit Kind. Die war berühmt mittlerweile und schmückte als
Abbildung jenen Prachtband der Kunsthistoriker, der die
Wandmalereien der Marienkirche zu Lübeck, ohne Malskat zu nennen,
zum Wunder erhob.
Er lachte in sich hinein. Hatte die Jungfrau doch, wenngleich ihre
Konturen wie von Jahrhunderten zernagt und von weißen Mörtelinseln
zersiedelt waren, besonderen Ausdruck: der war wild, herb und von
verschatteter Süße. Während einer Frühstückspause im Mai fünfzig
das war, als die letzten Lebensmittelrationierungen wegfielen hatte
er die nun berühmte Madonna mit Kind ganz in Gedanken an eine
Filmschauspielerin gemalt, die ihm am Vorabend im Kino es lief »Die
fidele Tankstelle« in alter Frische erschienen war, als wäre nie
Krieg gewesen. Während noch Malskat in sich hineinlachte, sprach
von der Kanzel herab zu allen, doch insbesondere zum Kanzler
Adenauer, der wie in Holz geschnitzt saß, der Bischof Pantke; das
war nicht jener, dem der Teufel eingegeben hatte, als Schlußstein
ein Hakenkreuz ins Chorgewölbe setzen zu lassen, sondern ein
greises Männchen, das zu den Festgästen und Würdenträgern sprach,
wohl auch zum niederen Volk auf den hinteren Bänken.
Wie ich nicht weiß, was alles, während der Bischof sprach, Malskat
zum inwendigen Lachen brachte, und nur vermuten kann, es wird die
Filmschauspielerin als Madonna oder der bohrende Gedanke gewesen
sein, weiß ich auch nicht, was sich der Kanzler Adenauer dachte,
als ihm die Predigt des Bischofs Pantke zuteil wurde. Jene um ihn
plazierten Festgäste und Würdenträger, denen die Unschuld feist zu
Gesicht stand, mögen ihn kaum ins Grübeln gebracht haben, wohl aber
ist zu vermuten, daß er sich um die Wiederbewaffnung der vor nicht
langer Zeit entwaffneten Deutschen sorgte und sich Gedanken in
Divisionsstärke machte; oder hörte er katholisch unbewegt der
protestantischen Predigt des Bischofs zu ?
Der lobte und dankte Gott, indem er ihn in kurze und lange Sätze
stopfte. Von Gottes Gnade und Gottes Güte, von Gottes auch den
Sündern sicherer Liebe und vom Gotteswunder in dunkler Zeit sprach
er, zudem zeitbezüglich von den Geschlagenen, denen Gott mit
Bildeskraft ein Zeichen gegeben habe. Als Bischof Pantke »Nun
danket alle Gott« anstimmte, sang Lothar Malskat laut mit. Es
sangen der Arbeitgeber Fey, Kirchenbaumeister Fendrich,
Oberkirchenrat Göbel, der Denkmalspfleger Münter. Es sang
Ministerialrat von Schönebeck, der von Bonn aus das Lübecker Wunder
finanziert hatte. Landesund Bundespolitiker sangen. Das niedere
Volk sang, wie es allzeit gesungen hat. Und es sang der erste
Kanzler des frischgebackenen Staates, ein wie Lothar Malskat
begabter Wundertäter, an dessen Seite oder ihm gegenüber getrost
des anderen Staates Gründer und Wundertäter hätte Platz nehmen und
mitsingen können, wenn auch nur weltlichen Text; denn zu Recht
sieht unser Herr Matzerath das Triumvirat Adenauer, Malskat,
Ulbricht selbdritt tätig. Noch vor Beginn jener Jahre, die er die
falschen Fuffziger nennt, hätten sie begonnen, aus bröckelndem
Nichts das Alte neu zu erschaffen und alle Welt meisterlich zu
täuschen, ein jeglicher auf seine Art. Das hört sich schlüssig an.
Nicht jedoch stimme ich unseres Herrn Matzerath Vorschlag zu, man
möge heute, aus gehöriger Distanz und nachdem endlich der
Fuffzigerschwindel durchschaut ist, Briefmarken im Hochformat
drucken und gesamtdeutsch in Umlauf bringen, die auf
Säulenkapitellen ein ganzfigürliches Trio als Bildmotiv zeigen
müßten, wie vormals die gegenwärtig so sündhaft teure
Verkündigungsgruppe. Rechts vom ostpreußischen Maler mit filziger
Wollmütze solle unterm Zylinder der rheinländische Kanzler stehen
und links der sächsische Staatsratsvorsitzende, der eine
Schirmmütze trägt. Attribute könnten den Flügelmännern zur Hand
sein, etwa spielzeuggroße Panzer amerikanischer und sowjetischer
Bauart; dem Mittelsmann stünden Pinsel und Drahtbürste zu. So ließe
sich die dreieinige Fälschung von dazumal, auf Personen gebracht,
zum Wertzeichen läutern, wie ja der gegenwärtige Wohlstand
zweifellos auf verjährtem Schwindel fuße. »Und auf Fleiß!« ruft
unser Herr Matzerath. »Unermüdlich fertigten sie ihre Trugbilder
bis ins Detail getreu. Der eine, der andere klüngelte, buk,
sächselte, frömmelte, log und beschwor sich sein Deutschland, auf
daß der dritte ihnen in Lübeck, wo Land an Land grenzt, ein gotisch
Dach wölbte. Wie sollen die drei nicht sinnfällig werden, und sei
es im gezahnten Viereck vereint. Auf Briefen und Päckchen, mit
niedrigstem Wert auf Postkarten sogar, sehe ich sie selbdritt ihren
Weg von hüben nach drüben, von dort nach hier nehmen. Was der
Politik nicht gelang, fügt sich postalisch. Ein gesamtdeutsches
Wertzeichen beglaubigt, gestempelt. Ein Sieg der
Philatelie!«
Mein Widerspruch kümmert unseren Herrn Matzerath nicht. Wenn schon
Briefmarken, sage ich aber er hört nur sich -, dann möge man solche
in Umlauf bringen, die einzig Ulbricht mit Adenauer koppeln, Seit
an Seit, wie man die beiden Dichter oder Profil hinter Profil
gestaffelt die Grimmbrüder zeige. Denn schließlich verließ Malskat
bald nach der Siebenhundertjahrfeier das Fälschertrio, und zwar
nach gedanklicher Vorarbeit.
Am Nachmittag des I. September einundfünfzig saß er zur Nachfeier
mit einigen Bauarbeitern in »Fredenhags Keller«. Nur auf einen
Sprung kam, noch immer im Stresemann, der Arbeitgeber Fey vorbei
und spendierte Schnapsund Bierlagen. Dann mußte er ins Rathaus, wo
nicht Malskat, nein, er, der schöne Fey, dem Bundeskanzler
vorgestellt werden sollte. Nach Berichten der Lokalpresse soll
Adenauer gesagt haben: »Na, da haben Sie ja den Kunsthistorikern
eine schöne Aufgabe hinterlassen.« Nicht verbürgt ist die Legende,
der Kanzler habe nach diesen Worten Fey zugezwinkert.
Später ging Malskat mit einigen Kumpels vom Bau ins »Cafe
Niederegger«. Fest stand sein Entschluß, den Schwindel endlich
auffliegen zu lassen. Der Bohrwurmgedanke trieb ihn. Es war nämlich
während der Feierstunde, grad als dem Schönling Fey eine
Ehrenurkunde mit Datum und Siegel übergeben wurde, von oben und wie
gezielt ein Gewitter über Lübeck niedergegangen. Der deutliche
Einspruch des Himmels erschreckte den Maler auf der vorletzten
Kirchenbank. Fromm wie er malte, verstand er Blitz und Donner als
Fingerzeig. Wieder und wieder erhellte plötzliche Grelle die
Trugbilder im Langhaus und Chor. Zudem war es gotteslästerlich
gewesen, den Festund Staatsakt auf den ersten September, auf jenen
Tag also zu legen, an dem vor zwölf Jahren der Krieg vorerst den
Polen erklärt worden war...
Obendrein erinnerten Blitze und folgendes Krachen mit des Ewigen
Donnerwort an den Palmsonntag zweiundvierzig, als britische
Flugzeuge ihre Bombenlast über Lübecks Innenstadt ausgeschüttet
hatten. Eine Stabbrandbombe durchschlug damals das Dach der
Marienkirche und setzte das Backsteingebäude dergestalt umfassend
in Brand, daß nicht nur die Große Glocke ins Kirchenschiff stürzte,
sondern überdies fingerdikke, Schicht nach Schicht aufgetragene
Schlämmkreide, die den Innenraum seit der Reformationszeit
protestantisch nüchtern gehalten hatte, von den Wänden sprang,
worauf in Konturen und Farbfeldern gotische Wandmalerei ans Licht
kam: brüchige Andeutungen nur, der bröckelnde Abglanz schadhafter
Schönheit. Und aus diesen Resten, die seit der Brandnacht immer
dürftiger wurden, hatte nicht etwa Fey, der die Ehrenurkunde
erhielt und dem der Kanzler womöglich zugezwinkert hat, das Wunder
von Lübeck vollbracht, sondern einzig Malskat, er, nur
er.
Seine Heiligen. Im Chor drei, im Langhaus zwei Meter hoch. Hier auf
Säulen, dort unter Baldachine gestellt. Jadoch! Romanische,
byzantinische, sogar koptische Zugaben standen ihnen ausdrücklich
gut zu Gesicht. Unter gradlinigen Säumen, auf seitich
hochgeklappten Flossenfüßen: die Gemeinschaft der Heiligen schweigt
sich an und ist dennoch beredt, wenn etwa die Auferstehung im
vierten Joch der Kreuzigung im Südjoch antwortet. Besonderes Lob
fand bei Kunsthistorikern, die im Juni einundfünfzig, als annähernd
alles vollbracht war, unter Feys Anleitung ins große Gerüst
kletterten, die Gestalt des Heiligen Bartholomäus im dritten Joch,
das ist der mit dem Messer. Damals hatte sich Malskat seitlich ins
Gerüst verdrückt. Niemandem sichtbar lachte er über Feys hallende
Erklärungen. Er, immer nur er. Er hatte, er wußte, er war sich
aller Details sicher. Einzelheiten, die Malskat in Eile auszuführen
vergessen hatte, etwa das Wundmal in des Auferstandenen linker Hand
und auch die Stigmata in beiden Händen des Heiligen Franz, führte
Fey auf Unterlassungen des hochgotischen Chorund Langhausmeisters
zurück: man habe wohl damals schon unter Zeitdruck arbeiten
müssen.
Lang, mager und trotz des Sommerwetters mit Pudelmütze im Gerüst,
so hatte Malskat den fachkundigen Lügen zugehört. Er lachte, wie
von früh an gelernt, in sich hinein und beschloß zum erstenmal,
seine Gerüstgeheimnisse unter die Leute zu bringen.
Doch als der Maler zum Denkmalsamt lief und zudem alle kirchlichen
Amtsstuben abklapperte, wollte ihm niemand glauben. Die
Denkmalsschützer hielten ihn für einen Aufschneider, die Pfaffen
hatten Angst vorm Skandal. Es stand ja die Siebenhundertjahrfeier
bevor. Ausdrücklich hatte der Bundeskanzler seine Anwesenheit
zugesagt. Dieser wahrheitssüchtige Malskat mit seiner
Drahtbürstengeschichte störte. »Was heißt hier Fälschung!« riefen
die Schwarzröcke. »Hundert Kunstexperten, die alle echt,
wahrhaftig, epochal sagen, können nicht irren.«
Es war nun mal die Zeit des Zwinkerns, der Persilscheine und des
schönen Scheins. Im Jahrzehnt der Unschuldslämmer und weißen
Westen, der Mörder in Amt und Würden und christlichen Heuchler auf
der Regierungsbank, wollte niemand dies oder das allzu genau
wissen, gleich, was geschehen war.
Schon wollte Malskat aufgeben und den Schwindel Schwindel sein
lassen. Und wäre nicht das Unwetter mit Blitz und Donnerworten über
Lübeck niedergegangen, hätte er womöglich geschwiegen. Nun aber,
deutlich vom Himmel angesprochen, kramte der Maler Skizzen und
Vorlagen, Tagebuchnotizen und sonstige Zeugnisse zusammen, nahm
sich einen Rechtsanwalt und brachte in Selbstanzeige die Wahrheit,
das Unzeitgemäße ans Licht.
Sichtlich zufrieden ist er, so sehr ihn der Dauerkatheter
behindert. Zügig, dabei seine Rede skandierend, schreitet er auf
und ab. In Lackschuhen diesmal. Er läßt nicht locker. Was sein Kopf
hergibt, muß Gestalt werden. An der fensterlosen Stirnwand seiner
übertrieben geräumigen Chefetage ließ er neben der Tafel eine stark
vergrößerte Schwarzweißabbildung aufziehen: im Hochformat jene
Dreiergruppe von Malskats Hand, die nach wie vor das siebzehnte
Joch im LanghausObergaden der Lübecker Marienkirche füllt; nur die
Chorheiligen wurden nach dem Prozeß abgewaschen.
Er weist mit dem Zeigestock auf Einzelheiten: »Jener mit dem
Schwert. Der Mittlere hält einen Pinsel. Des Dritten Bart läuft
spitz zu.« Er will mich schulmeisterlich überzeugen. »Daß ich nicht
lache!«, ruft er. »Das sollen Heilige sein, Apostel womöglich! Und
wo, wo bitte, sind die Heiligenscheine? O ja, ich kenne die
Erklärung: Der schusselige, der zerstreute, der bei zu niedrigem
Stundenlohn leichtfertig flüchtige Malskat hat vergessen, dreimal
schüsselrunde Konturen zu ziehen. Wie er hier und da einen Schuh zu
malen versäumt, die Wundmale des Herrn, die Stigmata des Heiligen
Franz ausgelassen hat, werden auch jene Heiligenscheine eins zwei
drei unter den Tisch gefallen sein. Doch wenn wir genau hinschauen
was nicht jedermanns Sache ist-, erkennen wir hintersinnige
Absicht. Diese drei Männer, sage ich, sind keine unvollständigen
Apostel, vielmehr bilden sie, wenn nicht porträtmäßig, so doch
ideell, unseren gewitzten Maler und zwei Staatsmänner ab, oder
Grandige Macheffel, wie Ihre Rättin sagt. Neinnein! Ich will nicht
behaupten, es habe sich Malskat auf hohem Gerüst eines Tages
entschlossen zu sagen: Hoppla! Jetzt male ich mich zwischen den
ollen Adenauer und Ulbricht, den Spitzbart; eher vermute ich: der
Zeitgeist von dazumal wird ihm diese Dreiergruppe eingegeben haben.
Plötzlich erleuchtet, sah er sich dazwischengestellt. Oder mischte
er unbewußt, sozusagen in Unschuld diese profane Konstellation in
seine Gemeinschaft der Heiligen? Ich werde ihn aufsuchen. Ich werde
mich mit Malskat ins Café Niederegger setzen. Wir werden uns bei
Tee und Gebäck wie süchtig erinnern: Was alles und wer zur damals
allgemeingültigen Trugbildnerei beigetragen hat. Hinge mir nicht
dieser Katheter an, ich wäre heute schon unterwegs.«
Gut, daß ihm das Malheur widerfuhr. Ohne Fremdkörper als Anhängsel
zöge er Konsequenzen sogleich, wie sonst nach längerer Rede. Unser
Herr Matzerath schweigt. Offenbar holt ihn Vergangenes ein.
Unsicher tippelt er, sucht ein erstes Wort, hat es gefunden, denn
nun winkt mich sein Ringfinger es ist jener mit dem Rubin dicht,
noch dichter heran. Beugen muß ich mich, sein Kölnisch Wasser
riechen, denn er will flüstern: »Nicht wahr? Sie haben mich
abschaffen, regelrecht umbringen wollen. Es war Ihre Absicht, meine
Geschichte weitweg in Polen, unter den Röcken meiner Großmutter zu
beenden. Ein jedermann plausibler und doch zu nahe liegender
Schluß. Mag sein, daß ich mich überlebt habe; doch so ist Oskar
nicht zu eliminieren!«
Nach einer Pause, die er sich und auch mir einräumt, sagt unser
Herr Matzerath aus tiefem Chefsessel: »Ihr Hang zu vorschnellen
Abrundungen könnte mir durchaus verständlich sein, mehr noch: ich
begreife, daß meine Existenz stört. Ich soll nicht mehr dreinreden
dürfen. Sie wünschen, mich loszuwerden. Niemand soll zukünftig,
wenn er Sie meint, auf mich verweisen können. Kurzum, wenn es nach
Ihnen ginge, wäre ich abgeschrieben bereits...«
Natürlich widerspreche ich. Doch mein Beteuern hält ihn nicht ab,
mir fernerhin Mordabsichten zu unterstellen: »Hören Sie endlich auf
zu leugnen, daß Sie meinen bevorstehenden Geburtstag mit Ihrem
vorsorglich ertüftelten Nachruf abfeiern wollten. Eine
Harnvergiftung mit letalem Ausgang wäre Ihnen zupaß gekommen: ein
mir maßgeschneiderter Tod! Wie gut, daß mein Chauffeur Ihren
Absichten zuvorkam, bereits bei Helmstedt die Autobahn verließ und
gerade noch rechtzeitig den tüchtigsten Urologen am Platze
ansteuerte. Stellen Sie sich vor: tausendvierhundertundsiebzig
Milliliter Harn faßte die Blase...«
Womit unser Herr Matzerath wieder bei den bekannten Einzelheiten
und quicklebendig ist. Seitdem ihm ein Katheter gelegt werden
mußte, hat sein Ich neuen Stoff gefunden. Nichts kann von dem
hilfreichen Röhrchen und dessen Stöpsel ablenken. »Wie einfach, wie
genial ist diese Erfindung!« ruft er und wird nicht müde zu
erklären, wie durch den Abzweig des Schlauches, den man in seine
Harnröhre gefädelt hat, jenes kirschgroße Bällchen aufgeblasen
wird, das dem Katheter rückwärtigen Halt gibt und dem Träger
Sicherheit verbürgt. »Sehen Sie«, sagt er, »das zeichnet den
Menschen aus: in noch so verzweifelter Lage weiß er sich letztlich
zu helfen.« Meinen Einwand, es könne aber doch sein, daß sich der
gegenwärtigen Lage, deren abschüssige Neigung niemand, selbst er
nicht leugnen werde, kein hilfreicher Katheter anbiete, ließ er
nicht gelten: »Unkenrufe! Überall höre ich Unkenrufe nur noch.
Schauen Sie andererseits mich an: Obgleich mir mein Ende gründlich
vorbedacht worden war, kehrte ich, wenn auch leidend, von den
kaschubischen Äckern zurück. Zwar wird, sobald ich sechzig zähle,
ein Eingriff nicht zu vermeiden sein, doch dürfen Sie sicher
bleiben, daß nicht ich Gefahr laufe, dieser Welt enthoben zu
werden; vielmehr sind Sie es, der sich verflüchtigt hat und nun
schwebt, als habe man ihn und sei es aus Spaß nur in eine
Raumkapsel verwünscht ...«
Mußte das sein, Rättin? Mußte ein großer Knall allem, was lief, den
Punkt setzen? Und muß nun ich mit dem Winzling Oskar, der zum
Altarschmuck verkam, kümmerlich haushalten, um mir, kaum
zeitverschoben, das Gerede dieses Herrn Matzerath anzuhören, der
fortgesetzt Pläne heckt und aller Welt Lebenszeichen signalisiert?
Will denn nichts, auch das Dritte Programm nicht aufhören? Und
bleibt mir, Rättin, während ihr Rattenvölker Ernte nach Ernte
einbringt und Sonnenblumenkerne häufelt, nur noch vom treibenden
Wrack zu berichten, weil die Frauen, kaum sahen sie unter sich ihr
Vineta liegen, ausgelöscht wurden? Dürfen mir nur noch Nachrufe
einfallen? Rasch abgelenkt, ihnen nah; denn zeitweilig haben mich
Frauen mit ihren Gefühlen versorgt: Die eine zärtlich, als meinte
sie sich, die andere heftig und ohne Geduld, die dritte bei
Gelegenheit, die vierte blieb unverzagt, die fünfte ergriff mich
umfassend bis heute: Damroka...
Du wirst zugeben, Rättin: immer fehlte was oder jammerten Reste.
Nie war ich zuhaus wie gewünscht. Immer hatte der Ball eine Delle.
Deshalb dachte ich mir ein Schiff aus, mit Frauen bemannt. Nur
versuchsweise mal sehen, was dabei rauskommt gefiel es mir, alle
einträchtig auf Reise zu schicken, obgleich sie einander
spinnefeind waren und in Wirklichkeit umständlich mieden. So sind
die Frauen, sagte man damals. Doch du, Rättin, hast meinen Versuch,
sie allesamt Schwesterlich zu begreifen, aufgehoben, und zwar Knall
auf Fall. Ach, könnte ich doch, ohne Spuren zu lassen, mit ihnen
ausgelöscht sein.
Aber du willst, daß ich schreibe. Also schreibe ich: Das Wrack
treibt in östliche Richtung.
Du verlangst, daß ich, sobald sich die Ostsee unter meiner
Raumkapsel breitet, das treibende Wrack nicht aus dem Blick
verliere.
Doch nur dir ist das Wrack wichtig, ich habe es abgeschrieben schon
längst, wie ich unseren Herrn Matzerath habe abschreiben wollen.
Was will er noch! Was redet er mir dazwischen! Was soll ich mit dem
verdammten Wrack!
Mit allen Aufbauten, die, schwarz begrenzt, blau gestrichen waren,
verglühten die Frauen. Wie sie mir fehlen. Erbärmlich und herrlich
war ich bei ihnen. Liebe! Davon verstehst du nichts, Rättin. Dieses
Zuvielniegenug. Ihr wollt nur leben und überleben. Behalte das
Wrack im Auge! rufst du. Da rührt sich was, Freundchen, da rührt
sich doch was!
Ja, Deckplanken klappern. Reste der Reling knicken weg, gehen über
Bord. Was noch soll sich rühren? Schattenspiele? Gespiegelte
Wünsche? Sollen sich etwa Tonbänder abspielen, selbsttätig auf dem
Recorder?
Nichts höre ich. Keinen Medusengesang. Die See ist mal glatt und
mal kraus und nicht mehr von Staubstürmen verdunkelt. Sie glitzert
verjüngt und riecht womöglich, wie sie roch, als ich Kind war und
Sommer für Sommer...
Mag sein, daß die See neu ist, aufatmet, sich belebt und neuerdings
von Plankton, Heringslarven, Ohrenquallen, fremdartigen Fischen
bewohnt wird, solchen, die landgängig werden eines Tages. Mag sein,
daß sich zutiefst in der See, wie ihr Ratten aus Löchern, der Butt
aus seinem Sandbett hebt. Mag sein, daß was kommt. Das Wrack jedoch
ist nur übriggeblieben. Leblos treibt es. Allerdings immer auf
östlichem Kurs, selbst bei gegenläufiger Strömung.
Nachdenken solle ich, hat mir die Rättin geraten. Erinnere dich,
rief sie, was kurz vor Ultimo auf Gotland geschah, als deine Weiber
in Visby von Bord gingen! Ziemlich unternehmugslustig zu fünft. Ihr
überbetonter Seemannsgang. Nun mach schon, Freundchen. Erinnere
dich!
Anfangs wollte die Zierlichste unter den Weibern, die Alte, die
Graue, die immer kochte, den Abwasch machte und wegräumte immerzu,
die Bordwache übernehmen. Aber dann
ja, ich erinnere mich galt Landgang für alle. Dieses Ruinenmuseum
mit Touristenbetrieb wollten sie unsicher machen. Was heißt
unsicher! Paar Einkäufe anfangs: schwedische Tiefkühlkost.
Nirgendwo war Aquavit aufzutreiben. Dafür überall Umzüge. Die
damals üblichen Proteste. Na, gegen dies und das und für den
Frieden. Ganz junge und ziemlich alte Gotländer in Turnschuhen und
Gummistiefeln unterwegs. Regnete es? Es nieselte. War ja ein mieser
Sommer. Aber alle friedlich hinter gemalten Sprüchen. Gut eingeübt
und geradezu verschlafen latschten die Gotländer durch die Stadt.
Die waren gegen alles, was auf Transparenten und Bauchplakaten
gefährlich genannt wurde. Jadoch, Rättin, ich will mich erinnern,
was kurz vor Ultimo aktuell war. Also die Ölpest und die
Verelendung überall, das Wettrüsten und Waldsterben auch. Sagte ich
schon: gegen dies und das. Und für Jesus waren einige. Ach ja, das
auch noch: eine Gruppe war gegen Tierversuche.
Na also! sagte die Rättin, endlich. Und was geschah dann? Liefen
die einfach nur rum?
Mit diesem nicht besonders langen Umzug, der außer Transparenten
überlebensgroße Attrappen vor sich hertrug, die handgemalt Hunde
und Rhesusaffen darstellten einige trugen Mäuseoder Rattenmasken
sogar -, liefen meine fünf Frauen mit, die sich für den Landgang
piekfein gemacht hatten: Die eine trug lang was Goldgelbes, die
andere lief unterm Turban in Pluderhosen, die dritte im
Schwarzseidenen...
Die Rättin mahnte, bei der Sache zu bleiben. Als ich mich über die
Frauen lustig machte, sie hätten gestern noch Ohrenquallen an Bord
geholt und vermessen, wären dann aber mit den Tierschützern läufig
geworden, unterbrach sie abermals meinen, ins Private abgleitenden
Bericht.
Das interessiert nicht! rief sie. Keine Weibergeschichten, nur was
in Visby geschah, kann heute noch interessieren. Naja. Es kam zum
Krawall. Am Stadtrand, vor einem Forschungsinstitut. War eine
Außenstelle von Uppsala. Ich glaube nicht, daß jemand von den
gotländischen Leutchen, jung oder alt, angefangen hat.
Wahrscheinlich hat die Maschinistin oder die Alte den ersten Stein.
Und dann legte die Steuermännin los. Jedenfalls war Damroka, die
sonst immer die Langsamste war, als Erste in dem Kasten drin. Die
anderen Frauen, jetzt auch die Gotländer hinterdrein. Später hieß
es, sie hätten wie die Wandalen. Und zwar in den Laboratorien
ziemlich teures Zeug kurz und klein. Dann aber ruckzuck die Käfige
auf. Ein Affe soll, als er befreit wurde, eine schwedische
Bibliothekarin gebissen haben, was Folgen hatte, weil der
Affe...
Nicht abschweifen! Weiter, weiter! forderte mich die Rättin.
Kaninchen und Hunde, alle Rhesusaffen und Meerschweinchen, sogar
einige Mäuse hat man später eingefangen. Die Frauen sind natürlich
zurück an Bord, als mit Blaulicht die Polizei kam. Gleich darauf
Leinen los und ab nach Vineta. Man wollte sich Ärger ersparen. Es
sollen nämlich zwei Dutzend Ratten, besonders interessante, hieß
es, entkommen und zuletzt von einem finnischen Matrosen, der aber
besoffen war, zwischen den Hafenanlagen gesehen worden sein... Da
haben wir's! rief die Rättin und hielt die Witterhaare steil. Dann
forderte sie mich auf, das treibende Wrack weiterhin zu beobachten.
Lange sei es verschollen gewesen. Sogar mir, dem Mann mit
Überblick, habe es sich entzogen. Du erinnerst dich, Freundchen,
wie dick nach dem Großen Knall rußgesättigter Rauch über Wasser und
Land lag. Die Erde war ohne Licht. Nicht du, nicht wir können die
Zeit der Finsternis messen. Wie wird es in jenen Tagen der Kälte
oder waren es Monate, Jahre
dem treibenden Wrack ergangen sein? Trieb es in Schwärze
eingesargt? Oder saß es unter Dauerfrost fest, vom Eis überzogen?
Wenn Leben, irgendeine Art Leben im Schiffsrumpf gewesen wäre, wie
hätte es, fragen wir Ratten uns oft, überdauern können?
Genau! rief ich. Niemand, keine Wanze hält sowas aus. Wir sollten
das Wrack abschreiben. Es bringt nichts mehr. Unseren Herrn
Matzerath auch. Weg mit ihm! Das ist doch alles von vorvorgestern.
Erzähl lieber, Rättin, was bei euch in der Landwirtschaft läuft.
War das Frühjahr zu naß? Was brachten die letzten Ernten? Achtet
ihr auf den Fruchtwechsel? Aber jewiß doch, Herrchen! rief ländlich
breit die Rättin. Und ich sah Felder, bis zu den Horizonten: Rüben,
Mais, Gerste und Sonnenblumen. Wie schwer sich die Fruchtkörbe
neigten. Sah Kerne in ihrer Ordnung gereiht. Und farbige Vögel sah
ich über den Feldern. Ein schöner Traum...
Kaum sind die Grimmbrüder gegangen, ruft
Rumpelstilzchen als Kellner: »Abwarten und Teetrinken!« Er serviert
Getränke vorm Haus. Gutgelaunt und zu kleinen Scherzen aufgelegt,
steht man in Gruppen und plaudert, als habe die Hexe das Personal
weithin bekannter Märchen zu einer Stehparty geladen. Man sagt
einander altmodische Artigkeiten, doch nebenbei werden aus
Vorzeiten verschleppte Spannungen deutlich: Die Bösen Feen können
schnippische Bemerkungen, die den Guten Feen gelten, nicht
unterdrücken. Das Tapfere Schneiderlein sucht Streit mit den Wilden
Männern. Überall wuseln zänkisch Zwerge und Schrate. Die Hexe und
die Böse Stiefmutter stechen einander mit Blicken ab. Rübezahl hat
Frau Holle beleidigt. Rotkäppchen versucht, Hänsel anzumachen.
Jetzt will Gretel, weil der Froschkönig nicht in den Brunnen will,
in den Wolf flüchten, aber der Reißverschluß sperrt. Niemand hört
der Großmutter zu, die aus dem Wörterbuch alte Wörter hersagt.
Anderes ist anziehender: der Zauberer Merlin und König Drosselbart
halten Hof. Zwerge und Schrate drängeln. Die minderen Hexen wollen
nahbei sein. »Einen Jacob Grimm als Kanzler ließe selbst ich mir
gefallen!« ruft Drosselbart. Merlin, der soeben noch von Intrigen
um König Artus' Tafelrunde Bericht gab, räumt ein: »Unsereins würde
die Grimmbrüder immerhin tolerieren.« Man lacht und trinkt auf das
Wohl der neuen Regierung.
Nur das Mädchen mit den abgehauenen Händen ist traurig. Lustlos
hängen die Hände an der Schnur um den Hals. Es streunt zwischen den
plaudernden Gruppen, will keinen Drink, den Rumpelstilzchen ihm
anbietet, mag nicht Rübezahls Angebereien aus Zeiten hören, in
denen er arme Köhler und Glasbläser erschreckt hat, sieht
bekümmert, wie ein Zwerg nach dem anderen Schneewittchen in die
Büsche zerrt, ist, sobald ihm Jorinde und Joringel begegnen,
trauriger als zuvor und verdrückt sich schließlich ins
Knusperhäuschen, wo Rapunzel, mit deren Haar der Prinz gebunden
ist, neben der Bösen Stiefmutter auf einer Fensterbank und vor
wehenden Gardinen sitzt.
Immer noch küßt der Prinz die seinem Dornröschen nachgebildete
Puppe. Rapunzel und die Böse Stiefmutter nehmen sich Bindfäden ab,
ein verzwacktes Fingerspiel, dem das Mädchen ohne Hände lange
zusieht.
Endlich faßt es Mut und sagt: »Darf ich sehen, wie mein Herr Vater
zweimal mit dem Beil zuschlägt?« Die Böse Stiefmutter zeigt sich
freundlich, worauf ihr die Hände des Mädchens, um behilflich zu
sein, das kunstvolle Bindfadengespinst abnehmen, so daß sie zum
Kästchen greifen, ein Knöpfchen drücken und, während der Bildschirm
zu flimmern beginnt, wieder ihr Fadengespinst von des Mädchens
Fingern abnehmen kann, um es Rapunzel anzubieten, die das Gespinst
im Aufnehmen verändert.
Jetzt belebt sich der Spiegel mit einander löschenden
Märchenszenen: Wir sehen die Sieben Zwerge um den gläsernen
Schneewittchensarg gestellt; wütig reißt sich Rumpelstilzchen sein
Bein aus; die Geißlein flüchten, eins in den Uhrkasten; der Dame
mit ewigem Kopfschmerz fällt, als sie noch Kind war, die güldene
Kugel ins Brunnenloch; endlich zeigt der Zauberspiegel das Märchen
von den abgehauenen Händen. Auf einem Hocker gekauert, dicht vor
den Spiegel gerückt, die Hände an der Schnur auf den Knien, so
sieht das Mädchen, wie der Vater auf Geheiß des Teufels, dem er in
seiner Not sich verschrieben hatte, mit dem Beil zweimal zuschlägt,
wie es darauf mit Händen, die abgehackt an der Schnur hängen,
traurig und ziellos durch die Welt läuft, wie ihm endlich ein Prinz
hilft, in Liebe den besonderen Baum zu umfassen, auf daß dem
Mädchen die Hände wieder anwachsen und es glücklich wird mit dem
Prinzen.
Weil aber die Böse Stiefmutter den Märchenfilm trotz des
verzwackten Bindfadenspiels im Auge hat, manipuliert sie böse, wie
sie sein muß, mit kleinem Finger den Filmverlauf, so daß dessen
Szenen in rascher Folge wechseln: Hier hackt der Vater zweimal mit
dem Beil, dort hilft der Prinz, den Baum zu umfassen, dann wieder
schrecklich der Vater, darauf hilfreich der Prinz, nochmal das
Beil; kurzes Glück und Schrecken ohne Ende.
Und wie im Film wachsen dem Mädchen auf dem Hocker vorm Spiegel die
Hände beide an, um abermals abgehackt auf den Knien zu liegen,
trostlos immer wieder.
Indessen will die Stehparty nicht enden. Einige Märchengestalten
spielen ihre Rollen. Unterm Betthäubchen zeigt Rotkäppchens
Großmutter plötzlich ein Wolfsgesicht. Die Hexe läßt Besen tanzen.
Rübezahl biegt Eisenstäbe krumm. Als wandle sie im Traum, trägt des
Froschkönigs Dame auf einem Tablett ihren Frosch von Gruppe zu
Gruppe. Hänsel und Gretel holen letzte Bucheckern und Haselnüsse
aus dem Knusperhäuschen-Automaten. Die Guten und Bösen Feen
verwandeln sich wechselseitig in Vogelscheuchen. Auch Aschenbrödel
und König Drosselbart, der Standhafte Zinnsoldat und Frau Holle
sind ganz und gar in ihre Märchen vernarrt. Selbstvergessen spielen
sie sich. Sogar Schneewittchen will nicht mehr mit wechselnden
Zwergen ins Gebüsch, sondern tausendmal schöner für wen auch immer
sein. So geht Märchen in Märchen über. Jorinde liegt beim
Zinnsoldaten, Joringel hat sich zu Aschenbrödel gelegt. Einzig die
Hexe bleibt sich und Hänsel treu: zwischen ihre enormen Titten
gebettet, träumt ihm nicht nur, was hinterm Hagebuttengebüsch
geschieht.
Und ähnlich vertieft in ihr Spiel sind indessen die Böse
Stiefmutter und Rapunzel. Während sie einander die Bindfadenkunst
Mal um Mal abnehmen, merken sie nicht, wie sich der wachküssende
Prinz von Rapunzels Haarfesseln befreit, zwischen wehenden Gardinen
aus dem Fenster springt und, weil der Wald hinterm Haus so dicht
steht, mit wenigen Sprüngen entkommt.
Auch das Mädchen ohne Hände merkt nicht auf, denn immer noch sieht
es seinen Film, in dessen Verlauf soeben ein anderer Prinz Glück
bringt, das allerdings nicht von Dauer ist; immer noch manipuliert
die Böse Stiefmutter mit kleinem Finger. Draußen löst sich die
Stehparty auf. Heftige Windstöße. Wer sich gepaart gelagert hatte,
findet es plötzlich kühl. Verstört drängen alle ins Haus. Während
er weiterhin Tee und Säfte serviert, sagt der Kellner
Rumpelstilzchen: »Ob wohl die Grimmbrüder inzwischen eine neue und
gute Regierung gebildet haben?«
Erschrocken erinnern sich die Märchengestalten der Wirklichkeit.
Grob wird das Mädchen, dessen Hände im Film abermals abgehackt
werden und also gesondert auf ihren Knien liegen, von den Sieben
Zwergen verdrängt. Die Böse Stiefmutter gibt das Bindfadenspiel auf
und schaltet den Zauberspiegel nach Bonn um. Alle, auch Rapunzel
mit langem Haar, stehen dichtgedrängt und wollen sehen, was fernab
läuft.
In Bonn wuchert noch immer Grünzeug. Bis in die Fenster des
Bundeskanzleramtes, in den Kabinettsaal hinein kriechen Schlingund
Kletterpflanzen. Dort halten die Grimmbrüder mit ihrer
Notstandsregierung, die aus Industriebossen, Bischöfen, Generälen
und Professoren besteht, ihre erste Kabinettssitzung ab. Reihum
zeigen sie die Wasserrosenblätter mit den drei Forderungen der
Märchengestalten nach reiner Luft, sauberem Wasser und gesunden
Früchten. Die Bischöfe und Professoren nicken vorsichtig
bedenklich. Die Generäle sitzen unbewegt am Kabinettstisch und
fühlen sich vom überall rankenden Grünzeug belästigt. Die
Industriebosse sind empört. Sie gestikulieren und schlagen auf den
Kabinettstisch, der, mit Filz bezogen, sprichwörtlich grün ist.
Lauter Streit und heimliches Tuscheln. Unterm Tisch, wo Dickicht
wuchert, werden den Professoren und Bischöfen Geldscheine
zugesteckt.
Bis auf die Grimmbrüder sprechen jetzt alle, die Bischöfe unter
Bedauern, gegen die drei Forderungen, so einfach sie sich lesen, so
bescheiden sie sind. Zum erstenmal zornig schlägt Jacob Grimm auf
den grünen Tisch. Einzig sein Bruder erschrickt. Erstaunt und
herablassend geben sich Bosse und Generäle, die Professoren
peinlich berührt.
Jacob ruft: »Noch bin ich Kanzler, immer noch ich!« Wilhelm
bestätigt: »Das sollten Sie nicht vergessen!« Gelächter antwortet
ihnen, in das sogar die Bischöfe, wenn auch verhalten,
einstimmen.
Im Knusperhäuschen sieht man, wie Wilhelm Grimm dem amüsierten
Kabinett von den drei Guten Feen berichtet. Alle sind von den
Bonner Ereignissen gebannt. Beunruhigt sehen sie, wie wenig das
Wort der Grimmbrüder gilt.
Da ruft Gretel plötzlich: »Der Prinz, wo ist der Prinz!?«
Erschrecken, Durcheinander, kopfloses Suchen. Rübezahl verprügelt
die Sieben Zwerge. Die Hexe packt Rapunzel beim Haar, will schon
zur Schere greifen. Da ruft die Böse Stiefmutter: »Er kann nicht
weit sein!«
Sie schaltet das Bonner Programm, in dem Wilhelm Grimm noch immer
von den Guten Feen schwärmt, aus und sucht mit dem Zauberspiegel,
bis sie den laufenden Prinzen im Bild hat.
Abwechselnd schicken die Hexe, Merlin und die Böse Stiefmutter dem
Flüchtling Hexenund Zaubersprüche, Verwünschungen nach. Der Prinz
stolpert, stürzt, überschlägt sich, läuft aber weiter. Jetzt wächst
ihm eine lange Nase, jetzt wachsen ihm Fledermausohren. Aber er
läuft und läuft. Nun wird er, weil sich die Sprüche steigern,
überbieten, einander löschen, zum Reh, zum Einhorn, zur Kugel, aber
er springt, trabt, rollt dennoch, bis er nun ganz und gar wieder
Prinz den Waldrand erreicht, auf die überwucherte Autobahn findet
und ein überkrautetes Schild zeigt die Richtung nach Bonn
läuft.
Im Knusperhäuschen streiten sich der Zauberer Merlin und die Böse
Stiefmutter. (Herr Matzerath will, daß die Hexe wütig mit gelben
Augen nun doch zur Schere greift; aber ich mag Rapunzel nicht kahl
sehen und rette ihr langes Haar, indem ich Hänsel gegen die Hexe
ausspiele.) Als sei er hinterm Hagebuttengebüsch zum Mann geworden,
nimmt er ihr die Schere kurzerhand ab: »Das bringt uns nicht
weiter!«
Gretel ruft: »Noch ist ja nichts verloren!«
Auf Hänsels Weisung schaltet die Böse Stiefmutter im Zauberspiegel
wieder die Kabinettsitzung ein. Dort kämpft noch immer Jacob Grimm,
von seinem Bruder unterstützt, mit der korrupten
Notstandsregierung. Industriebosse tuscheln mit Generälen. Unterm
Tisch zählen Professoren Geldscheine, die vom Volksmund Riesen
genannt werden. Überm Tisch lächeln die Bischöfe wie nur Bischöfe
lächeln können; dabei drehen sie Däumchen oder blättern in ihrem
Brevier.
Jacob Grimm ruft: »Noch bestimme ich die Richtlinien der
Politik!«
Die Industriebosse zerreißen die Wasserrosenblätter. Einer der
Bosse ruft: »Aber wir haben das Sagen hier!«
Ein anderer: »An uns kommt keiner vorbei!«
Alle rufen: »Schluß mit den Märchen!«
Da sehen wir Wilhelm Grimm weinen. Jacob setzt sich erschöpft.
Einer der Generäle ruft per Knopfdruck die Wache in den
Kabinettsaal und läßt die Grimmbrüder verhaften, worauf sich
schnell ein anderer General auf den geräumten Kanzlerstuhl
setzt.
Obgleich die Professoren Bedenken äußern, werden den Grimmbrüdern
Handschellen angelegt. Wilhelm sagt: »Siehst du, Bruder, so
mißachtet man uns seit altersher.«
Jacob sagt: »Wir widerstehen dennoch. Ich werde eine Denkschrift
verfassen.« Beide sollen von der Wache abgeführt werden.
Da stürzt der wachküssende Prinz atemlos in den Kabinettsaal. Er
verteilt Luftküsse und gibt atemlosen Bericht: »Ich bin, ich habe,
da wurde ich, lief aber, lief, und nun bin ich da!« Wie er die
Grimmbrüder in Handschellen sieht, ruft er nach höfischer
Verbeugung: »Meine Herren! Ich biete Ihnen dienstfertig Hilfe an.
Doch muß ich Sie ersuchen, die sofortige Freilassung der
hochverehrten Grimmbrüder anzuordnen.« Weil sich die Militärs und
Großkapitalisten unschlüssig zeigen, hilft der Prinz nach: »Damit
wir uns verstehen. Ohne mich und meine Küsse läuft hier nix.
Unternehmen Dornröschenschlaf. Endlich kapiert!?«
Während sich noch die Generäle mit den Industriebossen beraten,
nimmt, auf Weisung des frischgebackenen Kanzlergenerals, der eine
Bischof den Grimmbrüdern die Handschellen ab, der andere lächelt
milde. Der Kanzlergeneral sagt: »Lassen wir es gnädig bei
Hausarrest. Da finden die Herren Ruhe und können schreiben, was sie
wollen. Märchen von mir aus!« Zuvorkommend geben die Professoren
den Grimmbrüdern ihre Hüte. Jacob und Wilhelm nehmen ihren Hut und
gehen traurig aber aufrecht ab.
(Da ich die Meinung unseres Herrn Matzerath teile, es müsse jetzt
nicht das Elend im Knusperhäuschen eingeblendet oder gar
ausgekostet werden, gehört die Szene dem wachküssenden Prinzen.)
Auf der großen Waldkarte zeigt er, wo die Dornenhecke das
schlafende Dornröschen, den schlafenden Kanzler und sein
tiefschlafendes Gefolge überwuchert hat.
Sofort bricht Geschäftigkeit aus. »Alarmstufe drei!« »Anordnung an
Spezialtruppe!« »Gezielt Dornröschenschlaf aufheben!«
Unterm wuchernden Grünzeug finden sich Telefonapparate. Kommandos
werden erteilt. Im Vorgefühl seines Glücks küßt der wachküssende
Prinz den einen und anderen Bischof. Dann verschwendet er
Luftküsse. (Unser Herr Matzerath sagt ganz richtig: Eine Krankheit
ist das. Schlimmer: im Kuß steckt der Tod.)
Nicht dran rühren.
Wehe, es beugt sich wer, wirft Schatten, wird tätig.
Nie wieder soll irgend ein dummer Prinz seine
Rolle zu Ende spielen,
auf daß der Koch dem Küchenjungen schallend die Ohrfeige
austeilt
und weitere Folgen zwangsläufig.
Ein einziger Kuß hebt auf. Danach geht alles,
was schlief, schrecklicher als zuvor
weiter, als sei nichts geschehn.
Aber Dornröschenschlaf hält
immer noch alle gefangen,
die freigelassen zum Fürchten wären. Im Dritten Programm, wie in
allen anderen Rundfunkprogrammen, wurden heute wiederholt
Alarmübungen für den Ernstfall angesagt. Akzentuiertes
Sirenengeheul soll unterschiedliche Bedeutung haben. Aufund
abschwellendes Heulen, Geheul als Dauerton und so weiter. Das muß
gelernt werden. Deshalb der Aufruf an alle, die Rundfunkgeräte zu
bestimmter Zeit anzuschalten und wichtige Durchsagen zu hören. Es
gilt, diese Durchsagen zu befolgen. Wer aus Zeiten des letzten
Krieges Warnung und Entwarnung noch immer im Ohr hat, bleibt
gefordert, seine Ängste aufzufrischen.
Später hörten meine Weihnachtsratte und ich bedeutungsvolles
Sirenengeheul. Die Werft nahbei ist friedensmäßig und für den
Ernstfall gerüstet. Wir unterschieden die Vorwarnung, den
Luftalarm, die Entwarnung. Es klappte wie angekündigt. Nun wissen
wir.
Merkwürdigerweise ging vom abgestuften Geheul ein Sicherheit
verbürgendes Fürsorgegefühl aus. Wir werden nicht überrascht
sein.
Danach hörten wir Schulfunk: etwas über Verkehrserziehung, dann
Pädagogisches über den Umgang mit Schwererziehbaren, dann People
talking. Zu Beginn der Nachrichten hieß es, das Scheitern des
Gipfels in Brüssel sei als nur vorläufiges Scheitern zu werten;
gegen Nachrichtenende kam eine Erfolgsmeldung: in Uppsala,
Schweden, sei es gelungen, aus ägyptischen Mumien
zweitausendvierhundert Jahre altes Erbmaterial, uralte Gene zu
isolieren und in Gewebekulturen zu vervielfältigen: ein
Fortschritt.
Meine Weihnachtsratte und ich stimmen überein: Diese Nachrichten
tun so als ob. Zwar läuft noch alles, doch nichts geht mehr. Im
Dritten Programm, ob in Brüssel oder Uppsala: Die Luft ist raus.
Das sind Reflexe nur noch, Vertagungen, Mumienschändung! Doch
während ich die Brüsseler Spesenritter und die schwedischen
Erbschleicher verfluche Stell Dir vor, die übertragen jetzt
mumifizierte Informationen in taufrische Frischzellen! -, kugelt
sich mein Rättlein verschlafen, als lohne aus Rattensicht kein
Aufmerken der Witterhaare.
Also erzähle ich ihr, was ich neulich in Hameln erfuhr, als ich
abseits vom Festspielprogramm die Krypta der Bonifatiuskirche
besuchte.
Ich weiß es jetzt besser, Ratte. Das war nach den Kinderkreuzzügen
und gut sechzig Jahre, bevor die Pest kam. Damals waren die Leute
ziemlich durcheinander. Niemand wußte, was richtig war. Viele Jahre
lang hatte es keinen Kaiser, nur Mord und Totschlag gegeben. Jeder
machte, was er wollte und nahm, was er nicht hatte. Und überall war
Angst zu haben. Angst vor dem Kommenden. Allerweltsangst. In jede
Richtung zogen junge Leute übers Land und durch die Städte, im
Westen rheinaufwärts. Sie tanzten wie gestochen und geißelten sich
bis aufs Blut. Ihre Lieder, dieses Geißlergeheul, machten den Juden
Angst, denn die Geißler schlugen, von Ängsten getrieben, die Juden
tot.
Doch andere junge Leute, die vernünftiger waren und weniger
ängstlich, wanderten in Richtung Osten, nach Mähren und Polen bis
in die Kaschubei und ins Vineterland, wo sie an den Ufern der
Ostsee siedelten. In Hameln sollen es hundertunddreißig Burschen
und Mädchen gewesen sein, die am Johannestag, der auf den 26. Juni
des Jahres 1284 datiert ist, einem Werber folgten, von dem es hieß,
er habe wunderschön Flöte geblasen.
Glaub mir, Ratte, von euch ist in keiner Chronik die Rede. Nie
haben Forscher dem Flötisten als Nebenbeschäftigung Rattenfängerei
nachweisen können. Und selbst der Denker Leibniz hat nur gerätselt
und was allzu nahe lag einen verspäteten Kinderkreuzzug vermutet.
Feststeht: die Ratten wurden dazugedichtet, weil man sich sagte,
wer unsere Kinder und sei es zum vernünftigen Auswandern verführt,
der ist ein Rattenfänger; wer Ratten fängt, der fängt und verführt
auch Kinder.
Ich aber glaube, seitdem ich in der Krypta des Münsters Sankt
Bonifatius saß, daß die Geschichte ganz anders verlief. Es hat
nämlich in Hameln schon immer viele Mühlen und Speicher, also auch
Ratten gegeben. Natürlich mochten Leute, die vom Getreidehandel
lebten, die Ratten nicht. Jedem Wassermüller, Kornhändler und
einschlägigen Zunftmeister waren sie nichts als Plage. Deren Kinder
jedoch begannen, weil die Zeit so verrückt war, mit Ratten zu
spielen. Womöglich wollten sie ihre Eltern ärgern, indem sie Ratten
fütterten und öffentlich an sich trugen, wie es unartigen Kindern
gegenwärtig zu tun gefällt. Und wie die Punks oder Punker heute,
trugen damals die Hämelschen Kinder ihre Lieblingsratten auf der
Schulter, ins Haar gebettet und unterm Hemd. Aus Taschen und
Beuteln guckten Rättlein hervor.
Das brachte Ärger, Familienstreit. Durch Ratsbeschluß wurde
verboten, mit Ratten zu spielen, sie zu füttern oder gar an sich zu
tragen. Einige Kinder und Jugendliche fürchteten Strafe, gaben
nach, wurden brav. Aber gut hundertunddreißig Hämelsche Kinder
steckten nicht auf. Sie trotzten dem Verbot, rotteten sich mit
ihren Ratten und machten Umzüge die Bäckerstraße rauf runter, die
Münsterkirchstraße lang zum Weserfluß, an den Wassermühlen vorbei
durchs Wendenviertel zum Markt und Rathaus, das sie für Stunden
besetzten und lästerlich Ratzenhaus nannten. Sogar zur Messe und
zur Vesperandacht nahmen sie ihre Ratten in die Bonifatiuskirche
mit und waren, wie man von Amts wegen sagte, ganz und gar
rattenverrückt. Zwar wurde das eine und andere Kind auf offenem
Markt gepeitscht und an den Pranger gestellt, doch weil die Kinder
der angesehensten Bürger, sogar der Ratsherren Söhne und Töchter so
rattennärrisch und unbelehrbar zu den Hundertunddreißig gehörten,
konnten sich die Schöffen nicht zu peinlichen Strafen, zum Strecken
etwa, zum Kneifen und Glühen entschließen.
Als aber von Satansmessen und rättischem Kult gemunkelt wurde,
wobei immer wieder die Krypta des Münsters ins Gerede geriet; als
sich die Hundertdreißig nach Rattenart zu kleiden begannen und am
hellen Tag, mit nackten Schwänzen behängt, die Brotund Fleischbänke
plünderten und immer wilder ihren Ratten gleich wurden, murrten die
Gerber und Sackträger gegen das schonungsvolle Gewährenlassen. Auf
Zunftbänken wurde aufsässig geredet. Dominikaner eiferten von
Kanzeln herab wider das menschliche Rattengezücht. Endlich, nun
unter pfäffischem Druck, wohl auch aus Furcht vor aufständischen
Gewerken, beschlossen Rat und Schöffen in geheimer Sitzung
peinlichste Gegenmaßnahmen. Ein in der Stadt unbekannter Pfeifer,
der mit Flöten und der Sackpfeife aufzuspielen verstand, wurde
gegen Handgeld von auswärts angeworben, auf daß er sich bei den
vertierten Kindern beliebt mache, um sie alle eines Tages es war
auf Johanni mit Flötentönen, als wolle man einen lustigen Ausflug
machen, durchs Ostentor zum nahen Kalvarienberg zu führen, in
dessen tiefster Höhle der Pfeifer mit den hundertunddreißig
Hämelschen Kindern und ihren Streichelratten ein Fest zu feiern
begann. Da wurden Schweinswürste gebraten und Gerstenbier
getrunken. Beim Tanz reihum sollen die Ratten mitgetanzt haben. Und
höllischer Gesang wurde laut. Als aber das Fest am lustigsten war
und vom Gerstenbier Müdigkeit über die Kinder kam, schlich sich der
Pfeifer aus der Höhle, worauf deren Eingang, wie eine Stalltür so
groß, vom Stadtbüttel versperrt, von zünftigen Maurern zugemauert,
schließlich von Bauern mit Sandfuhren verschüttet und von den
Pfaffen gnadenlos mit Weihwasser besprengt wurde. Es soll nur wenig
Geschrei aus der Höhle gefunden haben. Von einer einzigen Ratte,
die entkam, wußten später umlaufende Gerüchte. Viel Jammer um die
verschütt gegangenen Kinder. Doch hat man den Pfeifer mit
klingendem Silber bezahlt. Und auch die Stadt war bald um eine
Legende reicher. Vieldeutig stand das Wort »Auszug« datiert in der
Chronik vermerkt. Seitdem ist von Hameln die Rede: falsch und
verlogen. Das rächt sich, Ratte, das rächt sich
bestimmt...
Mehr und mehr ängstigen sich die Kinder. Sie färben ihr Haar
grell,
sie schminken sich schimmelgrün
oder kreideweiß,
um die Angst zu verschrecken.
Uns abhanden gekommen, schreien sie stumm.
Mein Freund, mit mir älter geworden
wir sehen uns selten, grüßen einander von fern der mit der Flöte,
dem die Kadenzen
immer anders gelingen, hat seinen Sohn, der zwanzig zählte,
mehrmals beinahe,
nun ganz verloren.
Söhne, biblisch oder sonstwie versorgte,
entlaufen früh.
Niemand will mehr den sterbenden Vater erleben, den Segen abwarten,
Schuld auf sich nehmen. Unser Angebot immer billiger rührt nur noch
uns. So leben lohnt nicht.
Für diese Strecke nach unserem Maß -
haben sie keine Zeit.
Was wir aushielten, uns witzig ermunternd, soll nicht mehr
auszuhalten sein.
Nicht mal ein zorniges Nein wollen sie
gegen unser fleißiges Ja setzen;
knipsen sich einfach aus.
Ach, lieber Freund, was hat uns
so langlebig zweifeln gelehrt?
Von wann an irrten wir folgerichtig auf Ziele zu? Warum sind wir
möglich ganz ohne Sinn?
Wie ich um meine Söhne bange, um mich; denn
auch die Mütter, geübt im Allesverstehen, wissen nicht ein noch
aus.
Es treibt, nein, es hält Kurs. Nicht mehr nur ostwärts, trotz
Gegenwind, vielmehr dreht das Wrack des ehemaligen Lastenseglers
Dora, dann Küstenmotorschiffes Ilsebill, schließlich des
Forschungsschiffes Die Neue Ilsebill, auf Höhe der Halbinsel Hela
bei, umschifft die Halbinsel, die als Nehrung zum Schluß überspült
war, doch nun wächst und die Bucht zum Haff macht, nimmt ins Haff
hinein südlichen Kurs und steuert, wenn das von einem Wrack gesagt
werden kann, Mole und Hafen der Stadt GdaDsk an, die mit den Türmen
der alten Hansestadt Danzig von weither erkennbar geblieben ist und
unwiderstehlichen Sog ausübt; wie sonst sollte ich immer wieder und
nun auch ein hilfloses Wrack verlockt werden. Halbe Fahrt macht das
Wrack. Ich sehe das von meiner Raumkapsel aus, unter der Mal um Mal
die Ostsee schimmert. Was mir auf umlaufend vorgeschriebener Bahn
unterliegt, etwa das Nildelta oder der Golf von Bengalen oder die
Großen und Kleinen Sundainseln, gibt unter Schleiern nichts her,
doch sobald ich von Norden aus meiner Bahn folge und sich Schwedens
Südküste abzeichnet, liegt mir das Baltische Meer, meine See, als
breite sich eine überschaubare Pfütze, klar zu Füßen. Zwar sind
Gotland, Bornholm, alle Inseln weg, doch mache ich über Schonen
landwirtschaftliche Strukturen, Felderwirtschaft aus.
Ganz nah kann ich das Wrack, wie es nicht mehr treibt, sondern Kurs
hält, heranholen; das erlaubt meine Optik. Es ist Sommer. Im
Hinterland auch dieser Region melden Sonnenblumenfelder und anderer
Feldfruchtanbau beginnende Reife, Leben. Schon bin ich versucht,
Erde! zu rufen: Erde kommenAnworten Erde! aber ich weiß, es gibt
niemanden mehr, der Roger! ruft und: Ist was, Charly? Nur sie weiß
Antwort, unterhält mich mit Neuigkeiten, will mehr wissen als ich
ausgucken kann, wittert Sensationen und hört sogar... Horch! rief
die Rättin, es tuckert. Hör genau hin: ein Schiffmotor tuckert.
Freue dich, Herrchen, deine Ilsebill ist bemannt. Wie sollte der
Schiffsmotor sonst. Wenn deine Weiber nicht, irgendwer muß ihn
wieder. War ja mehr als kaputt. Und läuft nun und läuft. Der gute
alte Diesel. Wie geschmiert, hörst du?!
Nie habe ich sie aufgeregter gesehen. Mal auf dem Holm, dann die
Lange Brücke rauf runter, im Werftgelände, ums Hafenbecken lief sie
auf Kaimauern, sprang schließlich auf einen Poller, suchte Worte,
brachte keinen Satz zu Ende. Herrchen, Lieberchen! rief sie.
Sollten etwa. Könnte es sein, daß trotz Kälte, Eis, Finsternis. Und
obgleich Staubstürme, dieser verdammte Strahlensegen, den selbst
wir kaum. Und dennoch, weil damals? Nicht auszudenken. Einige
Exemplare womöglich. Schau nur, wie erwartungsvoll wir. Voller
Hoffnung. Aber auch ängstlich...
Nicht nur sie auf dem Anlegepoller; ganze Rattenvölker besetzen die
Kaianlagen. Auf allen Kränen, den Slips der Leninwerft, hoch auf
den Silos am Schwefelbecken, das sie sonst mieden, auf den ragenden
Wandungen des Trockendocks drängten sie dicht bei dicht. Von jedem
Punkt, der gute Sicht bot: vom Holm, wo Mottlau und Tote Weichsel
zusammenfließen, von beiden Mottlauufern aus. In Neufahrwasser, das
früher Novy Port hieß und dessen Wohngebiete bis nach Wrzeszcz
unter Schlammwällen liegen, die nun mit Feldfrüchten, Sonnenblumen
zumeist, als Grüngürtel den Hafen einschließen, bis zur Mole hin:
Ratten, überall Ratten, neugierig, unruhig übereinander
geschichtet, zu dicken Knoten verknüpft.
Und als das Tuckern des Hundertundachtzig-PS-Motors nicht mehr
fraglich oder nur herbeigesehnt war, sondern, weil Stille
herrschte, als einziges Geräusch meinen Traum besetzte denn die
Ratten hielten sich starr; als das Gerücht zur Nachricht wurde, es
werde der Rumpf des ehemaligen Forschungsschiffes nicht etwa das
moderne Überseebecken anlaufen, vielmehr nehme es Kurs auf den
alten, den historischen Hafen, an dessen Langer Brücke nur zwei
Ausflugsdampfer, die vormals weiß gewesen waren, seit Ultimo
festgemacht lagen; als endlich das tuckernde Schiffswrack, dessen
kahles Deck unbelebt blieb, vor den Speicherruinen aus der Zeit des
Zweiten Weltkrieges und den wiederaufgebauten Speichern der
Zwischenkriegszeit anlegte, der Langen Brücke gegenüber seemännisch
einwandfrei anlegte; als unter den Rattenvölkern die Nachricht
umlief, die Kommenden hätten an der Speicherinsel, die vormals
polnisch Spichlerze geheißen hatte, endgültig festgemacht, da zog
es die Ratten aus dem Werftund Hafengebiet der Jungstadt, von
Neufahrwasser und den Schlammdämmen in Strömen zur Altund
Rechtstadt, durch deren Gassen zum Mottlauhafen, so daß bald nach
dem Anlegen des Wracks, das Frauenund Brotbänkertor, das Grüne und
das Heiligengeisttor verstopft, alle Uferanlagen von Ratten
überschwemmt, die Fenster der gotischen Häuser zur Mottlau hin
gepfropft voll und deren Giebel von Rattentrauben behängt
waren.
Überladen die rostigen Ausflugsdampfer. Jeder Platz, jede Aussicht
genutzt. Das Türmchen der Sternwarte von Ratten befallen. Gespickt
voll die verkohlten Krantorreste. Der Figurenschmuck auf dem
breitgelagerten Grünen Tor nicht mehr kenntlich. Nur das
Speicherinselufer, soeben noch von Ratten gesäumt, hatte sich, als
das Wrack anlegte, entleert. Es blieb ausgespart, als wollte man
dem kommenden Ereignis Raum lassen.
Nenn es Respekt oder Furcht, jedenfalls war Distanz geboten. Zwar
ahnten wir, daß was kommen wird, aber wußten nicht, als was sich
das Kommende zeigen werde. Gemeinsames Beten hatte zwar Bilder, zu
viele jedoch, die sich löschten, beschworen. Obgleich unser Singen
in Sankt Mariendu hast uns oft genug fromm versammelt gesehen die
Wiederkehr des Humanen zum Ziel hatte, und wir die Uralte und ihr
geschrumpftes Knäblein in jedes Gebet einschlossen, wurde nicht
deutlich, in welcher Gestalt uns der Mensch auferstehen werde,
selbst seinen Schattenriß ahnten wir nicht.
Kein Wunder, sagte die Rättin, daß Spekulationen ins Kraut
schossen. Wie wird er beschaffen sein? In uns bekannter
Normalgröße? Übertrieben ins Riesenhafte? Einäugig oder mit vier
Augen rundumspähend? Auch wenn wir jene blauweißen Zwerglein,
dieses Spielzeug in Menschengestalt, das während der ausgehenden
Humanzeit in Massen produziert wurde, auf dem Hochaltar unserer
Hauptkirche anschaulich gruppiert hatten, hofften wir dennoch, daß
uns der Mensch nicht als Winzling zurückgegeben werde. Unsere
Erwartungen waren unbestimmt geblieben. Dabei hätten wir wissen
müssen oder uns denken können, was uns vorbestimmt war. Getestet,
langen Versuchsreihen unterworfen, Giften und Gegengiften
ausgesetzt, im Dienst der Humanforschung und gegen Schluß sogar
hochgeehrt, preisgekrönt, wußten wir, was ihr Verstand sich
letztendlich ausgedacht hatte, als es darum ging so hieß ihr
Forschungsprogramm -, das Menschengeschlecht zu verbessern. Was
aber kam, sozusagen ans Licht trat, hat uns, bei aller Vorfreude,
erschreckt.
Wir hatten, kaum war das Wrack zwischen zwei Pollern längsseit
gegangen, um die Poller herum Sonnenblumen, besonders große Rüben,
Maiskolben gelegt, dazu gerupfte Feldtauben und Sperlinge,
allerdings eilig, um uns vor ihrem Auftritt rasch zu verflüchtigen.
Sagte ich schon, daß es zu Bündeln gerotteten Rattenhaufen gelang,
im Turm von Sankt Marien und im Gestühl anderer Kirchentürme die
Glocken zu läuten? Hunden und mehr fette Altratten an den Seilen.
Jedenfalls läuteten, als die Kommenden auftraten und wir in
Erwartung erstarrten, wie zu Humanzeiten alle Glocken.
Und ich sah sie aus dem Niedergang zum Vorschiff kommen, aufrecht
steigend, gehend, stehend dann. Ich sah sie lässig das Spielbein,
das Standbein wechseln. Etwa die Größe eines dreijährigen Knaben
mochten sie haben. Beiderlei Geschlechts und nur stellenweise
rattig behaart, zeigten sie menschliche Proportionen, trugen aber,
wenngleich ich selbst in Stummelform keine Rattenschwänze ausmachen
konnte, auf langem Hals übergroße Rattenköpfe.
Die Rättin, die im Dachgesims des Grünen Tores schräg gegenüber
ihren Platz hatte, sagte: Anfangs taten sie so, als hätten sie uns
noch nicht bemerkt. Das Glockengeläut hielt an. Sie vertraten sich,
auf Deck auf und ab gehend, die Beine, reckten, schüttelten sich.
Dann erst winkten sie lässig, als wollten sie Hallo rufen, zum
gegenüberliegenden Ufer hin und hoch zu den Giebeln und Türmen der
Häuser und Stadttore. Wenn wir bis dahin noch nach besserer Sicht
zu drängeln versucht hatten, erstarrten wir nun. Glaub uns, Herr:
kein Schwanz in Unruhe. Nur in den Witterhaaren zeigte sich Leben.
Erschrecken? Aber es kam auch Enttäuschung auf und in Ansätzen Lust
zu lachen, die Kommenden kaum waren sie da, auszulachen. Doch der
Schrecken überwog. Gott sei Dank klang das Glockengeläute nach und
nach aus.
Ich sah was die Rättin mir zeigte, eher belustigt. Ich lachte im
Traum. Als die haarigen Rattenmenschen oder behaarten
Menschenratten es waren fünf, dann sieben, schließlich zwölf das
Schiffswrack der Neuen Ilsebill an den Pollern festmachten, wobei
zwei, drei an Land gingen, nahmen sie wahr, was ihnen die Ratten
gastlich zuhauf gelegt hatten. Ohne viel Umstände griffen sie zu
und fraßen Rüben, Mais und Sonnenblumen samt Kolben und
Fruchtkörben in sich hinein. Tauben und Spatzen ließen sie liegen.
Offenbar angewidert vom rohen Fleisch, schmissen sie die gerupften
Kadaver in die Mottlau.
Das war als die letzten Glocken ausklangen. Die Starre der
Rattenvölker löste sich. Aus allen Häusern, von Giebeln und
Tortürmen und von den Uferanlagen der Langen Brücke, desgleichen
von den Ausflugdampfern vor der Krantorruine zogen sie sich zurück.
Ein lautloses Schwinden, dem ich Enttäuschung ablas. Wahrscheinlich
versammelten sie sich in Sankt Marien, dem Ort ihrer
Einkehr.
Ohne daß die Rättin ins Bild kam, sagte sie später, als mir schon
anderes träumen wollte: Und für dieses lächerliche Produkt
menschlicher Wissenschaft hat man uns du wirst dich erinnern, Herr
den Nobelpreis zugesprochen. Erwiesene Dienstleistungen auf dem
Gebiet der Gentechnologie, hieß es. Und das kam dabei raus:
Rattenmenschen oder Menschenratten, wie man es sieht. Die
Kommenden! Unserer Hoffnungen Spottgeburt.
Wir nannten sie anfangs: die Gekommenen. Zeitweilig war von
Manippels, kurz: Nippels die Rede. Schließlich erinnerten wir uns
an jene zwei hochgeehrten Herren, die während der ausgehenden
Humanzeit die DNS-Struktur aufgedeckt, den Zellkern gespalten,
Genketten lesbar gemacht hatten und Watson und Crick hießen; fortan
nannten wir die Gekommenen: Watsoncricks. Bei längerer Tragzeit
achtzehn Wochen und niedriger Wurfzahl: vier bis fünf Säuglinge
vermehrten sie sich langsamer als wir. Übrigens waren von den
zwölf, die von Bord gingen, fünf Watsoncricks weiblich und tragend.
Wir hätten sie alle vernichten, sogleich vernichten sollen.
Unser Herr Matzerath, dem ich von der Anlandung
der Rattenmenschen erzählte, nennt ihre knäbleinhohe Größe
ausreichend und spricht, alles in allem, von einem gelungenen
Entwurf. Auf meinem Tisch zu viel Post, doch keine Nachricht aus
Travemünde. Ich träume neuerdings Wiederholungen und Varianten.
Nicht nur, daß die Hexe mit einer Schere, die ihr die Böse
Stiefmutter reicht, ritschratsch Rapunzels Langhaar abschneidet; es
bringt mir die Rättin ungerufen immer wieder die eine Szene ins
Bild: wie sich zuerst der Frauen Haar
Damrokas Locken! entzündet, worauf sie alle ganz und gar verglühen.
Nein, eher ist es so, daß die Frauen blasser und blasser werden,
bis sie nur noch Farbspuren auf bröckelndem Kalkmörtel sind, die
der Maler Malskat, diesmal im Auftrag unseres Herrn Matzerath, mit
einer Wurzelbürste abwäscht, um mit sicherem Pinsel fünf Frauen zu
entwerfen, die aber alle der Filmschauspielerin Hansi Knoteck
gleichen und keine einzige ein bißchen nur meiner
Damroka.
Immer noch keine Postkarte aus Travemünde. Im Dritten Programm geht
das Leben weiter, und wie versprochen bekommt meine Weihnachtsratte
wöchentlich pünktlich frische Streu. In Hameln klingen die
Festlichkeiten ohne besondere Vorkommnisse aus. Die Nachricht aus
Uppsala jedoch, nach der die isolierte Erbsubstanz altägyptischer
Mumien geklont sich zu vermehren beginne, träumt mir in
Fortsetzungen und gibt den Watsoncricks, kaum sind sie angelandet,
frühgeschichtliche Profile: wie aus des ersten Ramses Zeit stehen
oder schreiten sie statuarisch, die Schultern eckig, Hände, Füße
der Bauchnabel stilisiert; und selbst ihre Rattenköpfe waren wohl
ursprünglich im Nildelta heimisch.
Das kann unser Herr Matzerath nicht akzeptieren. Er will die
Angelandeten schwedisch geprägt sehen. Doch stimmt er mir zu,
sobald ich innerhalb der Zwölfergruppe vier oder fünf besonders
erwähne, weil sie Schmuck tragen. Kaum haben sie sich zum ersten
Landgang entschlossen, sehe ich Silbergehänge an ihnen, auch Ketten
aus Elfenbein, gereihtem Onyx und goldenen Gliedern.
Das ist, rufe ich im Traum, ein aus feinem Silberdraht gewirkter
Gürtel, den ich zuletzt in Damrokas Seesack zwischen Krimskram
gesehen habe; der ist nun jener Hochschwangeren um den Leib nicht
zu eng. Und jenes Korallenkettchen, das einer anderen
Schwedischmanipulierten unterm Rattenkopf Schmuck ist, schenkte ich
einst aber das wird sie vergessen haben der Meereskundlerin, als
wir einander noch gut waren. Auch aus der Schatulle der
Steuermännin erkenne ich dieses und jenes Stuck wieder, das sie,
obgleich es bald aus mit uns war, zu tragen nicht müde wurde.
Ohrringe! Eine der weiblichen Rattenmenschen, schwanger wie alle,
trägt Ohrringe mit langen Klunkern dran; wenn ich nur wüßte, wem
ich wann diese Kostbarkeiten ich weiß noch den Preis auf den
Geburtstags-, den Weihnachtstisch gelegt habe oder auf Muttertag...
Dazu sagt die Rättin, von der mir träumt: Selbst wenn die Welt
unterginge, würden deine Weibergeschichten nicht aufhören. Schau
nur genauer hin, Paps! Ringe, die du getrödelt, nach kurzem Handel
gekauft, allzeit freigiebig verschenkt hast, tragen nun die
männlichen Nippels, am Daumen komischerweise.
Dann greift die Hexe wieder zur Schere, auf daß Rapunzel
kahlgeschoren weint. Dann sehe ich, wie Malskat, schon wieder tätig
hoch im Gerüst, keine Stilbrüche fürchtet, indem er gotischen
Wandbildern altägyptische Strenge befiehlt; dabei ist es ein
Selbstporträt, das ihm mit schnellem Pinsel gelingt: jung und ein
wenig eulenspiegelhaft zwängt er sich zwischen zwei schon fixfertig
gemalte ältere Herren, denen die ägyptischen Akzente gut zu Gesicht
stehen. Dann träume ich Post, in Travemünde gestempelt. Dann sehe
ich unseren Herrn Matzerath, wie er die Grimmbrüder unter Vertrag
nimmt. Dann schlägt die Kuckucksuhr zwölfmal. Und nun gehen
abermals die Watsoncricks unter Glockengeläut an Land...
D ASELFTEKAPITEL, indem
die Gekommenen
seßhaft werden, der Dornröschenschlaf schrecklich endet, in
HamelnDrillinge überraschen, imLübecker
Bildfälscherprozeßgeurteiltwird, die Speicherinselzu eng ist,unser
Herr Matzerath wieder einmalalles vorausgewußt hat, die
Watsoncricks Ordnung schaffen und -weildie Post gute Nachricht
bringt Musik tröstet.
Unsere Träume heben sich auf. Beide sind wir
hellwach
uns gegenüber gestellt
bis zum Ermüden.
Mir träumte ein Mensch,
sagte die Ratte, von der mir träumt.
Ich sprach auf ihn ein, bis er glaubte,
er träume mich und im Traum sagte: die Ratte, von der ich träume,
glaubt mich zu träumen; so lesen wir uns in Spiegeln
und fragen einander aus.
Könnte es sein, daß beide, die Ratte und
ich
geträumt werden und Traum dritter Gattung sind?
Am Ende, sobald sich die Wörter erschöpft
haben, werden wir sehen, was wirklich
und nicht nur menschenmöglich ist.
Sie sind blauäugig. Langsam gewinnen sie
Gestalt. Sie werfen Schatten und haben Eigenschaften, darunter
komische. Wenn wir soeben sagten, sie sind, von den Köpfen und
partieller Behaarung abgesehen, menschlich proportioniert und gehen
ordentlich aufrecht, sagen wir jetzt: Ihr fellartiger Haarwuchs ist
blond, weshalb die blauen Augen den übergroßen Rattenköpfen nicht
fremd zu Gesicht stehen; sowohl weißhaarigen wie rotäugigen
Laborratten hat sich die Zutat schwedischer Gene so typisch
mitgeteilt, daß die skandinavische Herkunft der Einwanderer nicht
mehr bezweifelt oder mit exotischen Beigaben vermischt werden
sollte: Eindeutig sind sie Produkt jener Außenstelle der
Universität Uppsala die Gentechniker dort korrespondierten mit
ihren Kollegen in Boston, Bombay und Tiflis -, in der schon
frühzeitig angereicherte Zellkernkulturen gespeichert wurden.
Weltweit stimmte sich Wissenschaft ab. Deshalb ist die mit
Glockengeläut begrüßte Anlandung als Fortsetzung der
Humangeschichte zu begreifen. Was der Große Knall relativ
kurzfristig unterbrach, konnte überbrückt werden: eine Invasion
mehr. Denn wie einst Schiffe kamen, beladen mit Goten, die im
Weichselmündungsgebiet Fuß faßten und nach kurzem, eher lustlosem
Siedeln von hier aus nach Süden zogen, um ihren Teil der
Völkerwanderung abzuleisten, so sind jene in Gotlands Hauptstadt
Freigesetzten als eine Kraft zu begreifen, die wie schon jetzt
deutlich Geschichte machen wird.
Wer sagte das? Die Rättin, von der mir träumt? Oder sagte ich, was
mir vorgesagt wurde? Oder sie, was ich ihr in den Mund legte? Oder
sprachen im Traum die Rättin und ich synchron?
Beide sind wir vom Auftritt der Manippels, ihrer penetrant blonden
Blauäugigkeit überrascht worden, wenngleich die Rättin der
Kommenden Ankunft herbeigesehnt hat, ich sie befürchtet habe.
Anfangs retteten wir uns in Gelächter: Sind die nicht komisch, zum
Totlachen komisch? Diese Henkelarme! Dieses, bei durchgedrückten
Knien, gestelzte Gehen. Wie die Männchen beim Pissen ihr Geschlecht
verdekken, die Weibchen sich hocken. Ihre umständlichen Begrüßungen
und feierlichen Gesten. Wirklich: Komische Käuze sind
sie!
Seit der Anlandung beobachteten wir ihre von den Rattenvölkern
unbehinderte Landnahme. Indem sie die Speicherinsel zwischen den
Mottlauarmen, mithin geschichtsträchtigen Raum besetzten und auf
den Brücken zur Rechtstadt, zur Niederstadt gezielt harnten und Kot
plazierten, also auf rattenübliche Weise ihr Revier absteckten,
traten sie auf, als seien ihre Ansprüche verbrieft.
So etwa, sagte die Rättin, sagte ich, mögen dazumal die
Deutschritter ihrem Orden Platzrecht verschafft haben. Doch weil
sie so fraglos von der Speicherinsel Besitz ergriffen, wurden die
Gekommenen von den ansässigen Rattenvölkern nicht nur geduldet,
sondern als Zeugen höherer Gewalt auch respektiert: aus gehöriger
Distanz. Nein, keine Kontaktnahme, kein spielerisches Kräftemessen.
Auch keine untertänige Ehrerbietung nach anfänglichem
Glockengeläut. Allenfalls kommt man sich neuerdings auf den Brücken
nah, wittert einander: fremd.
Wir warten ab. Wir sehen sie alltäglich und werden vorerst nicht
klug aus ihnen. Doch sind meine Rättin und ich darin einig: Es geht
von den schwedischmanipulierten Rattenmenschen sie sagt betont:
Menschenratten in sich ruhende, träge, womöglich dumpfe Gewalt aus,
die sich vorerst nicht beweisen muß; man glaubt ihnen auch so, daß
sie notfalls bereit sind durchzugreifen: rasch und besonnen, immer
dem Anlaß entsprechend, nie maßlos. Sie verkörpern Macht, doch
keine blindwütige Gewalttätigkeit. Lässige Disziplin ist ihnen
eingeboren. Ohne daß sie was unter Ratten leider notwendig istvon
Aufpassern verbissen werden müssen, gehen sie ihrer unmerklichen
Ordnung nach.
Die Rättin sagt das, ich bestätige: die Gekommenen sind, nachdem
sich das Lachhafte ihres Auftritts verflüchtigt hat, schon, von
erschreckender Schönheit. Nicht aus Distanz, nahbei, von den
Brücken her besehen, sind sie individuell ausgeprägt, keine
identischen Klons, vielmehr ein jeder, eine jede anders
schöngeraten. Das Blau ihrer Augen reicht vom lichten, hier
wäßrigen, dort milchigen Blau über kühles Metallblau bis zu jener
dunklen, sich plötzlich einschwärzenden Bläue, die während der
Humanzeit dem heldischen Blick nachgesagt wurde. Dazwischen immer
wieder Momente strahlender Himmelsfarbe, ihre uns rührende
Blauäugigkeit. Die Rättin und ich sehen sie weizenund semmelblond,
goldbis rotblond die Speicherinsel abschreiten: gelassen
raumgreifend. Hier stehen sie sinnend vor den Trümmern aus der Zeit
des Zwischenkrieges, dort mögen sie nicht ahnen, daß einst,
parallel zur Adebargasse, die Münchengasse lang das letzte
Judenghetto verlief. Ihnen hängt diese Geschichte nicht an. Nichts
müssen sie bewältigen. Auf den Wert Null programmiert und von
keiner Schuld genötigt, treten sie auf. Mit Neid sehen wir
das.
Etwas Tapsiges ist ihnen eigen. Ein wenig O-beinig stehen sie da.
Nicht alle sind glattbehaart. Einigen lockt sich das Fell den
Rücken, die Oberarme, die Schenkel lang. Selbst auf den
Fingergliedern und Zehen ja, es sind menschliche Hände und Füße,
mit denen sie zufassen, Stand finden, sich behelfen kräuseln es
lichte Haare. Jene mit glattem Haupthaar tragen es lang und
gescheitelt. Auch sind ihre hellbis dunkelblauen Schwedenaugen
blond bewimpert.
Ich finde das schön. Die Rättin hingegen meint, sie sehe außer
rattigen Zutaten Anteile vom Hausschwein. Indem sie auf fehlende
Langschwänze hinweist, wird mir deutlich, daß die Wirbelsäule der
Rattenmenschen überm Steiß in zwar kümmerliche, aber doch ablesbare
Ringelschwänzlein mündet. Die Rättin sagt das ohne Spott, als sei
die Manipulation von menschlichen Genen mit schweinischen und
rattigen einem Programm vorzuziehen, das sich auf rattige und
menschliche Gene beschränkt.
Gewiß, der drollige Ringelschwanz ist ein Argument. Mehrmals auf
ihn verwiesen, läßt er sich nicht übersehen. Dennoch werte ich die
reduzierten und überdies gelockten Rattenschwänze anders. Ich
weigere mich, sie Schweineschwänze zu nennen, weise auf mögliche
Launen der manipulierten Natur hin und bestehe weiterhin auf der
neuen Gattung: Rattenmensch oder Menschenratte. Diese Anreicherung
ist genug. Nur das Rattige kann oder soll im Humanen sinnfällig
werden. Seitdem es uns altgewohnt nicht mehr gibt, sind wir
neuerdacht immerhin wieder möglich geworden. Einzig die Ratte,
behaupte ich, konnte den Menschen erhöhen und ihn verbessern. Nur
diese Genkette überbot die Natur. Einzig dergestalt gelang es, die
Schöpfung fortzusetzen. Von schweinischer Zutat zu reden Rättin,
ich bitte dich! -, fiele mir schwer. Sie leben als Paare. Eine
nicht übermäßige, aber doch spürbare weibliche Dominanz will
auffallen. Der weibliche Rattenmensch begnügt sich nicht mit der
Aufzucht der Würfe. Nachdem ihre Drillinge oder Vierlinge gesäugt
sind, sehen wir die Weibchen nachdenklich schlendern, während die
männliche Menschenratte den Nachwuchs hütet. Offenbar ist zu guter
Letzt die geschlechtliche Gleichberechtigung doch noch gelungen.
Was zu Humanzeiten nicht möglich war und immer wieder Streit in die
Wohnküche, ins Schlafzimmer brachte und
bei aller Liebe nicht überbrückt werden konnte, lebt sich nun aus:
ganz und gar zwanglos, harmonisch wie gewünscht, wenn auch ein
wenig eintönig. So begierig ich bin, in ihrem Alltag Spannungen,
beginnende Zerwürfnisse auszumachen, nichts will knistern, kein
Funke springt, überzeugend langweilig geht es zu.
Kaum angelandet, haben sie sich vermehrt. Zwar werden sie nicht so
rasch wie die ansässigen Rattenvölker zahlreich sein, aber schon
paaren sich die ersten Jungpaare, schon sind die
Schwedischmanipulierten eine Großsippe, bald werden sie ein Volk
bilden. Die Rättin und ich zählen über hundert Blauäugige, die auf
der Speicherinsel ihr Revier haben und sich auswachsen wollen. Zwei
der fünfgeschossigen Fachwerkhäuser, die nach dem Zwischenkrieg
wieder aufgebaut wurden, sind bis unters Dach als Kinderund
Jugendhäuser belegt. Noch kennen sie keine Nahrungssorgen, weil
alle Speicher mit Vorräten der hiesigen Rattenvölker gefüllt sind:
Maiskolben, Kornaufschüttungen, gehäufte Linsen und
Sonnenblumenkerne.
Die Rättin, von der ich glaube, sie träume mir, sieht das nicht
ohne Bedenken; und ich, der ich von ihr das sagt sie geträumt
werde, sorge mich gleichfalls: Jeder Vorrat geht mal zu Ende.
Irgendwann bringt das Probleme.
Sie hingegen beklagt Versäumnisse: Wir hätten sie ausrotten, gleich
nach dem Anlanden ausrotten sollen. Waren doch nur zwölf. Wäre ein
Klacks gewesen, mit denen fertig zu werden ruckzuck.
Im Prinzip gebe ich meiner Rättin recht, und wahrscheinlich war
sogar ich es, der aus Sorge um die im Raum Danzig siedelnden
Rattenvölker die unverzügliche Eliminierung der Manippels gefordert
hat. Jedenfalls stimmen wir überein: der Friede täuscht. Bald wird
die Speicherinsel übervölkert sein. Schon ist die vierte Generation
der Blauäugigen geschlechtsreif. In den Vorratshäusern sinken die
Sonnenblumenkerne von Stockwerk zu Stockwerk. Offensichtlich ist
der Vorrat im ehemaligen Raiffeisenspeicher Gerste lagerte dort
verbraucht. Immer mehr abgenagte Maiskolben schwimmen in beiden
Mottlauarmen. Zwar darben die Rattenvölker nicht, zumal die letzten
Ernten überreich ausfielen, aber man sorgt sich dennoch: Was wird
sein, wenn alles verzehrt ist? Wohin mit ihnen, wenn sie hungrig
und überzählig sind?
Noch bieten ihre Versammlungen ein friedfertiges Bild. Wenn sie am
Abend in Gruppen stehen oder Arm in Arm aufund abschlendern, wirken
sie harmlos, ganz auf sich und ihre Vervielfältigung konzentriert:
eher sanft die Männchen, herrich die Weiber. Wohlgeordnet bevölkern
sie die Speicherinsel, als reiche ihnen der Flecken. Streng pfeifen
sie ihre Kinder zurück, sobald einige im Spiel auf die Brücken
laufen und Reviermarkierungen überspringen: in Richtung Grünes Tor
oder am Milchkannenturm vorbei, zur Niederstadt hin, wo unsere
Russen hinter Schlammwällen siedeln.
Ihre Aufzucht ist folgsam. Von jung an lernen sie, durch Handheben
sich abzustimmen. Sie wollen nichts übers Knie brechen und legen
auf gute Nachbarschaft wert. Neutralität ist ihnen eingeboren.
Wohltuend skandinavisch benehmen sie sich, als wäre ihnen überdies
gentechnisch ein gewisses sozialdemokratisches Verhalten vermittelt
worden; das sagen wir uns zur Beruhigung.
Noch nie hat sich ein Watsoncrick auf dem Langen Markt, vorm
Rathaus oder Artushof sehen lassen. Frei von Neugierde, reicht
ihnen ihr Revier. So sehr wir um ihre und unsere Zukunft bangen, so
wenig scheinen sie sich zu sorgen: erhaben ruhen die Manipulierten
in sich. Schwindende Vorräte und drangvolle Enge hindern sie nicht,
blond und blauäugig mehr und mehr zu werden. Bedrohlich nimmt ihre
Schönheit zu: aus allen Speicherluken schimmert sie glatt und
gelockt.
Noch erfreut uns ihr Liebreiz, doch auffällig ist neuerdings, daß
sich die ausgewachsenen Nippels zu Übungen versammeln. Über die
Mottlau hinweg sehen die Rättin und ich, wie sie Kolonnen und
keilförmige Formationen bilden. Aufrecht gehend üben sie
Gleichschritt. O Gott! Sie marschieren. Sie schwenken links ein,
machen kehrt nach rechts, sie treten auf der Stelle, erstarren auf
Befehl, werfen den Blick in die befohlene Richtung, schreiten voran
abermals. Übers ruhige Wasser hören die Rättin und ich ihre
Kommandos. Eine gaumige, wenn man will, gemütlich anmutende
Sprache, die mich an das Gebrabbel jener Mitbringsel erinnert, die
unser Herr Matzerath für die armen Kaschubenkinder nach Polen
einführte; ist mir doch, als hörte ich die Watsoncricks immerfort
rufen: Rechtsschlumpfmarsch! Schlümpft um! Im Gleichschritt
Schlumpf! Schlümpf zwo drei vier, Schlümpf zwo drei vier,
Schlümpf...
Sie kommen! Der Zauberspiegel der Bösen Stiefmutter, vor dessen
Bildschirm sich alle im Knusperhäuschen Versammelten drängen, zeigt
nie gesehene Raupenfahrzeuge, die den plötzlich offenen Schlund
unterirdischer Betonsilos verlassen. Mit schwenkbaren Greifern, dem
ausgefahrenen Räumgatter, dem Dorn, den Rammböcken, mit ihren
seitlich gelenkigen Saugrüsseln sind sie sagenhaften Drachen
ähnlich; deshalb werden sie, wie man Kampfpanzer nach Raubtieren
benennt, »Räumdrachen« genannt.
Jetzt walzen die Räumdrachen auf der Autobahn alles Grünzeug nieder
und kommen näher und näher. (Unser Herr Matzerath wünscht, daß
diese Spezialfahrzeuge, die bisher einzig in Indien und Südamerika
für das Abräumen weitläufiger Slumgebiete gut waren, nun aber
jedermann vertreiben, der soeben noch die Märchenregierung Grimm
feierte, überdies mit Flammenwerfern bestückt sind. Ich spreche
mich gegen solch altertümliche Bewaffnung aus, muß aber damit
rechnen, daß sich Oskars Frühprägungen am Ende durchsetzen; so tief
hat ihn der Einsatz von Flammenwerfern beim Kampf um die Polnische
Post beeindruckt.)
Im Knusperhäuschen breitet sich Panik aus. König Drosselbart bangt
um seinen Besitz. Die Guten Feen weinen, die Bösen winden sich wie
getreten. Jorinde, Joringel versteinert. Als friere es sie, hüllt
Rapunzel sich in ihr Langhaar. Wie der Frosch entsetzt von der Dame
Stirn in den Brunnen hüpft, kriecht angstschlotternd der
Froschkönig aus dem Loch. Mit den abgehauenen Händen verdeckt das
Mädchen seine Augen, die nichts Entsetzliches sehen möchten. Und
Rotkäppchens Großmutter liest allen, die hören wollen, aus dem
Grimmschen Wörterbuch dem Unheil nahe Wörter vor: »Ungemach,
Unhold, Ungeheuer, Unglück, Unmut...« aber auch: »unbekümmert,
ungestüm, unverzagt...«
Vorerst steht nur Rübezahl mit seiner Keule zum Widerstand bereit.
Jetzt auch das Tapfere Schneiderlein und der Standhafte Zinnsoldat.
Von den Zwergen bedrängt, pissen etliche mindere Hexen in eilends
gesammelte leere Flaschen, die von den Zwergen verkorkt werden. Des
Mädchens abgehauene Hände üben technische Griffe.
Beiseite raten Schneewittchen und Rotkäppchen den Kanzlerkindern
davonzulaufen: »Ihr solltet nach Hause gehn, Kinder, bevor es zu
spät ist!« Aber Hänsel und Gretel weigern sich: »Wir gehören zu
euch!«
Inzwischen zeigt der Zauberspiegel, daß die Räumdrachen die
Autobahn verlassen haben. Sie nähern sich dem Wald, fallen über ihn
her, fressen sich durch, speien hinter sich Kleinholz aus,
zerkautes Moos, Wurzelhack. Aus der Kuppel des ersten Räumdrachens
zeigt der wachküssende Prinz dem Kanzlergeneral der
Notstandsregierung die Richtung. Küsse schickt er dorthin, wo er
hinter Dornen sein schlafendes Dornröschen weiß.
Im Knusperhäuschen sind alle immer noch wütend über des
verräterischen Prinzen Flucht. Rapunzel schämt sich. Die Hexe, der
Zauberer Merlin und die Bösen Feen versuchen, die Räumdrachen mit
Verwünschungen und Zaubersprüchen aufzuhalten. Aber alle Bannflüche
prallen funkensprühend ab oder verändern nur Äußerlichkeiten: Es
wachsen den Spezialfahrzeugen Drachenzähne, rollende Augen sind
ihnen eingesetzt, zwischen Dorn und Räumgatter fährt glühend eine
gespaltene Zunge aus; auf diese Weise gehört unseres Herrn
Matzerath Flammenwerfer doch noch zur Ausrüstung der
Räumdrachen.
Von all dem unbetroffen ist einzig der Prinz. Verzückt und wie
außer sich wirft er richtungsweisende Küsse. Jetzt erreicht die
Kolonne, deren letzter Drachen eine mit Schutzschildern und
Visierhelmen bestückte Spezialtruppe transportiert, die
Waldlichtung, in deren Mitte das steingehauene Denkmal der
Grimmbrüder steht.
Mit Entsetzen sehen die Märchengestalten im Zauberspiegel, wie
einer der Räumdrachen den Rammbock ausfährt, Anlauf nimmt, das
Denkmal rammt, den Sockel abermals rammt, mit neuem Anlauf die
steingehauenen Grimmbrüder stürzt, worauf sie in Stücke brechen,
die von den anderen Räumdrachen in den Waldgrund gewalzt werden,
auch die uns lieb vertrauten, nun schmerzlich angeschlagenen
Köpfe.
Es ist, als wollten im Knusperhäuschen alle Märchengestalten, die
der praktischen Gewalt zusehen, mit den Grimmbrüdern im Boden
versinken. Die Guten und Bösen Feen rufen: »Wehe den
Menschenkindern, sie wissen nicht, was sie tun!« Jetzt zeigt der
wachküssende Prinz, der dem Zerstörungswerk anfangs fassungslos
zusah und sich dann seine Kappe über die Augen zog, eine neue
Richtung an. Doch da die Räumdrachen nicht der Weisung des Prinzen
folgen, vielmehr entgegengesetzt ein Ziel ansteuern, wendet sich
die Gewalt nicht dem Dornröschenschlaf hinter Dornenhecken zu;
vorher soll noch ruckzuck eine Rechnung beglichen werden. Immer
tiefer frißt sich die Kolonne durch heilen Wald.
»O weh!« ruft Schneewittchen, »Nun ist mein Märchen bald
aus!«
Es jammern Jorinde und Joringel: »Unsere Trauer wird nimmermehr
sein.«
Rotkäppchen, das dumme Ding ruft: »Vielleicht besuchen sie uns
nur!?«
Rapunzel weiß: »Ohne Märchen werden die Menschen
verarmen.«
»Ach was«, sagt Rumpelstilzchen, »wir fehlen ihnen schon lange
nicht mehr.«
Über das Gejammer der Untertitel hinweg (in das nun auch unser Herr
Matzerath einstimmt: »Dieser schlimme Ausgang bereitet mir Sorge!«)
ruft Rübezahl zum Widerstand auf. »Mir nach!« ruft er und schwingt
seine Keule.
Alle verlassen das Knusperhäuschen. Die Böse Stiefmutter nimmt ihr
Ein und Alles, den Zauberspiegel an sich, in dem soeben noch die
Räumdrachen alles zerstörend im Bild waren. Draußen wird der Wolf
von der Kette gelassen. Die Bösen Feen nehmen alle Verwünschungen
von den verwunschenen Raben, Schwänen, dem Reh, worauf sich eine
Horde halbstarker Prinzen verlegen die Beine vertritt, dann
zusammenrottet: ängstlich und trotzig zugleich.
Die Zwerge verteilen die Flaschen voller Hexenpisse. Nichts
Hilfloseres fällt König Drosselbart ein, als den Standhaften
Zinnsoldaten zum General zu befördern. Der Wolf kneift den Schwanz
ein, will an die Kette zurück. In den Brunnen flüchten möchte der
Froschkönig, doch seine Dame und die Hexe auch hindern ihn, sich zu
verdrücken. Vor allen anderen hört das Mädchen ohne Hände den Lärm
der immer näherkommenden Gewalt: es stopft sich die Ohren. Hänsel
faßt Gretels Hand.
Jetzt brechen sie aus dem Wald, sechs an der Zahl, breit gefächert.
Greifer, Dorn, seitliche Saugrüssel fahren sie aus. Rammböcke
drohen, die Räumgatter. Zwischen Gatter und Dorn glühend gespaltene
Zungen. Schrecklich rollen die Augen. Hinter den Räumdrachen
sichert die abgesessene Spezialtruppe, von Schilden und durch
Visiere geschützt, das geräumte Gelände. Aus einem der Panzertürme
lächelt und winkt der wachküssende Prinz dümmlich den kampfbereiten
und doch verlorenen Märchengestalten zu. Sogar Küßchen verteilt er,
bis ihn des Kommandierenden Faust in den Drachen zwingt. Aus
anderen Luken segnen die Bischöfe das vorbestimmte Geschehen. (Mir
ist, als habe sich unser Herr Matzerath, wie von Jugend an gewohnt,
mit dem Feind wenn nicht verbündet, so doch gemein gemacht;
zwischen den Industriebossen ahne, nein, sehe ich ihn.) »Nieder mit
den Märchen!« heißt die Parole des Kanzlergenerals.
Die Sieben Zwerge und weitere Winzlinge und Schrate werfen
abgefüllte Hexenpisse wie Molotowcocktails. Zwar explodieren die
Flaschen, doch setzen alle Räumdrachen, zusätzlich nun von
fratzenhafter Bemalung gezeichnet, ihren Frontalangriff fort. Weit
voraus züngeln die glühend gespaltenen Zungen. Rübezahl, der sich
mit seiner Keule gegen die Drachen stellt, wird als erster
niedergewalzt, danach der Standhafte Zinnsoldat, dann alle Zwerge
Winzlinge Schrate, die sich zu spät einzugraben versuchen. Darauf
erwischt es alle halbstarken Prinzen, die soeben noch Schwan, Rabe
oder Reh waren. Der endlich angreifende Wolf springt, prallt ab,
wird zerstückelt. Die Guten und Bösen Feen, König Drosselbart, der
schlotternde Froschkönig nebst Dame und Hexe, alle minderen Hexen,
Schneewittchen, die Böse Stiefmutter, Rotkäppchen, Jorinde,
Joringel, das Rumpelstilzchen und Frau Holle, zum Schluß die Wilden
Männer und das Tapfere Schneiderlein, alle alle werden
niedergemacht oder wie der fliegende Koffer und die besenreitenden
Hexen von Greifern und Saugrüsseln, von gespaltenen Zungen erfaßt,
aufgesogen, zerschmettert, entflammt oder wie man auf deutsch sagt
eliminiert: hintenraus speien die Räumdrachen, was sie vornweg zu
fassen kriegen. Vom Dorn wird der Zauberer Merlin gespießt.
Rapunzels Langhaar verfängt sich in der Raupenkette eines
Räumdrachens. Das Mädchen mit den abgehauenen Händen geht in
Flammen auf, während noch seine Hände bis zu allerletzt hier einen
Sehschlitz verstopfen, dort eine Schraube zu lockern versuchen und
endlich doch der drachenförmigen Gewalt erliegen. Bis auch sie
erfaßt und zerkleinert wird, liest Rotkäppchens Großmutter aus dem
Grimmschen Wörterbuch laut gegen die röhrende Gewalt an. »Gnade!«
liest sie, »gnädig, gnädiglich, gnadenlos...« Nichts kann die
Drachen aufhalten.
Wie nebenbei wird das Knusperhäuschen zerstört. Überall liegen
zermanscht, geborsten, entzwei, in Stücken: der Zauberspiegel und
Rumpelstilzchens Bein, die Zwergenmützen, des Wolfes geplatzter
Reißverschlußbauch und Rotkäppchens Kappe. Verstümmelt des Mädchens
Hände, Schneewittchens Sarg in Scherben, zerfetzt das Wörterbuch,
ein jeglicher Band...
Ach, wie traurig ist das, wie jämmerlich! (Und wäre er nicht zum
Feind übergelaufen, hätte es auch mit ihm ein so trauriges Ende
genommen, sagt unser Herr Matzerath.)
Nur Hänsel und Gretel haben überlebt. Das können beide: rechtzeitig
davonlaufen. Von den Räumdrachen verfolgt, fliehen sie Hand in Hand
durch heilen in toten Wald, bis sie zur wuchernden Dornenhecke
kommen, hinter der der allumfassende Dornröschenschlaf
anhält.
Hänsel und Gretel verbergen sich hinter gestürzten Bäumen. Der
wachküssende Prinz weist dem Kanzlergeneral, den Bischöfen und
Industriebossen, die aus den Kuppeln aller anderen Räumdrachen
schauen, die neue Richtung an. Aus ihrem Versteck sehen die Kinder,
wie sich das regierende Interesse im klassischen Verbund Kapital
Kirche Armee durch die Dornenhecke frißt, sie niederwalzt und
planiert, bis alles freigelegt ist: die Turmruine mit dem
schlafenden Dornröschen, der im Schlaf starre Kanzler und sein
erstarrtes Gefolge. Jetzt greift (während sich unser Herr Matzerath
aus einer seitlichen Luke davonstiehlt und wieder einmal, als
spiele er Kind, schuldlos sein möchte) ein Greifarm des
kommandierenden Räumdrachens den wachküssenden Prinzen, hebt ihn
aus dem Panzerturm hoch, höher, noch höher, bis zur dachlosen
Kammer der Turmruine, wo der Prinz sogleich und ohne Bedenken sein
Dornröschen packt, es küßt, wie von Sinnen küßt, wie nie zuvor
küßt, verzweifelt und hoffnungsvoll, als gäbe es was zu hoffen, mit
einem Dauerkuß wachküßt und nun, freischwebend mit dem wachgeküßten
Dornröschen im Arm, vom Greifer gehoben und seitlich aus der
Turmruine geschwenkt wird, worauf nach und nach der erwachende
Kanzler und sein erwachendes Gefolge ins Bild kommen.
Ach, dieses Märchen geht immer noch auf. Sofort beißt der Kanzler
in ein großes Stück Buttercremetorte, das er, solange der
Dornröschenschlaf anhielt, im Griff hatte. Kaum erwacht, streiten
Experten und Minister altgewohnt ums Detail. Im Nu bringen die
Polizisten sichernd ihre Maschinenpistolen in Anschlag. Den
begonnenen Satz schreiben die Journalisten fort. Sogleich
anlaufende Filmmeter. Sein Stichwort kennt jeder. Wie gelernt, so
getan. Alles verläuft, als sei nichts geschehen, ganz normal wie
zuvor.
Und wie er noch nach letztem Biß mampft, ruft der Kanzler: »Kinder!
Meine lieben Kinder! Es ist ja alles wieder gut. Vorbei ist der
böse Spuk. Kommt zurück! Vater und Mutter bitten euch, kommt nach
Hause, wo alles heil und wie früher ist.« Da verlassen Hänsel und
Gretel ihr Versteck und laufen abermals davon. (Wieder abseits von
allem Geschehen, will unser Herr Matzerath diesen immerhin
denkbaren Verlauf; und ich stimme ihm zu.) Nicht auf Kommando des
Kanzlers, der glaubt, einfach weiterregieren zu können, als gäbe es
nicht Generäle Pfaffen Bosse, wirft der Greifer des kommandierenden
Räumdrachens den wachküssenden Prinzen und sein Dornröschen weit
von sich, so daß beide sogleich zerschmettert sind.
Jetzt überrollt der Drachen das sich im Tode noch küssende Paar,
will nun Hänsel und Gretel hinterdrein, will des Kanzlers Kinder
fressen und niedermachen; aber die beiden sind weit weg schon und
auf und davon...
Das haben wir nicht gewollt,
sagen die tief Betroffenen zu anderen, die gleichfalls zutiefst
betroffen sind: soviel Betroffenheit von statistischem Wert. Nie
war die Einschaltquote so hoch.
Wir sind bestürzt! rufen Chöre
anderen Chören zu, die zutiefst erschüttert sind. Mehrheitlich, wie
sich auszählen läßt,
sind wir bestürzt und erschüttert zutiefst. Danach ist von frisch
gewonnener Festigkeit und von Verlusten die Rede,
mit denen man leben müsse, so traurig das sei. Die neue Mehrheit
hat wieder Mut gefaßt
und läßt sich nicht unterkriegen so leicht.
Dennoch sollte der Mensch, heißt es in Kommentaren, Betroffenheit
zeigen können; wenigstens
nach der Abendschau ab und zu.
Ich versprach meiner Weihnachtsratte, es nicht
beim Weglaufen zu lassen, vielmehr einen anderen, womöglich
verklärten Schluß zu suchen, den mir unser Herr Matzerath kürzlich,
als wir einander wie gewohnt heimsuchten, mit zwei drei Stichworten
»Hoffnung schöpfen! Das Wunder nie ausschließen!«
als glückliche Wendung angeraten hat. Dennoch bleibt sie in ihrem
Häuschen ungerührt und läßt nur die Spitzen ihrer Witterhaare
sehen. Nichts kann sie locken: kein geistliches Konzert, nicht die
Wasserstandsmeldungen der Elbe und Saale, schon gar nicht das Echo
des Tages; und selbst der Schulfunk für alle, dem sonst ihr
Interesse sicher ist, schwatzt ihr kein Aufmerken ab; unser
tagtäglicher Existenzbeweis, das Dritte Programm versagt.
Also versuche ich es mit Hameln. Hör zu, Rättlein, dort feiern sie
seit Wochen schon. Festreden werden gehalten und Bilder mit
Rattenmotiven gezeigt. Auch ich habe Blätter geschickt, die mir zu
Dir eingefallen sind und meine Träume abbilden: Ratten, wie sie den
aufrechten Gang üben, sich eingrabende Ratten, flüchtende, betende.
Eine laufende Ratte vor der turmreichen Kulisse der Stadt
Danzig-GdaDsk. Und der Rattenmensch oder die Menschenratte. Mit
sattschwarzem Pinsel, mit sibirischer Kohle gezeichnet oder in
Kupferplatten mit dem Stichel gerissen, gegraben, ganz fein
gestrichelt.. Dabei hätte ich in Hameln lieber erzählt, was vor
siebenhundert Jahren wirklich geschah. Doch will man dort von
gotischen Punks, die eins waren mit ihren verzärtelten Ratten,
nichts hören. Diese traurige Wahrheit paßt nicht ins Festproramm.
Sie könnte der Gastronomie, dem Hotelgewerbe schaden. Womöglich
ließen sich heutige Punks plötzlich einfallen, mit ihren rosa oder
giftgrün gefärbten Ratten doch noch von weither zu kommen, um am
Fluß Weser ihrer gotischen Vorläufer zu gedenken: schrill, mit
Ketten rasselnd, totenbleich geschminkt und die Bürger verstörend.
So würde abermals Chaos in Hameln Quartier finden. Und abermals
müßte nach Ordnung gerufen, für Ordnung gesorgt werden. Von
Hannover und Kassel herbeigetickert, kämen Hundertschaften,
gerüstet mit chemischen Keulen und Wasserwerfern. Ein jeglicher
Polizist wäre mit Schild und Visier auf mittelalterliche Weise
geschützt. Das will doch niemand: Knüppel frei! Straßenschlachten.
Die Siebenhundertjahrfeier könnte aus dem Konzept geraten und
Schlagzeilen machen: »Hameln rief und die Punks kamen!« und ähnlich
laute Aufmacher.
Nein, diese Geschichte paßt nicht ins Programm. Zu nackt spricht
sie wahr. Denn obendrein, Rättlein, soll zwischen den
hundertunddreißig gotischen Punks, die im Kalvarienberg eingemauert
und verschüttet wurden, des Ratmeisters Lambert Rike jüngste
Tochter mit ihrer Ratte besonders lieb gewesen sein; ein stilles
und in sich gekehrtes Mädchen von sechzehn Jahren, das Gret gerufen
wurde, mit ihren Zöpfen dem Sohn des reichen Wassermüllers
Hornemule versprochen war und weizenblond schön beten konnte,
flehentlich lang, bis es sich, wie zuvor schon andere Mädchen und
Jungs, allgemein in Ratten, besonders aber in eine einzelne Ratte
vernarrte. Und diese Gret, des Ratmeisters Jüngste, soll ihre Ratte
Hans gerufen und es mit ihrem Rattenhans womöglich gemacht, immer
wieder getrieben haben.
Was heißt hier soll und womöglich! Sie trieb es, ließ sich, machte
und hat.
Bis dahin war ihr Möslein unangefochten gewesen. Mit Hilfe
weltflüchtiger Gebete sperrte sie jeden Gedanken aus, der
fingerlang zudringlich wurde. Auf Rufweite allenfalls hatte des
reichen Wassermüllers Sohn ihr nahekommen dürfen. Und selbst beim
Kirchgang war außer Blicketauschen nichts Kitzliges erlaubt
gewesen.
Die Ratte jedoch durfte. Anfangs erlaubte Gret nur spielerisch
Einlaß, dann durfte ihr Hans mehr und mehr, schließlich alles und
das immer wieder. Worauf des Ratmeisters Tochter schwanger wurde
und nach unangemessen kurzer Zeit mit Drillingen niederkam, die,
wenngleich klein geraten, wie übliche Hämelsche Säuglinge
proportioniert waren und ringsum menschelten, bis auf die
allerliebst niedlichen Rattenköpfchen. War das eine Freude im Kreis
der hundertunddreißig gotischen Punks. Weil des Stiftsvogtes Sohn,
der hieß Hinner, den Schlüssel hatte, fanden nächtens alle durch
die Sakristeipforte in die Bonifatiuskirche, darauf zutiefst in die
Krypta, wo die drei Söhnchen auf die Namen der Weisen aus dem
Morgenland getauft wurden und fortan Kaspar, Melchior und Balthasar
hießen. Fromm standen die Buben und Mägdlein in ihrem Plunder ums
steingehauene Taufbecken und erlaubten den ihrem Lumpenzeug
draufgenähten Schellen kein blechernes Scheppern.
Mucksmäuschenstill auch die Ratten, die sie im wirren Haupthaar
oder auf bloßer Haut unter Pracherfetzen trugen. Des Stiftsvogtes
Hinner sprach, was beim Taufakt zu sagen war. Die anderen bekannten
fromm unterm niedrigen Gewölbe: Credo in unum deum...
Danach wurde bis in den Morgen am Ufer des Flusses Weser gefeiert.
Aber es wollten die Bürger der Stadt die Freude der gotischen Punks
nicht teilen. Noch waren die Wörter »Nukleinsäure« und »Genkette«
außer Gebrauch. Vertierte Menschlein und vermenschtes Getier kamen
nur im Märchen, auf Fabelbildern und — schlimm genug — beim
Hexensabbat, doch nicht in Hameln am hellen Tage vor. Empörtes
Geflüster machte die Gassen enger. Graumönche und Weißmönche
predigten die Hölle herbei. Schon rotteten sich die niederen
Gewerke gegen das ratsherrliche Patriziat. Als nicht nur Gerber und
Sackträger, sondern auch Müller und Feinbäcker aufsässig redeten,
stand Aufruhr bevor.
Doch sobald die Stadtbüttel handgreiflich werden und der jungen
Mutter neugestaltete Säuglinge kassieren wollten, bildeten die
Hundertunddreißig einen bedrohlich schützenden Kreis um den
niedlichen Wurf. Zudem versprachen sie, nach angewendeter Gewalt in
allen Wassermühlen, im Zehnthof des Stiftes und in den Kornhäusern
vorm Thytor Feuer zu legen. Schließlich war es der Ratmeister Rike
persönlich, der, seiner jüngsten Tochter Schande wegen, zudem von
allen Ratsherren, dem Stiftsvogt und dem Hansegrafen bedrängt,
einen Pfeifer von weither, aus Winsen an der Luhe kommen ließ, dem
besondere Töne nachgesagt wurden. Gegen verbrieftes Versprechen,
nach gelungenem Kunststück silbern entlöhnt zu werden, kam er und
machte sich mit seinen verschieden gestimmten Flöten den
Hundertunddreißig vertraut. Er spielte ihnen, wann immer sie
wollten, zum Tanz auf und lehrte sie neue Tänze. Bald wurde er mit
Verstecken und Zufluchten bekanntgemacht, so auch mit der
geräumigen Höhle im Kalvarienberg, wohin sich die junge Mutter Gret
mit ihrem Rattenhans und ihren drei besonderen Söhnchen dem Zugriff
der Stadtbüttel und den Totschlägern der groben Mahlknechte
entzogen hatte.
Und auf Johannes nahm der Pfeifer, der auch die Sackpfeife bei Atem
zu halten verstand, die restlichen Hundertundneunundzwanzig mit
seinem Gedudel aus der Stadt, um, wie er sagte, der lieblichen
Mutter Gret, ihrem Hans und den drei Kindlein ein Fest zu geben. Er
führte sie über Feldwege und Wiesen, durch Niederwald und
Haselgesträuch in die Höhle hinein, wo mit Gerstenbier und
Fladenbrot, Räucherspeck und Honigwaben gefeiert werden
sollte.
Natürlich hatte man auch an die mitgeführten Ratten gedacht. Die
mochten Käserinden und Sonnenblumenkerne. In Lumpen und
schellenbehängt tanzten die Hundertunddreißig mit ihren Ratten bis
lange nach Mitternacht. Des Kaufmanns Amelung Söhne, des
Feinbäckers Stencke Töchter, des Ritters Scadelaur Jörg, vieler
Gildeherren und Braumeister Kinder verrenkten sich, zappelten.
Tanzwütig zwischen ihnen: Gret und ihr Hans. Hüpf-, Stampfund
Schütteltänze. Das alles geschah ja in tanzlustiger Zeit. So
vernarrt waren die Tänzer ineinander, daß ihnen der Pfeifer gen
Morgen nicht fehlte. Der hatte sich, als es besonders hoch herging
und nun auch weitere Mägdlein ihre Ratten einließen,
davongemacht.
Er soll auf hohem Baum seine Kappe mit Federschmuck geschwenkt
haben, worauf geschah, was vorbereitet war. Die Höhle wurde wir
wissen es zugemauert, verschüttet und mit Weihwasser bedacht;
weshalb man die Söhnchen Kaspar, Melchior und Balthasar dazugezählt
von hundertdreiunddreißig Hämelschen Kindern sprechen muß, die am
26. Juni des Jahres 1284 im Kalvarienberg verschwanden und nimmer
gesehen wurden.
Zu meiner Weihnachtsratte, die unterm Erzählen ihr Häuschen
verlassen und ihre Witterhaare hochgestellt hatte, sagte ich:
Übrigens wurde um diese Zeit wenn man nicht Kunsthistorikern,
sondern dem Vorleben des Malers Malskat folgt die Lübecker
Marienkirche inwendig ausgemalt. Nicht nur Langhaus und Chor, auch
Fensterleibungen und Arkadenbögen. So entstanden die Drolerien der
Fabelfenster. Sie zeigen Esel und Huhn, wobei der Esel Nadel und
Faden führt, das Huhn jedoch Eier ausbrütet, aus denen gewiß das
Böse schlüpfen wird. Wir sehen Krebse gegeneinander Schach spielen.
Der Fuchsmönch predigt dem Schaf und der Ziege. Warum sitzt am
Spinnrocken fleißig der Hirsch? Die fliegenden Vögel im oberen
Dreipaß und zwischen den Spitzbögen der Fabelfenster mögen Tauben
sein. In einer Leibung jedoch sehen wir über einem
medaillongefaßten Jungfrauenkopf ein gleichgroßes Medaillon, das
ein langund glattschwänziges Tier mit bärtigem Männerkopf zeigt und
dessen Eindeutigkeit kein Rätseln mehr zuläßt: die Hämelschen
Einflüsse auf die Werkstatt des Lübekker Chorund Langschiffmeisters
sind bewiesen.
Jedenfalls gab die Mutterkirche der Backsteingotik in ihren
Wandmalereien Zeugnis schrecklicher Zeit. Und als rund
sechshundertachtzig Jahre später abermals ein Maler hoch ins Gerüst
stieg, erinnerte er Wunder und Ahnungen, Veitstänze und Totentänze,
alle vorgezeichneten Plagen und Schrecken. Nicht mehr lange, da
kam, wie es hieß, mit den Ratten die Pest und brachte mit
Todesschweiß ein, was ängstlich geahnt worden war...
Der durch Lothar Malskats Selbstanzeige
ausgelöste Lübecker Bildfälscherprozeß schleppte sich über zwei
Jahre hin und war immer dann ein Publikumserfolg, wenn der
angeklagte Ostpreuße seinen Auftritt hatte; doch geben die
Verhandlungen vorm Landgericht Lübeck, sobald ich die
Anklageschrift sichte oder Protokolle durchs Sieb streiche, wenig
her außer Gerede, weil zwar Malskat und sein Arbeitgeber Fey, der
eine mit achtzehn Monaten, der andere mit zwei Jahren Gefängnis
bestraft wurden, die eigentlichen Täuscher jedoch dem Richter
ehrenwert blieben; so schummeln, tricksen, heucheln, lügen und
frömmeln sie weiter bis heutzutage. Und auch den staatsmännischen
Trugbildnern wurde nirgendwann der Prozeß gemacht. Straffrei gingen
sie aus; als sie altersschwach starben, wurde der eine hochgeehrt,
der andere halbvergessen begraben. Deshalb wird jener Schummel der
fünfziger Jahre, den wir abgekürzt BRD-DDR nennen, immer noch als
echt angesehen, während ein Gutteil der Malskatschen Kunst, jene
einundzwanzig Chorheiligen in sieben Jochfeldern, die ganz sein
eigen waren, im Jahre fünfundfünfzig mit Bürsten und Schrubbern
abgewaschen wurden. Weil man jedoch versäumte, nach Art der
Bilderstürmer die nun kunstfreien Flächen protestantisch weiß zu
tünchen, verraten bis heute trübe Flecken und schmuddelige Placken
die Schändung der Malskatschen Zeugnisse.
Ach, hätte man seine Bilder, zumal er die Wahrheit ans Licht
brachte, doch stehen lassen und den wahren Schwindel, der nie
eingestanden wurde, die Machwerke der Staatsgründer außer Kraft
gesetzt. Er, der sein Eingeständnis vor die Richter warf, kam
hinter Gitter, die beiden Großfälscher hingegen konnten ungeschoren
ihr böses Spiel Staat gegen Staat spielen, Lüge gegen Lüge setzen,
Falschgeld gegen Falschgeld münzen und schon bald während eilfertig
Malskats gotisches Bildwerk zerstört wurde in Divisionen Soldaten,
schon wieder deutsche Soldaten, gegeneinander ins Schußfeld rücken;
und das als Erbschaft der Greise, bis heute mit immer mehr
Soldaten, mit immer genauerem Ziel, mit der geübten Absicht, es
ganz und gar ausgehen zu lassen.
Nein, Rättlein, uns hilft kein Schulfunk mehr. Was soll uns das
Echo des Tages, wenn es den Nachhall vergangener Schrecknisse und
Verbrechen mit zufälligem Geplapper übertönt? Die Programme löschen
sich wechselseitig. Nichts darf haften und schmerzen. Löcherig nur
erinnern wir uns: Da war doch was, war doch was, war
was...
Nur noch Spuren. Als auf Anweisung der Lübecker Kirchenleitung die
einundzwanzig Chorheiligen, grad um die Zeit, als sich die
Militärbündnisse gegeneinander unter Vertrag stellten, mehr
verschmiert als abgewaschen wurden, gingen neben dem Hauptwerk
viele Kleinzeugnisse verloren, die Malskat hier aus Laune, dort
seiner gotischen Zeitweil getreu in diesen und jenen Faltenwurf,
ins Kapitell geflochten oder dem Ornament unterlegt, wie flüchtig
gemalt oder in den Kalkgrund geritzt hatte. Offenbar
Zeitgenössisches: Neben den Schnabelschuhen eines Heiligen im
vierten Joch lese ich Nagelspuren eine Landkarte ab, auf der
zwischen der Insel Rügen, die »Rugia« genannt wird, und der
Peenemündung ein Kreuzzeichen Bedeutung hat, denn ihm ist der Name
der versunkenen Stadtgekratzt: »Winneta« zugeordnet. Und im
gemalten mittleren Kapitell des sechsten Jochs findet sich eine
Miniatur, die drei Menschlein mit spitzschnäuzigen Tierköpfen, die
zu dritt Flöten blasen, in einem Ornament vereint, das ganz
natürlich dem Rankenwerk im Kapitell zuflösse, stünde nicht
hinweisend seitlich in Kalkmörtel geritzt: »So geschehn auf joanis
vnd paul zu hamelen.«
Deutlich sind es drei Knäblein, die Flöte blasen. Nacket sitzt das
Terzett. Der Knäblein Häupter Rattenköpfchen zu nennen, habe ich
keine Scheu; doch soll diese späte Entdeckung, diezugegeben auf
unscharfen Ablichtungen beruht, kein nachgereichtes Beweisstück für
den Lübecker Bildfälscherprozeß sein, zumal Malskat rechtskräftig
verurteilt wurde und seine Strafe gutgelaunt abgesessen
hat.
Es wurden ihm sogar einige Monate erlassen. Post kam zuhauf. Sein
Ruhm glitzerte in schummriger Zeit. Den Skizzenblock und farbige
Kreide nahm er in seine Zelle mit, brachte jedoch nur Belangloses
zu Papier. Nie wieder Zeugnisse vergangener Schrecken. Kein
gotischer Abglanz mehr. Inzwischen ist alles verjährt.
Sie spricht. Oder erlaubt sie mir, indem sie
mich träumt, ungetrübt noch immer zu glauben, sie träume mir und
habe, damit ich schweige, als Rättin eindeutig wieder das Wort
genommen?
Und ist noch immer die Raumkapsel mein Ort? Bleibt diese Umlaufbahn
ewiglich vorgeschrieben? Ellipsen träumen, leichte Abweichungen
wünschen, einfach aussteigen, als wäre ich nicht
angeschnallt.
Sie hockt in der Kuppel der Sternwarte neben dem Frauentor, das zur
Mottlau führt. Sie sagt: Dieser Altbau, in dem schon der Astronom
Johannes Hevelius am großen Quadranten saß und des Mondes Phasen
überwachte, erlaubt uns, sichernd rundum zu blicken, und Rückblicke
auch: Wir hätten zuschlagen müssen, schon längst. Bald wird es zu
spät sein. Und ich sah, was die Rättin im Rückblick aussprach: So
einig wir Rattenvölker uns nach dem Knall gewesen sind Überleben
ist alles! -, so heftig stritten wir nach der Reviernahme der
Watsoncricks. Unsere Andachten in der Marienkirche fanden nicht
mehr zu jener Einfalt zurück, die dich, unseren lieben Freund,
vermuten ließ, wir Ratten seien auf katholische Weise andächtig.
Abermals zerrüttete uns eifernder, vor und hinterm Altar
ausgetragener, die Pfeiler hoch, bis ins Netzgewölbe verschleppter
Protestantismus, dieses Humangezänk über den richtigen Weg, diese
alle Nasen krausende Rechthaberei, dieses allzumenschliche
Entwederoder. Gründlich entzweit, hätten wir uns zerfetzen mögen.
Forderten die einen: Fort mit den Nippels! Macht sie fertig, noch
heute! hieß die Gegenforderung: Noch nicht. Abwarten. Wir wollen
nichts übereilen. Sie jammerte: Dabei hatten wir alle einträchtig
auf die Rückkehr des Menschengeschlechts gehofft, in welcher
Gestalt auch immer. Trotz glimpflichen Überlebens und wohlgenährt
wachsender Vielzahl fehlte der Mensch uns. Und wenn wir jene
uralte, bis zur transportfähigen Leichtigkeit geschrumpfte Frau, zu
deren Füßen das hutzlige Knäblein hockt, zum Ziel unserer Gebete
gemacht haben, dann war es der Wunsch nach des Menschen Wiederkehr,
der uns fromm werden ließ. Sogar jene blauweißen Winzlinge
schlossen wir ein in unsere Gebete, auf daß sie hilfreich würden,
uns ackern lehrten. Unser Gesang, dem du, Herr, gregorianische
Qualität abzuhören bereit warst, sollte ihn, nur ihn, den Erlöser
herbeisingen, auf daß er kommen möge, unsere menschenfreie
Einsamkeit aufzuheben.
Jadoch ja, sagte die Rättin, es stimmt, so ganz und gar einsam
waren wir nicht. Es wuchs anderes Getier nach, das uns teils
ekelhaft, wie die säugenden Schmeißfliegen, teils Beute im Rahmen
der Landwirtschaft war Tauben, Spatzen, Feldmäuse -, doch nichts
Menschliches fiel der Natur ein. Als sie dann kamen oh, Herr, wie
haben wir das Schiff zitternd herbeigesehnt und in Tagträumen
vorgeahnt -, war die Enttäuschung groß.
So nicht! rief erstes Entsetzen. So unentschieden haben wir ihn
nicht gewollt. Solche Ausgeburt, mag sie auch blauäugig sein, ist
weder noch. Dieses so komische wie schreckliche Gemisch, dem
überdies Schweinisches beigefügt wurde, kann unsereins nicht
entsprechen und kränkt obendrein das Bild vom Menschen, wie wir es
heil immer noch in uns tragen. Dafür, für diesen das mußt auch du
zugeben menschlichen Pfusch haben wir nicht überlebt. Denn wenn wir
dich in deiner Raumkapsel oder uns beigesellt träumen, bleibst du
uns herrlich und beispielhaft.
Mag sein, sagte die Rättin in der Kuppel der Sternwarte neben dem
Frauentor, von wo aus die Speicherinsel besonders einsichtig wird,
daß unsere Partei zu früh Eliminieren! Ausrotten! gerufen hat; mag
sein, daß wir, die Radikalen, zu spontan versucht haben, unsere
richtige Erkenntnis in allgemeinen Vernichtungswillen umzusetzen.
Jedenfalls wurden sofort Gegenstimmen laut: Abwarten. Nicht aus dem
Auge verlieren. Aus ihren Gewohnheiten vorsichtig Schlüsse ziehen
und ihre Schwachstellen finden.
Andere hofften und spekulierten: Vielleicht hauen die wieder ab.
Vielleicht kümmern ihnen die Würfe weg. Vielleicht sind sie
Fehlplanungen nur und in diesem Sinne durchaus menschlich
sogar.
Also bezogen wir Merkposten, hier, in der alten Sternwarte, dem
Westufer der Speicherinsel gegenüber und in den Schießscharten des
Milchkannenturms, die dem Ostufer zugewendet sind. Seit Wochen,
Monaten schieben wir Wache, doch nichts trifft ein: weder hauen sie
ab, noch kümmern sie weg. Du siehst ja, wie sie mehr und mehr
werden, während unser Streit immer verbissener wird. Nicht nur
städtisch, auch auf dem Land sind wir parteiisch entzweit. Schon
werden die Rüben-, Mais-, Sonnenblumenfelder geteilt. Feindselig
sind neue Reviergrenzen markiert. Streit ums Saatgut läßt den
Gerstenund Linsenanbau zurückgehen. Beide Parteien legen gesondert
Vorräte an. Umschichtig versammeln wir uns in Sankt Marien.
Kürzlich wurde beschlossen, daß alle links von der Brotbänkenund
der Jopengasse zur Mottlau hinführenden Gassen von uns, alle
rechtsläufigen Gassen bis hinterm Vorstädtischen Graben von den
Versöhnlern bewohnt werden. Die hören nicht auf, Hoffnungen zu
plappern: Vielleicht kann man mit ihnen auf Dauer auskommen. Wenn
man sie zufriedenstellt, wird sich die Menschenratte uns anpassen.
Schließlich ist sie abhängig von uns. Sie lebt von gespeicherten
Vorräten, die wir überschüssig, seit vielen Ernten überschüssig
gelagert haben. Wir sollten ihnen zukommen lassen, was sie
benötigen. Nennt es Deputat, den Zehnten, oder Tribut. Jedenfalls
sollten sie nicht hungern müssen. Hunger könnte sie angriffig
machen. Wir Ratten sollten wissen, was Hunger heißt!
Bitter, als stieße ihr jahrtausendalte Erfahrung auf, lachte die
Rättin: Hör dir das an, Herr! Die ewiggleichen Sprüche
unbelehrbarer Abwiegler und Versöhnler. Wir hingegen sehen klar,
allzu klar. Mehr und mehr werden sie haben wollen. Am Ende teilen
sie uns zu, was übrig geblieben ist. Auf Rationen gesetzt werden
wir sein. Raffgier, ihre Habsucht wird über uns kommen. Das ist das
Menschliche an den Nippels. Schlußmachen! rufen wir, machen aber
nicht Schluß, sondern beißen uns mit unsereins rum. In der
Wollwebergasse, um den Stockturm und hinterm Zeughaus ist es zu
Straßenschlachten gekommen, auf dem Land nur zu kleineren
Übergriffen bisher.
Und ich sah, wie sie sich befetzten. Bis zum Verenden ineinander
verbissen. Der Rattenzähne unverminderte Schärfe. Überallhin, wo
ihr Streit in Kampf umschlug, führte die Rättin mich. So streng um
die Speicherinsel herum Distanz gehalten wurde, damit den Manippels
der Zwist der Rattenvölker verborgen blieb, im Stadtkern hemmte
nichts die Parteien. Rattengruppen, die aus dem Zeughaus, das
neuerdings, wie auch der Theaterbau nebenan, Lagerhaus ist,
Maiskolben und nicht entkernte Sonnenblumen trugen, um diese
Feldfrüchte als Zehnten durch die Wollwebergasse, die Langgasse
hoch und durchs Grüne Tor auf die Brücke zur Speicherinsel zu
schleppen, wurden schon vorm Zeughausportal von Rattenhorden, die
aus der Jopengasse einfielen, angegriffen und in Zweikämpfe
verwickelt. Dezimiert und geschwächt gelang es nur wenigen
Transportgruppen der Versöhnler, sich bis zur Brücke
durchzukämpfen: schmale Kost fiel den Manippels zu.
Ich rief: Ein magerer Tribut ist das!
Die Rättin: Immer noch viel zu viel!
Ich: Jedenfalls leiden sie Mangel.
Geschieht ihnen recht! rief sie, tun ja nichts als fressen und
rammeln und rammeln und fressen.
Die Speicherinsel sah übervölkert aus. Zwar hatten sie kampflos die
in Richtung Strohdeich anschließende Insel zwischen dem Kielgraben
und der Mottlau besetzt und im ehemaligen Pumpwerk, sowie auf dem
Bleihof zusätzliches Quartier gefunden, dennoch schauten aus allen
Speicherluken und Dachfenstern erwachsene und kindliche
Watsoncricks. Gedränge auf den Kaianlagen und auf der Chmielna, wie
die Polen die Hopfengasse genannt hatten. Aufläufe vor den Brücken,
besonders vor der breiten Überführung der Leningradzka, die vormals
als Vorstädtischer Graben die Rechtstadt begrenzt hatte. Überall
stauten sie sich, nun ausgemergelt und knochig. Ihre anfangs
skandinavisch anmutende Gelassenheit, ihr
schwedisch-sozialdemokratisches Phlegma war von umsichgreifender
Unruhe, von kaum zu bändigendem Tatendrang abgelöst. Was übers
Wasser trug: ihre zwar rauhe, doch bisher gemütliche, gaumig
verschlumpfte Sprache erfand sich kehlig Flüche und
Drohungen.
Und dann sahen die Rättin und ich, wie sie sich formierten. Nicht,
daß sie sich bewaffnet hätten, etwa mit Eisenstäben, leicht aus
Kellerfenstern zu brechen; unbewaffnet bildeten sie einen Stoßkeil,
der im Laufschritt über die Brücke durchs Grüne Tor auf den Langen
Markt drang. Ihm folgten Kolonnen: blond, blauäugig, die
Rattenköpfe nach vorn gerichtet, als müsse links rechts nichts
beachtet werden, als gäbe es einen Willen nur. Natürlich
gleichberechtigt: weibliche und männliche Watsoncricks nahmen, ohne
Widerstand zu finden, den Langen Markt bis zur Matzkauschen Gasse
ein. Mit Doppelposten beiderlei Geschlechts besetzten sie die
Beischläge der reichgegiebelten Patrizierhäuser. Ungerührt
erlaubten sie, als gehe sie das nichts an, die Flucht der
Rattensippen aus den markierten Gebäuden, desgleichen aus dem
Artushof, der als Maislager diente, sowie aus dem hochgetürmten
Rathaus, das ihnen als Kornlager zufiel; im Rathauskeller lagerten
Sonnenblumenkerne und Zuckerrüben. Weiter drangen sie nicht vor.
Gleich hinterm löwengeschmückten Rathausportal, das über Treppen
zur Langgasse führt, sperrten sie die Gasse mit Betonkübeln ab, die
während der Humanzeit, als die Innenstadt Fußgängerzone war, für
Blumenschmuck bestimmt gewesen waren. Überdies pißten und koteten
sie neue Markierrungen.
Stille danach. Keine heftigen Bewegungen mehr. Sie fraßen langsam
in sich hinein. Dann standen lässig und nordländisch überlegsam
wechselnde Gruppen um den Neptunsbrunnen geschart. Es sah aus, als
wären sie von Gedanken bewegt wie man der ansehnlichen Bronze,
einem muskulös nackten Mann mit Dreizack, neuerdings Wasserspiele
beibringen könne; einige mimten albern den Meeresgott.
Paß auf, sagte die Rättin, lange halten die nicht still. Das reicht
denen nicht. Ein Weilchen, bis ihnen neue Würfe ins Haus stehen,
werden sie Ruhe geben, doch dann ist die Langgasse bis zum Tor und
zum Stockturm dran, danach das Quartier von der Reitbahn bis zur
Ankerschmiedegasse. Vielleicht lassen sie die Vorstadt uns. Aber
die gesamte Rechtstadt um Sankt Marien werden sie bis zum
Altstädtischen Graben aufrollen; uns bleibt Stare Miasto, wie die
Polen das Revier um Sankt Katharinen genannt haben. Dort,
desgleichen zwischen Poggenpfuhl und Fleischergasse und in der
ohnehin überfüllten Niederstadt, dürfen wir dann zusammenrücken,
bis auch diese Reviere geräumt werden müssen. Und danach, wetten,
sind Ratten nur noch als Landvolk geduldet, das von den
Weichselniederungen bis ins kaschubische Bergland unter Aufsicht
ackern und ackern muß, damit die Watsoncricks zu fressen genug
haben.
Als ich dem Betrieb zwischen der Speicherinsel und dem Langen Markt
stumm zusah und nicht ohne Vergnügen beobachtete, wie mehrere
Großsippen aus den Raiffeisenspeichern in reichgegiebelte
Patrizierhäuser umzogen, wobei sie stuhlund tischähnliche Möbel
schleppten, sagte die Rättin übereifrig, als wollte sie mich von
weiteren Menschlichkeiten der Nippels ablenken: Übrigens wandert
unsereins wieder. Abermals haben wir Zuzug aus Rußland bekommen.
Und neulich trafen erste Einwanderer aus Indien ein. Interessante
Nachrichten bringen die mit. Zwar gibt es Kiew und Odessa als
Städte nicht mehr, aber auch dort sollen Menschenratten zu Fuß und
per Schiff aufgetaucht sein. Gleiche Nachricht von der
Malabarküste. Selbst wenn nur die Hälfte dieser Meldungen stimmt,
wäre es falsch, einfach wegzuhören. Immerhin wissen wir nun, was
anderswo Sache ist. Die indischen Manippels sollen wie unsere
beschaffen, doch zusätzlich geflügelt, ja, wie Engel geflügelt
sein; von den russischen heißt es: Sie haben ein Vierergesäuge und
können sich schneller als unsere Schweden vermehren. Ach, rief die
Rättin, hätten wir die nur sogleich fix und fertig gemacht, wie die
russischen Watsoncricks, die grusinischer Herkunft gewesen sein
sollen, gleich nach der Anlandung erledigt wurden. Zwischen den
Trümmern der Stadt Odessa hat unsereins sie zu Tode gehetzt. Die in
Kiew hingegen sind mächtig geworden. Es sollen, so unglaublich das
klingt, US-Produkte sein, die kurz vor Schluß der Humanzeit
subversiv eingeschleust wurden: ziemlich massive schwarze
darunter.
Das alles hätte unser Herr Matzerath gerne zum
Videofilm verarbeitet. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden,
daß seine Firma das wunderbare Überleben der Rattenmenschen und
deren Fortentwicklung in vorproduzierten Kassetten demnächst
bereithält; wie Oskar den hundertundsiebten Geburtstag seiner
Großmutter Anna Koljaiczek bis ins geringste kaschubische Detail
vorgewußt, mit Hilfe der Firma Post Futurum produziert und der
Geburtstagsgesellschaft, bis auf die Schlußsequenz, zur Ansicht
gebracht hat.
Er weiß, wie man Zukunft einfängt. Geschmäcklerisch versteht er es,
Kommendes vorzukosten. Den Vorschein, von dem Bloch sprach, setzt
er in Szene. Doch muß unser Herr Matzerath alles, nicht nur sich
und seine korrekt gekleidete Fragwürdigkeit, nein, alles was
geschah, geschieht und geschehen wird, historisch einbetten, so
auch den Anteil der Rattenmenschen am Verlauf der posthumanen
Geschichte. In seinem Videofilm, der wie angekündigt in großer
Auflage vertrieben werden und den Videomarkt überschwemmen soll,
umschifft »Die Neue Ilsebill« nicht etwa schnurstracks die
Halbinsel Hela, um Kurs auf die Danziger Hafeneinfahrt zu nehmen,
vielmehr muß das Wrack warten, damit jene Goten, die vor mehr als
tausendfünfhundert Jahren durch Losentscheid ausgesiedelt wurden,
sich auf Wanderung begeben können. Vom Weichselmündungsgebiet bis
ans Ufer des Schwarzen Meeres verfolgt sie unser Herr Matzerath.
Ins entlegene Hispanien und den italienischen Stiefel runter zieht
er mit ihnen. Und immer räumen Ratten wechselnde Lagerplätze ab,
sind Ratten diversen Schlachtfeldern beigesellt. Die auf den 26.
Juni 1630 datierte Anlandung des Schwedenkönigs Gustav Adolf, auch
»Lew aus Mitternacht« genannt, muß gleichfalls herhalten, um den
Auftritt der Rattenmenschen vorzubereiten. Da unser Herr Matzerath
immer wieder, als müsse er das Kleinwüchsige seiner frühen, das
Bucklichte seiner späteren Existenz aufheben, großzügige Panoramen
entwirft und Weitläufigkeiten Punktumgeschichten vorzieht, hat er
des Schweden Anlandung auf Usedom wer zählt die Schiffe, wer die
Segel? mit Satzkaskaden aus des Großmeisters Döblin Roman
»Wallenstein« kommentiert; indem der Videofilm beidhändig ausholt,
entreißt er einerseits der Vergangenheit in Fetzen Geschichte, und
stiehlt er andererseits der Zukunft den kühnen Entwurf.
Selbstverständlich machen auf Gustav Adolfs Schiffen Ratten die
Überfahrt mit. Noch ist es die Schwarze Hausratte und nicht die
graue Wanderratte, die Europas Geschick bestimmt. Und
selbstverständlich gehen mit den schwedischen und finnischen
Bauernsöhnen Ratten an Land, um fortan bei Nördlingen und Lützen,
bei Wittstock auch, wo immer der Krieg verlängert wird,
geschichtsträchtig zu sein.
Daß nun auch noch im Jahre nullvier des russischen Admirals
Rosjéstwenski Baltische Flotte im Hafen und auf der Reede von Libau
ankert, damit wir sehen, wie eilends Ratten das anrüchige
Geschwader verlassen, mag einigen Betrachtern des demnächst
käuflichen Videofilms als überflüssig erscheinen, doch wollte der
Produzent der Kassette nichts auslassen. So ist er nun mal. Immer
das noch und das. Sogar schwermütig singen läßt er die russischen
Matrosen auf ihren rattenfreien Pötten. Doch jetzt, gut vorbereitet
durch grobund feindatierte Geschichte, gehen endlich die
Manipulierten an Land. Oder immer noch nicht? Muß abermals dem
Vorspann ein Vorspann folgen? Fehlt eine letzte historische
Untermalung?
Unser Herr Matzerath wollte sich nicht jene Zeitspanne wegkürzen,
in deren Verlauf sein existentieller Bruch markiert wurde. Also
sehen wir die brennende Stadt Danzig, Flüchtlingstrecks und die
Flucht übers Wasser. Überladene Schiffe sollen Zivilisten,
Parteischranzen, verwundete oder noch heile Soldaten vor der
anrückenden Sowjetmacht retten und in westliche Ostseehäfen
bringen. Die »Wilhelm Gustloff« sehen wir am 30. Januar 1945 zwölf
Seemeilen querab Stolpmünde mit über fünftausend Menschen, die
»Steuben« am 10. Februar mit über dreitausendfünfhundert sinken.
Drei Fahrten, nach denen sich siebenundzwanzigtausend Flüchtlinge
als gerettet sehen, macht die »Cap Arcona« und kentert dann
brennend vor Schleswig-Holsteins Küste mit fünfeinhalbtausend
Häftlingen aus dem Konzentrationslager Neuengamme an Bord. Falsch
orientiert griffen britische Bomber an. Das geschah am dritten Mai,
fünf Tage vor Ende des Zwischenkrieges. Doch auch diese Episode
wird von den Ratten wahrgenommen. Keine will die »Wilhelm Gustloff«
auf letzter Fahrt begleiten. Und kaum ist die »Cap Arcona« mit
KZ-Häftlingen belegt, sehen wir, wie tausend Ratten und mehr das
vom Unglück bestimmte Schiff, wie es geschrieben steht, eilig
verlassen. Er läßt nichts aus. Das alles, auch Menschen und Ratten
auf letzten Fährprähmen und Küstenschiffen unter ihnen der Lastewer
»Dora« zeigt unser Herr Matzerath. Indem er nun dem Geschehen
vorgreift und mit dem Auslaufen des Forschungsschiffes »Die Neue
Ilsebill« die knappe Zeit vorm Großen Knall einblendet, folgt er
seiner Video-Dramaturgie, die alles gleichzeitig weiß.
Endlich erleben wir die fünf Frauen filmisch vor Visbys
Forschungsinstitut für Gentechnologie. Wir hören Rufe, sehen
Scheiben splittern. Vor unseren videosüchtigen Augen werden Käfige
geöffnet. Wir freuen uns mit den befreiten Tieren. Anfangs sieht es
aus, als werden nur Normaltiere freigesetzt, doch wer genau
hinsieht, bemerkt, daß außer ihnen ein gutes Dutzend Freiheit
gewinnt, dem etliche Testreihen angeschlagen sind: Mensch und
Ratte, Ratte und Mensch über Gene miteinander verkettet, perfekte
Watsoncricks, die sogleich den Weg zum Hafen finden.
Das zeigt unser Herr Matzerath in seinem Film, der übrigens betont
sachlich »Davor und danach« heißt, ausführlich: Wie die
Rattenmenschen, ein jeglicher knapp meterhoch, die Kaianlagen
erreichen; wie sie ein Zollboot streng bewacht finden, ihnen ein
Ausflugsdampfer wenig geeignet erscheint und ihnen endlich die
»Ilsebill« gefällt; wie sie Proviant aus Lagerschuppen rauben,
bepackt an Bord gehen und ihnen ein Niedergang offensteht; wie
achtzehn oder neunzehn durch eine Luke kriechen und zwischen dem
Holzund dem Eisenboden des ehemaligen Lastewers Zuflucht
finden.
Die Rattenmenschen im Film sehen aus, als hätte ich sie geträumt.
Und wie nun die fünf Frauen gleich darauf das Schiff bemannen, sehe
ich, daß auch unser Herr Matzerath die Kapitänin schön befunden
hat. Sie gleicht meiner Damroka und auch die anderen Frauen sind
mir im Film nicht fremd. Wir sehen das Schiff ablegen und
auslaufen.
Von nun an verläuft die Videogeschichte schnurstracks. Was Gustav
Adolf vormachte, will »Die Neue Ilsebill« wiederholen: sie nimmt
Kurs auf Usedom. Was Gustav Adolf versäumte, ist den Frauen
Verheißung und Reiseziel: Sie ankern überm Vinetatief und lassen
die Küstenkontrolle über sich ergehen, ohne daß die DDR-Polizisten
fündig werden. Hübsch die Filmszene, wie sich die Frauen
schönmachen, mit Schmuck behängen, auf Deck flanieren und ihre
Lieblingsrollen, lauter Königinnen spielen.
Natürlich hätte unser Herr Matzerath hier abermals mit historischen
Einblendungen ausufern können, vielleicht sogar müssen. Doch wie er
die Episode mit dem sprechenden Butt, der im Gespräch mit Damroka
das nahe Ende verkündet, einfach wegläßt, danach den vielchörigen
Medusengesang ausspart und nichts, wie er sagt, »Irrationales«
zuläßt, so unterschlägt er auch die Geschichte der versunkenen
Stadt und das verheißene Frauenreich, um ohne Umweg zum Schlußpunkt
der Humangeschichte zu kommen.
Mag sein, daß Oskar den sprechenden Butt und dessen Visionen als
Ablenkung von seiner Existenz empfinden mußte. Mag sein, daß ihn
der Medusengesang der Ohrenquallen allzu schmerzhaft an das
glastötende Geschrei seiner Kindheitsjahre erinnerte. Vermutlich
waren ihm, dem zwar kleinwüchsigen, aber überbetont männlichen
Herrn, die Herrschaftswünsche der Frauen suspekt. Jedenfalls sparte
er aus, ließ weg, unterschlug und verneinte. Er verbat seinem
Videofilm überhöhende Effekte und erlaubte dem Großen Knall, sich
wie von heiterem Himmel herab zu ereignen.
Als Schicksal, unabwendbar geschieht es. Niemand hat das gewollt,
niemand hat das verhindert. Schuldfragen stellen sich nicht. Auch
fehlen Hinweise auf tätige Ratten in Großcomputeranlagen. Alles
geschieht aus sich heraus. Wir erleben Blitze und heilloses Licht
wie letztgültige Inszenierungen. Wir sehen über Peenemünde,
Stralsund und weiter weg die aus anderen Filmen vertrauten Pilze
wuchern. Wir könnten annehmen, es sei das alles nur ein
Naturereignis, läge nicht unseres Herrn Matzeraths Erzengelstimme
trompetenhell über dem Endgeschehen.
Rufen hören wir ihn: »So läuft ab, was seit langem anlief. So geht
in Erfüllung, was sich die Menschen gegenseitig versprochen haben.
Auf dieses Ereignis hin hat sich das Menschengeschlecht erzogen. So
endet, was nie hätte beginnen dürfen. Oh, Vernunft! Oh,
Unsterblichkeit! Zwar wurde nichts fertig, doch nun ist alles
vollbracht.«
Folgerichtig verdampfen die Frauen an Bord des Schiffes, ohne ihr
Vineta gefunden zu haben. Hätte der Vorausschau unseres Herrn
Matzerath nicht doch eine milde, immerhin denkbare Fügung einfallen
können: etwas Tröstliches? Es hätte seine Dramaturgie eher
gesteigert, wenn er dem Butt kurz vor Schluß erlaubt hätte, platt
über Vineta zu schwimmen, das schiefe Maul zu öffnen und alle fünf
Frauen, meine Damroka voran, von Bord des Schiffes in die Tiefe zu
rufen. Es hätte, unter Wasser zwar und allem posthumanen Geschehen
entrückt, mit der Gründung von Feminal-City eine neue Geschichte
beginnen und das Ende der letzten mildern können. Aber nein!
Folgerichtig und streng konsequent: zu nichts mußte ihre Schönheit
vergehen. Ich nicht, Oskar hat das gewollt. Seitdem fehlen die
Frauen mir schmerzlich. Also treibt das Wrack auf östlichem Kurs
trostlos. Doch im Vorschiff rührt sich manipuliertes Leben. Nur für
Sekunden zeigt der Videofilm Gestalten auf schwarzem Schiffsrumpf.
Auch sie haben Verluste erlitten. Sechs, nein sieben Exemplare der
neuen Gattung krepierten und werden nun über Bord geworfen. Zwölf
sind geblieben. Man ahnt menschliche Gliedmaßen, ihre rattigen
Köpfe. Es gehen vier oder fünf, die offensichtlich weiblichen
Geschlechts sind, wie gelernt seemännischer Arbeit nach: sie halten
das Wrack auf Kurs. Dann plötzlich flüchten alle unter Deck, weil
ein Staubsturm aufkommt. Auch die Watsoncricks fürchten den
weltweiten Befall. Einblendungen zeigen, wie schlimm es überall
aussieht. Nicht nur Moskau und New York sind zu Staub geworden,
nicht nur das Donezbecken, die Poebene und das Ruhrgebiet sind
verbrannte Erde, auch Zürich und Bombay, Rio und Kapstadt waren
einmal. Hongkong! Das soll Hongkong gewesen sein? Man mag nicht
aufzählen, was des Herrn Matzerath Videokunst im Vorgriff
hinwegrafft, einebnet, zu Kraterlandschaften wandelt oder in
Sonderfällen, wo Kulturgut geschont werden durfte, als Kulisse
erhält, Florenz etwa, Kyoto und
wie wir wissen GdaDsk. Doch so weltumfassend der Schlußstrich im
Film gezogen wird, so ungehemmt, bei anhaltender Finsternis und
Kälte, Staubstürme alles Lebendige tilgen, schemenhaft bleibt
dennoch das Wrack im Bild, bis endlich die Sonne nicht mehr
verdunkelt ist und Staubstürme belebenden Winden weichen. Einige
Nippels sieht man sich räkeln auf Deck.
Ich gebe zu, daß dieser Teil der Matzerathschen Videoproduktion
Längen aufweist. Schließlich sind uns filmische
Katastrophenauswertungen aus vielen, während der Schlußphase
gängigen Kinofilmen bekannt. Nochmals einfallsreich nahm der Homo
ludens seinen Ausgang vorweg. Dennoch unterscheidet sich die
Matzerathsche Schöpfung, trotz der genannten Mängel, von üblichen
Endzeitprodukten. Ihr Vorgriff auf fürsorglich geplantes Nachleben
beweist Perspektive. Einleuchtend ist das Finale des Films, das die
posthumane Geschichte im Übergang zur neohumanen thematisiert: Mehr
noch als im Traum, den mir die Rättin aus ängstlicher Rattensicht
kommentierte, wird im Videofilm die Schönheit, ja, der Liebreiz
insbesondere weiblicher Rattenmenschen offenbar. Immer wieder wühlt
die Kamera in rotblonder, in weizenheller Behaarung; auf Armen,
Schenkeln und Brüsten schmeichelt sie flaumig, fellartig dicht
liegt sie den Schultern an, flauschig bettet sie kurios anmutende
Ringelschwänzlein knapp unterm Steiß, das Haupthaar nicht
vergessen. Vom Rattenköpfchen abwärts ach, ihre weißbewimperte
Blauäugigkeit! fällt es den Rücken lang glatt, aber auch lockig, so
daß mir, dank filmischer Aufbereitung der Lockenpracht, neuerdings
meine Damroka in Träumen faßlich wird.
Langsam bis zögerlich: sie ist es, schöngelockt. Und meiner Damroka
Bernsteinkette hängt ihr nun an. Ach, lieber Herr Matzerath, wie
wünsche ich mir den Sieg der Watsoncricks über die niederen
Rattenvölker! Und schon nimmt mein Wunsch Gestalt an und erlaubt
zaghaftes Hoffen...
Jedenfalls sagt die Rättin, was auch der Videofilm ortskundig
vorauswußte: Nach der Anlandung bei Glockengeläut nehmen sie Revier
nach Revier, die gesamte Rechtstadt zwischen Vorund Altstädtischem
Graben in Besitz, ohne Gewalt übrigens, kraft gelassen bewiesener
Autorität. Sie vernichten die Rattenvölker nicht, drängen sie nur,
eigenen Bedürfnissen folgend, beiseite. Selbstverständlich, nicht
fordernd nehmen sie Anteil an Gerste-, Mais-, Sonnenblumenvorräten.
Bei der Lagerung und Verteilung der städtisch zentral gehäuften
Vorräte sind sie ordnend und planend behilflich.
Die Rättin gibt zu: gerecht, wenn auch nach zunehmend längeren
Wartezeiten, wird ausgeteilt. Weiterhin bleibt den Rattenvölkern
der Besuch der Marienkirche, ferner der Kirchen Sankt Katharinen,
Birgitten, Trinitatis und Nikolaus erlaubt. Bei ihrer Gesetzgebung,
die gaumig bis kehlig, aber auch anheimelnd verschlumpft
gesprochenes Recht verkündet, fällt allgemein Toleranz auf: Nicht
mehr dürfen die Katholischen das letzte Wort haben; es ist allen
Ratten die Ausübung jeglicher Religion gestattet. Also beten sie
wieder auf verschiedene Weise. So geregelt verläuft hinter
begrünten Schlammwällen städtisches Leben; die ländlichen Reviere
lassen sie, bis auf gelegentliche Kontrollgänge, außer acht. In
Kartuzy, Tczew und Novy Staw, das vormals Neuteich hieß, haben sie
Außenstellen errichtet.
Alles in allem führen die Schwedischmanipulierten und die
kaschubischen Ratten sowie die zugereisten kürzlich wanderten
afrikanische Großsippen ein auf verträgliche Weise ein harmonisches
Leben, das unser Herr Matzerath, der einerseits verschrumpelt zu
Füßen der geschrumpften Großmutter hockt und andererseits mit
seinem Dauerkatheter fortexistiert, gerne der Zukunft
vorbehält.
Nachdem er mir seinen Videofilm »Davor und danach« exklusiv gezeigt
hatte, sagte er: »Wenn wir demnächst meinen sechzigsten Geburtstag
feiern, möchte ich mit Ihnen gerne Ihre liebe Frau unter den Gästen
sehen.«
Als gäbe es kein Telefon, per Postkarte wurde
mir das Einlaufen des Schiffes in den Hafen von Travemünde
gemeldet: »Brief folgt.«
Im folgenden Brief steht besorgt viel Liebes: neben der Wolldecke
fürs Doppelbett sei ein Pullover für mich fertig geworden.
Weiterhin lese ich: Wie geplant hätte die Schiffsreise ihren
Verlauf genommen. Sogar die Küstengewässer der DDR wären ohne
besondere Schwierigkeit zu befahren gewesen. Allerdings habe man
weder Greifswald noch Peenemünde anlaufen dürfen. »Zuviel
Konservenkost! Abends wurde oft Chormusik a cappella
gehört.«
Weiter sagt der Brief, daß der Forschungsauftrag annähernd erfüllt
worden sei. Zwar müsse ein weiteres Zunehmen der
Ohrenquallenbestände befürchtet werden, doch könne man nicht oder
noch nicht von einer Verquallung der Ostsee sprechen. Bei
andauerndem Algenbefall bleibe jedoch ein regionales Umkippen als
Gefahr weiterhin angezeigt, überm Flachwasser stinke die See. »Ich
jedenfalls habe vom Quallenzählen die Nase gestrichen
voll.«
Ich lese im Brief, der der Postkarte folgte, natürlich hätten sich
Spannungen an Bord nicht vermeiden, lassen. »Was ich vorausgesagt
habe: viel zu eng ist der Kahn!« Natürlich seien olle Kamellen
wieder mal aufgewärmt worden. Rückblickend sei das Verhalten der
Steuermännin, die immer, selbst wenn es krächze, die erste Geige
spielen müsse, besonders ärgerlich. Trotz heftigem Wortwechsel mit
der Maschinistin »und zwar in Visby, beim Landgang, wo sie uns alle
ins Kino geschleppt hat, irgendein Amischinken lief: Monstren, halb
Tier, halb Mensch...« sei mit ihr auszukommen gewesen. Enttäuschend
das Verhalten der Meereskunden: »Die kennt ihre Arbeit
nur.«
Alle drei, sagt der Brief, seien in Kiel schon von Bord gegangen.
»Die Steuermännin hat Termine beim Oberlandesgericht: wichtig
wichtig! Der Maschinistin steht wieder mal eine Steuerprüfung ins
Haus. Natürlich wird die Meereskundlerin dringend im Institut
erwartet. Hatten es eilig auf einmal die Damen. Nur die Alte hat
bis zum Festmachen in Travemünde ausgehalten und zum Schluß noch
das Deck und die Back geschrubbt.«
Von merkwürdigen Wolkenbildungen gibt der Brief Bericht und vom
verregneten Sommer. Kein Wort übers Vinetatief. Møns Klinten und
die Kreidefelsen der Insel Rügen werden »schöner als man sich
vorstellen kann« genannt. Sogar ein Bordfest habe man gefeiert:
»Nur unter uns natürlich. War ganz lustig!« Und unvermittelt lese
ich: »So interessant die Reise trotz allem gewesen ist, die
Ilsebill wird dennoch verkauft werden müssen.« Es heißt: Wiederholt
gemachte Erfahrung zeige, daß die Frauen noch nicht gelernt hätten,
einander auf engem Schiff zu ertragen. »Weiß nicht, wie das kommt!
Immer hat es zwischen allen geknistert. Selbst mir sind die zu
vielen Weiber an Bord gelegentlich auf die Nerven gegangen.« Zum
Schluß finde ich hinter kreisrund angedeuteten Küssen abermals
Liebes und die Ankündigung geschrieben: Es wolle meine Damroka
demnächst wieder ganz zurück zur Musik.
Nicht meine Ratte, ein schwarzes
Klavier
träumte mir, das, von Kakteen überwuchert nach Europa, wo es
verboten war, Klaviere zu halten, überführt werden
wollte.
Und in Europa, träumte mir,
fand sich eine letzte Pianistin,
die ihre Finger nicht von den Kakteen und so weiter lassen
konnte.
War kein Klavier, ein Bechsteinflügel war es,
der schwarz, doch nun grün überwuchert nach einer
Pianistin
herkömmlich europäischer Schule schrie.
Den Deckel über den Tasten legte sie mit der
Schere frei und unten im Dickicht
beide Pedale.
Sie spielte in meinem Traum nur kurz von Bartók was: schnell langsam schnell. Dann wucherten neu die Kakteen; und alles war grün wie in Brasilien zuvor.
Als mir wieder die Rättin träumte,
erzählte ich ihr. Deine Kakteen, sagte sie, sind Einbildung nur,
der Bechsteinflügel hingegen ist eine Orgel, die überlebt hat.
Da hörte ich in Sankt Marien Bach: laut leise
gewaltig. Das Kirchenschiff mit Ratten gefüllt.
Die Organistin jedoch
war schöngelockt über die Schultern lang.
DAS Z
WÖLFTEKAPITEL,indemeineKutschein
die Vergangenheit fährt, zweialte Herren von dazumalreden, eine
andere Damroka schöngelockt ist, Museumsstücke gesammeltund Ratten
gemästet werden, eine traurige Nachricht das Geburtstagsfest trübt,
Solidarno[siegt, doch vom Menschen nichts bleibt und sich die
letzte Hoffnung verkrümelt.
Nur Hänsel und Gretel entkommen. Alles, was
Märchen war und gut oder böse auszugehen versprach, haben die
drachenähnlichen Spezialfahrzeuge niedergewalzt, zermanscht,
kleingekriegt, hinter sich ausgespieen, planiert und allegemacht.
Zum Schluß wurde der Prinz, der sein Dornröschen wachgeküßt hatte,
worauf vom Kanzler und dessen Gefolge der Schlaf fiel, mitsamt dem
erwachten Dornröschen dergestalt in den Waldboden gestampft, daß
uns, die wir im Film wie im Leben immer das Nachsehen haben, einzig
sein Kußmund geprägt als Fragment bleibt. Zukünftig wird niemand
mehr küssen wie er. Kein Dauerschlaf will über uns kommen. Fortan
werden sich alle Träume hellwach abspielen.
Das Gelächter der Militärs. »Alles kaputt!« Sie schlagen sich auf
die Schulter.
Kein Wunder, daß es weitergeht wie zuvor, nein, schlimmer, weil
ohne Hoffnung jetzt. Doch während die Experten streiten, als könne
es anders nicht sein, während Minister und Bosse wie gewöhnlich
ihre Geschäfte machen und dabei rundum gesichert werden, weil jede
Maschinenpistole wieder in Anschlag gebracht ist, während noch die
Generäle gesegnet werden, denn auch den Bischöfen fällt Neues nicht
ein, und der Kanzler fürs Fernsehen, zudem den Journalisten zur
Freude, lauthals »Hansi! Margarete!« ruft, laufen Hänsel und Gretel
davon.
Unser Herr Matzerath will das so. Ich stimme ihm zu. Irgendwer muß
entkommen. Ganz ohne Märchen will niemand sein.
Das sagen landauf landab alle, doch auf die Frage der Journalisten,
»Herr Altkanzler, vermissen Sie Ihre Kinder sehr?«, antwortet nicht
der Vater, sondern der Kanzlergeneral: »Wir werden auch diesen
Verlust zu verschmerzen wissen.« Obgleich sie niemand verfolgt,
laufen Hänsel und Gretel noch immer entsetzt durch den toten Wald,
dessen Leichenstarre anhält. Kein Blick zurück, nur weg weg weg...
Wie nun die Fernsehleute die Industriebosse mit vorgehaltenem
Mikrophon fragen: »Und was soll mit dem Wald geschehen?«, sagt
einer der Bosse: »Abschreiben! Wir werden den Wald einfach
abschreiben! Wie die Märchen, so werden wir auch den
Wald.«
Das bleibt als Untertitel stehen, während Hänsel und Gretel Hand in
Hand laufen.
Auf Fragen geben die Bischöfe alles Geschehen, ob bös oder gut, als
Gottes Willen aus: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's
genommen«, sagt der eine, und der andere sagt: »Es hat wohl so
sollen sein.«
Wie auf der Klappe zu lesen steht, die ein Assistent vor jedem
Interview schlägt, wird die Fernsehreportage »Hexe tot Märchen aus«
heißen.
Nach ihrer Meinung befragt, reden zum Schluß Minister und Experten
durcheinander: »Neue Gutachten müssen her!« »Unabhängige
selbstverständlich!« »Jetzt müssen Prioritäten gesetzt werden!«
»Andere reden vom Wald, wir klammern ihn aus!« »Nicht der Wald
stirbt, sondern der Leistungswille!« »Das sind doch Kindereien,
Kindereien sind das!« Lachend laufen Hänsel und Gretel davon. Und
wie sie Hand in Hand durch den toten Wald laufen, beginnt er mit
treibendem Jungholz zu grünen. Sprung nach Sprung verändert sich
das abgestorbene Geäst und mit ihm die lachenden Kinder, wie sie
hüpfen und springen. Als kämen sie rückläufig voran, sind Hänsel
und Gretel nun nach alter Mode gekleidet. In Bundhosen,
Schnürschuhen, Strickstrümpfen und langem Rock laufen sie und
zeigen unter der Mütze, dem Häubchen wippende Zöpfe, fliegende
Locken. Von des Zeichners Ludwig Richter Hand sind sie entworfen;
und der Wald grünt, wie ihn der Maler Moritz von Schwind, ein
frommer Schöpfer, gemalt hat: Tannendunkel, hochragende Buchen,
Eichen, Ulmen, uralter Mischwald, in dessen Tiefe kein Köhler
dringt.
So laufen sie, als gäbe es Märchen noch, als werde das Einhorn
sogleich, als sei, wo Häher auffliegen, der Specht pocht und Pilze
im Kreis stehen, die Hexe nicht fern. Im Unterholz regt sich was.
Wieder der Ameisenberg. Wie anfangs, als noch Hoffnung war, ist es
ein gülden Haar, das die Waldtaube im Schnabel hält, um ihnen, bei
wechselnd gefiltertem Licht, durch Farn, über Moos und Nadelgründe
den Weg zu weisen, denn irgendwo geht es hin.
Und wo sich mitten im Wald zwei Wege kreuzen, sehen Hänsel und
Gretel, die gar nicht erstaunt sind, eine mit Schimmeln bespannte
Kutsche auf der Wegkreuzung stehn. Ohne Kutscher auf dem Bock,
vierspännig und mit Silbernägeln beschlagen, als habe sie gütigst
der Schloßherr geschickt, wartet die Kutsche.
Die Schimmel schnauben. Ihr Zaumzeug blinkt. Da öffnet sich der
Kutschenschlag zum Wiedersehn. Freundlich grüßen Jacob und Wilhelm
Grimm, die wie Hänsel und Gretel biedermeierlich gekleidet sind:
mit hohen Hüten, gerüschten Kragen, in Jacken aus Sammet, die
Taschen und Ärmel mit Schnüren bordiert; wie uns die beiden Herren
von vergilbten Stichen her vertraut sind, dazumal, als sie in
Hessen und anderswo Märchen zusammentrugen, damals, als der Wald
noch Wald war. (Unser Herr Matzerath meint, viel gäbe es jetzt
nicht mehr zu sagen.) Ich lasse Wilhelm Grimm dennoch den Satz:
»Setzt euch nur zu uns, Kinder!« Und einladend soll Jacob Grimms
Untertitel heißen: »In solcher Gegenwart ist kein Bleiben. Wir sind
nicht mehr erwünscht.«
Es könnten nun artig Hänsel und Gretel ihren Knicks, ihren Diener
machen und zweistimmig sagen: »Ahnte uns doch, daß wir nicht
allzeit verloren sind.«
Sie steigen in die Kutsche, die ohne Kutscher, nur von vier
Schimmeln gelenkt, nicht etwa vorwärts, vielmehr die Kutsche voran,
die Schimmel hinter sich trabend, in die Vergangenheit fährt, deren
Verlauf unterhaltsam ist: es begegnet den Reisenden allerlei
einfaches Volk.
Links und rechts des holprigen Wegs, der bald den Wald verläßt,
dann jedoch, zwischen Wiesen und Kornfeldern, weiterem Wald
zuläuft, sehen wir Menschen in alter Tracht, in Lumpen und
uniformen Monturen ausschreiten, sich Schritt für Schritt mühen,
flott unterwegs, schwer beladen: Das alte Weiblein krumm unterm
Reisigbündel, der Mann, der den Bienenstock trägt, die Kiepenfrau,
der Bauer, das Kalb am Strick, zwei wandernde Handwerksburschen,
die Gänsemagd, der Bettelbub, aber auch landlose Leute und in
Ketten Gefangene, die von Soldaten allseits bewacht sind.
Doch wie die Kutsche, in der sich Hänsel und Gretel mit den
Grimmbrüdern gefunden haben, rückläufig ist, so treten alle, die
ihnen begegnen, Schritt nach Schritt hinter sich: Als werde das
alte Weiblein vom Reisigbündel, der Mann vom Bienenstock, des
Töpfers Frau von schwerer Kiepenlast und der Bauer vom Kalb mit dem
Strick gezogen. Nach rückwärts wandern singend die
Handwerksburschen. In den Stall zurück treiben die Gänse die Magd.
Hinter sich betteln will fortan der Bub. Und auch die Landlosen und
Gefangenen hoffen samt Wachsoldaten, wenn sie einander nur weit
genug ins Reich Eswareinmal schleppen und treiben, Land endlich zu
finden, besser besoldet und frei von Ketten zu sein. So viel
verspricht die Vergangenheit.
Hier könnte der Stummfilm »Grimms Wälder« enden. Wem aber der
rückgewendete Schluß des stummen Films vom sterbenden Wald und vom
Ende der Märchen zu verheißungsvoll, von Hoffnung geschönt und
nicht böse genug ist, der möge, rät unser Herr Matzerath, die
Zeitung aufschlagen und lesen, bis daß ihn Zorn überkommt, was des
Kanzlers Experten zu sagen haben. Das Märchen von Hänsel und Gretel
ist jedenfalls aus.
Ach Ratte, Rättlein! Was bleibt uns noch außer dem Dritten
Programm? Wo ist noch Hoffnung? Mit wem zur Hand könnte ich, wenn
mir träumt, sagen: Noch sind wir! Es gibt uns! Wir wollen und
werden...
Sicher, Malskat ist da. Mitgenommen von so viel vergangener
Gegenwart haust er auf einer Insel im Deepenmoor bei Lübeck und
nahe der todsicheren Grenze zwischen den Staaten, die einander
jeweils ein anderes Deutschland vortäuschen. Als ehrlicher
Trugbildner hat er seine Zeitgenossen, die bis zum Schluß Fälscher
blieben, überlebt, kümmerlich zwar, aber doch allseits geachtet,
während der alte Fuchs und der sächselnde Spitzbart uns bitter
aufstoßen.
Und wenn ich, Rättlein, behaupte, nicht nur Malskat, auch unser
Herr Matzerath ist immer noch da und produziert marktgängige
Videokassetten, solltest du mir, der ich gleichfalls noch bin und
nur zeitweilig in meiner Raumkapsel hocke, glauben, daß es so ist.
Ich habe dir, was du gerne magst, Käsebröcklein gebracht. Ich
beweise mich dir durch Streicheln, Gutzureden, mit frischer Streu.
Und auch Damroka, die es wiederum gibt, kommt manchmal mit ihrem
Kaffeepott auf einen Sprung vorbei und sieht uns zu, wie wir
korrespondieren.
Bliebe einzig die These zu widerlegen, nach der alles Täuschung und
Nachglanz nur ist. Es heißt: Wir sind gar nicht mehr, werden
scheintätig nur geträumt von einzig wirklichen Rattenvölkern, die
uns, die wir mal waren, immer aufs neue erfinden, damit der Mensch
den Ratten als Vorstellung nicht ausgeht. Willentlich träumen sie
mich, dich, deinen offenen Käfig, die Käsebröcklein und Malskat auf
seiner Insel im Deepenmoor, desgleichen Damrokas Kurzbesuche, den
medienverrückten Herrn Matzerath und das Dritte Programm, dessen
tapfere Sprecher behaupten, es gehe weiter, es lohne zu leben und
Schulfunk für alle zu hören. Hoffnung finde sich, wenn auch nur
krümelgroß. Alle Gefahren seien abwendbar durch Vernunft und
Verzicht und allumfassendes Umdenken. Man müsse nur wollen. Dann
lasse sich wiederum Zukunft planen. Bei aller Skepsis, das Jahr
Zweitausend komme bestimmt. Es heißt sogar: Man werde die
restlichen Wälder mit Schutzhäuten beschichten; man könne unter
Glaskuppeln frische Luft für Großsiedlungsräume garantieren; der
Hunger ließe sich gentechnisch aufheben; bald wisse man Mittel, den
Menschen auf Dauer friedlich zu stellen; auch bequeme die Zeit sich
allmählich, voroder nachgeholt verfügbar zu sein; man müsse nur,
sagt das Dritte Programm, den Willen haben zum Wollen und umdenken
möglichst bald...
So leben wir fort, geträumt von einzig wirklichen Rattenvölkern,
deren Geschichte Fortschritte macht. Immer mehr, sagt die Rättin,
fällt den Watsoncricks zu. Was unseres Herrn Matzerath Videofilm
als Ausblick bot, ist wohlorganisiert tatsächlich geworden: Sie
haben im Raum Danzig-GdaDsk ein Abgabesystem entwickelt, das den
Menschenratten Nahrung im Überfluß und allen Rattenvölkern, die
Ackerbau betreiben, ländlichen Besitz garantiert.
Wie immer man Machtverhältnisse regelt, ohne Eigentum geht es
offenbar nicht; eine nunmehr auch posthumane Einsicht. Könnte es
sein, daß wir, von Ratten geträumt, auf jene Rattenmenschen, von
denen uns träumt, konstruktiv Einfluß gewinnen? Es soll ja vormals,
als Mann mit Bart, Gott allen Bildern gefällig gewesen sein, die
wir uns machten von ihm. Sie wächst. Meine Weihnachtsratte wächst
zusehends. Ich staune. Dabei ist bekannt, daß ordinäre
Wanderratten, desgleichen Laborratten während ihrer drei Jahre
anhaltenden Lebenszeit immerfort wachsen. Besorgt sehe ich ihrem
Wachstum zu. Sie könnte nicht mehr sein eines Tages, erstarrt
rücklings liegen, verreckt. Was werde ich mir auf Weihnachten
wünschen, wenn es kein Rättlein, nur noch Malskat mit seiner
verjährten Geschichte, unseren Herrn Matzerath auf dem Videomarkt,
ab und zu Damroka und bei laufendem Dritten Programm mich, aus
allen Träumen gefallen, nur mich noch gibt?
Die Rättin behauptet, es sei den Watsoncricks gelungen, das
Wasserspiel des Neptunbrunnens und in Sankt Marien das Orgelwerk
auch wieder in Gang zu setzen; und kaum aus Polen zurück, will
unser Herr Matzerath jene vorproduzierte Kassette, die den
hundertundsiebten Geburtstag seiner Großmutter vorweggenommen hat,
in den Videohandel bringen.
Die Orgel in der Marienkirche brannte gegen Ende des
Zwischenkrieges aus, doch wurde kurz vor Schluß der Humanzeit ein
neues Orgelwerk dem geretteten Prospekt der Johanneskirche
eingebaut.
Jetzt hat unser Herr Matzerath vor, einen mehrteiligen Film zu
produzieren, der sich dem Thema Adenauer-MalskatUlbricht stellen
soll. »Fälscher am. Werk« könnte der Arbeitstitel heißen oder
»Falsche Fuffziger« nur.
Die Rättin sagt, es gefalle den Rattenvölkern, Orgelkonzerten zu
lauschen, die ihnen die Watsoncricks allsonntäglich bieten.
Kürzlich soll unser Herr Matzerath den Maler Malskat auf seiner
Insel im Deepenmoor aufgesucht haben. Natürlich fuhr unser Herr
Matzerath mit Chauffeur im Mercedes vor. »Hol über!« rief Oskar,
als er sah, daß keine Brücke zur Moorinsel führt. Malskat holte das
bucklichte Männlein mit dem Ruderboot. Der Chauffeur mußte beim
Mercedes warten. Im Dritten Programm, das immer Bescheid weiß, ist
Bach jetzt dran: Toccata und Fuge F-Dur. Aber auch Buxtehude, sagt
die Rättin, ist den Watsoncrick geläufig. Es soll kein Geheimnis
bleiben, was sich die beiden älteren Herren auf der Moorinsel zu
sagen hatten.
Während der eine in enger Stube dennoch, als wäre ihm kürzester
Auslauf genug, auf und ab ging und dabei die Hände beredt verwarf,
hörte der andere zu, den ewigen Wollmützenfilz halb über die Ohren
gezogen. Der eine sagte: »Eigentlich sollte der sterbende Wald in
Produktion gehen, aber Ihr Fall geht vor.« Der andere
schwieg.
»Man muß das alles, die Vernichtung der Chorheiligen und Grimms
Wälder als Folge und Einheit sehen«, sagte das bucklichte Männlein
auf seinem Weg auf und ab. Unter der Wollmütze entfiel dem Maler
nur selten ein Wort, allenfalls Handwerkliches zum
Detail.
Zwischendurch sprachen beide, wie um Abstand und Anlauf zu nehmen,
von ihrer Kindheit. Sie nannten Danzig und Königsberg unvergeßlich.
»Entscheidend war«, sagte der eine, »daß mir meine arme Mama zum
dritten Geburtstag eine Trommel aus Blech, die weißrot lackiert
war, geschenkt hat, worauf ich mein Wachstum einzustellen
beschloß.« »Schon als Kind«, sagte der andere, »malte ich viel,
wobei mir in meines Vaters Antiquitätenhandel altmeisterliche
Tafeln zum Vorbild wurden.« Dann ließen beide ihre Jugend auf sich
beruhen und fühlten sich, kaum hatten sie die Kriegszeit mit
wenigen Sätzen beendet und die anschließende Schwarzmarktzeit
armselig, aber vergnüglich genannt, in den fünfziger Jahren zu
Hause.
»Es hätte«, sagte der eine, »jener amerikanische Song, der immer
wieder von einem Quartett namens The Platters vorgetragen wurde und
dessen Titel Sie erinnern sich gewiß, lieber Malskat recht
überzeugend The Great Pretender geheißen hat, durchaus den beiden
deutschen Staaten als Nationalhymne dienen können, selbstredend in
Plural gebracht.«
»We are the Great Pretenders« sang der eine, worauf der andere
einen Karnevalsschlager der fünfziger Jahre vorschlug, nach dessen
Wortlaut immer wieder die Frage nach der Bezahlung gestellt
wird.
»Unser Film«, sagte unser Herr Matzerath, »der das neue Medium, die
Video-Technik der fließenden Übergänge nutzen wird, sollte
besonders jungen Menschen, die weder Lug noch Trug ahnen,
bildmächtig die Augen öffnen, auf daß ihnen die Ära der
Großfälschungen endlich bekannt wird.«
»Ich habe«, sagte der Maler Malskat, »meinen kleinen Anteil am
großen Schwindel immerhin selbsttätig auffliegen lassen. Plötzlich
hörte der Spaß für mich auf.«
Da sagte, indem er zu längerer Rede bereitstand, unser Herr
Matzerath über den Maler Malskat hinweg: »Wir beginnen mit dem
Einrüsten gegen Ende der vierziger Jahre, zeigen also, indem wir
von Tatort zu Tatort beispielhaft wechseln, wie im Innenraum der
Lübecker Marienkirche das große Gerüst wächst, blenden sodann die
Vorbereitungen zur Ausrufung des einen wie des anderen Staates ein,
hier etwa den Eifer des Parlamentarischen Rates, dort zwischen
Pankow und Karlshorst beflissenes Hin und Her, um nun auf drei
Ebenen das gesamtdeutsche Fälscherwerk einzuleiten, wobei Russen
und Amerikaner nebst Kunstexperten von Anbeginn ahnen, daß jeweils
Trugbilder entstehen, doch nicht begreifen wollen, wie glaubwürdig
jedem Schwindel, wenn er lang genug dauert, Wirklichkeit zuwächst.
Da in der Marienkirche nur rieselnder Farbstaub von alter
Wandmalerei zeugt, muß eines ostpreußischen Malers Hand gegen
geringen Stundenlohn gotische Säulenheilige aus dem Nichts, nein,
aus des Malers Fundgrube schöpfen, die seit seiner Kindheit
angereichert ist. Desgleichen erfüllen sich hier frühe Wunschträume
von rheinisch-klerikalem, dort von sächsisch-preußischem Zuschnitt.
Auf soviel Gelegenheit haben jene Staatsmänner, indianischen
Aussehens der eine, biedermännisch der andere, lange warten müssen;
es wurde dem Maler mit gotischem Fundus so viel Fläche noch nie
geboten. Schon heißen die staatlichen Trugbilder Republik, die
Wandmalereien: das Wunder von Lübeck. Zwar werden hier wie drüben,
so auch im Gewölbe des Hochchors Hakenkreuze weggemeißelt, zwar
löffelt man hier wie dort den hier demokratisch, dort kommunistisch
gesättigten Lernstoff, auf daß er eingeht wie Milchsuppe, aber noch
lange hallt hinter neuen Fassaden das Geschrei von gestern; es
stinken Leichen aus noch so sorgsam vermauerten Kellern; etlicher
Lübecker Pfaffen kackbraunes Ansehen bereitet Mühe, in neuer
Unschuld gottwohlgefällig zu sein. Doch der Schwindel gelingt!
Soeben noch um Nachsicht bettelnde Besiegte haben sich ihrer
jeweiligen Siegermacht eingenistet. Was heißt hier Laus im Pelz!
Schon sind sie militärisch zurechnungsfähig aufs neue. Sie rufen
Bauauf Bauauf! und Esgehtwiederaufwärts! Sie reden von Schuld, wie
man von Schulden und Tilgungsraten redet. Bald sind die einen
weniger arm als ihre erschöpfte Siegermacht, fest glauben die
anderen sich demnächst reicher als ihre benachbarten Sieger; und
auch die Wandmalereien in der Lübecker Marienkirche geben weit mehr
her als jemals dagewesen. Hier wird nicht gekleckert mit Gotik,
hier wird geklotzt. Überall steht, liegt, kniet man ergriffen vor
allumfassendem Scheinwerk. Und alle Welt staunt, wie rasch sich
eine Niederlage ins Gegenteil kehren läßt. Auferstanden aus Ruinen!
Wir sind wieder wer! singt, ruft man und schlägt sich auf die
Schulter. Das soll uns mal einer nachmachen. Gestern noch letzter
Dreck und heute? Nun ja, ein trauriger Aufstand der Arbeiter
verregnete drüben, ein mehr gemurmelter als lautstarker
Ohnemichprotest verlief sich hier. Skandale, Peinlichkeiten genug,
aber die gibt es anderswo auch. Man muß nur brav sein und der
Großsieger Lieblingskind bleiben, niemanden aufs Baugerüst lassen,
oft genug vom ersten deutschen Arbeiterund Bauernstaat, von unserer
freiheitlich demokratischen Grundordnung und von der stilbildenden
Kraft norddeutscher Gotik sprechen, dann wird der Schwindel
allenorts eingesegnet. So geschehen in Bonn, Pankow, Lübeck, wo
während der Siebenhundertjahrfeier sogar der Meisterfälscher
Adenauer als Kanzler dem Trugbild aufsitzt; oder ahnte der Alte den
Schwindel und bewunderte einzig die Machart? >Dat han se
jutjemacht!< soll er gesagt und dabei katholisch gezwinkert
haben...«
Unser Herr Matzerath hielt ein. Kleine Schritte machte er in
Malskats niedriger Stube. Mit knappen Bemerkungen trug er noch dies
und das zur Video-Produktion »Falsche Fuffziger« bei: Mode und
Geschmack jener Jahre müßten bildhaft werden. Nicht nur die
obligaten Nierentische und gähnend leeren Großformate
gegenstandsloser Malerei, auch Messerschmitts Kabinenroller und
etliche Borgwardkarossen gehörten ins Bild, zudem das Wachstum
zweier Armeen. Es möge im Lied ständig bei Capri die Sonne im Meer
versinken, Fritz Walter Fußball spielen, und überall müßten in Amt
und Würden die Mörder unter uns sein. »Jadoch!« rief er. »Hinter
Fassaden muß unentwegt das Verbrechen ticken, diese nicht
abzustellende Uhr. Sagen Sie, bester Malskat, es heißt, Sie hätten
im Ornament der Kapitelle, desgleichen im Faltenwurf Ihrer Heiligen
gelegentlich Ratten, einzeln und paarweise Ratten
versteckt...«
Malskat stritt ab. Eine Menge Fabelgetier gewiß, die Truthähne im
Kreuzgang zu Schleswig seien von seiner Hand, aber Ratten niemals,
die wären selbst im Traum ihm nicht eingefallen.
Besinnlichkeit lagerte zwischen den beiden als Staub ab. Sie
dachten sich zurück. Besonders mag es unserem Herrn Matzerath
gefallen haben, sein Leben Station nach Station rückläufig
aufzuspulen. Dann nahm er die goldumränderte Brille ab, zeigte
seine blauen, jedes Wunder durchschauenden Augen, lud unvermittelt
den Maler zu seinem demnächst fälligen Geburtstag ein und sagte:
»Mein lieber Malskat, Sie hätten den Schwindel auf sich beruhen
lassen sollen.« Darauf der Maler: »Mag sein, daß Sie recht haben.
Aber ich bin nun mal eine ehrliche Haut.«
Wie in der Kirche das Amen,
alles ist vorbestimmt, weshalb auf vielen Papieren und in Filmen,
die spannend sind, unser Ende bereits geklappt hat und nun Legende
ist, wie diese Geschichte aus Hameln, die gleichfalls vorbestimmt
war.
Als nämlich die Kinder mit ihren Ratten verschütt im Kalvarienberg
saßen und die Zeit nicht vergehen wollte, flüsterten sie
einander zu: Das ist nicht das Ende,
Man wird uns suchen und
finden bestimmt.
Die Hämelschen Bürger, die ihre Kinder samt
Ratten im Berg vermauert und dann
verschüttet hatten, beschlossen, ihre Kinder zu suchen, taten, als
suchten sie wirklich,
begaben sich auf Suche und riefen: Wir werden sie finden
bestimmt.
Nur eines der Kinder im Berg sagte zu seiner Ratte: Man wird uns nicht finden, weil niemand uns sucht. Das war schon, das weiß ich, vorherbestimmt.
Ich kann sie zeichnen auf weißem Papier: Die
Rättin, von der mir träumt, trägt ihr Haar gelockt und wird
zunehmend menschlich. Wenn sie beiläufig sagt, die Herrschaft der
neuschwedischen Watsoncricks im Raum Danzig-GdaDsk erweist sich als
milde und kommt ohne Härte aus, spricht sie in eigener Sache. Keine
Weihnachtsratte, nicht mehr die Rättin mit nacktem Schwanz belebt
meine Träume bei Tag und bei Nacht, vielmehr will mich dieser
rattige Mensch schöngelockt an Damroka erinnern, die eigentlich auf
einem Forschungsschiff mit anderen Frauen verging, dann aber, weil
mir eine Postkarte träumte, der ein Brief zu folgen versprach,
plötzlich wieder da war: zuhaus.
Sie hört mir geduldig zu. Sie versteht meine Klagen, mein Leugnen
ihrer prächtigen Wirklichkeit. In immer neuen Einfällen gefällt
sich ihr Haar. Liebster, sagt sie, reicht es dir nicht, nur noch
geträumt, einzig von mir geträumt zu werden und fortan außer
Verantwortung zu sein, weil du abseits meiner Träume nicht
bist?
Angenehm ist es, von ihr, die ich sagt, geträumt zu werden. Sie
zeigt mir alles. Die aufrecht schreitenden Neuschweden in den
Gassen der Danziger Rechtstadt. Wie sie als Paare mit ihrer
Aufzucht wirklich niedlich ist der kindliche Rattenmensch anzusehen
vom Langgasser Tor bis zum Langen Markt auf und ab schlendern. Von
Normalratten keine Spur. Nur wenn sie als Inspekteure immer zu
zweit das Umland, die Weichselniederungen, die Kaschubei bereisen,
kommen gewöhnliche Ratten ins Bild.
Freundlich und aufmerksam überwachen die Watsoncricks den Ackerbau
der Rattenvölker. Sie raten und wissen viel. Noch immer herrscht
Gersteund Maisanbau vor, leuchten weite, gehügelte
Sonnenblumenfelder. Immer noch fangen Jungratten, hinterm
Fruchtkorb versteckt, Tauben, Spatzen, sonstige Schädlinge
weg.
Die Neuschweden sagen: Wir gehen behutsam vor. Schließlich sind es
unmanipulierte Ratten gewesen, die nicht nur sich, die auch uns
versorgten, die uns, als wir nur wenige und geschwächt waren,
hätten vertilgen können. Aber sie nahmen uns an. Zur Ankunft
Glockengeläut. Als Menschen in verbesserter Ausgabe erkannten sie
uns. Nicht deine Rückkehr, Liebster, war ersehnter Wunsch, vielmehr
galt ihr Flehen und Singen unserem Kommen. Du hast mir von Messen
erzählt, hast das Beten der Rattenvölker nach deinem Verständnis
katholisch genannt. Das ist Unsinn, Aberglaube. Wir haben ihren
Versammlungen eine neue, sozusagen reformierte Ordnung
gegeben.
Und ich sah die Veränderungen im Innenraum der Marienkirche: Anna
Koljaiczek als Mumie mit dem geschrumpften Oskar zu Füßen,
desgleichen aller Altarschmuck, die Golddukaten und weißblaue
Schlümpfe, die Brille samt Futteral, der Brieföffner, das Gebiß,
der schmiedeeiserne Schriftzug Solidarno[, Polens Staatsorden und
Oskars Ringe waren verschwunden. Kalte Strenge und protestantische
Leere herrschten. Den Dienst am Altar versahen steif und
umständlich, als müßten sie einander überwachen, zwei männliche
Neuschweden. Doch von der Kanzel herab sprach sie, meine
Schöngelockte über alle versammelten Rattenvölker hinweg: in
wiederholten Abwandlungen war einzig von Mühe und Arbeit die
Trübsinnige Feierlichkeit ging vom Altar von der Kanzel aus,
bedrückte, hielt nieder, ließ nicht zu, daß sich die Ratten hätten
aufrichten können, so geduckt wurden sie gehalten. Auch war ihrem
Gesang nichts Gregorianisches abzuhören. Sie sangen strophige
Lieder. Mir war, als hörte ich: Ein feste Burg... oder: Verzage
nicht, du Häuflein klein... Doch kamen mir die bekannten
Kirchenliedtexte total verschlumpft vorjedem dritten Wort war das
Gemaule der Watsoncricks draufgesetzt. Schon fühlte ich mich
versucht mitzusingen. Das ist die zweite Lautverschiebung, sagte
die manipulierte Damroka ohne verschobenen Akzent, allenfalls
rollte sie das R, wie es seit altersher in Vorpommern gerollt wird.
Ich fand sie auf der Orgelbank, die, auf neuschwedisches Maß
gebracht, mitsamt dem Spieltisch winzig anmutete im Vergleich zu
den ragenden Orgelpfeifen. Sie präludierte mit Händen und Füßen,
als wäre ihr das Orgelspiel wie Einund Ausatmen gegeben worden; all
das hatte mit drei Buchstaben die Zauberformel DNS möglich
gemacht.
Während sie Jesu meine Freude variierte, hörte ich Damroka
berichten: Übrigens haben wir diese grauslige Mumie und ihren
mumifizierten Gnom nicht etwa eliminiert. Du findest beide im
hintersten Winkel der Orgelempore, dort kaum beachtet mittlerweile.
Wie du weißt, kommen wir ohne Gewalt aus. Wir sind für langsame,
schmerzlose Übergänge. Vernünftige Einsicht leitet unser Handeln,
weshalb wir das Anbeten der beiden Mumien nicht etwa verboten
haben, sondern dulden und an bestimmten Tagen fördern sogar. Zum
Beispiel aus Anlaß des Großen Knalls. Jahr für Jahr feiern wir ihn,
indem wir die Mumien, wie zum Tag unserer Anlandung auch, den
Rattenvölkern zur Anbetung freigeben. Von dieser letzten
menschlichen Körperlichkeit geht mittlerweile abschreckende Wirkung
aus, die als späte Erkenntnis nützlich ist. Seht, sage ich immer
wieder von der Kanzel herab: Nie wieder soll es so werden. Seht,
wohin es die Menschen gebracht haben. Diese Mumien sollten uns
Mahnung und Warnung zugleich sein. Seht, wie schrecklich!
Und auch auf mich sprach die gelockte Menschenrättin aufklärend
ein. Sie sagte, ohne mit Händen und Füßen vom Orgelspiel zu lassen:
Indem wir den Anteil Ratte in uns bejahen, werden wir wahrhaft
human. Und weil wir unseres menschlichen Anteils bewußt sind, ist
uns das Rattige wesentlich geworden. Ursprünglich Menschenwerk
zwar, weisen wir über unsere Schöpfer hinaus, denen rückblickend
unser Mitgefühl gilt. Sie scheiterten an sich, während wir, dank
des Rattigen in uns, zukünftig sind.
Sie gab das Orgelspiel auf, drehte mir die Rattenschnauze aber auch
die beiderseits fallende Lockenpracht zu und sagte: Ein Grund mehr,
den Rattenvölkern zwar mit Anteilnahme, aber auch distanziert
zuzusehen, wenn sie in Gruppen jenen letzten Satelliten auf seiner
Umlaufbahn anbeten, in dem du, mein Liebling, den ich mir immer
wieder nahbei heranträume, für ewig aufgehoben bist. Wir hören dein
Räsonieren. Deine Klagen und Forderungen sind uns bekannt. Dein
Geschrei Erde kommen! Antworten, Erde! verführt uns gelegentlich,
Witze auf deine Kosten zu machen. Dein abgekapselter Traum, nach
dem es die Menschen tätig und voller Ideen weiterhin gibt, teilt
sich uns mit. Wir verstehen ihn gut, deinen Zorn. Begreiflich,
deine verspätete Reue. Wenn du um deine Damroka trauerst, rührt es
mich an.
Mir war, als hätte ich meinen Kopf und mit ihm all meine Einsamkeit
in ihr Gelöck betten dürfen, einzig ihr Gelächter verstörte. Immer
noch auf der Orgelbank, doch die Hände im Schoß nun, sagte sie:
Manchmal lächeln wir allerdings, wenn du immer wieder behauptest,
nur deiner humanen Männlichkeit und deinen öden Weibergeschichten
komme Wirklichkeit zu, während ich, immerhin deine Geliebte, und
alle Schwedischmanipulierten, zudem die uns anvertrauten
Rattenvölker dein Traumprodukt seien, austauschbar gegen andere
Träume.
Streng plötzlich hörte ich sie: Das muß aufhören! Ausflüchte dulden
wir nicht. Es könnte uns einfallen, dich zu vergessen, dich nicht
mehr komisch zu finden, anderes als dich, säugende Schmeißfliegen
etwa zu träumen. Ich hoffe, du verstehst meinen kleinen
Hinweis.
Wir stritten. Ich rief: Die gibt es überhaupt nicht, deine
dämlichen Schmeißfliegen!
Sie hielt gegen: Dich wird es demnächst nicht mehr geben! Ich
lenkte ein: Ist ja gut, Damroka. Laß bitte diese
Drohungen.
Sie blieb streng und zog dabei Orgelregister: Eine Warnung nur,
liebster Freund, damit dir klar wird, in welches Loch du fallen
könntest, falls ich...
Der Rest ging im Brausen der Orgel unter. Leise, vielleicht zu
leise aber sie hörte mich dennoch sagte ich: Nein, bitte, nein. Ich
finde dich immer noch schön. Mehr noch: ich träume dich körperlich,
mit Haut und Haar sozusagen. Richtig eingesponnen bin ich und
verschmust, auch wenn ihr Nippels etwas zu kleinwüchsig geraten
seid. Ich gewöhne mich, passe mich an. Sogar dein rattiges Antlitz
kann meine Liebe nicht schrekken. Wir sollten näher, noch näher
zusammen, damit wir ein Fleisch, wenn nur die Orgelbank nicht so
winzig und dein Löchlein so eng...
So hörte ich mich laut über Bach oder Buxtehude, über alle Register
hinweg: Ja, dich, nur noch dich will ich und will ich! Liebe, nie
habe ich sie so mächtig empfunden. Alles mögliche, dein Gespons,
dein Narr, dein himmlischer Bräutigam will ich sein. Zum
anknabbern, auffressen, mit Haut und Haar auffressen find ich, hab
ich dich lieb ... Aber hör endlich auf, Liebste, mir mein bißchen
armselige Wirklichkeit abzusprechen. Die gehört mir. Von der lasse
ich nicht, verstanden! Da kannst du schöntun, so rattig du willst.
Kaum erwacht, werde ich den Drehknopf bedienen und mich durchs
Dritte Programm bestätigen lassen. Das weiß immer Rat, gibt Trost
und baut auf Vernunft. Das sagt voraus, was morgen in Brüssel
beschlossen wird. Das macht Hoffnung, wenn auch nur klitzekleine,
auf demnächst beginnende Dauergespräche. Immerhin läuft hier und da
wieder was. Die Zinsen werden gesenkt. Der Papst hat Reisepläne
zuhauf. Sommerschlußverkauf wird die Wirtschaft beleben. Und seinen
Geburtstag will unser Herr Matzerath feiern, sechzig wird er; ein
Fest, zu dem wir, Damroka, ich bitte dich, herzlich geladen sind.
Doch du bleibst ungerührt, als sei das alles der Papst, Brüssel,
der SommerschlußverkaufEinbildung nur, bloße Fiktion...
Ihr Orgelspiel brach ab. Kein Nachhall. Ich fürchtete mich. Weder
sie noch die winzige Orgelbank waren zu ertasten. Wieder in meiner
Raumkapsel angeschnallt, hörte ich sie. Schmerzhaft entrückt füllte
ihr Bild den Monitor. Mein Stammeln: Aber ich wollte doch nur ein
paar mittelfristige Daten...
Dieses gerollte R. Ihre in Vorpommern geprägte Stimme: Red hier
nicht Kraut und Rüben. Langsam solltest du wissen, daß es euch,
samt Drittem Programm, nur noch in unseren Träumen gibt. Oderbei
aller Liebe noch deutlicher: solange wir und die uns anvertrauten
Rattenvölker bereit sind, uns an euch, die gottähnlichen
Selbstvernichter zu erinnern, gibt es menschliches Getriebe, also
auch dich als immer schwächer werdenden Reflex. Übrigens bedauern
wir unseren Gedächtnisschwund, dieses Verblassen einst deutlicher
Bilder. Wir gehen dagegen an, sind nicht untätig. Vorerst im
Artushof, später im Rathaus werden wir ein Museum errichten, in dem
Überreste aus der Humanzeit zur belehrenden Ansicht gebracht werden
sollen. Noch immer gibt euer Müll viel her. Auch sonst blieb in
Kellern, Gewölben einiges ansehnlich: Schreibmaschinen,
Telefonapparate, eine Filmkamera, ein heiler Volkswagen,
Ersatzteile und Zubehör, ein leidlich erhaltener Bechsteinflügel
sogar. Auch soll jene uralte Frau mit ihrem Knirps nicht länger auf
der Orgelempore verstauben, sondern als Stück unserer Sammlung
endlich zur Ruhe kommen. Und selbstverständlich werden wir, wie
schon die Rattenvölker zuvor, alles tun, um die Bausubstanz der
Stadt Danzig-GdaDsk zu erhalten. Weiß Gott: Mühe und Arbeit
genug.
Nach einigem Betteln und Schönreden, bei dem Zeit unermeßlich
verging, durfte ich mich wieder abschnallen und ihr nah sein. Unter
ihrer Obhut sah ich das Museum menschlicher Spätgeschichte. Und ich
sah Gruppen der Rattenvölker, geführt von belehrenden Watsoncricks,
Wendeltreppen hinauf, die Rathausräume durcheilen. Sichtliche
Ordnung herrschte. Alles an seinem Platz. Und was gab es nicht
alles zu sehen! Schau nur! rief meine Geliebte, die, wie zur Feier,
unterm Lockenfall meiner Damroka Bernsteinkette trug, schau nur,
was alles von euch geblieben ist.
Einen Zahnarztstuhl sah ich, daneben entsprechendes Werkzeug.
Kleincomputer neben einer altmodischen Kaufmannswaage. Viel Kunst,
gotische Stücke darunter. Man stelle sich vor: Porzellan! Aber auch
leichte und schwere Waffen: Flugabwehrraketen! Daneben die
Spielzeugabteilung einladend aufgebaut und von einzelnen und zu
Gruppen gestellten Schlümpfen durchsetzt: Den mit dem Beil, die mit
den Sensen, zwei, die mit Tennisschlägern Freizeit gestalten,
jenen, der mit der Kelle Spielzeugverkehr regelt, den Müßiggänger,
den Obstverkäufer, etliche Schlümpfe, die einer sachkundig
aufgebauten Kleinsteisenbahn zugeordnet sind und auf dem Bahnsteig
warten; alle niedlich wie eh und je. Ich sah Küchengeräte: Mixer
und Toaster, sah Polizeizubehör: Schlagstöcke, Handschellen, Helme
mit Visier. Restbestände menschlicher Historie mit zumeist
deutsch-polnischen Bezügen sah ich: zwischen Orden und Plaketten
auch Solidarno[, den schmiedeeisernen Schriftzug, dessen
viertletzter Buchstabe noch immer weißrot das Fähnchen
hält.
Ach! und auch das noch. Was ich nicht sehen wollte Nun guck schon!
rief sie, guck dir das an -, sah ich als Stück meiner Kindheit:
jenes zwischen Haff und Ostsee gelegene Konzentrationslager, das
Stutthof hieß und nur eines von über tausendsechshundert Lagern
gewesen war, breitete sich als Zeugnis der Humangeschichte in
modellhafter Nachbildung, nicht die Öfen, keine Baracke
vergessen.
Auf dem Rückweg sah ich einen Globus, den die Besuchsratten gerne
berührt und bewegt hätten, aber sie durften nicht. Und als ich in
der Buchabteilung, wo, wie bei den Musikinstrumenten, viel Andrang
herrschte, zwischen vielen, allerdings recht haltlosen Büchern
etliche polnische Großwerke, Pan Tadeus, Ferdydurke, entdeckte,
hielt ich Ausschau nach ihm und seiner Großmutter. Doch erst im
Roten Rathaussaal, wo früher das Zinsgroschenbild Platz gehabt
hatte, fand ich als Mumie Anna Koljaiczek und ihren Enkelsohn.
Endlich zur Ruhe gekommen. Von brüchigem Stoff halb verdeckt, er
ihr zu Füßen. Doch etwas fehlte.
Ich flüsterte mit meiner Liebsten. Sie lächelte, jadoch, jene
Schöngelockte, in der ich meine Damroka weiß, lächelte und
erlaubte, daß eine leidlich heile Blechtrommel, die mir beim Besuch
der Spielzeugabteilung unübersehbar gewesen war, in den Rathaussaal
umsiedeln durfte. Zwei Aufsicht führende Neuschweden besorgten das.
Oskar bekam, was ihm fehlte. Lachend rief meine Liebste: Wie sagte
man früher? Ordnung muß sein!
Später, an anderen Ort entrückt oder genauer, in meine Kapsel
gesperrt, hörte ich sie, ohne ihren manipulierten Liebreiz im Bild
zu haben: Du siehst, wir geben uns Mühe. Viele Stücke fanden sich
im städtischen Bereich, anderes, etwa Scherben kaschubischer
Töpferware, wurde zugetragen. Nach unserer Absicht soll das
Menschenbild nicht ganz und gar verblassen. So bleibt den
Rattenvölkern geradezu auferlegt, sich humaner Größe und Anmaßung
zu erinnern; wobei ich einräume, daß von uns Menschenratten oder
Rattenmenschen, wie du sagst, gelegentlich Zwang ausgehen muß. Wir
ordnen Museumsbesuche an. Da wir die Kernund Kornvorräte unter
Kontrolle haben, fällt es nicht schwer, den Vollzug unserer
Weisungen zu sichern. Daß wir die ländlich ackernden Rattenvölker
durch Vergabe von Besitztiteln wenn nicht abhängig, so doch
anhänglich machen, hat Folgen: Schon ist das Land von den
Flußmündungen bis ins Hügelland aufgeteilt. Alle Völker stellen
Transportkolonnen, denn alle Vorräte werden zentral gelagert.
Einzig die Stadt erlaubt Übersicht. Verteilt wird hier. Und wir
verteilen. Niemand muß hungern nach diesem System, dessen Devise
erträglicher Mangel heißt...
Hier brach sie ab. Sie hatte sich nachdenklich geredet. Nach einer
Pause, die mir für Spiele mit anderen Wirklichkeiten
blieb
ich rief Termine, ein bevorstehendes Geburtstagsfest auf -, hörte
ich sie besorgt: Wir sehen dieser Entwicklung nicht ohne Bedenken
zu. Die Gefahr möglicher Rückfälle in allzu bekanntes
Humanverhalten ist angezeigt, zumal es uns möglich wurde, Feuer zu
schlagen, was, wie du weißt, Folgen haben wird, nein, schon hat.
Wir Menschenratten garen, kochen, rösten unsere Maiskolben,
desgleichen die Jagdbeute der Akkerratten, die neuerdings total
abgeliefert werden muß, weil uns, schier unersättlich, nach Fleisch
überm Feuer verlangt. Gewiß, sie tun, was erwartet wird. Aber das
reicht nicht, reicht immer weniger. Nur langsam greifen unsere
Bemühungen, dem Fleischmangel durch Planwirtschaft abzuhelfen.
Meine Ahnung wurde von ihrem Bericht übertroffen: Da in einigen
Regionen, besonders auf fettem Marschland, die Populationen
übermäßig zugenommen haben, mußte durch Auslese die Verdünnung der
Rattenvölker beschlossen werden, vorerst im Weichselmündungsgebiet,
wo aus Rußland und Indien zugewanderte Völker siedeln, später wird
das kaschubische Hinterland erfaßt, wo Altansässige, mit
Deutschstämmigen gemischt, ihre Parzellen haben. Wir konzentrieren
besonders kräftig geratene Jungtiere auf abgesondertem Gebiet...
Stimmt! rief sie, du hast es erraten: Am Ort unserer Anlandung, wo
immer noch das Schiffswrack festgemacht liegt und an Feiertagen
besucht werden darf, auf der sogenannten Speicherinsel füttern wir
selektierte Jungratten mit ausgewählten Kernund Kornqualitäten bis
zur Übersätte und Schlachtreife. Da es uns gelungen ist,
Speiseratten weit über Normalgewicht zu mästen, werden wir, selbst
wenn außerhalb der Erntesaison Tauben knapp sind, demnächst gut mit
Röstfleisch versorgt sein. Seitdem wir Garküchen führen, fehlt uns
schon jetzt eigentlich nichts. Immer schmort, brutzelt was. Wir
sollten zufrieden sein, uns bescheiden. Dennoch hat, weil die
letzten Gersteernten überreich ausfielen, nun doch das Bierbrauen
begonnen, wenngleich diese Neuerung im Rat der Neuschweden lange
umstritten war. In der Zeughauspassage, auf einigen Beischlägen der
Frauengasse und im Ratskeller wird ausgeschenkt. Mit Maß natürlich
und immer unter Kontrolle. Gruppenbesäufnisse müssen genehmigt
werden und finden unter Aufsicht statt. Doch als kürzlich der Tag
des Großen Knalls gefeiert wurde es war der fünfundsiebzigste
Jahrestag-, boten unsere Leute den anwesenden Rattendelegationen
ein nur noch widerlich zu nennendes Schauspiel: in Horden torkelnd
die Langgasse rauf und runter, der Neptunbrunnen
verkotzt...
Das alles bereitet mir Sorgen, Liebster, sagte sie und war mir
wieder nah auf der winzigen Orgelbank. Sie präludierte. Traurig
klang das, nach Passion. Ach, Damroka!
Auf der Suche nach Unterschied zum Getier wird
gern als menschliches Sondervermögen die Liebe genannt.
Nicht Nächstenliebe, die Tieren geläufiger als dem Menschen ist,
soll hier gemeint sein, vielmehr geht es um Tristan und Isolde, und
andere exemplarische Paare,
die selbst unter Schwänen
nicht auszudenken sind.
So wenig wir vom Wal und seiner Kuh wissen,
Szenen wie zwischen Faust und Gretchen
wären diesen Großsäugern fremd,
wenn nicht unnatürlich.
Höher als des Hirsches Brunst steht das Hohelied Salomonis. Nichts
Äffisches reicht an die Liebenden von Verona heran. Keine
Nachtigall, nicht die Lerche, nur der Mensch liebt um jeden Preis,
außerhalb der Saison, bis zum Wahn und über den Tod
hinaus.
Wie man weiß, möchten die Liebenden
einander auffressen sogar.
Das stimmt, Liebste: mit Haut und Haaren sogleich. Vorher jedoch
und bei Lautenmusik —
braten wir uns ein Doppelstück
saftig vom Schwein.
Ich bitte dich, laß uns die Einladung annehmen.
Schau, er hat Karten drucken lassen, ein wenig albern, in
Sütterlinschrift. Es soll kein großer Auftrieb werden, nur
allernächste Freunde. Dich hat er handschriftlich besonders
erwähnt: »... und bringen Sie bitte Ihre Damroka mit...« Kleiden
dürfen wir uns nach Laune und Lust. Um Antwort wird gebeten.
(Malskat soll abgesagt haben, leider.)
Wir kamen zu früh. Vorerst nur wenige Gäste. Unter ihnen jene
langbeinigen Damen seiner Wahl, die allzeit wie zivil gekleidete
Krankenschwestern aussehen: soviel ermüdende Fürsorge. Sein
Auftritt stand noch bevor. Damroka trug ihr Goldgelbes. Ich hatte
mir als Geschenk die in Polen illegal gedruckte Übersetzung seiner
Erinnerungen ausgedacht: eine Rarität in zwei Bänden auf armseligem
Papier. (Die legale Ausgabe kam kürzlich erst auf den Markt und war
rasch vergriffen.)
Nur wenige Herren aus der Produktion, sein Prokurist, die Damen vom
Vertrieb, zwei japanische Geschäftsfreunde und etliche Filmemacher
mit Namen, die ihm mehr oder weniger verpflichtet sind, unter ihnen
ein ewiger Jüngling im Smoking und in Bergsteigerschuhen, der
seinem Genie gerne in Urwäldern, Sandwüsten oder wie Luis Trenker
einst auf überhohen Bergen Auslauf gibt. Dazu ein Professor
besonderer Wahl und ein unrasierter Dichter, der stets finster
blickte, obgleich seine kindlich anmutende Begleiterin ein wenig
jener Maria Truszinski ähnelt, die als junges Ding, bevor sie Frau
Matzerath wurde, gerne Holzperlen als Kette trug. Doch Maria, die
tatsächlich kam und zum strammen Kostüm echte Perlen zeigte, nahm
ihr Jugendbild nicht wahr, blieb vielmehr um ihren Sohn Kurtchen,
diesen dicklichen Flegel besorgt, der sogleich aufs Büffet
zusteuerte.
Noch immer stand sein Auftritt bevor. Halblaut wies ich Damroka in
die nun annähernd komplette Geburtstagsgesellschaft ein. Den
Professor kannte sie schon. »Jener Oberkellner«, sagte ich, »der
den zu süßen Sekt serviert, ist sein Chauffeur Bruno und tauglich
für alles.«
Anfang September. Draußen Altweibersommer. Durch die Fensterfront
zur Veranda sickerte Abendlicht. Damroka mißfiel das Genie in
Bergsteigerschuhen: »Der spiegelt sich immerzu.« Über der locker
gruppierten Versammlung lag die Stimme des Professors, der wie zu
weit größerem Publikum sprach. Mit Bezug zum immer noch abwesenden
Gastgeber wies er auf seine grundlegenden Ausführungen zur Rolle
des Außenseiters hin. Einer der Filmemacher, dem es vor nicht allzu
langer Zeit gelungen war, mit eigener Produktion den Jugendjahren
des Geburtstagskindes nahezukommen, bestätigte: Genau das, Oskars
exemplarisches Außenseitertum habe er zeigen wollen. Da trat er
auf. Nicht wie erwartet durch die Doppeltür, durch einen seitlichen
Einlaß, den man Tapetentür nennen möchte, fand unser Herr Matzerath
zu seinen Gästen. Verzögert entdeckt, applaudierte man
ihm.
Wir sahen ihn verlegen. Er wollte sich keinem Grüppchen gesellen.
Jacke wie Hose großkariert. War seine Brille beschlagen? Irritiert
suchte er die Versammlung ab, übersah mich, trotz Damroka, vermißte
wohl diesen und jenen, Malskat gewiß, gab sich Haltung plötzlich
und begrüßte vor allen Gästen Maria, die sich zum Wangenkuß beugen
mußte, was seiner zur Matrone erwachsenen Jugendliebe seit eh und
je peinlich gewesen ist. Kurtchen futterte fern am Büffet:
Lachshäppchen, Krusten vom Schweinebraten.
Danach blieb unser Herr Matzerath umringt. Glückwünsche über
Glückwünsche nahm er entgegen. (Jenem Filmemacher, der ihn, auf
Anraten des Professors, als Außenseiter erkannt hatte, war er
herzlicher zugetan als mir, dem er seinen Dauerkatheter
verdankt.)
Und was ihm nicht alles geschenkt wurde! Auf langem Tisch lagerten
Päckchen, sogar Pakete ab. Nur flüchtig nahm er wahr, was offen
lag, doch schien ihn die polnische Ausgabe seiner Erinnerungen zu
erfreuen: »Spät, aber immerhin.« Als ich ihm Damroka, die auch mich
überragt, vorstellte und er, den Glatzkopf im Nacken, schräg zu ihr
aufblickte, gelang ihm jenes Lächeln, das jedem, den es betrifft,
plötzliche Hitze eingibt und dennoch frieren macht. »Ich verstehe«,
sagte er, mehr nicht. Dann war er wieder umringt.
Es ließe sich noch viel zum Beginn der Geburtstagsfeier sagen.
Etwa: Das bald eröffnete Büffet war in Marias Feinkostabteilung zum
Sonderpreis berechnet worden. Oder: Nach Freigabe der Terrasse
beeilten sich die Japaner, Gruppenfotos mit dem Geburtstagskind zu
knipsen, darunter eines, das Oskar zwischen Damroka und mir zeigt.
Oder: Kurtchen erzählte unserem Herrn Matzerath aufdringlich von
seinen Schulden, wobei er »Bruderherz« zu ihm sagte. Oder: Ein
Spätsommerabend, keine Mücken, Heiterkeit, güldene... Doch drängt
es mich nun, Schatten auf dieses Fest zu werfen, so natürlich und
nur an den Rändern gekünstelt es zu verlaufen versprach.
Es war Bruno, der die Nachricht auf silbernem Tablett als Telegramm
brachte. Sonstige Telegramme und eilige Glückwünsche hatte er
bisher auf dem Gabentisch gestapelt, dieses trug er aus. Mag sein,
daß Brunos Manier, besondere Botschaften verschleppt, wie gegen
Widerstand auszutragen, der Geburtstagsgesellschaft zunehmend
Stille befahl; nach mir merkte jener Filmemacher auf, der Oskars
Befindlichkeiten zeitweilig nah gewesen ist, dann der Professor,
schließlich spürten alle, daß etwas nach fremder Regie geschehen
sein mochte. Sagte ich schon, daß unser Herr Matzerath beim Lesen
die Brille abnimmt? Er hielt sie seitlich, den kleinen Finger
gespreizt. Er las, blickte um sich, war ganz im Besitz alles
durchschauender Blauäugigkeit, winkte mit knapper Geste Kurtchen
herbei, sagte »Mein Sohn« zu ihm, ferner: »Sie war deine
Urgroßmutter« und bat ihn, das Telegramm zu verlesen.
In Matarnia vom Priester des gleichnamigen Kirchspiels aufgegeben,
sprach der Telegrammtext den Tod Anna Koljaiczeks aus. Es hieß, sie
sei im biblischen Alter entschlafen. Kurtchen war seiner Aufgabe
nicht gewachsen, er stotterte, buchstabierte sich durch. »Wir
trauern mit Ihnen«, hieß es zum Schluß.
Bruno wird geahnt haben, wie unser Herr Matzerath dem Tod seiner
Großmutter zu begegnen imstande war: Er goß allseits so umsichtig
nach, daß Oskars Wunsch, man möge mit ihm und im Gedanken an Anna
Koljaiczek, das Glas heben, sogleich erfüllt werden konnte. Dann
verbat er sich jegliche Kondolenz, ersuchte vielmehr die Gäste, den
Fortgang der Feier, so verschattet sie nunmehr sei, als ganz im
Sinne der Verstorbenen zu begreifen.
Also blieben die Gäste, nur Kurtchen ging. Alle standen in Gruppen
und sprachen gedämpft. Als unser Herr Matzerath bat, sich setzen zu
dürfen, stellte sich Maria neben ihn. Wie verloren er im zu
geräumigen Sessel saß, die Lackschuhe beträchtlich überm Parkett.
Damroka sagte: »Siehst du, sie hält seine Hand.« Marias Geste war
nicht flüchtig. Solange er saß, stand sie ihm bei.
Ich weiß nicht mehr, wer außer mir den Professor gebeten hat, zum
gegebenen Anlaß zu reden, wahrscheinlich die Filmemacher und der
Dichter; jedenfalls sprach er aus dem Stegreif und dennoch
dergestalt umfassend, als sollte mit seinem Nachruf auf Anna
Koljaiczek die Welt und ihr Zustand erklärt werden. »Wir alle
wissen, was sie verkörperte«, sagte er, um sogleich preiszugeben,
was alle wußten: »Dieses ein Jahrhundert und länger währende
Aushalten und Erdulden schrecklicher, mehr noch, barbarischer
Geschichte. Sicher, sie lebte am Rande, erlitt die Zeit. Es war
mehr ihr Enkelsohn, der sich einmischte, tätig, jawohl, auch
schuldig wurde. Doch ohne sie, die immer blieb, wo sie von Anbeginn
war, auf jenen kaschubischen Äckern, die wir wissen es mittlerweile
die Welt bedeuten, wäre er, unser Außenseiter und äußerst
fragwürdiger Held, ohne Ort, wie verloren gewesen.«
Dann erinnerte der Professor an Oskars dreißigsten Geburtstag und
sagte mit der Laune des Kenners aller noch so versteckten Details:
»Damals glaubte er, sich uns entziehen zu können.« Dann nannte er
unseres Herrn Matzeraths spätere Existenz zeittypisch für die
fünfziger Jahre, gab auch von sich und seinem Außenseitertum
Bericht und erwähnte nur kurz, doch nicht frei von kritischen
Nebentönen, die Matzerathsche Video-Produktion: »Unser Freund hat
nun mal diesen Medientick!« Er schloß nach einem Nebensatz, der
mich betraf und nach charmanter Reverenz Maria zu Ehren, allseits
einvernehmlich: »Doch nun ist Oskar wieder ganz unser!« So nahm die
verschattete Geburtstagsfeier dennoch einen heiteren Verlauf. Man
gratulierte dem Redner. Hätte meine Damroka ihn nicht in ein
längeres Gespräch über frühbarocke Kirchenmusik verwickelt, wäre am
Ende mehr der Professor als das Geburtstagskind gefeiert worden.
Danach nahm sie ihn mit einer Schilderung ihrer Ostseereise
gefangen, die keine Station ausließ: Møns Klint, Visby, der
Greifswalder Bodden... »Doch von Quallen«, sagte sie, »habe ich
jetzt genug. Schließlich mischte sich Oskar, anfangs noch Hand in
Hand mit Maria, wieder unter die Gäste.
Beiläufig erfuhr ich, daß an eine Produktion von »Grimms Wälder«
vorläufig nicht zu denken sei. Das teilte mir der Prokurist der
Firma »Post Futurum« mit. Es solle demnächst, wenn mich das tröste,
der Fall Malskat aufgegriffen werden. Herr Matzerath, hieß es, sei
überzeugt, daß man den Schlüssel für unsere Zukunft unter den
Ablagerungen der fünfziger Jahre suchen müsse.
Die Filmemacher nannten ihre nächsten Termine. Aus nicht
einsichtigen Gründen verfinsterte sich der Dichter. Ohne sich von
mir zu verabschieden, ging Maria. Dummerweise ließ ich mich mit dem
Genie auf ein Streitgespräch ein. Wie gut, daß der Professor und
mit ihm Damroka bei Laune blieben. Sogar den Dichter lehrten sie,
unrasiert dennoch zu lächeln. Und wie freundlich von unserem Herrn
Matzerath, in die Händchen zu klatschen, Aufmerksamkeit zu
erbitten.
Wie um das Fest angemessen ausklingen zu lassen, kündigte er die
Vorführung einer, so sagte er, »vornehmlich privaten Produktion«
an, die aber durch »traurige Nachricht« von nunmehr allgemeinem
Interesse sei. Also sahen wir alle jene Post-Futurum-Produktion,
die mittlerweile von vergangenen Abläufen handelt. Bruno zog
Vorhänge gegen die Abendsonne, rückte Stühle in lockere
Sitzordnung, schob ein Großschirmgerät in zentrale Position, goß
allseits noch einmal ein und fütterte dann den Recorder mit der
Kassette: »Der hundertundsiebte Geburtstag der verehrungswürdigen
Anna Koljaiczek, geborene Bronski.«
Wie gut, daß dies ländliche Fest zur Ansicht kam; denn hätte Oskar
die städtische Feier seines sechzigsten Geburtstages vorproduziert,
müßte ich jetzt berichten, wie getreu seine Ahnungen bis ins Detail
sind: Alles, Marias Feinkostbuffet, jedes Lachsund
Gänsebrustschnittchen gezählt, alle Gäste, so auch des Dichters
Bartstoppeln, meiner Damroka goldgelbes Kleid, jene zum Smoking
getragenen Bergsteigerschuhe, das Telegramm schließlich auf dem
Silbertablett, wie Kurtchen es durchbuchstabiert, wie der
Professor, zum Vortrag gedrängt, welthaltig ausholt, auch er als
Person kleinwüchsig großkariert, alles, sage ich, wäre vorgeahnt,
der Zukunft entrissen und in Produktion gegeben worden,
einschließlich Marias Hand auf seinem Händchen; aber er schonte uns
und ließ sein Fest in Anna Koljaiczeks Guter Stube
ausklingen.
Als Damroka und ich mit den letzten Gästen in die Garderobe
drängten, winkte mich unser Herr Matzerath noch einmal zurück.
»Reden wir vom Tatsächlichen!« rief er. »Haben Sie die Finger
dieser Watsoncricks gezählt, von eins bis fünf ordentlich gezählt?
Tun Sie das, tun Sie das bald!«
Bei nächster Gelegenheit zählte ich. Wie alle
Schlümpfe, die Oskar, als er nach Polen reiste, den
Kaschubenkindern beschert hat, auf daß sie glücklich seien, haben
alle Neuschweden, sobald ich sie mir nahbei träume, also auch meine
Schöngelockte, die auf der Orgelbank sitzt, außer dem Daumen nur
jeweils drei Finger an jeder Hand. Dennoch sind sie wie Schlümpfe
geschickt, sah ich sie doch gelernt hantieren, bis jeder
Humanschrott sich seiner Funktion erinnerte: der Schraubschlüssel,
der Hammer, das Rad und der Zirkel. Nicht nur in Befehlstönen hörte
sich ihre Sprache verschlumpft an, vielmehr steckte, sobald ich
genau hinhörte, in jedem dritten Wort die Silbe Schlumpf als
Voroder Nachtrag, als Zwischenstück. Sie fraßen sich schlumpfsatt
und zeigten sich, ihrer skandinavischen Herkunft gemäß, ziemlich
maulschlümpfig. Unser Herr Matzerath meint, es müsse den
gotländischen Genmanipulatoren kindlichen Spaß bereitet haben,
ihren Chimären außer der Vierfingerhand jenes Plastikwelsch zu
programmieren, dessen infantiler Grundzug den späthumanen Forschern
von kleinauf geläufig war. Man dürfe sogar ernste Absicht der
Universität Uppsala hinter dieser linguistischen Eingebung
vermuten, sollte doch die extreme Ratte mit dem extremen Menschen
auch umgangssprachlich versöhnt werden.
Und in der Tat: man kann den Watsoncricks zur Zeit ihrer Anlandung
und Besiedlung der Speicherinsel ein gemäßigt ausgleichendes,
nennen wir es, sozialdemokratisches Verhalten nicht absprechen.
Ihre Abstimmungen und Geschäftsdebatten wollten kein Ende finden,
Begriffe wie sozialschlümpfige Schlumpfordnung und Schlümpfokratie
waren zu hören. Und die Rattenvölker hörten zu, zwar aus Distanz,
aber doch lernbegierig. So konnte es nicht verwundern, daß auch
ihre Sprache während der Phase der zweiten Lautverschiebung
Schlumpfkürzel übernahm; weshalb unser Herr Matzerath, dem ja von
Kindheit an, und lange bevor es Schlümpfe gab, deren Wesen nicht
fremd gewesen ist, seiner Video-Produktion über die
posthumane-Entwicklung Zwischentitel beisteuern will, folgender
Spielart etwa: Am schlümpfigen Wesen die Welt soll
genesen!
Das tat die Welt leider nicht. Alles lief wieder mal schief. Zu
meiner Weihnachtsratte sagte ich nach dem Schulfunk für alle:
Siehst du, jetzt fressen die Neuschweden fette Ratten vom Spieß.
Das mußte so kommen. Es ist zuviel Mensch in ihnen. Die Rättin, von
der mir träumt, will nicht mehr der ordinären Wanderratte gleichen,
sondern schöngelockt wie Damroka sein. Oder war ich es, der nicht
mehr dich, Rättlein, träumen wollte, der, wenn schon Ratte, dann
eine manipulierte sich wünschte? So oder so geträumt, es darf nicht
sein, daß diese Nippels zukünftig sind. Weg mit ihnen! Komm raus,
Rattentier! Sag: Die schaffen wir auch noch. Die machen sich selbst
fertig, und wir helfen nach. Die sind zu menschlich geraten. Erst
als das Dritte Programm die Wasserstände der Elbe und Saale
brachte, kam sie aus ihrem Verschlag. Sie streckte sich, witterte
wie gewohnt, blieb ein Weilchen zwischen Futternapf und Saugflasche
und suchte erst wieder ihren halbdunkeln Bau auf, als die Sendung
Politik am Mittag begann: Nicaragua und kein Ende.
Wie erwachsen sie ist, obgleich sie immer noch wächst. Wir stimmen
überein: Es muß mit diesen Watsoncricks ein Ende nehmen! Und selbst
unser Herr Matzerath, dessen Videofilm eigentlich den
Menschenratten Zukunft sichern wollte, äußerte kurz nach seinem
sechzigsten Geburtstag mit letzter Rede Bedenken.
»Sehen Sie«, sagte er und stellte sein Spielbein seitlich, »ich bin
von Kindheit an medienbestimmt gewesen. Einem blechernen Ding
sprach ich mehr Kraft zu, als ihm gegeben war und scheiterte
jämmerlich. Man hat meiner Stimme, die allerdings schneidend war,
mehr Gewalttaten nachgesagt, als ich verbürgen möchte; doch ich
verlor mein schützendes Medium in böser Zeit. Als es dann wieder
aufwärts ging und die falschen Fuffziger Hoffnung auf mehr und mehr
machten, habe ich, weil der Stimmverlust endgültig war, auf das
Blech meiner Kindheit zurückgreifen müssen. Indem ich ein
überholtes Instrument abermals belebte und auf ihm Vergangenheit
beschwor, gelang es mir, so lange Konzertsäle zu füllen, bis
jedermann das Vergangene satt hatte. So lebte ich schlecht und
recht von Zinsen und Erinnerungen, wollte schon aufgeben und der
allzeit gewärtigen Schwärze das letzte Wort lassen, da wurden mir
neue Medien gefällig. Besonders liegt mir die intime Videokassette.
Sie eignet sich für den Hausgebrauch. Kurzum: ich fand meine
Marktlücke, produzierte aufklärende Erotik leicht über Mittelmaß,
entdeckte dann aber, als sich das Ende aller Humangeschichte immer
absehbarer vorwegnehmen ließ, ein Betätigungsfeld, das meinen
Talenten entspricht. Nach letztem Rückblick, den ich mir und dem
Maler Malskat schuldig bin, soll mit der Ausfahrt des Schiffes
>Die Neue Ilsebill< unser Ausklang dokumentiert und der
Verlauf posthumaner Geschichte vorweggenommen werden. Freilich
hätte ich den Neuschweden mehr Ratteninstinkt und weniger
menschliche Vernunft gewünscht. Aller Voraussicht nach spricht die
Entwicklung für einen kurzen Prozeß. Unruhe hat sich der
beherrschten Rattenvölker bemächtigt. Leider wird alles seinen
vorbestimmten Gang gehen. Um eine Prognose zu wagen und
gleichzeitig mit meiner kürzlich verstorbenen Großmutter zu
sprechen: »Da mecht nuscht nech blaiben von.«
Nicht im Werder, es beginnt in der Kaschubei.
Von den Rändern der Maisund Gerstenfelder verschwinden die
doppelten Nippels. In großflächig angebauten Sonnenblumenkulturen
gehen sie unter. Plötzlich von Ratten, immer mehr Ratten befallen,
endet ihre Aufpasserpflicht. Kinderleicht sieht das aus. Als spiele
man Räuber und Gendarm. Das hätte man lange zuvor schon gekonnt.
Ratten, die soeben noch über Maisstrohglut geröstete Mastratten
hätten sein können, nagen nun manipuliertes Fleisch vom
Gebein.
Nein, falsch. Bevor es in der Kaschubei, dann im Werder beginnt,
geschieht etwas. Jener schmiedeeiserne Schriftzug der zuletzt im
Rathaus Museumsstück war, ist verschwunden. Die Neuschweden
vermissen die eiserne Schrift zwar, geben dem Diebstahl aber kein
besonderes Gewicht gelegentlich wurde dies und das, einzelne
Schlümpfe zum Beispiel gestohlen -, doch begehen sie nun einen
Fehler, indem sie, ihrer Macht allzu sicher, der schmiedeeisernen
Schrift Aussage und bis in die Humanzeit zurückreichende Bedeutung
unterschätzen. Jedenfalls bricht, kaum ist das eiserne Wort
entführt und seitdem im Untergrund wirksam, nach und nach alles
zusammen, was die Watsoncricks zur Sicherung ihres Systems
aufgebaut hatten.
Gewiß es kommen neue Aufpasser. Aber auch sie verschwinden in den
Feldern, bleiben verschollen, sind auffindbar als Gerippe nur noch.
Der Transport von Maiskolben und Fruchtkörben der Sonnenblumen,
Gersteund Linsenfuhren verzögern sich, werden gestört, finden immer
seltener die städtischen Zentrallager Große Mühle, Hotel Hevelius,
Zeughaus, Stadttheater und Leninwerftkantine, hören schließlich
ganz auf. Strafexpeditionen stoßen ins Leere, werden in die Irre
geführt, verzetteln sich im Schwemmland der Weichselniederungen, in
den gehügelten Feldern der Kaschubei, erschöpfen sich und kehren
dezimiert zurück. Nachdem die Außenposten Kartuzy und Novy Staw,
zudem in Küstennähe jenes gesicherte Trümmerfeld, das vormals Oliva
hieß, gefährdet, nicht mehr zu halten sind, ziehen sich die
Neuschweden hinter die Grünstreifen der Schlammwälle ins
Stadtgebiet zurück. Die Kasematten im Hagelsberg werden geräumt.
Dann wird der Bischofsberg aufgegeben.
Jetzt erst fahnden sie ernsthaft nach dem verschwundenen
Museumsstück. Alle Sakristeien, die Keller der Werftkantine stehen
unter Verdacht. Der gestohlene Schriftzug soll mal hier, mal dort
kurz gesichtet worden sein. Kein Erfolg. Einzig Gerüchte nehmen zu.
Im Bereich der Speicherinsel, auf dessen Gelände dicht gedrängt
junge Mastratten konzentriert sind, kommt es im Verlauf von
Suchaktionen, ohne daß die Schrift gefunden wird, zu
Zusammenstößen: abschreckend müssen Massenschlachtungen angeordnet
werden. Auch auf dem Gelände der Leninwerft, desgleichen in jenen
Kirchen, die als Ort geheimer Rattenversammlungen in Verruf sind
Sankt Birgitten zum Beispiel -, bleibt die Suche nach dem Wort
erfolglos. Dabei liegt es in der Luft, flüstert sich fort und fort.
Es wird verboten, das Vermaledeite, das Unsägliche auszusprechen.
Selbst die verschlumpfte Weitergabe des Viersilbers steht unter
Verbot. Weil im Zustand der Trunkenheit lauthals das Wort
wiederholt gegrölt wurde, und weil Gerste ohnehin nicht mehr
geliefert wird, ist ab sofort jegliches Bierbrauen untersagt.
Hilflos mutet es an, wie sie in Doppelreihen das Zeughaus, die
Mühle, den Hotelhochbau, alle Vorratslager bewachen, denn noch
ahnen sie nicht, daß ihre Kornund Kernvorräte von unten weg
schwinden, durch Wühlgänge abgezogen werden, als wirke im
Untergrund mächtiger Sog. Keine der stockwerkhohen Aufschüttungen
ist zu halten, sie fallen treppab. Nachdem nun auch die übergroßen
Mastratten aufständisch geworden sind und ihre Mastfutteranlage,
dann die gesamte Speicherinsel, zuletzt den Bleihof in Besitz
genommen haben, so daß von der neuschwedischen Verwaltung des
konzentrierten Fleischlagers nichts außer Knochen und blondem
Gewöll geblieben ist, beginnt der Hunger, beginnt das Aushungern
der Menschenratten.
Ich sehe sie unsicher, ängstlich. Nichts mehr von skandinavischer
Ruhe und gotländischem Wagemut. Sie verkriechen sich in die
Häuserzeilen der Rechtund Altstadt. Ihnen gewohntes Gasselaufen,
etwa die Frauengasse rauf, die Langgasse runter, ist gefährlich
geworden. Weil es den Rattenvölkern gelingt, durchs immer noch
offene Kanalisationssystem in alle Altund Neubauten einzusickern,
indem sich Ratte nach Ratte durch steigende Rohrleitungen zwängt,
wird die Lage der Neuschweden nun auch von innen her unsicher,
unhaltbar. Ihre letzte Zuflucht heißt Sankt Marien. Das wird als
Weisung von Haus zu Haus gerufen.
Ich sehe, mit welcher Hast, wenn auch in Formationen, sie vom
Holzund Kohlenmarkt abziehen. Stockturm, Rathaus und Langer Markt
werden geräumt. Flucht von der Hundegasse durch die Beutlergasse.
Vom Hakelwerk und der ehemals Polnischen Post flüchten sie in
Keilformationen auf die Mottlau zu, über den Fischmarkt, die Lange
Brücke, durchs Heiliggeisttor. Durch alle Tore in drangvoller Enge.
Inzwischen ungeordnet der Marienkirche entgegen, wo sie alle es
mögen zum Schluß knapp zwanzigtausend sein verhungern werden, wenn
kein Wunder geschieht. Doch bietet ihnen die weiträumige
Hallenkirche keine rettende Ausflucht oder gar Wundertätiges, denn
jeder Blick nach oben zeigt nur neue Gefahren auf: in allen
Gewölben, jeden Strebpfeiler bis zum Schlußstein hoch hängen, zu
Trauben gebündelt, Jungratten; geduldig warten sie ab.
Nur mühsam läßt sich der Ausbruch von Panik dämmen. Außer Hunger
setzt den Watsoncricks bald eine Seuche zu. Es ist, als kämpfe in
ihnen Gen gegen Gen. Offenbar bricht verstärkt Menschliches durch.
Bei kleinstem Anlaß gehen sie sich an die Kehle. Sie würgen
einander ab. Die Zahl der Kadaver wächst sich im Mittelschiff zum
Leichenberg aus. Schon müssen sie den Altarraum aufgeben, jetzt die
Orgelempore, von der bis dahin Musik als Trost kam, zuletzt eine
Passacaglia. Aus Furcht, von allen Ausgängen abgeschnitten zu
werden, sammelt sich der schwindende Rest zum Nordportal hin. Keine
Hundert sind es mehr, und täglich zählen sie weniger. Sie versuchen
es, schaffen es nicht, es widert sie an, einander zu fressen. Am
Ende raffen sich die letzten Neuschweden auf es sind fünf, nein,
ich zähle neun, zwölf und verlassen das Totenhaus.
Über die Frauengasse suchen sie Ausflucht. Sie schleppen sich an
Beischlägen vorbei, die von Ratten besetzt sind. Auf Gesimsen,
Portalfassungen, in allen Fenstern drängen sie dicht bei dicht. Es
werden die letzten zwölf nicht angefallen, und doch sind es jetzt
nur noch neun, dann acht, sieben, die durchs Frauentor auf die
Lange Brücke finden. Fünf, von denen eine ausgezehrt meine Damroka
ist, wollen vom Grünen Tor über die Brücke zur Speicherinsel,
schaffen es auch zu fünft, doch wie sie, Damroka voran, das andere
Mottlauufer erreichen und auf ihr Schiff wollen, sehen sie Die Neue
Ilsebill übers Deck hin von Ratten bewohnt.
War das nicht vorauszusehen? Und wie hätten sie jenes Wrack, das
lange Zeit als Sehenswürdigkeit von Gruppen besucht werden durfte,
wieder seetüchtig machen wollen? Und wohin, wäre der Diesel
angesprungen, hätten die Letzten sich retten können?
Es sind junge Mastratten, vormals schmackhaft genannt, die das Deck
und die Niedergänge mittschiffs, zum Bugraum besetzt halten. Noch
stehen drei der Schwedischmanipulierten aufrecht. Sie schwanken,
halten sich aneinander. Es rührt zu sehen, wie sie mit schwachen
Gesten die Mastratten auffordern, das Wrack zu räumen. Ihre
weizenblonde Behaarung ist fahl, lehmig geworden und zottelt
verfilzt; doch aus den zinkgrünen Jungratten wurden graubraune,
schwarze dann: seit Beginn des Aufstandes dunkelten, schwärzten sie
ein. So näherten sich die Rattenvölker wie rückläufig jener Gattung
an, die zu Humanzeiten rattus rattus, die Schwarze Hausratte
genannt wurde und Gerüchten zufolge den Menschen die Pest gebracht
haben soll.
Wie nun als letzte meine Damroka schlappmacht sie geht auf die
Knie, strähnig ihr Haar und über die anderen fällt, sind gleich
darauf alle fünf von Ratten befallen schwarz. Ihr Fleisch
schwindet. Sie zucken noch. Aber kein Wimmern, kein Wehklagen. Doch
ist mir, als hörte ich Glockengeläut, schwächer jedoch, viel
schwächer als bei Ankunft der Watsoncricks.
Mir träumte, ich dürfte Hoffnung fassen, den
Krümel nur oder was sonst geblieben auf Tellern leergefressen und
hoffen, daß etwas, keine Idee, eher ein Zufall,
freundlich genannt, unterwegs sei,
ohne an Grenzen zu stoßen,
und sich verbreite ansteckend,
eine heilsame Pest.
Mir träumte, ich dürfte hoffen wieder
auf Winteräpfel, die Martinsgans,
auf Erdbeeren Jahr für Jahr
und auf der Söhne beginnende Glatze,
der Töchter Ergrauen, der Enkel Postkartengrüße, hoffen auf
Vorschüsse, Zinseszins, als hätte der Mensch wieder unbegrenzten
Kredit.
Ich träumte, ich dürfte mir Hoffnung machen und
suchte nach Wörtern, geeignet sie zu begründen, begründet mir
träumend Hoffnung zu machen. Also probierte ich aus und sagte
gute,
neue und kleine Hoffnung. Nach der vorsichtigen sollte es
plötzliche sein. Ich nannte sie
trügerisch, bat sie, uns gnädig zu werden. Als letzte Hoffnung
träumte sie mir, schwach auf der Brust.
Mir träumte, ich dürfte hoffen zuletzt: überall
legt jeder den Zündschlüssel ab und bei offener Tür sind die
Menschen einander sicher fortan. Es trog meine Hoffnung nicht: sein
Brot
kaut niemand mehr ungeteilt; doch jene Heiterkeit die ich erhoffte,
ist nicht von unserer Art:
lauthals lachen die Ratten uns aus,
seitdem wir mit letzter Hoffnung
alles vertan haben.
Na, hast du die eiserne Schrift gesehen? Und
hast du sie buchstabiert? Mittschiffs stand sie viersilbig auf dem
Wrack und wurde leserlich, als wir vom Deck weg Schluß machten. Da
ist sie wieder und lacht. Eine der schwarzen Jungratten, die in den
Weichselniederungen selektiert und zur Mast konzentriert wurden,
ist meine Rättin: Wir haben das Sagen wieder! Nichts, kein Krümel
ist von ihnen geblieben. Nur wir, siehst du, in Zukunft wir Ratten
nur noch.
Ich sehe sich vermehrende Völker. Zu guter Letzt menschenfrei gibt
ihnen die Erde Raum. Fischreich will die See wieder sein. Auf den
Hügeln hinter der Stadt wachsen die Wälder dicht. Vögel nutzen den
Himmel. Neues, zuvor nie geahntes Getier tritt hervor, darunter
endlich die säugenden Schmeißfliegen. Das alte Danzig jedoch
zerfällt. Es bröckeln die reichgeschmückten Fassaden. Türme stürzen
geborsten. Gotische Giebel neigen sich, kippen weg. Langsamer
Verfall, jeder Backstein, Sankt Marien, alle Kirchen geben sich
auf. Und wie sie den Schlußstrich zieht, sagt die Rättin: So wurde
des Menschengeschlechts schlimmster Gedanke gelöscht. Seine letzte
Ausgeburt ist vertilgt. Was jene Schrift aus Eisen sagt, haben wir
geübt, nicht der Mensch. Nichts zeugt von ihm, das fortleben
könnte.
Mein übliches Nein. Es könnte doch sein, Rättin, ich bitte dich,
daß wir mit letzter Hoffnung...
Ach ja, dich hatten wir ganz vergessen in deiner Kapsel ewiglich um
und um. Na, neue Pläne, Termine?
Sie sagt: Warum nicht! Da es ihn nicht mehr gibt, sollte der Mensch
sich Hoffnung noch und noch machen dürfen, damit unsereins was zu
lachen hat, wenn wir euch bei Gelegenheit träumen...
Der Rest geht in Gelächter unter, das sich zu erdumlaufender
Heiterkeit auswächst. Ungezählt vielschwänzige Würfe und
Wurfeswürfe, denen ich Spaß mache.
Trotzdem, sage ich, bleibt Hoffnung genug, daß nicht ihr geträumten
Ratten, sondern in Wirklichkeit wir...
Wir Ratten sind wirklicher, als dir träumen könnte.
Aber es muß doch trotz allem...
Nichts muß mehr, nichts.
Ich will aber, will wieder...
Was denn, was?
Nur angenommen, es gäbe uns Menschen noch... Gut, nehmen wir
an.
... doch diesmal wollen wir füreinander und außerdem friedfertig,
hörst du, in Liebe und sanft, wie wir geschaffen sind von
Natur...
Ein schöner Traum, sagte die Rättin, bevor sie verging.
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Inhal
tsverzeichnis
DASERSTEKAPITEL, indem ein Wunsch inErfüllung geht, inNoahs Arche
keinPlatz für Ratten ist, vom Menschen nur Müllbleibt, ein Schiff
oft seinenNamen wechselt, die Saurier aussterben, ein alter
Bekannter auftritt, eine Postkarte einlädt, nach Polen zu reisen,
der aufrechteGang geübt wird und mächtig Stricknadeln
klappern..................................................................................
5
DAS Z WEITEKAPITEL,indemMeistefälscherbenannt und Ratten Mode werden, der Schlußbestritten wird, Hänselund Greteldavonlaufen, imDritten Programm über Hamelnwas läuft, jemand nicht weiß, ob er reisen soll,das Schiff amUnglücksortankert, es hinterherKlopse gibt, Menschenblöcke brennen und Rattenvölker allerorts den Verkehr sperren............................................................... 37
D ASDRITTEKAPITEL, indem sich Wunder ereignen, Hänselund Gretelstädtisch seinwolen, unser Herr Matzerath an der Vernunft zweifelt, fünf Hängematten belegt sind, das Dritte Programm schweigen muß,inStege Ausverkauf und inPolen Mangelherrschen, eine Filmschauspielerin geheiligtwidund Truthähne Geschichte machen.................................................................................. 70
D ASVIERTEKAPITEL, indem Abschied genommen wird, ein Vertrag reifzur Unterschrift vorliegt, Hänselund Gretelankommen, Rattenköttelgefunden werden, Sonntagsstimmungherrscht, Ultimo ist, einige Goldstücke überzähligsind, Malskat zu den Soldaten muß,es schwerfällt, von den Frauen zu lassen, und das Schiff vor Kreidefelsen ankert.................................................................... 103
D ASFÜNFTEKAPITEL, indem eine Raumkapselkreist, unser Herr Matzerath schwarzsieht, die Rättin fehlende Angst beklagt, die Stadt GdaDsk äußerlich heilbleibt, die Frauen um Ohrenquallen sich streiten, Hänselund Gretel zur Aktion aufrufen, die Erziehung des Menschengeschlechts fortgesetzt und eine Preisrede gehalten wird... 144
D ASSECHSTEKAPITEL, indem der Rattenmensch denkbar und beim Wacheschieben geträumt wird, sich die Rättin als ortskundig erweist, das kaschubische Kraut wuchert, falsche Namen den Frauen anhängen, gleich nach dem Aufräumen die posthumane Geschichte beginnt, ich als Fehlerquelleerkannt werde, das große Gelddie Macht und Wilhelm Grimm eine Idee hat..................................... 177
DAS SI EBTE KAPITEL,indemvormBundestag geredet wird, die Sieben Zwerge Individuen sind, fünf Frauen von Bord gehen und was erleben wolen, laut und leise die Quallen singen, unser HerrMatzerath ankommt, Malskat gotisch imHochchorturnt,vereinsamtdie Rättinjammert, Dornröschen sich mit der Spindelsticht und das Schiff über Vineta ankert..................................................................... 218
D ASACHTEKAPITEL, indem fünf Gedenkminuten vergehen, der Geburtstagseinen Verlauf nimmt, die Rättin von Irrlehrenberichtet, der Kuckuck imFilmund in Wirklichkeit ruft, die Frauen sich schön machen, Oskar unter die Röcke kriecht, fast alles seinEnde findet und auf dem Bischofsberg Kreuze errichtet werden...................... 265
D ASNEUNTEKAPITEL, indem die Frauen noch einmal aufleben, das Land ohne Regierung ist, nagend Hunger herrscht,zweiMumien samt Zubehör überführt werden, worauf der Ackerbau beginnt, Ratte, Vogelund Sonnenblume ein Bildergeben, die Menschen nur noch als ob sind, es überallsprießt, treibt und rankt, schonwieder Oskar dazwischenredet und nach der ersten Lautverschiebung das Erntedankfestgefeiert wird............................................... 304 DAS ZEHNTE KAPITEL,indembeimFestaktein Gewitter niedergeht, unserHerr Matzerath sich behauptet, die Rättin dem treibenden Wrack Geheimnissenachsagt, der Prinz davonläuft, Neues aus Hamelnberichtet wird, die Ratten dichtgedrängt voller Erwartung sind, keine Post Nachricht aus Travemünde bringt, doch zu Beginn des neuen Zeitalters die Glocken läuten................................. 347
D ASELFTEKAPITEL, indem die Gekommenen seßhaft werden, der Dornröschenschlaf schrecklich endet, inHamelnDrillinge überraschen, imLübecker Bildfälscherprozeßgeurteiltwird, die Speicherinselzu eng ist,unser Herr Matzerath wieder einmalalles vorausgewußt hat, die Watsoncricks Ordnung schaffen und -weildie Post gute Nachricht bringt Musik tröstet........................................... 382
DAS Z WÖLFTEKAPITEL,indemeineKutscheindie Vergangenheit fährt, zweialte Herren von dazumalreden, eine andere Damroka schöngelockt ist, Museumsstücke gesammeltund Ratten gemästet werden, einetraurige Nachricht das Geburtstagsfesttrübt, Solidarno[siegt, doch vom Menschen nichts bleibt und sich die letzte Hoffnung verkrümelt......................................................... 420