Lautenmusik hört sie gerne, den Medienreport mit mäßigem Interesse, das Echo des Tages ohne Anteilnahme, Nachrichten gar: sie schläft. Am liebsten hört meine Weihnachtsratte immer noch Schulfunk für alle. Gestern wurde zwischen Steuer, Gebühren und anderen Abgaben unterschieden. Von historischen Lasten, etwa vom Zehnten war in einem Hörbild die Rede: wie die Bauern gepreßt unter Zinsvögten stöhnten, was alles sie liefern mußten und wie ihnen für die Aussaat oft Korn nicht genug blieb. Meine Weihnachtsratte huschte aufgeregt, witterte interessiert.
Heute verbreitete sich der Schulfunk über vergangene und gegenwärtige Produktionsmethoden der Landwirtschaft. Hörspielartig war von Brandrodung, dann von der Dreifelderwirtschaft, von Monokulturen, schließlich vom biodynamisehen Anbau, von Kompost, Brennesselsud und so weiter die Rede. Still, wie in sich gekehrt, saß sie in Richtung Radio, die runden Ohren gespitzt, alle Witterhaare auf Habacht gestellt. Sogar »Der fröhliche Landmann«, als abschließende Musik, gefiel ihr.
Jetzt schweigt das Dritte Programm. Weder sie noch ich wollen hören, nach welchen Gesichtspunkten die Brüsseler Behörden den Milchfluß dämmen oder neue Fangquoten für den Kabeljau bemessen. Daß, nach Angaben der FAO, pro Weltsekunde dreikommafünf bis vier Kinder verhungern, wissen wir schon. Mit meiner Weihnachtsratte bin ich einig; ungeachtet aller beschwörenden Rufe »Es geht aufwärts! Wir dürfen wieder hoffen!« läuft, schlittert, rutscht alles bergab, dem statistisch gewissen Ende zu.
Vielleicht ist es aber auch so: der Schluß war schon. Es gibt uns nicht mehr. Wir leben nur noch als ob, ein Reflex und demnächst abklingendes Gezappel.
Oder wir werden von jemandem geträumt. Gott oder ein ähnlich höheres Wesen, ein Übermotz träumt uns in Fortsetzungen, weil er uns lieb hat oder komisch findet, deshalb nicht von uns lassen kann, unser Gezappel nicht satt kriegt. In seinen Rückblenden, und dank der medialen Gelüste eines göttlichen Prinzips, dauern wir an, obgleich die letzte Vorstellung oder Ultemosch, wie die Rättin sagt, längst stattgefunden hat: Unmerklich vergingen wir, weil sich das Verhalten der Menschen, ihre laufenden Geschäfte, Terminabsprachen und Schuldverschreibungen, ihre liebenswerten Gewohnheiten und schrecklichen Zwänge selbst wenn sie das Ende an einem Sonntag im Juni zufällig bemerkt hätten weder ändern noch lösen, weder absagen noch aufheben ließen; so unveränderlich war oder ist das Menschengeschlecht.
Als ob es uns immer noch gäbe, sagte ich zu meiner Weihnachtsratte: Paß auf! Kurz vor den Mittagsnachrichten bringt das Dritte Programm oft Chormusik, du schätzt doch Motetten. Dann will ich, während du Schütz hörst, hoch ins Gerüst zu Malskat steigen. Er hat gute Arbeit geleistet. Nach über fünfzig Figuren im Langhaus werden demnächst im Hochchor einundzwanzig Heilige in Dreiergruppen stehen und gotische Blicke werfen.
Ich habe mir Gerüstschuhe geliehen. Ich besuche ihn oben, schmeichle, lobe seine kraftvollen Konturen, lache mit ihm über dumme Pfaffen und schwätzende Kunstexperten, will aber, indem ich rede und rede, etwas anderes, ihn überreden, wenn nicht ins Ornament der Kapitelle, dann in Freifelder Sonnenblumen zu setzen, die von Ratten gegen Taubenfraß geschützt werden. Einleuchtend nenne ich diese Emblematik, zumal ja die Taube der Ratte entspricht: gleich zäh werden beide zukünftig sein...
Malskat ist nicht abgeneigt. Ich biete ihm eine Zigarette an, Juno natürlich. Wir plaudern über Filme mit Hansi Knoteck, die wir, jung an Jahren, beide gesehen haben. Zwanglos kommen wir wieder auf Tauben und Ratten zu sprechen. Er sagt: Es ließe sich dieses hochgotische Motiv leicht auf die Pest zurückführen, jene Plage, die ab Mitte des vierzehnten Jahrhunderts mit Hilfe der Schwarzen Hausratte und einer inzwischen ausgestorbenen Feldtaubenart in ganz Europa heimisch wurde, und als Gottesgeißel überall die Christenmenschen lehrte, das Weltende kommen zu sehn, auch in Lübeck, wo von zehn lebenden neun hingerafft wurden...
Neinnein! rufe ich und steige vom Gerüst. Das kriegen wir ohne Ratten und Tauben hin. Uns ist keine Pest als Gottesgeißel vonnöten. Der Mensch hat sich seit Malskats hochgotischen Zeiten weiterentwickelt. Ganz aus sich, selbstherrlich, mündig endlich, kann er Schluß mit sich machen und zwar gründlich, damit keine Restbestände sich quälen müssen. Deshalb setzt er schon jetzt der Natur und ihren Auswüchsen zu. Denn vor den Menschen muß dieser Wald weg, das gefühlige Unterholz, die vernunftwidrige Ausflucht, dieses unberechenbare König-Drosselbart-Reich...
Während noch immer Rotkäppchens Großmutter aus dem Wörterbuch vergessene Wörter liest, die der Wolf, der zurückbleiben mußte, gerne hört, und während die Grimmbrüder besorgt sind, es könne bei den nun anlaufenden Aktionen der Märchengestalten zu Übertreibungen und unkontrollierter Naturwüchsigkeit kommen; während Rapunzel mit dem wachküssenden Prinzen Domino spielt und sich die Hexe mit der Bösen Stiefmutter zum zeitüberbrückenden Mühlespiel findet; während das Mädchen seinen davongeflogenen Händen nachsinnt, säen die Guten und Bösen Feen, Raben und Krähen den Zaubersamen über Stadt und Land, auf Wohnsilos und Betonpisten. Hoch über weitläufigen Fabrikanlagen entlädt der fliegende Koffer unbemannt Saatgut.
Auch auf festem Grund und Boden bekommen Industrielandschaften unverhofften Besuch. Die Sieben Zwerge mixen Zaubersaft in die Zapfsäulen der Tankstellen: abgezählt wenige Tröpfchen nur. In U-Bahn-Stationen wird Rotkäppchens Korb leichter und leichter. Des Mädchens abgehauene Hände sind im Mastengestänge übers Land eilender Starkstromleitungen geschickt. Auf Bahnhöfen, unter Brücken sieht man Schrate, Erdmännchen und sonstige Winzlinge: ihr geschäftiger Eifer. An Ampelanlagen lassen die Sieben Geißlein was fallen. Keine Schaltstelle, an der nicht Rattenköttel zeugnishaft liegen; kein Schalltrichter, in den nicht Tauben ihre Kröpfe entleeren.
Zauberer eilen über verkehrsreiche Plätze. Der große Merlin überall. Jetzt begleitet er König Drosselbart, auf daß sich ihnen Tür und Tor öffnet. Kohleund Atomkraftwerke besuchen sie, die Farbwerke Hoechst und Bayer-Leverkusen. Wie hochvermögende Bosse, umgeben von beflissenen Herren, besichtigen sie Fließbänder in Wolfsburg, Köln, Nekkarsulm. Jetzt wird die Leopard-Montagestraße der KraussMaffei-Werke begutachtet. Merlin memoriert keltische Zaubersprüche, und Drosselbart erteilt Aufträge, diktiert Lieferfristen.
Indessen haben sich auf dem Rhein-Main-Flughafen hübsch aufgemachte Hexen und exotisch wirkende Wilde Männer unters reiselustige Publikum gemischt: auf Rolltreppen, beim Einchecken und als Stewardessen sehen wir sie. In Selbstbedienungsläden läßt Frau Holle aus buntgeblümten Kopfkissen hier und da Daunenfedern fliegen. Von Hochhäusern herab, in deren Etagen er Nadeln streute, läßt das Tapfere Schneiderlein seine große Zwirnrolle abspulen.
Kurz: Überall, wo sich Erwerbssinn regt, die Marktlücke entdeckt ist, der Bedarf gekitzelt wird und sich das Bruttosozialprodukt zu steigern verspricht, sind hier säende, dort tröpfelnde Kräfte subversiv tätig, keine Ritze im System bleibt unbedacht. Selten wurde das Getriebe der freien Marktwirtschaft aufmerksamer gewartet.
Lautlos, ohne daß Untertitel erklären müssen, werden Sprüche gemurmelt und Finger gekreuzt. In wechselnden Uniformen gelingt es dem Standhaften Zinnsoldaten, militärische Sperrbezirke der Bundeswehr und der verbündeten Schutzmacht zu betreten. Er wird, weil plötzlich ranghoch befördert, von Standortkommandeuren begrüßt. Er streichelt Panzer, Kanonen, Raketensilos, ist auf schnellen Kriegsschiffen zu Gast. Als Co-Pilot steigt er in überschallschnelle Flugzeuge. Sogar in Geheimakten darf er blättern und läßt überall, auch im Verteidigungsministerium, einige Kleinigkeiten körnchengroß liegen; so zerstreut ist der Standhafte Zinnsoldat.
Und schon wird die Gegenkraft wirksam: zuerst zögerlich, als traue der neue Frühling sich nicht, dann rasch und urplötzlich. Anfangs sind nur vegetative Veränderungen erstaunlich, dann hat das entfesselte Wachstum Menschenaufläufe zur Folge.
Pflanzen sprießen aus Schornsteinen und Brückenpfeilern, wuchern und greifen um sich. Autobahnpisten brechen auf und geben schnell rankendes Gewächs frei. Aus Fließbändern, Motoren, Rolltreppen, Fahrstuhlschächten, Automaten und Kaufhauskassen quillt Grünzeug. Die Kühltürme der Atomkraftwerke werden von Moos und Flechten befallen, desgleichen einsatzbereite Panzer und Überschallflieger. Algen übergrünen Fregatten und Raketenkreuzer bis hoch zur Radaranlage, als seien alle Kriegsschiffe, was ihnen ohnehin vorbestimmt ist, frühzeitig gesunken. Kletterpflanzen in Starkstrommasten, die Fernsehtürme hinauf. Geschützrohre treiben knospende, dann vielblättrige Äste. Bahnhöfe werden zu Treibhäusern. Den Rhein-Main-Flughafen überschwemmt tollwütig Grün. Aus allen Fenstern der Ministerien und Chefetagen kotzt sich Grün aus, nimmt einzig Grün zu.
Wachstum! Überall legt die Natur sich quer. Seltsame, vorher nicht gekannte Pflanzen fallen ihr ein, darunter solche, die Beton zermürben, Mauern brechen, Stahlrohre biegen, solche, die Karteikarten fressen und solche sogar, deren Saugnäpfe Daten löschen. Moose und Flechten sprengen die Bank. Parkettböden treiben Pilzkulturen. Mannshohe Buchstaben, die Firmennamen bilden, treiben Ableger und werden unleserlich. Unwiderstehlich nimmt Natur überhand. Kein Verkehr mehr in keine Richtung. Kein Rauch aus Schornsteinen. Keine Abgase, dicke Luft. Die anfangs erschreckten Menschen sind plötzlich lustig und haben Zeit.
Zwischen stillgelegten Produktionsanlagen, die sich zu botanischen Gärten auswuchsen, und auf übergrünten Autobahnen schlendern Grüppchen und Gruppen. Einzelne pflücken hier Blumen, entdecken dort sündhaft süße Früchte. Jungen und Mädchen klettern an rankenden Pflanzen hoch. Liebespaare hausen in Riesenerdbeeren. Überall lädt diese Frucht zu hintersinnigen Spielen ein. Offen steht allen der Garten der Lüste.
Deshalb halten Frauen und Männer, Kinder und Greise auf verkrauteten Plätzen Schilder und Transparente hoch, auf denen zu lesen steht: »Alle Macht den Märchen!« »Tief atmen, es lohnt wieder!« »Die Grimmbrüder sollen uns regieren!« »Endlich das richtige Wachstum!« »Wir fordern eine Märchenregierung!«
Während wir überall Menschen sehen, die sich lustvoll dem Müßiggang hingeben, verengt sich das Bild auf Schirmgröße des Zauberspiegels. Auch im Knusperhäuschen herrscht Freude. Arm in Arm: die Böse Stiefmutter und die Hexe. Wie nie zuvor dürfen Hänsel und Gretel kindlich sein. Einige Märchengestalten sind nach getaner Arbeit zurück. Nicht nur das Mädchen ohne Hände, sogar Jorinde und Joringel lächeln. Nur die Grimmbrüder wackeln mit den Köpfen bedenklich. (Auch unser Herr Matzerath wird, sobald er aus Polen zurück ist, gewiß Bedenken anmelden.)
»Das führt zu Chaos und Unzucht! Es muß aber eine gewisse Ordnung geben. Und zwar von Staats wegen oder gottgewollt. So darf es nicht weitergehen!« rufen abwechselnd Jacob und Wilhelm Grimm.
Nach einigem Zögern stimmen der Froschkönig nebst Dame, Schneewittchen und der wachküssende Prinz den Grimmbrüdern zu. Ermuntert von Schneewittchen sagt der Prinz: »Ich finde, daß es an der Zeit ist, mein Dornröschen wachzuküssen.«
Rübezahl droht dem Prinzen Ohrfeigen an. Die Hexe und Gretel sind vom Froschkönig bitter enttäuscht. Weil der Prinz weglaufen will, stellt ihm Rumpelstilzchen ein Bein. Wie die Bösen Feen macht die Hexe Grabschhände. Bevor sie ihn packen, wird der Prinz auf Hänsels Weisung von den restlichen Zwergen mit einer Strähne aus Rapunzels Haar gebunden und neben eine Stroh-, Moosund Blätterpuppe gelegt, die Dornröschen gleichen soll; sogleich küßt er die Puppe. Nun fallen die Zwerge über Schneewittchen her, wollen es ins Gebüsch schleppen.
Die Grimmbrüder sind empört. Gewalttätigkeiten und seelische Grausamkeiten waren ihnen schon immer zuwider. »Ihr solltet euch schämen!« ruft Wilhelm. Und Jacob Grimm ruft: »Wollt ihr etwa auch uns hindern zu gehen!?«
Zwar lassen die Sieben Zwerge von Schneewittchen ab, stampfen aber und schütteln die Fäuste. Rübezahl bläst sich zum wütigen Berggeist auf. Die Hexe macht gelbe Augen. Da sagen Hänsel und Gretel: »Laßt die Grimmbrüder laufen.«»Sie werden eine neue und gute Regierung bilden.« Darüber streiten die Märchengestalten, die sich inzwischen alle vor der Pension eingefunden haben. Die Sieben Zwerge agitieren, unterstützt von den Bösen Feen dagegen. Die Guten Feen, der Froschkönig und seine Dame, Frau Holle und schließlich auch König Drosselbart sind dafür. Während sich im Zauberspiegel der Spruchbandaufruf »Die Grimmbrüder an die Macht!« mehrt, zeichnet sich im Knusperhäuschen, dank Votum der Bösen Stiefmutter, eine entsprechende Mehrheit ab. Nur Rumpelstilzchen, das Tapfere Schneiderlein, die Zwerge und die Bösen Feen bleiben ablehnend. Viele sind noch unentschlossen. Die Hände des Mädchens ohne Hände spielen Stein Papier Schere. Die Hexe wirft Knöchlein. Rübezahl bohrt in der Nase. Rotkäppchens Großmutter ruft überm Wörterbuch: »Hier steht geschrieben: abstimmen!« Also stimmt eine klare Mehrheit für »Laufen lassen«. Die Guten und Bösen Feen beraten sich. Schließlich schreiben die drei Guten Feen mit blutenden Fingern die Forderungen der Märchengestalten auf Seerosenblätter: »Gute Luft! Reines Wasser! Gesunde Früchte!« Wie einfach, wie bescheiden liest sich das.
Tänzerisch demonstrieren die Feen ihre Forderungen. Die Grimmbrüder nehmen die Seerosenblätter wie Dokumente an sich und versprechen, eine gute neue Regierung zu bilden. »Fortan sollen die Märchen Mitsprache haben!« ruft Wilhelm.
Von den drei Guten Feen geleitet, verlassen sie die Lichtung um das Knusperhäuschen. Einige Märchengestalten winken ihnen nach. Nachdenklich sind die anderen. Der Froschkönig steigt in den Brunnen. Die Dame legt sich. Der Froschkönig springt auf ihre Stirn, will dann zur kindlichen, zur hexischen Stirn wechseln; aber die Hexe wirft immer noch Knöchlein und Gretel steht finster abseits.
Abermals beginnen die Hände des Mädchens mit sich Stein Papier Schere zu spielen. Der wachküssende Prinz küßt wie von Sinnen die Puppe. Rotkäppchens Großmutter liest dem Wolf Wörter aus vergangener Zeit vor. Alle hoffen, daß dieses Märchen ein gutes Ende nehmen möge.

»Einspruch! Ich sehe schwarz für den Film. Das Gefälle dieser Geschichte«, ruft er, »ist zu katastrophal. Was soll diese unmotivierte Toleranz! Niemals darf man die Grimmbrüder einfach so laufen lassen.«
Da ist er und spricht dazwischen. Chef will er wieder und Produzent sein. Dabei ist ihm die Polenreise schlecht bekommen. Sie hat ihn altern lassen. Nicht mehr straff, knickbeinig steht er und meidet den Spiegel. Sein grämlicher Blick ist voll innerer Pein. Zwar immer noch maßgeschneidert, schlottert das Zeug an ihm. Was mag unserem Herrn Matzerath unterwegs widerfahren sein?
Kaum hatte er die Rückreise angetreten, begann das Leiden. Als heftiger Harndrang nötigte, alle fünfzig Kilometer, dann in kürzeren Abständen, sobald sich links oder rechts der Chaussee Gebüsch zeigte, angestrengt Wasser zu lassen, hatte unser Herr Matzerath noch vermutet: »Das sind die Aufregungen, das Wiedersehen, der Abschied, sowas schlägt auf die Blase.« Doch als sich der Mercedes am Nachmittag Polens Westgrenze, dem Fluß Oder näherte und das Wasserlassen zur Qual wurde, schmerzte, schließlich, obgleich der Harndrang nicht nachließ, ergebnislos blieb es tröpfelte kaum -, machte sich Bruno nicht nur als Chauffeur Sorgen: »Wir werden, Herr Oskar, sobald wir im Westen sind, in Braunschweig, spätestens in Hannover einen Arzt aufsuchen müssen.«
So weich und bequem er saß, unser Herr Matzerath quälte sich durch die DDR: Schweiß auf der Stirn. Seine Fingerchen trommelten oder faßten die zittrigen Knie. Dieser inständige Drang, diese Furcht, die Hose zu nässen.
Hinzukam, daß der häufige Halt des Mercedes auf freier Strecke, dieser vergeblich erbitterte Versuch, beiseite der Autobahn, kaum vom Gebüsch verdeckt, ein wenig, sei es auch nur ein Likörgläschen voll zu pissen, den Verdacht der Volkspolizei in Gestalt einer Streife erregte, so daß sich, nach angeordnetem Stop, ein Verhör zu peinigend langem Aufenthalt auswuchs: die Verkehrspolizisten wollten nicht begreifen, daß der Insasse eines Mercedes, dem freilich der Mercedesstern fehlte, von solch banaler Unpäßlichkeit befallen sein konnte. Umständlich nahmen sie alles, auch den in Polen lokalisierten Diebstahl des Symbols zu Protokoll, wünschten jedoch, als unser Herr Matzerath den Protokollführer aufforderte, Augenzeuge seiner Unpäßlichkeit zu sein, nach kurzem Zögern Gute Reise.
Wie gut, daß die Grenzkontrolle lässig verlief. Nicht erst in Braunschweig oder Hannover gar, in Helmstedt wurde zu nächtlicher Stunde die Städtische Krankenanstalt gesucht und
dank Brunos Spürsinn ohne längere Irrfahrt gefunden. Zappelig und weinerlich war dem Patienten zumute, als der Notdienst leistende Arzt seinen Unterleib abtastete und sogleich einen Urologen herbeirief, der mit geschütztem Finger den Notfall auch rektal untersuchte.
Ich weiß das alles aus erster Quelle. Oft genug hat er sein Malheur ausgebreitet. Kaum aus Polen zurück, suchte er mein Ohr: »Für fidel und gesund hielt ich mich. Und nun das. Eine Altmännerkrankheit. Das Gebrechen der Greise. Der Urologe sprach von einer extrem vergrößerten Prostata, Sie verstehen: Vorsteherdrüse. Es müsse eingegriffen, operiert werden, demnächst. Entweder mit einer Schlinge schabend verkleinernd durch die Harnröhre oder nach einem Bauchschnitt radikal.« In Helmstedt wurde unserem Herrn Matzerath nur ein Einmalkatheter gelegt, der ihn freilich enorm erleichterte, so peinlich er den Eingriff empfand.
Genau tausendvierhundertsiebzig Milliliter Harn habe seine Blase gefüllt, nein, überfüllt. Der Urologe »jung aber tüchtig«sei angesichts dieser ablaufenden Menge erstaunt gewesen, doch habe er die Erklärung: »Das waren die Aufregungen in Polen, Herr Doktor, der hundertundsiebte Geburtstag meiner Großmutter, dieses ergreifende Wiedersehen«, nicht gelten lassen. Es handle sich nicht um die durchaus häufige Kirchweihverhaltung, sondern um ein Dauerleiden, weshalb die Prostata demnächst verkleinert werden müsse. »Nicht vor meinem sechzigsten Geburtstag!« rief vorhin noch unser Herr Matzerath. Inzwischen hat man ihn mit einem Dauerkatheter versorgt. Seitdem ist er, abgesehen von jenem häßlich baumelnden Fremdkörper, so gut wie frei von Beschwerden. Dennoch unterließ er es nicht, mehrere Ärzte
-»Kapazitäten!« sagt er aufzusuchen und von jedem Arzt vergeblich den Freispruch zu erwarten. Er gibt mir Ratschläge, rät von Kaffee, Alkohol, insbesondere von Weißwein und kaltem Bier ab, wird aber, sobald ich ihn nach Einzelheiten seiner Polenreise befrage, maulfaul bis zur Einsilbigkeit. Allenfalls höre ich etwa aus Nebensätzen heraus: »Diese Solidarno[-Tragödie will nicht aufhören... Streit bis in die Familie hinein... Immer wieder die Politik... Das ist nichts für die Kaschuben... Ein schlimmes Ende nimmt das... Und fortwährend kommt die Jungfrau Maria ins Spiel... Wahrscheinlich ist mir Polens Geschick auf die Blase geschlagen.« Als ich ihn direkter und familiär befragte, gab er nur knapp Bescheid. Dochdoch, die Großmutter sei wohlauf. Über alle Geschenke, besonders über die Schlümpfe, habe sie sich geradezu kindlich gefreut. Sie erwäge sogar man stelle sich vor eine Reise zu machen. Der sechzigste Geburtstag ihres Enkelkindes, das habe sie gesagt: »Mecht miä schon välocken.« Natürlich sage ich unserem Herrn Matzerath nicht, daß es ihn nicht mehr gibt; soll er doch weiter so tun, als ob er Chef ist. Andere und selbst ich glauben ja auch, daß es weitergeht irgendwie. Deshalb muß er nicht wissen, wie es tatsächlich in der Kaschubei aussieht. Schlimm genug, daß er mit einem Katheter heimgekehrt ist.
Also reden wir über »Grimms Wälder« und über die Falschen Fuffziger, als mit Malskat im Gerüst alle Fälschungen hoch in Kurs standen. Neinnein! Nie darf ihm zu Ohren kommen, daß es ihn, winzig und mumienhaft, einzig als Altarschmuck noch gibt, Ratten zur Andacht dienlich; denn alle Ärzte sagen: Keine Aufregungen! Unser Herr Matzerath muß geschont werden.

Daß wir musikalisch sind, sollte bekannt sein; falsch jedoch und dummer Aberglaube war jene vor dem Großen Knall weitverbreitete und wie Unkraut nachwachsende Meinung, es sei uns der Flötenton besonders lieb, es gehe von der Queroder Blockflöte auf uns anziehende Kraft aus, es müsse nur jemand mit Fingern geschickt und geschulten Lippen kommen, sein Flötchen bespielen, ihm Triller und flinke Tonläufe entlocken, und schon wären wir bereit, ihm, dem oft berufenen Rattenfänger, zu folgen und wie blind in unser sorgsam vorbereitetes Verderben zu rennen, zum Beispiel im Fluß Weser jämmerlich zu ersaufen.
Das war noch zur Hausrattenzeit. Lieberchen, sagte die Rättin zu mir, wie sie neuerdings Herr oder Herrchen sagt. Ihre neue Sprechweise macht mir ihr Rattenwelsch vertrauter, weil dem üblichen Gezischel nun die Spitzen gekappt sind und sie sich ländlich breit ausspricht. Lieberchen, sagte sie, von Hameln und so weiter reden wir später. Nichts stimmt an dieser Legende. Aber richtig ist, daß uns Ratten ein hoher, von keinem Menschenohr jemals gehörter und keinem Instrument, ob Flöte oder Fiedel, möglicher Ton gelingt, der über weite Distanz Nachrichten trägt und dessen Sequenzen übrigens Forscher während der ausgehenden Humanzeit mit Hilfe von Ultraschall ausgemessen haben, und zwar in Boston, USADie Rättin prahlte ein wenig: Unser Infosystem! Dann sagte sie: Es ließe sich aber auch wenn du willst, Herrchen unser Tönen mit jenem Singsang vergleichen, den deine Frauen sie sagte Weibsbilder als Gesang der Ohrenquallen gehört haben wollen, als sie mit ihrem Schiff eine versunkene Stadt suchten. Zwar sprachen sie von Medusengesang, doch war auch von einem musikalischen Papst als Vorbild für das Quallensingen die Rede. Deshalb könnten unsere Töne, wollte man sie ins Hörbare transponieren, an gregorianischen Gesang erinnern, zumal des Menschengeschlechts sakrale Musik uns immer schon lieb gewesen ist.
Mir war, als hörte ich schwellendes Psalmodieren, während die Rättin auf mich einsprach: Schon während der frühchristlichen Zeit sangen wir mit ihnen ohne daß sie uns hörten — in ihren Fluchtbauten, den Katakomben. Mit ihnen haben wir unser Kyrie entwickelt. Mit ihnen waren wir fromm. Und mit ihnen wurden wir jahrhundertelang geschmäht und verfolgt. Wäre es doch bei diesem Gleichklang geblieben: wir auf sie, sie auf uns eingestimmt. Ach, ihre einstudierten Chöre! Ach, ihre Mehrstimmigkeit. Mit besonderer Inbrunst sangen bis vor dem Knall die hier ansässigen Polen; weshalb unser Singen, das immer häufiger die Hauptkirche Sankt Marien bis hoch ins Gewölbe füllt, nicht frei ist von einer gewissen, dem Volk der Polen nachgesagten Leidenschaft.
Neinnein, Herrchen! Kein Grund besteht, nationalistische Untertöne zu befürchten. Zwar wissen wir immer noch, daß Ratte auf polnisch Szczur hieß und scherzhaft rufen wir einander auch so oder zärtlicher: Szczurzyca-, doch sind wir natürlich keine polnischen Ratten. Die gab und gibt es so wenig, wie es portugiesische oder ungarische Ratten gegeben hat oder posthuman gibt; wenngleich uns der Mensch, seinem Zwang folgend, alles benennen zu müssen — niemand kann sagen warum -, Rattus norvegicus genannt hat. Aber ein bißchen polnisch sind wir dennoch, in dieser Gegend gewiß. Zum Beispiel ist unsere Vorliebe für das Süßsaure und das Gekümmelte auf den hier früher vorherrschenden Geschmack zurückzuführen, weshalb wir, neben den Hauptfeldfrüchten, mit gutem Erfolg Gurken, Kürbisse und Kümmel anbauen; auch dafür fanden sich Samentütchen in unseren Fluchtbauten. Wir legen Schimmelund Pilzkulturen an. Indem wir zarte Fäulnis beigeben, stellt sich Süßsaures her. Auch charakterlich sind wir polnisch geprägt. Im Gegensatz zu den aus dem Westen eingewanderten, nein, genauer, umgesiedelten Rattenvölkern, die immer in alles System zu bringen versuchen, leben wir sorgloser, doch nicht ohne bohrenden, manche sagen, verbohrten Ernst. Wir erhoffen uns was. Unsere Gebete sind mit Sehnsüchten überladen. Etwas Höheres, das nicht, noch nicht zu haben ist die Polen haben es dazumal Freiheit genannt -, schwebt uns wie greifbar vor...
Unsinn ist das! Vernunftwidrig! Die Rättin fiel sich ins Wort. Natürlich gibt es keine polnischen und deutschen Ratten. Dafür sind die Unterschiede zu gering. Nur an der Oberfläche unseres rattigen Wesens sind wir gelegentlich gegensätzlich, wie während der Hungerzeit, als wir uns in Glaubenssachen verbissen hatten. Sicher: sie sind verwöhnt und zählen gerne auf, was alles sie im reichen Westen gehabt und verloren haben. Sie bedauern uns und loben unsere Bescheidenheit zu laut und zu oft. Ihre Ruhelosigkeit kennt keine Pause. Auch ist ihnen ein Hang zum Besserwissen nicht abzugewöhnen; aber manches, zum Beispiel, wie man die Lagerung von Saatgut organisieren könnte, wissen sie besser. Da ihnen Freiheit nicht allzu wichtig ist, sind sie ordentlicher als wir, auf manchmal tickhafte Weise. Daß sie begonnen haben, im Hafengelände fachkundiges Interesse an den Werftanlagen zu entwickeln, mag noch angehen, wenn sie nun aber Schrauben und Schräubchen, Kugellager, Gewinde und Bolzen zu sortieren und mühsam zu entrosten beginnen, obendrein großspurig von ihrem Ersatzteillager reden, wirkt dieses Getue lächerlich, zumal sie unseren eher spielerischen, doch nicht ungeschickten Umgang mit metallenen Fundsachen verhöhnen; was wir zu annähernd künstlerischen Gebilden montieren und vorm Artushof oder auf den Beischlägen der Frauengasse zur Schau stellen, wird oft mutwillig zerstört.
Ihr solltet das nicht so ernst nehmen, warf ich ein. Im Grunde leiden die Deutschratten an ihren Ordnungszwängen. Sie bewundern eure leichte Hand, diese Gabe zu improvisieren, euren eingeborenen Kunstsinn. Wirklich sehenswert diese Figurinen aus Schrott!
Ach was! sagte die Rättin, bloßer Zeitvertreib, Spielerei. Doch unsere ernsthaften Bemühungen werden gleichfalls nicht anerkannt. Immerhin kümmern wir uns um Altbauten, deren Zustand ihnen gleichgültig ist. Ohne unsere Methode, mit Hilfe von Kalk, den wir aus Muscheln im Schwemmsand gewinnen, und Sand, den der ständige Wind in die Gassen weht, witterungsbeständigen Mörtel zu mischen, würde die historische Bausubstanz der Rechtund Altstadt von GdaDsk noch rascher verfallen. Sie aber reden besitzergreifend von unserem Danzig. Gäbe es nicht den anhaltenden Zuzug restlicher Rattenvölker aus Rußland, wo es, nach allen Berichten, immer noch schlimm aussieht, könnten sich hiesige Konflikte, sagen wir ruhig, die deutsch-polnischen Gegensätze abermals zuspitzen. Wie gut, daß es die Russen gibt und nicht nur die und uns. Man weiß ja, wohin das zu Zeiten des Menschengeschlechts und noch in posthumaner Zeit geführt hat; denn als sich während der Hungerperiode unsereins ineinander verbissen hatte, war nicht nur eifernd vom wahren Glauben die Rede gewesen, es wurde auch Ihr Pollacken! Ihr Preußen! geschimpft. Ach wie gut, Herrchen, rief die Rättin, daß uns alle, seitdem wir Ackerbau betreiben und allesamt nicht mehr das Tageslicht scheuen, eine Lautverschiebung eint. Unsere Sprache gleicht sich den neuen Tätigkeiten und Gewohnheiten an. Sag, Lieberchen, fällt dir nicht auf, daß wir neuerdings weicher, gaumiger sprechen? Kein Fisteln, kein Gezischel mehr. Sogar tiefe und breite Töne gelingen uns. Endungen auf kait und hait, früher ungewohnte Wörter wie Saat, Dung, Gurke, Korn und nicht zuletzt Sonnenblume werden klanghaft geläufig. Unsere vormals spitzen, zischelnden Laute sind vollmundiger, aber auch flacher geworden, sie geraten ins Breite. Das kommt, weil wir so oft über die Ernte, das Kernestecken und immerzu übers Wetter reden. In ländlichen Regionen wird besonders bräsig und braatsch gesprochen. In den städtischen Revieren bilden sich Zwischentöne aus. Dort gelingen das A und das O und das U wohlklingend. Wir üben Wörter wie: Wehmut, Mohnblume und Abendrot.
Und ich hörte die Ratten städtisch daherreden und mit ländlichem Zungenschlag. Auf dem Land wie in der Stadt sagten sie Zoagel oder Zagel für Schwanz. Wenn von der Kälteperiode nach dem Großen Knall die Rede war, hieß es: Daas war man inne Hubbrichkait, daas wiä hädden all objefreeten. Räjen hieß Regen und Arfte Erbsen. Und die Uralte nannten sie Olsche oder Olschke. Es klang gemütlich stubenwarm, als hätte Anna Koljaiczeks Redeweise den Landwie Stadtratten zur Lautverschiebung verholfen. Die Rättin sagte: Nu, Lieberchen, mechts diä nich anheeren inne Kirch, waas jeiebt is auf Ärntedank?
Nachdem sie mir, außer etlichen Schrottskulpturen, die, nach des Menschen Bild geschaffen, auf dem Langen Markt ausgestellt standen, Arbeitskolonnen gezeigt hatte, deren Aufgabe es war, bröckelndes Altstadtgemäuer mit Kalkmörtel zu stabilisieren, zog mich die Rättin ins Innere der Marienkirche, als müßte ich immer wieder in jene gotische Seelenscheune geführt werden, die jedes Wort ins Bedeutsame hebt.
Der Steinplattenboden und die eingelassenen Grabplatten der Altdanziger Patriziergeschlechter lagen verdeckt, so dicht drängten sich die versammelten Rattenvölker. Was leiderfüllt anhob, dann jubelte, ein tieforgelnder und in hoher Lage silbriger Gesang, den offenbar mehrere Chöre anstimmten, denn er war kunstvoll verwoben, füllte die Hallenkirche bis ins Netzgewölbe der hoch oben auslaufenden, ihren Schlußstein suchenden Pfeiler.
Die Rattenmesse in Sankt Marien hatte schon begonnen; oder war sie ohne Anfang und Ende? Vom Westportal bis zum entrückten Hauptaltar, auf dem, wie ich aus früheren Träumen wußte, ledern geschrumpft, doch immer noch kenntlich, Anna Koljaiczek und ihr zu Füßen, von brüchigen Röcken umwölkt, ihr Enkelsohn Oskar anbetungswürdig waren, bewegten sich die Rattenvölker, indem sie gesungenem Rhythmus gehorchten. Ein einziges Rattenvolk richtete sich auf. Jede Ratte erhob sich in jeder. Sie standen auf den Hinterbeinen, hielten die Rattenschnauzen mit vibrierendem Witterhaar hoch gegen das Gewölbe, hatten aber ihre Vorderbeine nicht zum Gebet verschränkt, streckten vielmehr feingegliederte Krallenhändchen, wie von einem Sehnen ergriffen, indes sich ihr mehrchöriger Gesang gleichfalls ins Sehnsüchtige verlor. Selbst ihre Schwänze standen aufrecht, fädelten sich himmelwärts. Dann gingen sie wieder vierbeinig zu Boden und zeigten, die dreischiffige Halle lang, runde Rattenbuckel. Die Schwänze hatten sie allesamt untergeschlagen. Demut übten sie, um sich abermals als vieltausendköpfiges Rattenvolk aufzurichten, mit flehentlich sehnender Gebärde.
Und wie ich sie flehen und beten sah die alten erdgrünen Ratten zuhinterst, die jungen noch zinkgrünen zum Altar hin -, kam es mir vor, als beteten sie nicht mehr auf katholische Weise, sondern mit heidnischem Hintersinn; wie jene Feldfrüchte, die als Opfergaben auf dem Altar gehäuft lagen, alle Devotionalien, etwa Anna Koljaiczeks Rosenkranz und den schmiedeeisernen Schriftzug überlagerten. Einzig die Schlümpfe und Golddukaten waren noch kenntlich. Außer dem Üblichen diesmal Gurken und Kürbisse. Dennoch herrschten Sonnenblumen vor. Und auch das hängende Kreuz überm Altar war von schwellenden Fruchtkörben dergestalt überwuchert, daß der genagelte Menschensohn nur noch geahnt werden konnte.
Nein! schrie ich. Das könnt ihr nicht machen! Heidnisch ist das, Götzendienst, Lästerung...
Die Rättin flüsterte: Still, Herrchen. Siehst du nicht, wie flehentlich sie die Sonne beschwören...
Aber ich bitte dich, Rättin, wollt ihr nicht wieder christlich und wenn nicht christlich, dann wenigstens wieder katholisch werden...
Eure Hallenkirchen, sagte sie, sind für vielerlei Glauben bestimmt und wie geschaffen für uns...
Aber ich will das nicht! rief ich. Nicht mehr hören kann ich dieses Jammern und Jeimern. Glauben war nie meine Stärke. Auf eure Hoffnungen pfeif ich. Außerdem dürfte es unserem Herrn Matzerath schwerfallen, als Winzling und luftgedörrt euch Rattenvölkern Altarschmuck zu sein, wo er doch heimgekehrt, vor wenigen Tagen leibhaftig aus Polen zurück ist. Die Reise hat ihm zugesetzt, das Wiedersehen, der Abschied. Zu großer Druck, der nicht abfließen will, macht ihm zu schaffen. Seitdem muß er einen Dauerkatheter tragen Lästig ist das, ihm peinlich. Doch will ihn seine Großmutter, sobald er demnächst sechzig wird, besuchen. Hörst du, Rättin, sie will ihren Oskar leibhaftig besuchen...
Jaja, sagte sie noch immer denkst du dir deine Geschichte fortgesetzt aus.

Und dann, und dann?
Dann kam die Währungsreform.
Und danach, was kam danach?
Was vorher fehlte, kam wunderbar Stück für Stück das meiste auf Raten.
Und wie ging es weiter, als alles da war? Wir schafften uns Kinder und Zubehör an Und die Kinder, was machten die Kinder dann? Fragen stellten sie dumm, was davor gewesen und dann und danach war.
Und? Habt ihr ausgepackt alles?
Wir erinnerten uns
an das Badewetter im Sommer neununddreißig. An was noch?
Schlimme Zeiten danach.
Und dann und danach?
Dann kam die Währungsreform.

DAS Z EHNTE KAPITEL,indembeimFestaktein
Gewitter niedergeht, unserHerr Matzerath sich behauptet, die Rättin dem treibenden Wrack Geheimnisse nachsagt, der Prinz davonläuft, Neues aus Hamelnberichtet wird, die Ratten dichtgedrängt voller Erwartung sind, keine Post Nachricht aus Travemünde bringt, doch zu Beginn des neuenZeitalters die Glocken läuten.

Es ist meine See, an die viele Länder ufern, vom östlichen Reval und Riga der baltischen Länder bis in ihre westlichen Bodden und Buchten, mit den Marienkirchen in Lübeck, Stralsund und Danzig, dem Dom zu Schwerin und Schleswig, desgleichen mit der Johanneskirche in Stege auf Møn und der gekalkten Kirche in Elmelunde, in vielen Städten Dänemarks, dann lang den schonischen Stränden, der schwedischen Schärenküste, in Ystad und Stockholm, sogar den Bottnischen Busen hoch, an Finnlands Ufern, wie hoch nach Norden das Baltische Meer sich verläuft, auf den Inseln Bornholm, Gotland, Rügen, im flachen oder gehügelten Hinterland auch, überall dort, wo Ziegel gebacken wurden, reich an Domen und Hallenkirchen, Ratund Zeughäusern, dazu gesegnet mit Heiligengeisthospitälern und Sankt Georgshallen, mit Zisterzienserund Franziskanerklöstern, die allesamt, nicht nur die Bauten der Hanse im wendischen Quartier, der Backsteingotik zugeordnet sind und meine See, die schwachsalzige, sanfte, tückische, die quallenreiche Ostsee umsäumen. Zudem ist ein jeglicher Bau mit Kunstschätzen vollgestopft. Hier wird das Chorgestühl, dort das Zunftsilber bedeutend genannt. Dummstolze Inschriften unter Patrizierwappen reden sich Demut vor Gott ein. Überschlanke Madonnen muten dennoch geschwängert an. Flügelaltäre und holzgeschnitzte Kreuzigungsgruppen sind sehenswert, auch das Werkzeug der Peinkammern; und manchmal überraschen Reste erstaunlicher Wandmalerei.
Vom Dom zu Schleswig an der Schlei, dessen Bilder auf Kalkputz der Maler Malskat bis in den Kreuzgang hinein wieder gotisch gemacht hatte, erzählte ich schon. Daß er dem Lübecker Heiligengeisthospital unterm Lettner im Handumdrehen zu hochgotischen Fresken verholfen haben soll, ist bis heute umstritten. Doch verbürgt ist, wie er zuerst im Langhaus-Obergaden, dann hoch im Chor jener Marienkirche tüchtig wird, die, trotz französischer Kathedralenausmaße, als Mutterkirche aller Backsteingotik gilt und deren Siebenhundertjahrfeier bevorstand.
Malskat mußte sich eilen. Der Arbeitgeber Fey drängte. Schon hatte man im Langhaus das Gerüst abgetragen. Ein Staatsakt war vorgesehen. Sogar Sonderbriefmarken in zwei Werten der fünfzehner Wert mattgrün, der fünfundzwanziger rotbraun -, die beide des schnellen Malers Verkündigungsgruppe zum Motiv hatten, wurden in Millionenauflage gedruckt und verkauft, weshalb der bevorstehenden Feier Bedeutung zuwuchs und die Lübecker Kirchenleitung obendrein Gewinn machte.
Die Schwarzröcke kassierten hundertachtzigtausend immer noch neuglänzende Deutsche Mark, dem Maler jedoch, der, während das Geschäft lief, ewig verschnupft hoch im Gerüst stand, brachten jene Briefmarken, die heutzutage unter Sammlern ihren gesteigerten, ich vermute, sündhaften Preis haben, keinen roten Heller. Er, der Schöpfer der Verkündigungsgruppe, deren Ausdruck vom versammelten Kunstverstand gelobt wurde, ging leer aus.
Allen Geschäften enthoben: man hätte ihn glatt vergessen können, so vereinsamt hing Malskat hoch oben einem Gedanken an, der sich, dem Bohrwurm gleich, nicht abstellen ließ. Und als am ersten September des Jahres einundfünfzig endlich der Festakt in der Lübecker Marienkirche stattfand, saß unser schwindelfreier Maler, der drei Jahre lang zuerst im Langhaus. dann im Chor, fleißig gewesen war, dennoch nicht im Mittelpunkt des festlichen Geschehens, etwa zwischen geladenen Festgästen und Würdenträgern, wo, wie selbstverständlich, sein Arbeitgeber saß, nein, ganz hinten im Kirchenschiff, beim niederen Volk hatte er in vorletzter Reihe Platz gefunden; so sehe ich ihn und frage mich, ob der Gedanke, einmal gefaßt, immer noch bohrt. Und weit entrückt sahen ihn seine einundzwanzig Chorheiligen, die in sieben Dreiergruppen auf gemalten Säulenkonsolen standen, teils in seitlich weggeklappten Spitzenschuhen, teils barfüßig.
Näher standen Malskat, der sich auf seiner Hinterbank stillhielt, die vielen Heiligen im Langhaus. Jedes Joch des Obergaden zeugte von ihm. Aus Farbresten, die bei leichter Berührung stäubten, nach zuletzt noch vorhandenen Spuren, doch in der Regel aus sich heraus, hatte er seine Fundgruben gegen Pfenniglohn erschöpft. Leer, entleert saß Lothar Malskat auf der Hinterbank. In Dietrich Feys altem Anzug saß er, den jener in Schleswig zu Kreuzgangszeiten getragen hatte. Die Hose zu kurz, die Jacke in den Schultern zu knapp. Es kniff ihn, so eingeengt saß er. Als jämmerliche Scheuche mochten ihn von oben herab alle Heiligen sehen; und als späten Konfirmanden sah ihn von fern, aus dem Stirnfeld des Chores seine Jungfrau mit Kind. Die war berühmt mittlerweile und schmückte als Abbildung jenen Prachtband der Kunsthistoriker, der die Wandmalereien der Marienkirche zu Lübeck, ohne Malskat zu nennen, zum Wunder erhob.
Er lachte in sich hinein. Hatte die Jungfrau doch, wenngleich ihre Konturen wie von Jahrhunderten zernagt und von weißen Mörtelinseln zersiedelt waren, besonderen Ausdruck: der war wild, herb und von verschatteter Süße. Während einer Frühstückspause im Mai fünfzig das war, als die letzten Lebensmittelrationierungen wegfielen hatte er die nun berühmte Madonna mit Kind ganz in Gedanken an eine Filmschauspielerin gemalt, die ihm am Vorabend im Kino es lief »Die fidele Tankstelle« in alter Frische erschienen war, als wäre nie Krieg gewesen. Während noch Malskat in sich hineinlachte, sprach von der Kanzel herab zu allen, doch insbesondere zum Kanzler Adenauer, der wie in Holz geschnitzt saß, der Bischof Pantke; das war nicht jener, dem der Teufel eingegeben hatte, als Schlußstein ein Hakenkreuz ins Chorgewölbe setzen zu lassen, sondern ein greises Männchen, das zu den Festgästen und Würdenträgern sprach, wohl auch zum niederen Volk auf den hinteren Bänken.
Wie ich nicht weiß, was alles, während der Bischof sprach, Malskat zum inwendigen Lachen brachte, und nur vermuten kann, es wird die Filmschauspielerin als Madonna oder der bohrende Gedanke gewesen sein, weiß ich auch nicht, was sich der Kanzler Adenauer dachte, als ihm die Predigt des Bischofs Pantke zuteil wurde. Jene um ihn plazierten Festgäste und Würdenträger, denen die Unschuld feist zu Gesicht stand, mögen ihn kaum ins Grübeln gebracht haben, wohl aber ist zu vermuten, daß er sich um die Wiederbewaffnung der vor nicht langer Zeit entwaffneten Deutschen sorgte und sich Gedanken in Divisionsstärke machte; oder hörte er katholisch unbewegt der protestantischen Predigt des Bischofs zu ?
Der lobte und dankte Gott, indem er ihn in kurze und lange Sätze stopfte. Von Gottes Gnade und Gottes Güte, von Gottes auch den Sündern sicherer Liebe und vom Gotteswunder in dunkler Zeit sprach er, zudem zeitbezüglich von den Geschlagenen, denen Gott mit Bildeskraft ein Zeichen gegeben habe. Als Bischof Pantke »Nun danket alle Gott« anstimmte, sang Lothar Malskat laut mit. Es sangen der Arbeitgeber Fey, Kirchenbaumeister Fendrich, Oberkirchenrat Göbel, der Denkmalspfleger Münter. Es sang Ministerialrat von Schönebeck, der von Bonn aus das Lübecker Wunder finanziert hatte. Landesund Bundespolitiker sangen. Das niedere Volk sang, wie es allzeit gesungen hat. Und es sang der erste Kanzler des frischgebackenen Staates, ein wie Lothar Malskat begabter Wundertäter, an dessen Seite oder ihm gegenüber getrost des anderen Staates Gründer und Wundertäter hätte Platz nehmen und mitsingen können, wenn auch nur weltlichen Text; denn zu Recht sieht unser Herr Matzerath das Triumvirat Adenauer, Malskat, Ulbricht selbdritt tätig. Noch vor Beginn jener Jahre, die er die falschen Fuffziger nennt, hätten sie begonnen, aus bröckelndem Nichts das Alte neu zu erschaffen und alle Welt meisterlich zu täuschen, ein jeglicher auf seine Art. Das hört sich schlüssig an. Nicht jedoch stimme ich unseres Herrn Matzerath Vorschlag zu, man möge heute, aus gehöriger Distanz und nachdem endlich der Fuffzigerschwindel durchschaut ist, Briefmarken im Hochformat drucken und gesamtdeutsch in Umlauf bringen, die auf Säulenkapitellen ein ganzfigürliches Trio als Bildmotiv zeigen müßten, wie vormals die gegenwärtig so sündhaft teure Verkündigungsgruppe. Rechts vom ostpreußischen Maler mit filziger Wollmütze solle unterm Zylinder der rheinländische Kanzler stehen und links der sächsische Staatsratsvorsitzende, der eine Schirmmütze trägt. Attribute könnten den Flügelmännern zur Hand sein, etwa spielzeuggroße Panzer amerikanischer und sowjetischer Bauart; dem Mittelsmann stünden Pinsel und Drahtbürste zu. So ließe sich die dreieinige Fälschung von dazumal, auf Personen gebracht, zum Wertzeichen läutern, wie ja der gegenwärtige Wohlstand zweifellos auf verjährtem Schwindel fuße. »Und auf Fleiß!« ruft unser Herr Matzerath. »Unermüdlich fertigten sie ihre Trugbilder bis ins Detail getreu. Der eine, der andere klüngelte, buk, sächselte, frömmelte, log und beschwor sich sein Deutschland, auf daß der dritte ihnen in Lübeck, wo Land an Land grenzt, ein gotisch Dach wölbte. Wie sollen die drei nicht sinnfällig werden, und sei es im gezahnten Viereck vereint. Auf Briefen und Päckchen, mit niedrigstem Wert auf Postkarten sogar, sehe ich sie selbdritt ihren Weg von hüben nach drüben, von dort nach hier nehmen. Was der Politik nicht gelang, fügt sich postalisch. Ein gesamtdeutsches Wertzeichen beglaubigt, gestempelt. Ein Sieg der Philatelie!«
Mein Widerspruch kümmert unseren Herrn Matzerath nicht. Wenn schon Briefmarken, sage ich aber er hört nur sich -, dann möge man solche in Umlauf bringen, die einzig Ulbricht mit Adenauer koppeln, Seit an Seit, wie man die beiden Dichter oder Profil hinter Profil gestaffelt die Grimmbrüder zeige. Denn schließlich verließ Malskat bald nach der Siebenhundertjahrfeier das Fälschertrio, und zwar nach gedanklicher Vorarbeit.
Am Nachmittag des I. September einundfünfzig saß er zur Nachfeier mit einigen Bauarbeitern in »Fredenhags Keller«. Nur auf einen Sprung kam, noch immer im Stresemann, der Arbeitgeber Fey vorbei und spendierte Schnapsund Bierlagen. Dann mußte er ins Rathaus, wo nicht Malskat, nein, er, der schöne Fey, dem Bundeskanzler vorgestellt werden sollte. Nach Berichten der Lokalpresse soll Adenauer gesagt haben: »Na, da haben Sie ja den Kunsthistorikern eine schöne Aufgabe hinterlassen.« Nicht verbürgt ist die Legende, der Kanzler habe nach diesen Worten Fey zugezwinkert.
Später ging Malskat mit einigen Kumpels vom Bau ins »Cafe Niederegger«. Fest stand sein Entschluß, den Schwindel endlich auffliegen zu lassen. Der Bohrwurmgedanke trieb ihn. Es war nämlich während der Feierstunde, grad als dem Schönling Fey eine Ehrenurkunde mit Datum und Siegel übergeben wurde, von oben und wie gezielt ein Gewitter über Lübeck niedergegangen. Der deutliche Einspruch des Himmels erschreckte den Maler auf der vorletzten Kirchenbank. Fromm wie er malte, verstand er Blitz und Donner als Fingerzeig. Wieder und wieder erhellte plötzliche Grelle die Trugbilder im Langhaus und Chor. Zudem war es gotteslästerlich gewesen, den Festund Staatsakt auf den ersten September, auf jenen Tag also zu legen, an dem vor zwölf Jahren der Krieg vorerst den Polen erklärt worden war...
Obendrein erinnerten Blitze und folgendes Krachen mit des Ewigen Donnerwort an den Palmsonntag zweiundvierzig, als britische Flugzeuge ihre Bombenlast über Lübecks Innenstadt ausgeschüttet hatten. Eine Stabbrandbombe durchschlug damals das Dach der Marienkirche und setzte das Backsteingebäude dergestalt umfassend in Brand, daß nicht nur die Große Glocke ins Kirchenschiff stürzte, sondern überdies fingerdikke, Schicht nach Schicht aufgetragene Schlämmkreide, die den Innenraum seit der Reformationszeit protestantisch nüchtern gehalten hatte, von den Wänden sprang, worauf in Konturen und Farbfeldern gotische Wandmalerei ans Licht kam: brüchige Andeutungen nur, der bröckelnde Abglanz schadhafter Schönheit. Und aus diesen Resten, die seit der Brandnacht immer dürftiger wurden, hatte nicht etwa Fey, der die Ehrenurkunde erhielt und dem der Kanzler womöglich zugezwinkert hat, das Wunder von Lübeck vollbracht, sondern einzig Malskat, er, nur er.
Seine Heiligen. Im Chor drei, im Langhaus zwei Meter hoch. Hier auf Säulen, dort unter Baldachine gestellt. Jadoch! Romanische, byzantinische, sogar koptische Zugaben standen ihnen ausdrücklich gut zu Gesicht. Unter gradlinigen Säumen, auf seitich hochgeklappten Flossenfüßen: die Gemeinschaft der Heiligen schweigt sich an und ist dennoch beredt, wenn etwa die Auferstehung im vierten Joch der Kreuzigung im Südjoch antwortet. Besonderes Lob fand bei Kunsthistorikern, die im Juni einundfünfzig, als annähernd alles vollbracht war, unter Feys Anleitung ins große Gerüst kletterten, die Gestalt des Heiligen Bartholomäus im dritten Joch, das ist der mit dem Messer. Damals hatte sich Malskat seitlich ins Gerüst verdrückt. Niemandem sichtbar lachte er über Feys hallende Erklärungen. Er, immer nur er. Er hatte, er wußte, er war sich aller Details sicher. Einzelheiten, die Malskat in Eile auszuführen vergessen hatte, etwa das Wundmal in des Auferstandenen linker Hand und auch die Stigmata in beiden Händen des Heiligen Franz, führte Fey auf Unterlassungen des hochgotischen Chorund Langhausmeisters zurück: man habe wohl damals schon unter Zeitdruck arbeiten müssen.
Lang, mager und trotz des Sommerwetters mit Pudelmütze im Gerüst, so hatte Malskat den fachkundigen Lügen zugehört. Er lachte, wie von früh an gelernt, in sich hinein und beschloß zum erstenmal, seine Gerüstgeheimnisse unter die Leute zu bringen.
Doch als der Maler zum Denkmalsamt lief und zudem alle kirchlichen Amtsstuben abklapperte, wollte ihm niemand glauben. Die Denkmalsschützer hielten ihn für einen Aufschneider, die Pfaffen hatten Angst vorm Skandal. Es stand ja die Siebenhundertjahrfeier bevor. Ausdrücklich hatte der Bundeskanzler seine Anwesenheit zugesagt. Dieser wahrheitssüchtige Malskat mit seiner Drahtbürstengeschichte störte. »Was heißt hier Fälschung!« riefen die Schwarzröcke. »Hundert Kunstexperten, die alle echt, wahrhaftig, epochal sagen, können nicht irren.«
Es war nun mal die Zeit des Zwinkerns, der Persilscheine und des schönen Scheins. Im Jahrzehnt der Unschuldslämmer und weißen Westen, der Mörder in Amt und Würden und christlichen Heuchler auf der Regierungsbank, wollte niemand dies oder das allzu genau wissen, gleich, was geschehen war.
Schon wollte Malskat aufgeben und den Schwindel Schwindel sein lassen. Und wäre nicht das Unwetter mit Blitz und Donnerworten über Lübeck niedergegangen, hätte er womöglich geschwiegen. Nun aber, deutlich vom Himmel angesprochen, kramte der Maler Skizzen und Vorlagen, Tagebuchnotizen und sonstige Zeugnisse zusammen, nahm sich einen Rechtsanwalt und brachte in Selbstanzeige die Wahrheit, das Unzeitgemäße ans Licht.
Sichtlich zufrieden ist er, so sehr ihn der Dauerkatheter behindert. Zügig, dabei seine Rede skandierend, schreitet er auf und ab. In Lackschuhen diesmal. Er läßt nicht locker. Was sein Kopf hergibt, muß Gestalt werden. An der fensterlosen Stirnwand seiner übertrieben geräumigen Chefetage ließ er neben der Tafel eine stark vergrößerte Schwarzweißabbildung aufziehen: im Hochformat jene Dreiergruppe von Malskats Hand, die nach wie vor das siebzehnte Joch im LanghausObergaden der Lübecker Marienkirche füllt; nur die Chorheiligen wurden nach dem Prozeß abgewaschen.
Er weist mit dem Zeigestock auf Einzelheiten: »Jener mit dem Schwert. Der Mittlere hält einen Pinsel. Des Dritten Bart läuft spitz zu.« Er will mich schulmeisterlich überzeugen. »Daß ich nicht lache!«, ruft er. »Das sollen Heilige sein, Apostel womöglich! Und wo, wo bitte, sind die Heiligenscheine? O ja, ich kenne die Erklärung: Der schusselige, der zerstreute, der bei zu niedrigem Stundenlohn leichtfertig flüchtige Malskat hat vergessen, dreimal schüsselrunde Konturen zu ziehen. Wie er hier und da einen Schuh zu malen versäumt, die Wundmale des Herrn, die Stigmata des Heiligen Franz ausgelassen hat, werden auch jene Heiligenscheine eins zwei drei unter den Tisch gefallen sein. Doch wenn wir genau hinschauen was nicht jedermanns Sache ist-, erkennen wir hintersinnige Absicht. Diese drei Männer, sage ich, sind keine unvollständigen Apostel, vielmehr bilden sie, wenn nicht porträtmäßig, so doch ideell, unseren gewitzten Maler und zwei Staatsmänner ab, oder Grandige Macheffel, wie Ihre Rättin sagt. Neinnein! Ich will nicht behaupten, es habe sich Malskat auf hohem Gerüst eines Tages entschlossen zu sagen: Hoppla! Jetzt male ich mich zwischen den ollen Adenauer und Ulbricht, den Spitzbart; eher vermute ich: der Zeitgeist von dazumal wird ihm diese Dreiergruppe eingegeben haben. Plötzlich erleuchtet, sah er sich dazwischengestellt. Oder mischte er unbewußt, sozusagen in Unschuld diese profane Konstellation in seine Gemeinschaft der Heiligen? Ich werde ihn aufsuchen. Ich werde mich mit Malskat ins Café Niederegger setzen. Wir werden uns bei Tee und Gebäck wie süchtig erinnern: Was alles und wer zur damals allgemeingültigen Trugbildnerei beigetragen hat. Hinge mir nicht dieser Katheter an, ich wäre heute schon unterwegs.«
Gut, daß ihm das Malheur widerfuhr. Ohne Fremdkörper als Anhängsel zöge er Konsequenzen sogleich, wie sonst nach längerer Rede. Unser Herr Matzerath schweigt. Offenbar holt ihn Vergangenes ein. Unsicher tippelt er, sucht ein erstes Wort, hat es gefunden, denn nun winkt mich sein Ringfinger es ist jener mit dem Rubin dicht, noch dichter heran. Beugen muß ich mich, sein Kölnisch Wasser riechen, denn er will flüstern: »Nicht wahr? Sie haben mich abschaffen, regelrecht umbringen wollen. Es war Ihre Absicht, meine Geschichte weitweg in Polen, unter den Röcken meiner Großmutter zu beenden. Ein jedermann plausibler und doch zu nahe liegender Schluß. Mag sein, daß ich mich überlebt habe; doch so ist Oskar nicht zu eliminieren!«
Nach einer Pause, die er sich und auch mir einräumt, sagt unser Herr Matzerath aus tiefem Chefsessel: »Ihr Hang zu vorschnellen Abrundungen könnte mir durchaus verständlich sein, mehr noch: ich begreife, daß meine Existenz stört. Ich soll nicht mehr dreinreden dürfen. Sie wünschen, mich loszuwerden. Niemand soll zukünftig, wenn er Sie meint, auf mich verweisen können. Kurzum, wenn es nach Ihnen ginge, wäre ich abgeschrieben bereits...«
Natürlich widerspreche ich. Doch mein Beteuern hält ihn nicht ab, mir fernerhin Mordabsichten zu unterstellen: »Hören Sie endlich auf zu leugnen, daß Sie meinen bevorstehenden Geburtstag mit Ihrem vorsorglich ertüftelten Nachruf abfeiern wollten. Eine Harnvergiftung mit letalem Ausgang wäre Ihnen zupaß gekommen: ein mir maßgeschneiderter Tod! Wie gut, daß mein Chauffeur Ihren Absichten zuvorkam, bereits bei Helmstedt die Autobahn verließ und gerade noch rechtzeitig den tüchtigsten Urologen am Platze ansteuerte. Stellen Sie sich vor: tausendvierhundertundsiebzig Milliliter Harn faßte die Blase...«
Womit unser Herr Matzerath wieder bei den bekannten Einzelheiten und quicklebendig ist. Seitdem ihm ein Katheter gelegt werden mußte, hat sein Ich neuen Stoff gefunden. Nichts kann von dem hilfreichen Röhrchen und dessen Stöpsel ablenken. »Wie einfach, wie genial ist diese Erfindung!« ruft er und wird nicht müde zu erklären, wie durch den Abzweig des Schlauches, den man in seine Harnröhre gefädelt hat, jenes kirschgroße Bällchen aufgeblasen wird, das dem Katheter rückwärtigen Halt gibt und dem Träger Sicherheit verbürgt. »Sehen Sie«, sagt er, »das zeichnet den Menschen aus: in noch so verzweifelter Lage weiß er sich letztlich zu helfen.« Meinen Einwand, es könne aber doch sein, daß sich der gegenwärtigen Lage, deren abschüssige Neigung niemand, selbst er nicht leugnen werde, kein hilfreicher Katheter anbiete, ließ er nicht gelten: »Unkenrufe! Überall höre ich Unkenrufe nur noch. Schauen Sie andererseits mich an: Obgleich mir mein Ende gründlich vorbedacht worden war, kehrte ich, wenn auch leidend, von den kaschubischen Äckern zurück. Zwar wird, sobald ich sechzig zähle, ein Eingriff nicht zu vermeiden sein, doch dürfen Sie sicher bleiben, daß nicht ich Gefahr laufe, dieser Welt enthoben zu werden; vielmehr sind Sie es, der sich verflüchtigt hat und nun schwebt, als habe man ihn und sei es aus Spaß nur in eine Raumkapsel verwünscht ...«
Mußte das sein, Rättin? Mußte ein großer Knall allem, was lief, den Punkt setzen? Und muß nun ich mit dem Winzling Oskar, der zum Altarschmuck verkam, kümmerlich haushalten, um mir, kaum zeitverschoben, das Gerede dieses Herrn Matzerath anzuhören, der fortgesetzt Pläne heckt und aller Welt Lebenszeichen signalisiert? Will denn nichts, auch das Dritte Programm nicht aufhören? Und bleibt mir, Rättin, während ihr Rattenvölker Ernte nach Ernte einbringt und Sonnenblumenkerne häufelt, nur noch vom treibenden Wrack zu berichten, weil die Frauen, kaum sahen sie unter sich ihr Vineta liegen, ausgelöscht wurden? Dürfen mir nur noch Nachrufe einfallen? Rasch abgelenkt, ihnen nah; denn zeitweilig haben mich Frauen mit ihren Gefühlen versorgt: Die eine zärtlich, als meinte sie sich, die andere heftig und ohne Geduld, die dritte bei Gelegenheit, die vierte blieb unverzagt, die fünfte ergriff mich umfassend bis heute: Damroka...
Du wirst zugeben, Rättin: immer fehlte was oder jammerten Reste. Nie war ich zuhaus wie gewünscht. Immer hatte der Ball eine Delle. Deshalb dachte ich mir ein Schiff aus, mit Frauen bemannt. Nur versuchsweise mal sehen, was dabei rauskommt gefiel es mir, alle einträchtig auf Reise zu schicken, obgleich sie einander spinnefeind waren und in Wirklichkeit umständlich mieden. So sind die Frauen, sagte man damals. Doch du, Rättin, hast meinen Versuch, sie allesamt Schwesterlich zu begreifen, aufgehoben, und zwar Knall auf Fall. Ach, könnte ich doch, ohne Spuren zu lassen, mit ihnen ausgelöscht sein.
Aber du willst, daß ich schreibe. Also schreibe ich: Das Wrack treibt in östliche Richtung.
Du verlangst, daß ich, sobald sich die Ostsee unter meiner Raumkapsel breitet, das treibende Wrack nicht aus dem Blick verliere.
Doch nur dir ist das Wrack wichtig, ich habe es abgeschrieben schon längst, wie ich unseren Herrn Matzerath habe abschreiben wollen. Was will er noch! Was redet er mir dazwischen! Was soll ich mit dem verdammten Wrack!
Mit allen Aufbauten, die, schwarz begrenzt, blau gestrichen waren, verglühten die Frauen. Wie sie mir fehlen. Erbärmlich und herrlich war ich bei ihnen. Liebe! Davon verstehst du nichts, Rättin. Dieses Zuvielniegenug. Ihr wollt nur leben und überleben. Behalte das Wrack im Auge! rufst du. Da rührt sich was, Freundchen, da rührt sich doch was!
Ja, Deckplanken klappern. Reste der Reling knicken weg, gehen über Bord. Was noch soll sich rühren? Schattenspiele? Gespiegelte Wünsche? Sollen sich etwa Tonbänder abspielen, selbsttätig auf dem Recorder?
Nichts höre ich. Keinen Medusengesang. Die See ist mal glatt und mal kraus und nicht mehr von Staubstürmen verdunkelt. Sie glitzert verjüngt und riecht womöglich, wie sie roch, als ich Kind war und Sommer für Sommer...
Mag sein, daß die See neu ist, aufatmet, sich belebt und neuerdings von Plankton, Heringslarven, Ohrenquallen, fremdartigen Fischen bewohnt wird, solchen, die landgängig werden eines Tages. Mag sein, daß sich zutiefst in der See, wie ihr Ratten aus Löchern, der Butt aus seinem Sandbett hebt. Mag sein, daß was kommt. Das Wrack jedoch ist nur übriggeblieben. Leblos treibt es. Allerdings immer auf östlichem Kurs, selbst bei gegenläufiger Strömung.
Nachdenken solle ich, hat mir die Rättin geraten. Erinnere dich, rief sie, was kurz vor Ultimo auf Gotland geschah, als deine Weiber in Visby von Bord gingen! Ziemlich unternehmugslustig zu fünft. Ihr überbetonter Seemannsgang. Nun mach schon, Freundchen. Erinnere dich!
Anfangs wollte die Zierlichste unter den Weibern, die Alte, die Graue, die immer kochte, den Abwasch machte und wegräumte immerzu, die Bordwache übernehmen. Aber dann
ja, ich erinnere mich galt Landgang für alle. Dieses Ruinenmuseum mit Touristenbetrieb wollten sie unsicher machen. Was heißt unsicher! Paar Einkäufe anfangs: schwedische Tiefkühlkost. Nirgendwo war Aquavit aufzutreiben. Dafür überall Umzüge. Die damals üblichen Proteste. Na, gegen dies und das und für den Frieden. Ganz junge und ziemlich alte Gotländer in Turnschuhen und Gummistiefeln unterwegs. Regnete es? Es nieselte. War ja ein mieser Sommer. Aber alle friedlich hinter gemalten Sprüchen. Gut eingeübt und geradezu verschlafen latschten die Gotländer durch die Stadt. Die waren gegen alles, was auf Transparenten und Bauchplakaten gefährlich genannt wurde. Jadoch, Rättin, ich will mich erinnern, was kurz vor Ultimo aktuell war. Also die Ölpest und die Verelendung überall, das Wettrüsten und Waldsterben auch. Sagte ich schon: gegen dies und das. Und für Jesus waren einige. Ach ja, das auch noch: eine Gruppe war gegen Tierversuche.
Na also! sagte die Rättin, endlich. Und was geschah dann? Liefen die einfach nur rum?
Mit diesem nicht besonders langen Umzug, der außer Transparenten überlebensgroße Attrappen vor sich hertrug, die handgemalt Hunde und Rhesusaffen darstellten einige trugen Mäuseoder Rattenmasken sogar -, liefen meine fünf Frauen mit, die sich für den Landgang piekfein gemacht hatten: Die eine trug lang was Goldgelbes, die andere lief unterm Turban in Pluderhosen, die dritte im Schwarzseidenen...
Die Rättin mahnte, bei der Sache zu bleiben. Als ich mich über die Frauen lustig machte, sie hätten gestern noch Ohrenquallen an Bord geholt und vermessen, wären dann aber mit den Tierschützern läufig geworden, unterbrach sie abermals meinen, ins Private abgleitenden Bericht.
Das interessiert nicht! rief sie. Keine Weibergeschichten, nur was in Visby geschah, kann heute noch interessieren. Naja. Es kam zum Krawall. Am Stadtrand, vor einem Forschungsinstitut. War eine Außenstelle von Uppsala. Ich glaube nicht, daß jemand von den gotländischen Leutchen, jung oder alt, angefangen hat. Wahrscheinlich hat die Maschinistin oder die Alte den ersten Stein. Und dann legte die Steuermännin los. Jedenfalls war Damroka, die sonst immer die Langsamste war, als Erste in dem Kasten drin. Die anderen Frauen, jetzt auch die Gotländer hinterdrein. Später hieß es, sie hätten wie die Wandalen. Und zwar in den Laboratorien ziemlich teures Zeug kurz und klein. Dann aber ruckzuck die Käfige auf. Ein Affe soll, als er befreit wurde, eine schwedische Bibliothekarin gebissen haben, was Folgen hatte, weil der Affe...
Nicht abschweifen! Weiter, weiter! forderte mich die Rättin. Kaninchen und Hunde, alle Rhesusaffen und Meerschweinchen, sogar einige Mäuse hat man später eingefangen. Die Frauen sind natürlich zurück an Bord, als mit Blaulicht die Polizei kam. Gleich darauf Leinen los und ab nach Vineta. Man wollte sich Ärger ersparen. Es sollen nämlich zwei Dutzend Ratten, besonders interessante, hieß es, entkommen und zuletzt von einem finnischen Matrosen, der aber besoffen war, zwischen den Hafenanlagen gesehen worden sein... Da haben wir's! rief die Rättin und hielt die Witterhaare steil. Dann forderte sie mich auf, das treibende Wrack weiterhin zu beobachten. Lange sei es verschollen gewesen. Sogar mir, dem Mann mit Überblick, habe es sich entzogen. Du erinnerst dich, Freundchen, wie dick nach dem Großen Knall rußgesättigter Rauch über Wasser und Land lag. Die Erde war ohne Licht. Nicht du, nicht wir können die Zeit der Finsternis messen. Wie wird es in jenen Tagen der Kälte oder waren es Monate, Jahre
dem treibenden Wrack ergangen sein? Trieb es in Schwärze eingesargt? Oder saß es unter Dauerfrost fest, vom Eis überzogen? Wenn Leben, irgendeine Art Leben im Schiffsrumpf gewesen wäre, wie hätte es, fragen wir Ratten uns oft, überdauern können?
Genau! rief ich. Niemand, keine Wanze hält sowas aus. Wir sollten das Wrack abschreiben. Es bringt nichts mehr. Unseren Herrn Matzerath auch. Weg mit ihm! Das ist doch alles von vorvorgestern. Erzähl lieber, Rättin, was bei euch in der Landwirtschaft läuft. War das Frühjahr zu naß? Was brachten die letzten Ernten? Achtet ihr auf den Fruchtwechsel? Aber jewiß doch, Herrchen! rief ländlich breit die Rättin. Und ich sah Felder, bis zu den Horizonten: Rüben, Mais, Gerste und Sonnenblumen. Wie schwer sich die Fruchtkörbe neigten. Sah Kerne in ihrer Ordnung gereiht. Und farbige Vögel sah ich über den Feldern. Ein schöner Traum...

Kaum sind die Grimmbrüder gegangen, ruft Rumpelstilzchen als Kellner: »Abwarten und Teetrinken!« Er serviert Getränke vorm Haus. Gutgelaunt und zu kleinen Scherzen aufgelegt, steht man in Gruppen und plaudert, als habe die Hexe das Personal weithin bekannter Märchen zu einer Stehparty geladen. Man sagt einander altmodische Artigkeiten, doch nebenbei werden aus Vorzeiten verschleppte Spannungen deutlich: Die Bösen Feen können schnippische Bemerkungen, die den Guten Feen gelten, nicht unterdrücken. Das Tapfere Schneiderlein sucht Streit mit den Wilden Männern. Überall wuseln zänkisch Zwerge und Schrate. Die Hexe und die Böse Stiefmutter stechen einander mit Blicken ab. Rübezahl hat Frau Holle beleidigt. Rotkäppchen versucht, Hänsel anzumachen. Jetzt will Gretel, weil der Froschkönig nicht in den Brunnen will, in den Wolf flüchten, aber der Reißverschluß sperrt. Niemand hört der Großmutter zu, die aus dem Wörterbuch alte Wörter hersagt. Anderes ist anziehender: der Zauberer Merlin und König Drosselbart halten Hof. Zwerge und Schrate drängeln. Die minderen Hexen wollen nahbei sein. »Einen Jacob Grimm als Kanzler ließe selbst ich mir gefallen!« ruft Drosselbart. Merlin, der soeben noch von Intrigen um König Artus' Tafelrunde Bericht gab, räumt ein: »Unsereins würde die Grimmbrüder immerhin tolerieren.« Man lacht und trinkt auf das Wohl der neuen Regierung.
Nur das Mädchen mit den abgehauenen Händen ist traurig. Lustlos hängen die Hände an der Schnur um den Hals. Es streunt zwischen den plaudernden Gruppen, will keinen Drink, den Rumpelstilzchen ihm anbietet, mag nicht Rübezahls Angebereien aus Zeiten hören, in denen er arme Köhler und Glasbläser erschreckt hat, sieht bekümmert, wie ein Zwerg nach dem anderen Schneewittchen in die Büsche zerrt, ist, sobald ihm Jorinde und Joringel begegnen, trauriger als zuvor und verdrückt sich schließlich ins Knusperhäuschen, wo Rapunzel, mit deren Haar der Prinz gebunden ist, neben der Bösen Stiefmutter auf einer Fensterbank und vor wehenden Gardinen sitzt.
Immer noch küßt der Prinz die seinem Dornröschen nachgebildete Puppe. Rapunzel und die Böse Stiefmutter nehmen sich Bindfäden ab, ein verzwacktes Fingerspiel, dem das Mädchen ohne Hände lange zusieht.
Endlich faßt es Mut und sagt: »Darf ich sehen, wie mein Herr Vater zweimal mit dem Beil zuschlägt?« Die Böse Stiefmutter zeigt sich freundlich, worauf ihr die Hände des Mädchens, um behilflich zu sein, das kunstvolle Bindfadengespinst abnehmen, so daß sie zum Kästchen greifen, ein Knöpfchen drücken und, während der Bildschirm zu flimmern beginnt, wieder ihr Fadengespinst von des Mädchens Fingern abnehmen kann, um es Rapunzel anzubieten, die das Gespinst im Aufnehmen verändert.
Jetzt belebt sich der Spiegel mit einander löschenden Märchenszenen: Wir sehen die Sieben Zwerge um den gläsernen Schneewittchensarg gestellt; wütig reißt sich Rumpelstilzchen sein Bein aus; die Geißlein flüchten, eins in den Uhrkasten; der Dame mit ewigem Kopfschmerz fällt, als sie noch Kind war, die güldene Kugel ins Brunnenloch; endlich zeigt der Zauberspiegel das Märchen von den abgehauenen Händen. Auf einem Hocker gekauert, dicht vor den Spiegel gerückt, die Hände an der Schnur auf den Knien, so sieht das Mädchen, wie der Vater auf Geheiß des Teufels, dem er in seiner Not sich verschrieben hatte, mit dem Beil zweimal zuschlägt, wie es darauf mit Händen, die abgehackt an der Schnur hängen, traurig und ziellos durch die Welt läuft, wie ihm endlich ein Prinz hilft, in Liebe den besonderen Baum zu umfassen, auf daß dem Mädchen die Hände wieder anwachsen und es glücklich wird mit dem Prinzen.
Weil aber die Böse Stiefmutter den Märchenfilm trotz des verzwackten Bindfadenspiels im Auge hat, manipuliert sie böse, wie sie sein muß, mit kleinem Finger den Filmverlauf, so daß dessen Szenen in rascher Folge wechseln: Hier hackt der Vater zweimal mit dem Beil, dort hilft der Prinz, den Baum zu umfassen, dann wieder schrecklich der Vater, darauf hilfreich der Prinz, nochmal das Beil; kurzes Glück und Schrecken ohne Ende.
Und wie im Film wachsen dem Mädchen auf dem Hocker vorm Spiegel die Hände beide an, um abermals abgehackt auf den Knien zu liegen, trostlos immer wieder.
Indessen will die Stehparty nicht enden. Einige Märchengestalten spielen ihre Rollen. Unterm Betthäubchen zeigt Rotkäppchens Großmutter plötzlich ein Wolfsgesicht. Die Hexe läßt Besen tanzen. Rübezahl biegt Eisenstäbe krumm. Als wandle sie im Traum, trägt des Froschkönigs Dame auf einem Tablett ihren Frosch von Gruppe zu Gruppe. Hänsel und Gretel holen letzte Bucheckern und Haselnüsse aus dem Knusperhäuschen-Automaten. Die Guten und Bösen Feen verwandeln sich wechselseitig in Vogelscheuchen. Auch Aschenbrödel und König Drosselbart, der Standhafte Zinnsoldat und Frau Holle sind ganz und gar in ihre Märchen vernarrt. Selbstvergessen spielen sie sich. Sogar Schneewittchen will nicht mehr mit wechselnden Zwergen ins Gebüsch, sondern tausendmal schöner für wen auch immer sein. So geht Märchen in Märchen über. Jorinde liegt beim Zinnsoldaten, Joringel hat sich zu Aschenbrödel gelegt. Einzig die Hexe bleibt sich und Hänsel treu: zwischen ihre enormen Titten gebettet, träumt ihm nicht nur, was hinterm Hagebuttengebüsch geschieht.
Und ähnlich vertieft in ihr Spiel sind indessen die Böse Stiefmutter und Rapunzel. Während sie einander die Bindfadenkunst Mal um Mal abnehmen, merken sie nicht, wie sich der wachküssende Prinz von Rapunzels Haarfesseln befreit, zwischen wehenden Gardinen aus dem Fenster springt und, weil der Wald hinterm Haus so dicht steht, mit wenigen Sprüngen entkommt.
Auch das Mädchen ohne Hände merkt nicht auf, denn immer noch sieht es seinen Film, in dessen Verlauf soeben ein anderer Prinz Glück bringt, das allerdings nicht von Dauer ist; immer noch manipuliert die Böse Stiefmutter mit kleinem Finger. Draußen löst sich die Stehparty auf. Heftige Windstöße. Wer sich gepaart gelagert hatte, findet es plötzlich kühl. Verstört drängen alle ins Haus. Während er weiterhin Tee und Säfte serviert, sagt der Kellner Rumpelstilzchen: »Ob wohl die Grimmbrüder inzwischen eine neue und gute Regierung gebildet haben?«
Erschrocken erinnern sich die Märchengestalten der Wirklichkeit. Grob wird das Mädchen, dessen Hände im Film abermals abgehackt werden und also gesondert auf ihren Knien liegen, von den Sieben Zwergen verdrängt. Die Böse Stiefmutter gibt das Bindfadenspiel auf und schaltet den Zauberspiegel nach Bonn um. Alle, auch Rapunzel mit langem Haar, stehen dichtgedrängt und wollen sehen, was fernab läuft.
In Bonn wuchert noch immer Grünzeug. Bis in die Fenster des Bundeskanzleramtes, in den Kabinettsaal hinein kriechen Schlingund Kletterpflanzen. Dort halten die Grimmbrüder mit ihrer Notstandsregierung, die aus Industriebossen, Bischöfen, Generälen und Professoren besteht, ihre erste Kabinettssitzung ab. Reihum zeigen sie die Wasserrosenblätter mit den drei Forderungen der Märchengestalten nach reiner Luft, sauberem Wasser und gesunden Früchten. Die Bischöfe und Professoren nicken vorsichtig bedenklich. Die Generäle sitzen unbewegt am Kabinettstisch und fühlen sich vom überall rankenden Grünzeug belästigt. Die Industriebosse sind empört. Sie gestikulieren und schlagen auf den Kabinettstisch, der, mit Filz bezogen, sprichwörtlich grün ist. Lauter Streit und heimliches Tuscheln. Unterm Tisch, wo Dickicht wuchert, werden den Professoren und Bischöfen Geldscheine zugesteckt.
Bis auf die Grimmbrüder sprechen jetzt alle, die Bischöfe unter Bedauern, gegen die drei Forderungen, so einfach sie sich lesen, so bescheiden sie sind. Zum erstenmal zornig schlägt Jacob Grimm auf den grünen Tisch. Einzig sein Bruder erschrickt. Erstaunt und herablassend geben sich Bosse und Generäle, die Professoren peinlich berührt.
Jacob ruft: »Noch bin ich Kanzler, immer noch ich!« Wilhelm bestätigt: »Das sollten Sie nicht vergessen!« Gelächter antwortet ihnen, in das sogar die Bischöfe, wenn auch verhalten, einstimmen.
Im Knusperhäuschen sieht man, wie Wilhelm Grimm dem amüsierten Kabinett von den drei Guten Feen berichtet. Alle sind von den Bonner Ereignissen gebannt. Beunruhigt sehen sie, wie wenig das Wort der Grimmbrüder gilt.
Da ruft Gretel plötzlich: »Der Prinz, wo ist der Prinz!?« Erschrecken, Durcheinander, kopfloses Suchen. Rübezahl verprügelt die Sieben Zwerge. Die Hexe packt Rapunzel beim Haar, will schon zur Schere greifen. Da ruft die Böse Stiefmutter: »Er kann nicht weit sein!«
Sie schaltet das Bonner Programm, in dem Wilhelm Grimm noch immer von den Guten Feen schwärmt, aus und sucht mit dem Zauberspiegel, bis sie den laufenden Prinzen im Bild hat.
Abwechselnd schicken die Hexe, Merlin und die Böse Stiefmutter dem Flüchtling Hexenund Zaubersprüche, Verwünschungen nach. Der Prinz stolpert, stürzt, überschlägt sich, läuft aber weiter. Jetzt wächst ihm eine lange Nase, jetzt wachsen ihm Fledermausohren. Aber er läuft und läuft. Nun wird er, weil sich die Sprüche steigern, überbieten, einander löschen, zum Reh, zum Einhorn, zur Kugel, aber er springt, trabt, rollt dennoch, bis er nun ganz und gar wieder Prinz den Waldrand erreicht, auf die überwucherte Autobahn findet und ein überkrautetes Schild zeigt die Richtung nach Bonn läuft.
Im Knusperhäuschen streiten sich der Zauberer Merlin und die Böse Stiefmutter. (Herr Matzerath will, daß die Hexe wütig mit gelben Augen nun doch zur Schere greift; aber ich mag Rapunzel nicht kahl sehen und rette ihr langes Haar, indem ich Hänsel gegen die Hexe ausspiele.) Als sei er hinterm Hagebuttengebüsch zum Mann geworden, nimmt er ihr die Schere kurzerhand ab: »Das bringt uns nicht weiter!«
Gretel ruft: »Noch ist ja nichts verloren!«
Auf Hänsels Weisung schaltet die Böse Stiefmutter im Zauberspiegel wieder die Kabinettsitzung ein. Dort kämpft noch immer Jacob Grimm, von seinem Bruder unterstützt, mit der korrupten Notstandsregierung. Industriebosse tuscheln mit Generälen. Unterm Tisch zählen Professoren Geldscheine, die vom Volksmund Riesen genannt werden. Überm Tisch lächeln die Bischöfe wie nur Bischöfe lächeln können; dabei drehen sie Däumchen oder blättern in ihrem Brevier.
Jacob Grimm ruft: »Noch bestimme ich die Richtlinien der Politik!«
Die Industriebosse zerreißen die Wasserrosenblätter. Einer der Bosse ruft: »Aber wir haben das Sagen hier!«
Ein anderer: »An uns kommt keiner vorbei!«
Alle rufen: »Schluß mit den Märchen!«
Da sehen wir Wilhelm Grimm weinen. Jacob setzt sich erschöpft. Einer der Generäle ruft per Knopfdruck die Wache in den Kabinettsaal und läßt die Grimmbrüder verhaften, worauf sich schnell ein anderer General auf den geräumten Kanzlerstuhl setzt.
Obgleich die Professoren Bedenken äußern, werden den Grimmbrüdern Handschellen angelegt. Wilhelm sagt: »Siehst du, Bruder, so mißachtet man uns seit altersher.«
Jacob sagt: »Wir widerstehen dennoch. Ich werde eine Denkschrift verfassen.« Beide sollen von der Wache abgeführt werden.
Da stürzt der wachküssende Prinz atemlos in den Kabinettsaal. Er verteilt Luftküsse und gibt atemlosen Bericht: »Ich bin, ich habe, da wurde ich, lief aber, lief, und nun bin ich da!« Wie er die Grimmbrüder in Handschellen sieht, ruft er nach höfischer Verbeugung: »Meine Herren! Ich biete Ihnen dienstfertig Hilfe an. Doch muß ich Sie ersuchen, die sofortige Freilassung der hochverehrten Grimmbrüder anzuordnen.« Weil sich die Militärs und Großkapitalisten unschlüssig zeigen, hilft der Prinz nach: »Damit wir uns verstehen. Ohne mich und meine Küsse läuft hier nix. Unternehmen Dornröschenschlaf. Endlich kapiert!?«
Während sich noch die Generäle mit den Industriebossen beraten, nimmt, auf Weisung des frischgebackenen Kanzlergenerals, der eine Bischof den Grimmbrüdern die Handschellen ab, der andere lächelt milde. Der Kanzlergeneral sagt: »Lassen wir es gnädig bei Hausarrest. Da finden die Herren Ruhe und können schreiben, was sie wollen. Märchen von mir aus!« Zuvorkommend geben die Professoren den Grimmbrüdern ihre Hüte. Jacob und Wilhelm nehmen ihren Hut und gehen traurig aber aufrecht ab.
(Da ich die Meinung unseres Herrn Matzerath teile, es müsse jetzt nicht das Elend im Knusperhäuschen eingeblendet oder gar ausgekostet werden, gehört die Szene dem wachküssenden Prinzen.) Auf der großen Waldkarte zeigt er, wo die Dornenhecke das schlafende Dornröschen, den schlafenden Kanzler und sein tiefschlafendes Gefolge überwuchert hat.
Sofort bricht Geschäftigkeit aus. »Alarmstufe drei!« »Anordnung an Spezialtruppe!« »Gezielt Dornröschenschlaf aufheben!«
Unterm wuchernden Grünzeug finden sich Telefonapparate. Kommandos werden erteilt. Im Vorgefühl seines Glücks küßt der wachküssende Prinz den einen und anderen Bischof. Dann verschwendet er Luftküsse. (Unser Herr Matzerath sagt ganz richtig: Eine Krankheit ist das. Schlimmer: im Kuß steckt der Tod.)

Nicht dran rühren.
Wehe, es beugt sich wer, wirft Schatten, wird tätig.

Nie wieder soll irgend ein dummer Prinz seine Rolle zu Ende spielen,
auf daß der Koch dem Küchenjungen schallend die Ohrfeige austeilt
und weitere Folgen zwangsläufig.

Ein einziger Kuß hebt auf. Danach geht alles, was schlief, schrecklicher als zuvor
weiter, als sei nichts geschehn.

Aber Dornröschenschlaf hält
immer noch alle gefangen,
die freigelassen zum Fürchten wären. Im Dritten Programm, wie in allen anderen Rundfunkprogrammen, wurden heute wiederholt Alarmübungen für den Ernstfall angesagt. Akzentuiertes Sirenengeheul soll unterschiedliche Bedeutung haben. Aufund abschwellendes Heulen, Geheul als Dauerton und so weiter. Das muß gelernt werden. Deshalb der Aufruf an alle, die Rundfunkgeräte zu bestimmter Zeit anzuschalten und wichtige Durchsagen zu hören. Es gilt, diese Durchsagen zu befolgen. Wer aus Zeiten des letzten Krieges Warnung und Entwarnung noch immer im Ohr hat, bleibt gefordert, seine Ängste aufzufrischen.
Später hörten meine Weihnachtsratte und ich bedeutungsvolles Sirenengeheul. Die Werft nahbei ist friedensmäßig und für den Ernstfall gerüstet. Wir unterschieden die Vorwarnung, den Luftalarm, die Entwarnung. Es klappte wie angekündigt. Nun wissen wir.
Merkwürdigerweise ging vom abgestuften Geheul ein Sicherheit verbürgendes Fürsorgegefühl aus. Wir werden nicht überrascht sein.
Danach hörten wir Schulfunk: etwas über Verkehrserziehung, dann Pädagogisches über den Umgang mit Schwererziehbaren, dann People talking. Zu Beginn der Nachrichten hieß es, das Scheitern des Gipfels in Brüssel sei als nur vorläufiges Scheitern zu werten; gegen Nachrichtenende kam eine Erfolgsmeldung: in Uppsala, Schweden, sei es gelungen, aus ägyptischen Mumien zweitausendvierhundert Jahre altes Erbmaterial, uralte Gene zu isolieren und in Gewebekulturen zu vervielfältigen: ein Fortschritt.
Meine Weihnachtsratte und ich stimmen überein: Diese Nachrichten tun so als ob. Zwar läuft noch alles, doch nichts geht mehr. Im Dritten Programm, ob in Brüssel oder Uppsala: Die Luft ist raus. Das sind Reflexe nur noch, Vertagungen, Mumienschändung! Doch während ich die Brüsseler Spesenritter und die schwedischen Erbschleicher verfluche Stell Dir vor, die übertragen jetzt mumifizierte Informationen in taufrische Frischzellen! -, kugelt sich mein Rättlein verschlafen, als lohne aus Rattensicht kein Aufmerken der Witterhaare.
Also erzähle ich ihr, was ich neulich in Hameln erfuhr, als ich abseits vom Festspielprogramm die Krypta der Bonifatiuskirche besuchte.
Ich weiß es jetzt besser, Ratte. Das war nach den Kinderkreuzzügen und gut sechzig Jahre, bevor die Pest kam. Damals waren die Leute ziemlich durcheinander. Niemand wußte, was richtig war. Viele Jahre lang hatte es keinen Kaiser, nur Mord und Totschlag gegeben. Jeder machte, was er wollte und nahm, was er nicht hatte. Und überall war Angst zu haben. Angst vor dem Kommenden. Allerweltsangst. In jede Richtung zogen junge Leute übers Land und durch die Städte, im Westen rheinaufwärts. Sie tanzten wie gestochen und geißelten sich bis aufs Blut. Ihre Lieder, dieses Geißlergeheul, machten den Juden Angst, denn die Geißler schlugen, von Ängsten getrieben, die Juden tot.
Doch andere junge Leute, die vernünftiger waren und weniger ängstlich, wanderten in Richtung Osten, nach Mähren und Polen bis in die Kaschubei und ins Vineterland, wo sie an den Ufern der Ostsee siedelten. In Hameln sollen es hundertunddreißig Burschen und Mädchen gewesen sein, die am Johannestag, der auf den 26. Juni des Jahres 1284 datiert ist, einem Werber folgten, von dem es hieß, er habe wunderschön Flöte geblasen.
Glaub mir, Ratte, von euch ist in keiner Chronik die Rede. Nie haben Forscher dem Flötisten als Nebenbeschäftigung Rattenfängerei nachweisen können. Und selbst der Denker Leibniz hat nur gerätselt und was allzu nahe lag einen verspäteten Kinderkreuzzug vermutet. Feststeht: die Ratten wurden dazugedichtet, weil man sich sagte, wer unsere Kinder und sei es zum vernünftigen Auswandern verführt, der ist ein Rattenfänger; wer Ratten fängt, der fängt und verführt auch Kinder.
Ich aber glaube, seitdem ich in der Krypta des Münsters Sankt Bonifatius saß, daß die Geschichte ganz anders verlief. Es hat nämlich in Hameln schon immer viele Mühlen und Speicher, also auch Ratten gegeben. Natürlich mochten Leute, die vom Getreidehandel lebten, die Ratten nicht. Jedem Wassermüller, Kornhändler und einschlägigen Zunftmeister waren sie nichts als Plage. Deren Kinder jedoch begannen, weil die Zeit so verrückt war, mit Ratten zu spielen. Womöglich wollten sie ihre Eltern ärgern, indem sie Ratten fütterten und öffentlich an sich trugen, wie es unartigen Kindern gegenwärtig zu tun gefällt. Und wie die Punks oder Punker heute, trugen damals die Hämelschen Kinder ihre Lieblingsratten auf der Schulter, ins Haar gebettet und unterm Hemd. Aus Taschen und Beuteln guckten Rättlein hervor.
Das brachte Ärger, Familienstreit. Durch Ratsbeschluß wurde verboten, mit Ratten zu spielen, sie zu füttern oder gar an sich zu tragen. Einige Kinder und Jugendliche fürchteten Strafe, gaben nach, wurden brav. Aber gut hundertunddreißig Hämelsche Kinder steckten nicht auf. Sie trotzten dem Verbot, rotteten sich mit ihren Ratten und machten Umzüge die Bäckerstraße rauf runter, die Münsterkirchstraße lang zum Weserfluß, an den Wassermühlen vorbei durchs Wendenviertel zum Markt und Rathaus, das sie für Stunden besetzten und lästerlich Ratzenhaus nannten. Sogar zur Messe und zur Vesperandacht nahmen sie ihre Ratten in die Bonifatiuskirche mit und waren, wie man von Amts wegen sagte, ganz und gar rattenverrückt. Zwar wurde das eine und andere Kind auf offenem Markt gepeitscht und an den Pranger gestellt, doch weil die Kinder der angesehensten Bürger, sogar der Ratsherren Söhne und Töchter so rattennärrisch und unbelehrbar zu den Hundertunddreißig gehörten, konnten sich die Schöffen nicht zu peinlichen Strafen, zum Strecken etwa, zum Kneifen und Glühen entschließen.
Als aber von Satansmessen und rättischem Kult gemunkelt wurde, wobei immer wieder die Krypta des Münsters ins Gerede geriet; als sich die Hundertdreißig nach Rattenart zu kleiden begannen und am hellen Tag, mit nackten Schwänzen behängt, die Brotund Fleischbänke plünderten und immer wilder ihren Ratten gleich wurden, murrten die Gerber und Sackträger gegen das schonungsvolle Gewährenlassen. Auf Zunftbänken wurde aufsässig geredet. Dominikaner eiferten von Kanzeln herab wider das menschliche Rattengezücht. Endlich, nun unter pfäffischem Druck, wohl auch aus Furcht vor aufständischen Gewerken, beschlossen Rat und Schöffen in geheimer Sitzung peinlichste Gegenmaßnahmen. Ein in der Stadt unbekannter Pfeifer, der mit Flöten und der Sackpfeife aufzuspielen verstand, wurde gegen Handgeld von auswärts angeworben, auf daß er sich bei den vertierten Kindern beliebt mache, um sie alle eines Tages es war auf Johanni mit Flötentönen, als wolle man einen lustigen Ausflug machen, durchs Ostentor zum nahen Kalvarienberg zu führen, in dessen tiefster Höhle der Pfeifer mit den hundertunddreißig Hämelschen Kindern und ihren Streichelratten ein Fest zu feiern begann. Da wurden Schweinswürste gebraten und Gerstenbier getrunken. Beim Tanz reihum sollen die Ratten mitgetanzt haben. Und höllischer Gesang wurde laut. Als aber das Fest am lustigsten war und vom Gerstenbier Müdigkeit über die Kinder kam, schlich sich der Pfeifer aus der Höhle, worauf deren Eingang, wie eine Stalltür so groß, vom Stadtbüttel versperrt, von zünftigen Maurern zugemauert, schließlich von Bauern mit Sandfuhren verschüttet und von den Pfaffen gnadenlos mit Weihwasser besprengt wurde. Es soll nur wenig Geschrei aus der Höhle gefunden haben. Von einer einzigen Ratte, die entkam, wußten später umlaufende Gerüchte. Viel Jammer um die verschütt gegangenen Kinder. Doch hat man den Pfeifer mit klingendem Silber bezahlt. Und auch die Stadt war bald um eine Legende reicher. Vieldeutig stand das Wort »Auszug« datiert in der Chronik vermerkt. Seitdem ist von Hameln die Rede: falsch und verlogen. Das rächt sich, Ratte, das rächt sich bestimmt...
Mehr und mehr ängstigen sich die Kinder. Sie färben ihr Haar grell,
sie schminken sich schimmelgrün
oder kreideweiß,
um die Angst zu verschrecken.
Uns abhanden gekommen, schreien sie stumm.

Mein Freund, mit mir älter geworden
wir sehen uns selten, grüßen einander von fern der mit der Flöte, dem die Kadenzen
immer anders gelingen, hat seinen Sohn, der zwanzig zählte, mehrmals beinahe,
nun ganz verloren.

Söhne, biblisch oder sonstwie versorgte, entlaufen früh.
Niemand will mehr den sterbenden Vater erleben, den Segen abwarten, Schuld auf sich nehmen. Unser Angebot immer billiger rührt nur noch uns. So leben lohnt nicht.
Für diese Strecke nach unserem Maß -
haben sie keine Zeit.
Was wir aushielten, uns witzig ermunternd, soll nicht mehr auszuhalten sein.
Nicht mal ein zorniges Nein wollen sie
gegen unser fleißiges Ja setzen;
knipsen sich einfach aus.

Ach, lieber Freund, was hat uns
so langlebig zweifeln gelehrt?
Von wann an irrten wir folgerichtig auf Ziele zu? Warum sind wir möglich ganz ohne Sinn?

Wie ich um meine Söhne bange, um mich; denn auch die Mütter, geübt im Allesverstehen, wissen nicht ein noch aus.
Es treibt, nein, es hält Kurs. Nicht mehr nur ostwärts, trotz Gegenwind, vielmehr dreht das Wrack des ehemaligen Lastenseglers Dora, dann Küstenmotorschiffes Ilsebill, schließlich des Forschungsschiffes Die Neue Ilsebill, auf Höhe der Halbinsel Hela bei, umschifft die Halbinsel, die als Nehrung zum Schluß überspült war, doch nun wächst und die Bucht zum Haff macht, nimmt ins Haff hinein südlichen Kurs und steuert, wenn das von einem Wrack gesagt werden kann, Mole und Hafen der Stadt GdaDsk an, die mit den Türmen der alten Hansestadt Danzig von weither erkennbar geblieben ist und unwiderstehlichen Sog ausübt; wie sonst sollte ich immer wieder und nun auch ein hilfloses Wrack verlockt werden. Halbe Fahrt macht das Wrack. Ich sehe das von meiner Raumkapsel aus, unter der Mal um Mal die Ostsee schimmert. Was mir auf umlaufend vorgeschriebener Bahn unterliegt, etwa das Nildelta oder der Golf von Bengalen oder die Großen und Kleinen Sundainseln, gibt unter Schleiern nichts her, doch sobald ich von Norden aus meiner Bahn folge und sich Schwedens Südküste abzeichnet, liegt mir das Baltische Meer, meine See, als breite sich eine überschaubare Pfütze, klar zu Füßen. Zwar sind Gotland, Bornholm, alle Inseln weg, doch mache ich über Schonen landwirtschaftliche Strukturen, Felderwirtschaft aus.
Ganz nah kann ich das Wrack, wie es nicht mehr treibt, sondern Kurs hält, heranholen; das erlaubt meine Optik. Es ist Sommer. Im Hinterland auch dieser Region melden Sonnenblumenfelder und anderer Feldfruchtanbau beginnende Reife, Leben. Schon bin ich versucht, Erde! zu rufen: Erde kommenAnworten Erde! aber ich weiß, es gibt niemanden mehr, der Roger! ruft und: Ist was, Charly? Nur sie weiß Antwort, unterhält mich mit Neuigkeiten, will mehr wissen als ich ausgucken kann, wittert Sensationen und hört sogar... Horch! rief die Rättin, es tuckert. Hör genau hin: ein Schiffmotor tuckert. Freue dich, Herrchen, deine Ilsebill ist bemannt. Wie sollte der Schiffsmotor sonst. Wenn deine Weiber nicht, irgendwer muß ihn wieder. War ja mehr als kaputt. Und läuft nun und läuft. Der gute alte Diesel. Wie geschmiert, hörst du?!
Nie habe ich sie aufgeregter gesehen. Mal auf dem Holm, dann die Lange Brücke rauf runter, im Werftgelände, ums Hafenbecken lief sie auf Kaimauern, sprang schließlich auf einen Poller, suchte Worte, brachte keinen Satz zu Ende. Herrchen, Lieberchen! rief sie. Sollten etwa. Könnte es sein, daß trotz Kälte, Eis, Finsternis. Und obgleich Staubstürme, dieser verdammte Strahlensegen, den selbst wir kaum. Und dennoch, weil damals? Nicht auszudenken. Einige Exemplare womöglich. Schau nur, wie erwartungsvoll wir. Voller Hoffnung. Aber auch ängstlich...
Nicht nur sie auf dem Anlegepoller; ganze Rattenvölker besetzen die Kaianlagen. Auf allen Kränen, den Slips der Leninwerft, hoch auf den Silos am Schwefelbecken, das sie sonst mieden, auf den ragenden Wandungen des Trockendocks drängten sie dicht bei dicht. Von jedem Punkt, der gute Sicht bot: vom Holm, wo Mottlau und Tote Weichsel zusammenfließen, von beiden Mottlauufern aus. In Neufahrwasser, das früher Novy Port hieß und dessen Wohngebiete bis nach Wrzeszcz unter Schlammwällen liegen, die nun mit Feldfrüchten, Sonnenblumen zumeist, als Grüngürtel den Hafen einschließen, bis zur Mole hin: Ratten, überall Ratten, neugierig, unruhig übereinander geschichtet, zu dicken Knoten verknüpft.
Und als das Tuckern des Hundertundachtzig-PS-Motors nicht mehr fraglich oder nur herbeigesehnt war, sondern, weil Stille herrschte, als einziges Geräusch meinen Traum besetzte denn die Ratten hielten sich starr; als das Gerücht zur Nachricht wurde, es werde der Rumpf des ehemaligen Forschungsschiffes nicht etwa das moderne Überseebecken anlaufen, vielmehr nehme es Kurs auf den alten, den historischen Hafen, an dessen Langer Brücke nur zwei Ausflugsdampfer, die vormals weiß gewesen waren, seit Ultimo festgemacht lagen; als endlich das tuckernde Schiffswrack, dessen kahles Deck unbelebt blieb, vor den Speicherruinen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und den wiederaufgebauten Speichern der Zwischenkriegszeit anlegte, der Langen Brücke gegenüber seemännisch einwandfrei anlegte; als unter den Rattenvölkern die Nachricht umlief, die Kommenden hätten an der Speicherinsel, die vormals polnisch Spichlerze geheißen hatte, endgültig festgemacht, da zog es die Ratten aus dem Werftund Hafengebiet der Jungstadt, von Neufahrwasser und den Schlammdämmen in Strömen zur Altund Rechtstadt, durch deren Gassen zum Mottlauhafen, so daß bald nach dem Anlegen des Wracks, das Frauenund Brotbänkertor, das Grüne und das Heiligengeisttor verstopft, alle Uferanlagen von Ratten überschwemmt, die Fenster der gotischen Häuser zur Mottlau hin gepfropft voll und deren Giebel von Rattentrauben behängt waren.
Überladen die rostigen Ausflugsdampfer. Jeder Platz, jede Aussicht genutzt. Das Türmchen der Sternwarte von Ratten befallen. Gespickt voll die verkohlten Krantorreste. Der Figurenschmuck auf dem breitgelagerten Grünen Tor nicht mehr kenntlich. Nur das Speicherinselufer, soeben noch von Ratten gesäumt, hatte sich, als das Wrack anlegte, entleert. Es blieb ausgespart, als wollte man dem kommenden Ereignis Raum lassen.
Nenn es Respekt oder Furcht, jedenfalls war Distanz geboten. Zwar ahnten wir, daß was kommen wird, aber wußten nicht, als was sich das Kommende zeigen werde. Gemeinsames Beten hatte zwar Bilder, zu viele jedoch, die sich löschten, beschworen. Obgleich unser Singen in Sankt Mariendu hast uns oft genug fromm versammelt gesehen die Wiederkehr des Humanen zum Ziel hatte, und wir die Uralte und ihr geschrumpftes Knäblein in jedes Gebet einschlossen, wurde nicht deutlich, in welcher Gestalt uns der Mensch auferstehen werde, selbst seinen Schattenriß ahnten wir nicht.
Kein Wunder, sagte die Rättin, daß Spekulationen ins Kraut schossen. Wie wird er beschaffen sein? In uns bekannter Normalgröße? Übertrieben ins Riesenhafte? Einäugig oder mit vier Augen rundumspähend? Auch wenn wir jene blauweißen Zwerglein, dieses Spielzeug in Menschengestalt, das während der ausgehenden Humanzeit in Massen produziert wurde, auf dem Hochaltar unserer Hauptkirche anschaulich gruppiert hatten, hofften wir dennoch, daß uns der Mensch nicht als Winzling zurückgegeben werde. Unsere Erwartungen waren unbestimmt geblieben. Dabei hätten wir wissen müssen oder uns denken können, was uns vorbestimmt war. Getestet, langen Versuchsreihen unterworfen, Giften und Gegengiften ausgesetzt, im Dienst der Humanforschung und gegen Schluß sogar hochgeehrt, preisgekrönt, wußten wir, was ihr Verstand sich letztendlich ausgedacht hatte, als es darum ging so hieß ihr Forschungsprogramm -, das Menschengeschlecht zu verbessern. Was aber kam, sozusagen ans Licht trat, hat uns, bei aller Vorfreude, erschreckt.
Wir hatten, kaum war das Wrack zwischen zwei Pollern längsseit gegangen, um die Poller herum Sonnenblumen, besonders große Rüben, Maiskolben gelegt, dazu gerupfte Feldtauben und Sperlinge, allerdings eilig, um uns vor ihrem Auftritt rasch zu verflüchtigen. Sagte ich schon, daß es zu Bündeln gerotteten Rattenhaufen gelang, im Turm von Sankt Marien und im Gestühl anderer Kirchentürme die Glocken zu läuten? Hunden und mehr fette Altratten an den Seilen. Jedenfalls läuteten, als die Kommenden auftraten und wir in Erwartung erstarrten, wie zu Humanzeiten alle Glocken.
Und ich sah sie aus dem Niedergang zum Vorschiff kommen, aufrecht steigend, gehend, stehend dann. Ich sah sie lässig das Spielbein, das Standbein wechseln. Etwa die Größe eines dreijährigen Knaben mochten sie haben. Beiderlei Geschlechts und nur stellenweise rattig behaart, zeigten sie menschliche Proportionen, trugen aber, wenngleich ich selbst in Stummelform keine Rattenschwänze ausmachen konnte, auf langem Hals übergroße Rattenköpfe.
Die Rättin, die im Dachgesims des Grünen Tores schräg gegenüber ihren Platz hatte, sagte: Anfangs taten sie so, als hätten sie uns noch nicht bemerkt. Das Glockengeläut hielt an. Sie vertraten sich, auf Deck auf und ab gehend, die Beine, reckten, schüttelten sich. Dann erst winkten sie lässig, als wollten sie Hallo rufen, zum gegenüberliegenden Ufer hin und hoch zu den Giebeln und Türmen der Häuser und Stadttore. Wenn wir bis dahin noch nach besserer Sicht zu drängeln versucht hatten, erstarrten wir nun. Glaub uns, Herr: kein Schwanz in Unruhe. Nur in den Witterhaaren zeigte sich Leben. Erschrecken? Aber es kam auch Enttäuschung auf und in Ansätzen Lust zu lachen, die Kommenden kaum waren sie da, auszulachen. Doch der Schrecken überwog. Gott sei Dank klang das Glockengeläute nach und nach aus.
Ich sah was die Rättin mir zeigte, eher belustigt. Ich lachte im Traum. Als die haarigen Rattenmenschen oder behaarten Menschenratten es waren fünf, dann sieben, schließlich zwölf das Schiffswrack der Neuen Ilsebill an den Pollern festmachten, wobei zwei, drei an Land gingen, nahmen sie wahr, was ihnen die Ratten gastlich zuhauf gelegt hatten. Ohne viel Umstände griffen sie zu und fraßen Rüben, Mais und Sonnenblumen samt Kolben und Fruchtkörben in sich hinein. Tauben und Spatzen ließen sie liegen. Offenbar angewidert vom rohen Fleisch, schmissen sie die gerupften Kadaver in die Mottlau.
Das war als die letzten Glocken ausklangen. Die Starre der Rattenvölker löste sich. Aus allen Häusern, von Giebeln und Tortürmen und von den Uferanlagen der Langen Brücke, desgleichen von den Ausflugdampfern vor der Krantorruine zogen sie sich zurück. Ein lautloses Schwinden, dem ich Enttäuschung ablas. Wahrscheinlich versammelten sie sich in Sankt Marien, dem Ort ihrer Einkehr.
Ohne daß die Rättin ins Bild kam, sagte sie später, als mir schon anderes träumen wollte: Und für dieses lächerliche Produkt menschlicher Wissenschaft hat man uns du wirst dich erinnern, Herr den Nobelpreis zugesprochen. Erwiesene Dienstleistungen auf dem Gebiet der Gentechnologie, hieß es. Und das kam dabei raus: Rattenmenschen oder Menschenratten, wie man es sieht. Die Kommenden! Unserer Hoffnungen Spottgeburt.
Wir nannten sie anfangs: die Gekommenen. Zeitweilig war von Manippels, kurz: Nippels die Rede. Schließlich erinnerten wir uns an jene zwei hochgeehrten Herren, die während der ausgehenden Humanzeit die DNS-Struktur aufgedeckt, den Zellkern gespalten, Genketten lesbar gemacht hatten und Watson und Crick hießen; fortan nannten wir die Gekommenen: Watsoncricks. Bei längerer Tragzeit achtzehn Wochen und niedriger Wurfzahl: vier bis fünf Säuglinge vermehrten sie sich langsamer als wir. Übrigens waren von den zwölf, die von Bord gingen, fünf Watsoncricks weiblich und tragend. Wir hätten sie alle vernichten, sogleich vernichten sollen.

Unser Herr Matzerath, dem ich von der Anlandung der Rattenmenschen erzählte, nennt ihre knäbleinhohe Größe ausreichend und spricht, alles in allem, von einem gelungenen Entwurf. Auf meinem Tisch zu viel Post, doch keine Nachricht aus Travemünde. Ich träume neuerdings Wiederholungen und Varianten. Nicht nur, daß die Hexe mit einer Schere, die ihr die Böse Stiefmutter reicht, ritschratsch Rapunzels Langhaar abschneidet; es bringt mir die Rättin ungerufen immer wieder die eine Szene ins Bild: wie sich zuerst der Frauen Haar
Damrokas Locken! entzündet, worauf sie alle ganz und gar verglühen. Nein, eher ist es so, daß die Frauen blasser und blasser werden, bis sie nur noch Farbspuren auf bröckelndem Kalkmörtel sind, die der Maler Malskat, diesmal im Auftrag unseres Herrn Matzerath, mit einer Wurzelbürste abwäscht, um mit sicherem Pinsel fünf Frauen zu entwerfen, die aber alle der Filmschauspielerin Hansi Knoteck gleichen und keine einzige ein bißchen nur meiner Damroka.
Immer noch keine Postkarte aus Travemünde. Im Dritten Programm geht das Leben weiter, und wie versprochen bekommt meine Weihnachtsratte wöchentlich pünktlich frische Streu. In Hameln klingen die Festlichkeiten ohne besondere Vorkommnisse aus. Die Nachricht aus Uppsala jedoch, nach der die isolierte Erbsubstanz altägyptischer Mumien geklont sich zu vermehren beginne, träumt mir in Fortsetzungen und gibt den Watsoncricks, kaum sind sie angelandet, frühgeschichtliche Profile: wie aus des ersten Ramses Zeit stehen oder schreiten sie statuarisch, die Schultern eckig, Hände, Füße der Bauchnabel stilisiert; und selbst ihre Rattenköpfe waren wohl ursprünglich im Nildelta heimisch.
Das kann unser Herr Matzerath nicht akzeptieren. Er will die Angelandeten schwedisch geprägt sehen. Doch stimmt er mir zu, sobald ich innerhalb der Zwölfergruppe vier oder fünf besonders erwähne, weil sie Schmuck tragen. Kaum haben sie sich zum ersten Landgang entschlossen, sehe ich Silbergehänge an ihnen, auch Ketten aus Elfenbein, gereihtem Onyx und goldenen Gliedern.
Das ist, rufe ich im Traum, ein aus feinem Silberdraht gewirkter Gürtel, den ich zuletzt in Damrokas Seesack zwischen Krimskram gesehen habe; der ist nun jener Hochschwangeren um den Leib nicht zu eng. Und jenes Korallenkettchen, das einer anderen Schwedischmanipulierten unterm Rattenkopf Schmuck ist, schenkte ich einst aber das wird sie vergessen haben der Meereskundlerin, als wir einander noch gut waren. Auch aus der Schatulle der Steuermännin erkenne ich dieses und jenes Stuck wieder, das sie, obgleich es bald aus mit uns war, zu tragen nicht müde wurde. Ohrringe! Eine der weiblichen Rattenmenschen, schwanger wie alle, trägt Ohrringe mit langen Klunkern dran; wenn ich nur wüßte, wem ich wann diese Kostbarkeiten ich weiß noch den Preis auf den Geburtstags-, den Weihnachtstisch gelegt habe oder auf Muttertag... Dazu sagt die Rättin, von der mir träumt: Selbst wenn die Welt unterginge, würden deine Weibergeschichten nicht aufhören. Schau nur genauer hin, Paps! Ringe, die du getrödelt, nach kurzem Handel gekauft, allzeit freigiebig verschenkt hast, tragen nun die männlichen Nippels, am Daumen komischerweise.
Dann greift die Hexe wieder zur Schere, auf daß Rapunzel kahlgeschoren weint. Dann sehe ich, wie Malskat, schon wieder tätig hoch im Gerüst, keine Stilbrüche fürchtet, indem er gotischen Wandbildern altägyptische Strenge befiehlt; dabei ist es ein Selbstporträt, das ihm mit schnellem Pinsel gelingt: jung und ein wenig eulenspiegelhaft zwängt er sich zwischen zwei schon fixfertig gemalte ältere Herren, denen die ägyptischen Akzente gut zu Gesicht stehen. Dann träume ich Post, in Travemünde gestempelt. Dann sehe ich unseren Herrn Matzerath, wie er die Grimmbrüder unter Vertrag nimmt. Dann schlägt die Kuckucksuhr zwölfmal. Und nun gehen abermals die Watsoncricks unter Glockengeläut an Land...

D ASELFTEKAPITEL, indem die Gekommenen
seßhaft werden, der Dornröschenschlaf schrecklich endet, in HamelnDrillinge überraschen, imLübecker Bildfälscherprozeßgeurteiltwird, die Speicherinselzu eng ist,unser Herr Matzerath wieder einmalalles vorausgewußt hat, die Watsoncricks Ordnung schaffen und -weildie Post gute Nachricht bringt Musik tröstet.

Unsere Träume heben sich auf. Beide sind wir hellwach
uns gegenüber gestellt
bis zum Ermüden.

Mir träumte ein Mensch,
sagte die Ratte, von der mir träumt.
Ich sprach auf ihn ein, bis er glaubte,
er träume mich und im Traum sagte: die Ratte, von der ich träume, glaubt mich zu träumen; so lesen wir uns in Spiegeln
und fragen einander aus.

Könnte es sein, daß beide, die Ratte und ich
geträumt werden und Traum dritter Gattung sind?

Am Ende, sobald sich die Wörter erschöpft haben, werden wir sehen, was wirklich
und nicht nur menschenmöglich ist.

Sie sind blauäugig. Langsam gewinnen sie Gestalt. Sie werfen Schatten und haben Eigenschaften, darunter komische. Wenn wir soeben sagten, sie sind, von den Köpfen und partieller Behaarung abgesehen, menschlich proportioniert und gehen ordentlich aufrecht, sagen wir jetzt: Ihr fellartiger Haarwuchs ist blond, weshalb die blauen Augen den übergroßen Rattenköpfen nicht fremd zu Gesicht stehen; sowohl weißhaarigen wie rotäugigen Laborratten hat sich die Zutat schwedischer Gene so typisch mitgeteilt, daß die skandinavische Herkunft der Einwanderer nicht mehr bezweifelt oder mit exotischen Beigaben vermischt werden sollte: Eindeutig sind sie Produkt jener Außenstelle der Universität Uppsala die Gentechniker dort korrespondierten mit ihren Kollegen in Boston, Bombay und Tiflis -, in der schon frühzeitig angereicherte Zellkernkulturen gespeichert wurden. Weltweit stimmte sich Wissenschaft ab. Deshalb ist die mit Glockengeläut begrüßte Anlandung als Fortsetzung der Humangeschichte zu begreifen. Was der Große Knall relativ kurzfristig unterbrach, konnte überbrückt werden: eine Invasion mehr. Denn wie einst Schiffe kamen, beladen mit Goten, die im Weichselmündungsgebiet Fuß faßten und nach kurzem, eher lustlosem Siedeln von hier aus nach Süden zogen, um ihren Teil der Völkerwanderung abzuleisten, so sind jene in Gotlands Hauptstadt Freigesetzten als eine Kraft zu begreifen, die wie schon jetzt deutlich Geschichte machen wird.
Wer sagte das? Die Rättin, von der mir träumt? Oder sagte ich, was mir vorgesagt wurde? Oder sie, was ich ihr in den Mund legte? Oder sprachen im Traum die Rättin und ich synchron?
Beide sind wir vom Auftritt der Manippels, ihrer penetrant blonden Blauäugigkeit überrascht worden, wenngleich die Rättin der Kommenden Ankunft herbeigesehnt hat, ich sie befürchtet habe. Anfangs retteten wir uns in Gelächter: Sind die nicht komisch, zum Totlachen komisch? Diese Henkelarme! Dieses, bei durchgedrückten Knien, gestelzte Gehen. Wie die Männchen beim Pissen ihr Geschlecht verdekken, die Weibchen sich hocken. Ihre umständlichen Begrüßungen und feierlichen Gesten. Wirklich: Komische Käuze sind sie!
Seit der Anlandung beobachteten wir ihre von den Rattenvölkern unbehinderte Landnahme. Indem sie die Speicherinsel zwischen den Mottlauarmen, mithin geschichtsträchtigen Raum besetzten und auf den Brücken zur Rechtstadt, zur Niederstadt gezielt harnten und Kot plazierten, also auf rattenübliche Weise ihr Revier absteckten, traten sie auf, als seien ihre Ansprüche verbrieft.
So etwa, sagte die Rättin, sagte ich, mögen dazumal die Deutschritter ihrem Orden Platzrecht verschafft haben. Doch weil sie so fraglos von der Speicherinsel Besitz ergriffen, wurden die Gekommenen von den ansässigen Rattenvölkern nicht nur geduldet, sondern als Zeugen höherer Gewalt auch respektiert: aus gehöriger Distanz. Nein, keine Kontaktnahme, kein spielerisches Kräftemessen. Auch keine untertänige Ehrerbietung nach anfänglichem Glockengeläut. Allenfalls kommt man sich neuerdings auf den Brücken nah, wittert einander: fremd.
Wir warten ab. Wir sehen sie alltäglich und werden vorerst nicht klug aus ihnen. Doch sind meine Rättin und ich darin einig: Es geht von den schwedischmanipulierten Rattenmenschen sie sagt betont: Menschenratten in sich ruhende, träge, womöglich dumpfe Gewalt aus, die sich vorerst nicht beweisen muß; man glaubt ihnen auch so, daß sie notfalls bereit sind durchzugreifen: rasch und besonnen, immer dem Anlaß entsprechend, nie maßlos. Sie verkörpern Macht, doch keine blindwütige Gewalttätigkeit. Lässige Disziplin ist ihnen eingeboren. Ohne daß sie was unter Ratten leider notwendig istvon Aufpassern verbissen werden müssen, gehen sie ihrer unmerklichen Ordnung nach.
Die Rättin sagt das, ich bestätige: die Gekommenen sind, nachdem sich das Lachhafte ihres Auftritts verflüchtigt hat, schon, von erschreckender Schönheit. Nicht aus Distanz, nahbei, von den Brücken her besehen, sind sie individuell ausgeprägt, keine identischen Klons, vielmehr ein jeder, eine jede anders schöngeraten. Das Blau ihrer Augen reicht vom lichten, hier wäßrigen, dort milchigen Blau über kühles Metallblau bis zu jener dunklen, sich plötzlich einschwärzenden Bläue, die während der Humanzeit dem heldischen Blick nachgesagt wurde. Dazwischen immer wieder Momente strahlender Himmelsfarbe, ihre uns rührende Blauäugigkeit. Die Rättin und ich sehen sie weizenund semmelblond, goldbis rotblond die Speicherinsel abschreiten: gelassen raumgreifend. Hier stehen sie sinnend vor den Trümmern aus der Zeit des Zwischenkrieges, dort mögen sie nicht ahnen, daß einst, parallel zur Adebargasse, die Münchengasse lang das letzte Judenghetto verlief. Ihnen hängt diese Geschichte nicht an. Nichts müssen sie bewältigen. Auf den Wert Null programmiert und von keiner Schuld genötigt, treten sie auf. Mit Neid sehen wir das.
Etwas Tapsiges ist ihnen eigen. Ein wenig O-beinig stehen sie da. Nicht alle sind glattbehaart. Einigen lockt sich das Fell den Rücken, die Oberarme, die Schenkel lang. Selbst auf den Fingergliedern und Zehen ja, es sind menschliche Hände und Füße, mit denen sie zufassen, Stand finden, sich behelfen kräuseln es lichte Haare. Jene mit glattem Haupthaar tragen es lang und gescheitelt. Auch sind ihre hellbis dunkelblauen Schwedenaugen blond bewimpert.
Ich finde das schön. Die Rättin hingegen meint, sie sehe außer rattigen Zutaten Anteile vom Hausschwein. Indem sie auf fehlende Langschwänze hinweist, wird mir deutlich, daß die Wirbelsäule der Rattenmenschen überm Steiß in zwar kümmerliche, aber doch ablesbare Ringelschwänzlein mündet. Die Rättin sagt das ohne Spott, als sei die Manipulation von menschlichen Genen mit schweinischen und rattigen einem Programm vorzuziehen, das sich auf rattige und menschliche Gene beschränkt.
Gewiß, der drollige Ringelschwanz ist ein Argument. Mehrmals auf ihn verwiesen, läßt er sich nicht übersehen. Dennoch werte ich die reduzierten und überdies gelockten Rattenschwänze anders. Ich weigere mich, sie Schweineschwänze zu nennen, weise auf mögliche Launen der manipulierten Natur hin und bestehe weiterhin auf der neuen Gattung: Rattenmensch oder Menschenratte. Diese Anreicherung ist genug. Nur das Rattige kann oder soll im Humanen sinnfällig werden. Seitdem es uns altgewohnt nicht mehr gibt, sind wir neuerdacht immerhin wieder möglich geworden. Einzig die Ratte, behaupte ich, konnte den Menschen erhöhen und ihn verbessern. Nur diese Genkette überbot die Natur. Einzig dergestalt gelang es, die Schöpfung fortzusetzen. Von schweinischer Zutat zu reden Rättin, ich bitte dich! -, fiele mir schwer. Sie leben als Paare. Eine nicht übermäßige, aber doch spürbare weibliche Dominanz will auffallen. Der weibliche Rattenmensch begnügt sich nicht mit der Aufzucht der Würfe. Nachdem ihre Drillinge oder Vierlinge gesäugt sind, sehen wir die Weibchen nachdenklich schlendern, während die männliche Menschenratte den Nachwuchs hütet. Offenbar ist zu guter Letzt die geschlechtliche Gleichberechtigung doch noch gelungen. Was zu Humanzeiten nicht möglich war und immer wieder Streit in die Wohnküche, ins Schlafzimmer brachte und
bei aller Liebe nicht überbrückt werden konnte, lebt sich nun aus: ganz und gar zwanglos, harmonisch wie gewünscht, wenn auch ein wenig eintönig. So begierig ich bin, in ihrem Alltag Spannungen, beginnende Zerwürfnisse auszumachen, nichts will knistern, kein Funke springt, überzeugend langweilig geht es zu.
Kaum angelandet, haben sie sich vermehrt. Zwar werden sie nicht so rasch wie die ansässigen Rattenvölker zahlreich sein, aber schon paaren sich die ersten Jungpaare, schon sind die Schwedischmanipulierten eine Großsippe, bald werden sie ein Volk bilden. Die Rättin und ich zählen über hundert Blauäugige, die auf der Speicherinsel ihr Revier haben und sich auswachsen wollen. Zwei der fünfgeschossigen Fachwerkhäuser, die nach dem Zwischenkrieg wieder aufgebaut wurden, sind bis unters Dach als Kinderund Jugendhäuser belegt. Noch kennen sie keine Nahrungssorgen, weil alle Speicher mit Vorräten der hiesigen Rattenvölker gefüllt sind: Maiskolben, Kornaufschüttungen, gehäufte Linsen und Sonnenblumenkerne.
Die Rättin, von der ich glaube, sie träume mir, sieht das nicht ohne Bedenken; und ich, der ich von ihr das sagt sie geträumt werde, sorge mich gleichfalls: Jeder Vorrat geht mal zu Ende. Irgendwann bringt das Probleme.
Sie hingegen beklagt Versäumnisse: Wir hätten sie ausrotten, gleich nach dem Anlanden ausrotten sollen. Waren doch nur zwölf. Wäre ein Klacks gewesen, mit denen fertig zu werden ruckzuck.
Im Prinzip gebe ich meiner Rättin recht, und wahrscheinlich war sogar ich es, der aus Sorge um die im Raum Danzig siedelnden Rattenvölker die unverzügliche Eliminierung der Manippels gefordert hat. Jedenfalls stimmen wir überein: der Friede täuscht. Bald wird die Speicherinsel übervölkert sein. Schon ist die vierte Generation der Blauäugigen geschlechtsreif. In den Vorratshäusern sinken die Sonnenblumenkerne von Stockwerk zu Stockwerk. Offensichtlich ist der Vorrat im ehemaligen Raiffeisenspeicher Gerste lagerte dort verbraucht. Immer mehr abgenagte Maiskolben schwimmen in beiden Mottlauarmen. Zwar darben die Rattenvölker nicht, zumal die letzten Ernten überreich ausfielen, aber man sorgt sich dennoch: Was wird sein, wenn alles verzehrt ist? Wohin mit ihnen, wenn sie hungrig und überzählig sind?
Noch bieten ihre Versammlungen ein friedfertiges Bild. Wenn sie am Abend in Gruppen stehen oder Arm in Arm aufund abschlendern, wirken sie harmlos, ganz auf sich und ihre Vervielfältigung konzentriert: eher sanft die Männchen, herrich die Weiber. Wohlgeordnet bevölkern sie die Speicherinsel, als reiche ihnen der Flecken. Streng pfeifen sie ihre Kinder zurück, sobald einige im Spiel auf die Brücken laufen und Reviermarkierungen überspringen: in Richtung Grünes Tor oder am Milchkannenturm vorbei, zur Niederstadt hin, wo unsere Russen hinter Schlammwällen siedeln.
Ihre Aufzucht ist folgsam. Von jung an lernen sie, durch Handheben sich abzustimmen. Sie wollen nichts übers Knie brechen und legen auf gute Nachbarschaft wert. Neutralität ist ihnen eingeboren. Wohltuend skandinavisch benehmen sie sich, als wäre ihnen überdies gentechnisch ein gewisses sozialdemokratisches Verhalten vermittelt worden; das sagen wir uns zur Beruhigung.
Noch nie hat sich ein Watsoncrick auf dem Langen Markt, vorm Rathaus oder Artushof sehen lassen. Frei von Neugierde, reicht ihnen ihr Revier. So sehr wir um ihre und unsere Zukunft bangen, so wenig scheinen sie sich zu sorgen: erhaben ruhen die Manipulierten in sich. Schwindende Vorräte und drangvolle Enge hindern sie nicht, blond und blauäugig mehr und mehr zu werden. Bedrohlich nimmt ihre Schönheit zu: aus allen Speicherluken schimmert sie glatt und gelockt.
Noch erfreut uns ihr Liebreiz, doch auffällig ist neuerdings, daß sich die ausgewachsenen Nippels zu Übungen versammeln. Über die Mottlau hinweg sehen die Rättin und ich, wie sie Kolonnen und keilförmige Formationen bilden. Aufrecht gehend üben sie Gleichschritt. O Gott! Sie marschieren. Sie schwenken links ein, machen kehrt nach rechts, sie treten auf der Stelle, erstarren auf Befehl, werfen den Blick in die befohlene Richtung, schreiten voran abermals. Übers ruhige Wasser hören die Rättin und ich ihre Kommandos. Eine gaumige, wenn man will, gemütlich anmutende Sprache, die mich an das Gebrabbel jener Mitbringsel erinnert, die unser Herr Matzerath für die armen Kaschubenkinder nach Polen einführte; ist mir doch, als hörte ich die Watsoncricks immerfort rufen: Rechtsschlumpfmarsch! Schlümpft um! Im Gleichschritt Schlumpf! Schlümpf zwo drei vier, Schlümpf zwo drei vier, Schlümpf...
Sie kommen! Der Zauberspiegel der Bösen Stiefmutter, vor dessen Bildschirm sich alle im Knusperhäuschen Versammelten drängen, zeigt nie gesehene Raupenfahrzeuge, die den plötzlich offenen Schlund unterirdischer Betonsilos verlassen. Mit schwenkbaren Greifern, dem ausgefahrenen Räumgatter, dem Dorn, den Rammböcken, mit ihren seitlich gelenkigen Saugrüsseln sind sie sagenhaften Drachen ähnlich; deshalb werden sie, wie man Kampfpanzer nach Raubtieren benennt, »Räumdrachen« genannt.
Jetzt walzen die Räumdrachen auf der Autobahn alles Grünzeug nieder und kommen näher und näher. (Unser Herr Matzerath wünscht, daß diese Spezialfahrzeuge, die bisher einzig in Indien und Südamerika für das Abräumen weitläufiger Slumgebiete gut waren, nun aber jedermann vertreiben, der soeben noch die Märchenregierung Grimm feierte, überdies mit Flammenwerfern bestückt sind. Ich spreche mich gegen solch altertümliche Bewaffnung aus, muß aber damit rechnen, daß sich Oskars Frühprägungen am Ende durchsetzen; so tief hat ihn der Einsatz von Flammenwerfern beim Kampf um die Polnische Post beeindruckt.)
Im Knusperhäuschen breitet sich Panik aus. König Drosselbart bangt um seinen Besitz. Die Guten Feen weinen, die Bösen winden sich wie getreten. Jorinde, Joringel versteinert. Als friere es sie, hüllt Rapunzel sich in ihr Langhaar. Wie der Frosch entsetzt von der Dame Stirn in den Brunnen hüpft, kriecht angstschlotternd der Froschkönig aus dem Loch. Mit den abgehauenen Händen verdeckt das Mädchen seine Augen, die nichts Entsetzliches sehen möchten. Und Rotkäppchens Großmutter liest allen, die hören wollen, aus dem Grimmschen Wörterbuch dem Unheil nahe Wörter vor: »Ungemach, Unhold, Ungeheuer, Unglück, Unmut...« aber auch: »unbekümmert, ungestüm, unverzagt...«
Vorerst steht nur Rübezahl mit seiner Keule zum Widerstand bereit. Jetzt auch das Tapfere Schneiderlein und der Standhafte Zinnsoldat. Von den Zwergen bedrängt, pissen etliche mindere Hexen in eilends gesammelte leere Flaschen, die von den Zwergen verkorkt werden. Des Mädchens abgehauene Hände üben technische Griffe.
Beiseite raten Schneewittchen und Rotkäppchen den Kanzlerkindern davonzulaufen: »Ihr solltet nach Hause gehn, Kinder, bevor es zu spät ist!« Aber Hänsel und Gretel weigern sich: »Wir gehören zu euch!«
Inzwischen zeigt der Zauberspiegel, daß die Räumdrachen die Autobahn verlassen haben. Sie nähern sich dem Wald, fallen über ihn her, fressen sich durch, speien hinter sich Kleinholz aus, zerkautes Moos, Wurzelhack. Aus der Kuppel des ersten Räumdrachens zeigt der wachküssende Prinz dem Kanzlergeneral der Notstandsregierung die Richtung. Küsse schickt er dorthin, wo er hinter Dornen sein schlafendes Dornröschen weiß.
Im Knusperhäuschen sind alle immer noch wütend über des verräterischen Prinzen Flucht. Rapunzel schämt sich. Die Hexe, der Zauberer Merlin und die Bösen Feen versuchen, die Räumdrachen mit Verwünschungen und Zaubersprüchen aufzuhalten. Aber alle Bannflüche prallen funkensprühend ab oder verändern nur Äußerlichkeiten: Es wachsen den Spezialfahrzeugen Drachenzähne, rollende Augen sind ihnen eingesetzt, zwischen Dorn und Räumgatter fährt glühend eine gespaltene Zunge aus; auf diese Weise gehört unseres Herrn Matzerath Flammenwerfer doch noch zur Ausrüstung der Räumdrachen.
Von all dem unbetroffen ist einzig der Prinz. Verzückt und wie außer sich wirft er richtungsweisende Küsse. Jetzt erreicht die Kolonne, deren letzter Drachen eine mit Schutzschildern und Visierhelmen bestückte Spezialtruppe transportiert, die Waldlichtung, in deren Mitte das steingehauene Denkmal der Grimmbrüder steht.
Mit Entsetzen sehen die Märchengestalten im Zauberspiegel, wie einer der Räumdrachen den Rammbock ausfährt, Anlauf nimmt, das Denkmal rammt, den Sockel abermals rammt, mit neuem Anlauf die steingehauenen Grimmbrüder stürzt, worauf sie in Stücke brechen, die von den anderen Räumdrachen in den Waldgrund gewalzt werden, auch die uns lieb vertrauten, nun schmerzlich angeschlagenen Köpfe.
Es ist, als wollten im Knusperhäuschen alle Märchengestalten, die der praktischen Gewalt zusehen, mit den Grimmbrüdern im Boden versinken. Die Guten und Bösen Feen rufen: »Wehe den Menschenkindern, sie wissen nicht, was sie tun!« Jetzt zeigt der wachküssende Prinz, der dem Zerstörungswerk anfangs fassungslos zusah und sich dann seine Kappe über die Augen zog, eine neue Richtung an. Doch da die Räumdrachen nicht der Weisung des Prinzen folgen, vielmehr entgegengesetzt ein Ziel ansteuern, wendet sich die Gewalt nicht dem Dornröschenschlaf hinter Dornenhecken zu; vorher soll noch ruckzuck eine Rechnung beglichen werden. Immer tiefer frißt sich die Kolonne durch heilen Wald.
»O weh!« ruft Schneewittchen, »Nun ist mein Märchen bald aus!«
Es jammern Jorinde und Joringel: »Unsere Trauer wird nimmermehr sein.«
Rotkäppchen, das dumme Ding ruft: »Vielleicht besuchen sie uns nur!?«
Rapunzel weiß: »Ohne Märchen werden die Menschen verarmen.«
»Ach was«, sagt Rumpelstilzchen, »wir fehlen ihnen schon lange nicht mehr.«
Über das Gejammer der Untertitel hinweg (in das nun auch unser Herr Matzerath einstimmt: »Dieser schlimme Ausgang bereitet mir Sorge!«) ruft Rübezahl zum Widerstand auf. »Mir nach!« ruft er und schwingt seine Keule.
Alle verlassen das Knusperhäuschen. Die Böse Stiefmutter nimmt ihr Ein und Alles, den Zauberspiegel an sich, in dem soeben noch die Räumdrachen alles zerstörend im Bild waren. Draußen wird der Wolf von der Kette gelassen. Die Bösen Feen nehmen alle Verwünschungen von den verwunschenen Raben, Schwänen, dem Reh, worauf sich eine Horde halbstarker Prinzen verlegen die Beine vertritt, dann zusammenrottet: ängstlich und trotzig zugleich.
Die Zwerge verteilen die Flaschen voller Hexenpisse. Nichts Hilfloseres fällt König Drosselbart ein, als den Standhaften Zinnsoldaten zum General zu befördern. Der Wolf kneift den Schwanz ein, will an die Kette zurück. In den Brunnen flüchten möchte der Froschkönig, doch seine Dame und die Hexe auch hindern ihn, sich zu verdrücken. Vor allen anderen hört das Mädchen ohne Hände den Lärm der immer näherkommenden Gewalt: es stopft sich die Ohren. Hänsel faßt Gretels Hand.
Jetzt brechen sie aus dem Wald, sechs an der Zahl, breit gefächert. Greifer, Dorn, seitliche Saugrüssel fahren sie aus. Rammböcke drohen, die Räumgatter. Zwischen Gatter und Dorn glühend gespaltene Zungen. Schrecklich rollen die Augen. Hinter den Räumdrachen sichert die abgesessene Spezialtruppe, von Schilden und durch Visiere geschützt, das geräumte Gelände. Aus einem der Panzertürme lächelt und winkt der wachküssende Prinz dümmlich den kampfbereiten und doch verlorenen Märchengestalten zu. Sogar Küßchen verteilt er, bis ihn des Kommandierenden Faust in den Drachen zwingt. Aus anderen Luken segnen die Bischöfe das vorbestimmte Geschehen. (Mir ist, als habe sich unser Herr Matzerath, wie von Jugend an gewohnt, mit dem Feind wenn nicht verbündet, so doch gemein gemacht; zwischen den Industriebossen ahne, nein, sehe ich ihn.) »Nieder mit den Märchen!« heißt die Parole des Kanzlergenerals.
Die Sieben Zwerge und weitere Winzlinge und Schrate werfen abgefüllte Hexenpisse wie Molotowcocktails. Zwar explodieren die Flaschen, doch setzen alle Räumdrachen, zusätzlich nun von fratzenhafter Bemalung gezeichnet, ihren Frontalangriff fort. Weit voraus züngeln die glühend gespaltenen Zungen. Rübezahl, der sich mit seiner Keule gegen die Drachen stellt, wird als erster niedergewalzt, danach der Standhafte Zinnsoldat, dann alle Zwerge Winzlinge Schrate, die sich zu spät einzugraben versuchen. Darauf erwischt es alle halbstarken Prinzen, die soeben noch Schwan, Rabe oder Reh waren. Der endlich angreifende Wolf springt, prallt ab, wird zerstückelt. Die Guten und Bösen Feen, König Drosselbart, der schlotternde Froschkönig nebst Dame und Hexe, alle minderen Hexen, Schneewittchen, die Böse Stiefmutter, Rotkäppchen, Jorinde, Joringel, das Rumpelstilzchen und Frau Holle, zum Schluß die Wilden Männer und das Tapfere Schneiderlein, alle alle werden niedergemacht oder wie der fliegende Koffer und die besenreitenden Hexen von Greifern und Saugrüsseln, von gespaltenen Zungen erfaßt, aufgesogen, zerschmettert, entflammt oder wie man auf deutsch sagt eliminiert: hintenraus speien die Räumdrachen, was sie vornweg zu fassen kriegen. Vom Dorn wird der Zauberer Merlin gespießt. Rapunzels Langhaar verfängt sich in der Raupenkette eines Räumdrachens. Das Mädchen mit den abgehauenen Händen geht in Flammen auf, während noch seine Hände bis zu allerletzt hier einen Sehschlitz verstopfen, dort eine Schraube zu lockern versuchen und endlich doch der drachenförmigen Gewalt erliegen. Bis auch sie erfaßt und zerkleinert wird, liest Rotkäppchens Großmutter aus dem Grimmschen Wörterbuch laut gegen die röhrende Gewalt an. »Gnade!« liest sie, »gnädig, gnädiglich, gnadenlos...« Nichts kann die Drachen aufhalten.
Wie nebenbei wird das Knusperhäuschen zerstört. Überall liegen zermanscht, geborsten, entzwei, in Stücken: der Zauberspiegel und Rumpelstilzchens Bein, die Zwergenmützen, des Wolfes geplatzter Reißverschlußbauch und Rotkäppchens Kappe. Verstümmelt des Mädchens Hände, Schneewittchens Sarg in Scherben, zerfetzt das Wörterbuch, ein jeglicher Band...
Ach, wie traurig ist das, wie jämmerlich! (Und wäre er nicht zum Feind übergelaufen, hätte es auch mit ihm ein so trauriges Ende genommen, sagt unser Herr Matzerath.)
Nur Hänsel und Gretel haben überlebt. Das können beide: rechtzeitig davonlaufen. Von den Räumdrachen verfolgt, fliehen sie Hand in Hand durch heilen in toten Wald, bis sie zur wuchernden Dornenhecke kommen, hinter der der allumfassende Dornröschenschlaf anhält.
Hänsel und Gretel verbergen sich hinter gestürzten Bäumen. Der wachküssende Prinz weist dem Kanzlergeneral, den Bischöfen und Industriebossen, die aus den Kuppeln aller anderen Räumdrachen schauen, die neue Richtung an. Aus ihrem Versteck sehen die Kinder, wie sich das regierende Interesse im klassischen Verbund Kapital Kirche Armee durch die Dornenhecke frißt, sie niederwalzt und planiert, bis alles freigelegt ist: die Turmruine mit dem schlafenden Dornröschen, der im Schlaf starre Kanzler und sein erstarrtes Gefolge. Jetzt greift (während sich unser Herr Matzerath aus einer seitlichen Luke davonstiehlt und wieder einmal, als spiele er Kind, schuldlos sein möchte) ein Greifarm des kommandierenden Räumdrachens den wachküssenden Prinzen, hebt ihn aus dem Panzerturm hoch, höher, noch höher, bis zur dachlosen Kammer der Turmruine, wo der Prinz sogleich und ohne Bedenken sein Dornröschen packt, es küßt, wie von Sinnen küßt, wie nie zuvor küßt, verzweifelt und hoffnungsvoll, als gäbe es was zu hoffen, mit einem Dauerkuß wachküßt und nun, freischwebend mit dem wachgeküßten Dornröschen im Arm, vom Greifer gehoben und seitlich aus der Turmruine geschwenkt wird, worauf nach und nach der erwachende Kanzler und sein erwachendes Gefolge ins Bild kommen.
Ach, dieses Märchen geht immer noch auf. Sofort beißt der Kanzler in ein großes Stück Buttercremetorte, das er, solange der Dornröschenschlaf anhielt, im Griff hatte. Kaum erwacht, streiten Experten und Minister altgewohnt ums Detail. Im Nu bringen die Polizisten sichernd ihre Maschinenpistolen in Anschlag. Den begonnenen Satz schreiben die Journalisten fort. Sogleich anlaufende Filmmeter. Sein Stichwort kennt jeder. Wie gelernt, so getan. Alles verläuft, als sei nichts geschehen, ganz normal wie zuvor.
Und wie er noch nach letztem Biß mampft, ruft der Kanzler: »Kinder! Meine lieben Kinder! Es ist ja alles wieder gut. Vorbei ist der böse Spuk. Kommt zurück! Vater und Mutter bitten euch, kommt nach Hause, wo alles heil und wie früher ist.« Da verlassen Hänsel und Gretel ihr Versteck und laufen abermals davon. (Wieder abseits von allem Geschehen, will unser Herr Matzerath diesen immerhin denkbaren Verlauf; und ich stimme ihm zu.) Nicht auf Kommando des Kanzlers, der glaubt, einfach weiterregieren zu können, als gäbe es nicht Generäle Pfaffen Bosse, wirft der Greifer des kommandierenden Räumdrachens den wachküssenden Prinzen und sein Dornröschen weit von sich, so daß beide sogleich zerschmettert sind.
Jetzt überrollt der Drachen das sich im Tode noch küssende Paar, will nun Hänsel und Gretel hinterdrein, will des Kanzlers Kinder fressen und niedermachen; aber die beiden sind weit weg schon und auf und davon...

Das haben wir nicht gewollt,
sagen die tief Betroffenen zu anderen, die gleichfalls zutiefst betroffen sind: soviel Betroffenheit von statistischem Wert. Nie war die Einschaltquote so hoch.

Wir sind bestürzt! rufen Chöre
anderen Chören zu, die zutiefst erschüttert sind. Mehrheitlich, wie sich auszählen läßt,
sind wir bestürzt und erschüttert zutiefst. Danach ist von frisch gewonnener Festigkeit und von Verlusten die Rede,
mit denen man leben müsse, so traurig das sei. Die neue Mehrheit hat wieder Mut gefaßt
und läßt sich nicht unterkriegen so leicht.
Dennoch sollte der Mensch, heißt es in Kommentaren, Betroffenheit zeigen können; wenigstens
nach der Abendschau ab und zu.

Ich versprach meiner Weihnachtsratte, es nicht beim Weglaufen zu lassen, vielmehr einen anderen, womöglich verklärten Schluß zu suchen, den mir unser Herr Matzerath kürzlich, als wir einander wie gewohnt heimsuchten, mit zwei drei Stichworten »Hoffnung schöpfen! Das Wunder nie ausschließen!«
als glückliche Wendung angeraten hat. Dennoch bleibt sie in ihrem Häuschen ungerührt und läßt nur die Spitzen ihrer Witterhaare sehen. Nichts kann sie locken: kein geistliches Konzert, nicht die Wasserstandsmeldungen der Elbe und Saale, schon gar nicht das Echo des Tages; und selbst der Schulfunk für alle, dem sonst ihr Interesse sicher ist, schwatzt ihr kein Aufmerken ab; unser tagtäglicher Existenzbeweis, das Dritte Programm versagt.
Also versuche ich es mit Hameln. Hör zu, Rättlein, dort feiern sie seit Wochen schon. Festreden werden gehalten und Bilder mit Rattenmotiven gezeigt. Auch ich habe Blätter geschickt, die mir zu Dir eingefallen sind und meine Träume abbilden: Ratten, wie sie den aufrechten Gang üben, sich eingrabende Ratten, flüchtende, betende. Eine laufende Ratte vor der turmreichen Kulisse der Stadt Danzig-GdaDsk. Und der Rattenmensch oder die Menschenratte. Mit sattschwarzem Pinsel, mit sibirischer Kohle gezeichnet oder in Kupferplatten mit dem Stichel gerissen, gegraben, ganz fein gestrichelt.. Dabei hätte ich in Hameln lieber erzählt, was vor siebenhundert Jahren wirklich geschah. Doch will man dort von gotischen Punks, die eins waren mit ihren verzärtelten Ratten, nichts hören. Diese traurige Wahrheit paßt nicht ins Festproramm. Sie könnte der Gastronomie, dem Hotelgewerbe schaden. Womöglich ließen sich heutige Punks plötzlich einfallen, mit ihren rosa oder giftgrün gefärbten Ratten doch noch von weither zu kommen, um am Fluß Weser ihrer gotischen Vorläufer zu gedenken: schrill, mit Ketten rasselnd, totenbleich geschminkt und die Bürger verstörend. So würde abermals Chaos in Hameln Quartier finden. Und abermals müßte nach Ordnung gerufen, für Ordnung gesorgt werden. Von Hannover und Kassel herbeigetickert, kämen Hundertschaften, gerüstet mit chemischen Keulen und Wasserwerfern. Ein jeglicher Polizist wäre mit Schild und Visier auf mittelalterliche Weise geschützt. Das will doch niemand: Knüppel frei! Straßenschlachten. Die Siebenhundertjahrfeier könnte aus dem Konzept geraten und Schlagzeilen machen: »Hameln rief und die Punks kamen!« und ähnlich laute Aufmacher.
Nein, diese Geschichte paßt nicht ins Programm. Zu nackt spricht sie wahr. Denn obendrein, Rättlein, soll zwischen den hundertunddreißig gotischen Punks, die im Kalvarienberg eingemauert und verschüttet wurden, des Ratmeisters Lambert Rike jüngste Tochter mit ihrer Ratte besonders lieb gewesen sein; ein stilles und in sich gekehrtes Mädchen von sechzehn Jahren, das Gret gerufen wurde, mit ihren Zöpfen dem Sohn des reichen Wassermüllers Hornemule versprochen war und weizenblond schön beten konnte, flehentlich lang, bis es sich, wie zuvor schon andere Mädchen und Jungs, allgemein in Ratten, besonders aber in eine einzelne Ratte vernarrte. Und diese Gret, des Ratmeisters Jüngste, soll ihre Ratte Hans gerufen und es mit ihrem Rattenhans womöglich gemacht, immer wieder getrieben haben.
Was heißt hier soll und womöglich! Sie trieb es, ließ sich, machte und hat.
Bis dahin war ihr Möslein unangefochten gewesen. Mit Hilfe weltflüchtiger Gebete sperrte sie jeden Gedanken aus, der fingerlang zudringlich wurde. Auf Rufweite allenfalls hatte des reichen Wassermüllers Sohn ihr nahekommen dürfen. Und selbst beim Kirchgang war außer Blicketauschen nichts Kitzliges erlaubt gewesen.
Die Ratte jedoch durfte. Anfangs erlaubte Gret nur spielerisch Einlaß, dann durfte ihr Hans mehr und mehr, schließlich alles und das immer wieder. Worauf des Ratmeisters Tochter schwanger wurde und nach unangemessen kurzer Zeit mit Drillingen niederkam, die, wenngleich klein geraten, wie übliche Hämelsche Säuglinge proportioniert waren und ringsum menschelten, bis auf die allerliebst niedlichen Rattenköpfchen. War das eine Freude im Kreis der hundertunddreißig gotischen Punks. Weil des Stiftsvogtes Sohn, der hieß Hinner, den Schlüssel hatte, fanden nächtens alle durch die Sakristeipforte in die Bonifatiuskirche, darauf zutiefst in die Krypta, wo die drei Söhnchen auf die Namen der Weisen aus dem Morgenland getauft wurden und fortan Kaspar, Melchior und Balthasar hießen. Fromm standen die Buben und Mägdlein in ihrem Plunder ums steingehauene Taufbecken und erlaubten den ihrem Lumpenzeug draufgenähten Schellen kein blechernes Scheppern. Mucksmäuschenstill auch die Ratten, die sie im wirren Haupthaar oder auf bloßer Haut unter Pracherfetzen trugen. Des Stiftsvogtes Hinner sprach, was beim Taufakt zu sagen war. Die anderen bekannten fromm unterm niedrigen Gewölbe: Credo in unum deum...
Danach wurde bis in den Morgen am Ufer des Flusses Weser gefeiert. Aber es wollten die Bürger der Stadt die Freude der gotischen Punks nicht teilen. Noch waren die Wörter »Nukleinsäure« und »Genkette« außer Gebrauch. Vertierte Menschlein und vermenschtes Getier kamen nur im Märchen, auf Fabelbildern und — schlimm genug — beim Hexensabbat, doch nicht in Hameln am hellen Tage vor. Empörtes Geflüster machte die Gassen enger. Graumönche und Weißmönche predigten die Hölle herbei. Schon rotteten sich die niederen Gewerke gegen das ratsherrliche Patriziat. Als nicht nur Gerber und Sackträger, sondern auch Müller und Feinbäcker aufsässig redeten, stand Aufruhr bevor.
Doch sobald die Stadtbüttel handgreiflich werden und der jungen Mutter neugestaltete Säuglinge kassieren wollten, bildeten die Hundertunddreißig einen bedrohlich schützenden Kreis um den niedlichen Wurf. Zudem versprachen sie, nach angewendeter Gewalt in allen Wassermühlen, im Zehnthof des Stiftes und in den Kornhäusern vorm Thytor Feuer zu legen. Schließlich war es der Ratmeister Rike persönlich, der, seiner jüngsten Tochter Schande wegen, zudem von allen Ratsherren, dem Stiftsvogt und dem Hansegrafen bedrängt, einen Pfeifer von weither, aus Winsen an der Luhe kommen ließ, dem besondere Töne nachgesagt wurden. Gegen verbrieftes Versprechen, nach gelungenem Kunststück silbern entlöhnt zu werden, kam er und machte sich mit seinen verschieden gestimmten Flöten den Hundertunddreißig vertraut. Er spielte ihnen, wann immer sie wollten, zum Tanz auf und lehrte sie neue Tänze. Bald wurde er mit Verstecken und Zufluchten bekanntgemacht, so auch mit der geräumigen Höhle im Kalvarienberg, wohin sich die junge Mutter Gret mit ihrem Rattenhans und ihren drei besonderen Söhnchen dem Zugriff der Stadtbüttel und den Totschlägern der groben Mahlknechte entzogen hatte.
Und auf Johannes nahm der Pfeifer, der auch die Sackpfeife bei Atem zu halten verstand, die restlichen Hundertundneunundzwanzig mit seinem Gedudel aus der Stadt, um, wie er sagte, der lieblichen Mutter Gret, ihrem Hans und den drei Kindlein ein Fest zu geben. Er führte sie über Feldwege und Wiesen, durch Niederwald und Haselgesträuch in die Höhle hinein, wo mit Gerstenbier und Fladenbrot, Räucherspeck und Honigwaben gefeiert werden sollte.
Natürlich hatte man auch an die mitgeführten Ratten gedacht. Die mochten Käserinden und Sonnenblumenkerne. In Lumpen und schellenbehängt tanzten die Hundertunddreißig mit ihren Ratten bis lange nach Mitternacht. Des Kaufmanns Amelung Söhne, des Feinbäckers Stencke Töchter, des Ritters Scadelaur Jörg, vieler Gildeherren und Braumeister Kinder verrenkten sich, zappelten. Tanzwütig zwischen ihnen: Gret und ihr Hans. Hüpf-, Stampfund Schütteltänze. Das alles geschah ja in tanzlustiger Zeit. So vernarrt waren die Tänzer ineinander, daß ihnen der Pfeifer gen Morgen nicht fehlte. Der hatte sich, als es besonders hoch herging und nun auch weitere Mägdlein ihre Ratten einließen, davongemacht.
Er soll auf hohem Baum seine Kappe mit Federschmuck geschwenkt haben, worauf geschah, was vorbereitet war. Die Höhle wurde wir wissen es zugemauert, verschüttet und mit Weihwasser bedacht; weshalb man die Söhnchen Kaspar, Melchior und Balthasar dazugezählt von hundertdreiunddreißig Hämelschen Kindern sprechen muß, die am 26. Juni des Jahres 1284 im Kalvarienberg verschwanden und nimmer gesehen wurden.
Zu meiner Weihnachtsratte, die unterm Erzählen ihr Häuschen verlassen und ihre Witterhaare hochgestellt hatte, sagte ich: Übrigens wurde um diese Zeit wenn man nicht Kunsthistorikern, sondern dem Vorleben des Malers Malskat folgt die Lübecker Marienkirche inwendig ausgemalt. Nicht nur Langhaus und Chor, auch Fensterleibungen und Arkadenbögen. So entstanden die Drolerien der Fabelfenster. Sie zeigen Esel und Huhn, wobei der Esel Nadel und Faden führt, das Huhn jedoch Eier ausbrütet, aus denen gewiß das Böse schlüpfen wird. Wir sehen Krebse gegeneinander Schach spielen. Der Fuchsmönch predigt dem Schaf und der Ziege. Warum sitzt am Spinnrocken fleißig der Hirsch? Die fliegenden Vögel im oberen Dreipaß und zwischen den Spitzbögen der Fabelfenster mögen Tauben sein. In einer Leibung jedoch sehen wir über einem medaillongefaßten Jungfrauenkopf ein gleichgroßes Medaillon, das ein langund glattschwänziges Tier mit bärtigem Männerkopf zeigt und dessen Eindeutigkeit kein Rätseln mehr zuläßt: die Hämelschen Einflüsse auf die Werkstatt des Lübekker Chorund Langschiffmeisters sind bewiesen.
Jedenfalls gab die Mutterkirche der Backsteingotik in ihren Wandmalereien Zeugnis schrecklicher Zeit. Und als rund sechshundertachtzig Jahre später abermals ein Maler hoch ins Gerüst stieg, erinnerte er Wunder und Ahnungen, Veitstänze und Totentänze, alle vorgezeichneten Plagen und Schrecken. Nicht mehr lange, da kam, wie es hieß, mit den Ratten die Pest und brachte mit Todesschweiß ein, was ängstlich geahnt worden war...

Der durch Lothar Malskats Selbstanzeige ausgelöste Lübecker Bildfälscherprozeß schleppte sich über zwei Jahre hin und war immer dann ein Publikumserfolg, wenn der angeklagte Ostpreuße seinen Auftritt hatte; doch geben die Verhandlungen vorm Landgericht Lübeck, sobald ich die Anklageschrift sichte oder Protokolle durchs Sieb streiche, wenig her außer Gerede, weil zwar Malskat und sein Arbeitgeber Fey, der eine mit achtzehn Monaten, der andere mit zwei Jahren Gefängnis bestraft wurden, die eigentlichen Täuscher jedoch dem Richter ehrenwert blieben; so schummeln, tricksen, heucheln, lügen und frömmeln sie weiter bis heutzutage. Und auch den staatsmännischen Trugbildnern wurde nirgendwann der Prozeß gemacht. Straffrei gingen sie aus; als sie altersschwach starben, wurde der eine hochgeehrt, der andere halbvergessen begraben. Deshalb wird jener Schummel der fünfziger Jahre, den wir abgekürzt BRD-DDR nennen, immer noch als echt angesehen, während ein Gutteil der Malskatschen Kunst, jene einundzwanzig Chorheiligen in sieben Jochfeldern, die ganz sein eigen waren, im Jahre fünfundfünfzig mit Bürsten und Schrubbern abgewaschen wurden. Weil man jedoch versäumte, nach Art der Bilderstürmer die nun kunstfreien Flächen protestantisch weiß zu tünchen, verraten bis heute trübe Flecken und schmuddelige Placken die Schändung der Malskatschen Zeugnisse.
Ach, hätte man seine Bilder, zumal er die Wahrheit ans Licht brachte, doch stehen lassen und den wahren Schwindel, der nie eingestanden wurde, die Machwerke der Staatsgründer außer Kraft gesetzt. Er, der sein Eingeständnis vor die Richter warf, kam hinter Gitter, die beiden Großfälscher hingegen konnten ungeschoren ihr böses Spiel Staat gegen Staat spielen, Lüge gegen Lüge setzen, Falschgeld gegen Falschgeld münzen und schon bald während eilfertig Malskats gotisches Bildwerk zerstört wurde in Divisionen Soldaten, schon wieder deutsche Soldaten, gegeneinander ins Schußfeld rücken; und das als Erbschaft der Greise, bis heute mit immer mehr Soldaten, mit immer genauerem Ziel, mit der geübten Absicht, es ganz und gar ausgehen zu lassen.
Nein, Rättlein, uns hilft kein Schulfunk mehr. Was soll uns das Echo des Tages, wenn es den Nachhall vergangener Schrecknisse und Verbrechen mit zufälligem Geplapper übertönt? Die Programme löschen sich wechselseitig. Nichts darf haften und schmerzen. Löcherig nur erinnern wir uns: Da war doch was, war doch was, war was...
Nur noch Spuren. Als auf Anweisung der Lübecker Kirchenleitung die einundzwanzig Chorheiligen, grad um die Zeit, als sich die Militärbündnisse gegeneinander unter Vertrag stellten, mehr verschmiert als abgewaschen wurden, gingen neben dem Hauptwerk viele Kleinzeugnisse verloren, die Malskat hier aus Laune, dort seiner gotischen Zeitweil getreu in diesen und jenen Faltenwurf, ins Kapitell geflochten oder dem Ornament unterlegt, wie flüchtig gemalt oder in den Kalkgrund geritzt hatte. Offenbar Zeitgenössisches: Neben den Schnabelschuhen eines Heiligen im vierten Joch lese ich Nagelspuren eine Landkarte ab, auf der zwischen der Insel Rügen, die »Rugia« genannt wird, und der Peenemündung ein Kreuzzeichen Bedeutung hat, denn ihm ist der Name der versunkenen Stadtgekratzt: »Winneta« zugeordnet. Und im gemalten mittleren Kapitell des sechsten Jochs findet sich eine Miniatur, die drei Menschlein mit spitzschnäuzigen Tierköpfen, die zu dritt Flöten blasen, in einem Ornament vereint, das ganz natürlich dem Rankenwerk im Kapitell zuflösse, stünde nicht hinweisend seitlich in Kalkmörtel geritzt: »So geschehn auf joanis vnd paul zu hamelen.«
Deutlich sind es drei Knäblein, die Flöte blasen. Nacket sitzt das Terzett. Der Knäblein Häupter Rattenköpfchen zu nennen, habe ich keine Scheu; doch soll diese späte Entdeckung, diezugegeben auf unscharfen Ablichtungen beruht, kein nachgereichtes Beweisstück für den Lübecker Bildfälscherprozeß sein, zumal Malskat rechtskräftig verurteilt wurde und seine Strafe gutgelaunt abgesessen hat.
Es wurden ihm sogar einige Monate erlassen. Post kam zuhauf. Sein Ruhm glitzerte in schummriger Zeit. Den Skizzenblock und farbige Kreide nahm er in seine Zelle mit, brachte jedoch nur Belangloses zu Papier. Nie wieder Zeugnisse vergangener Schrecken. Kein gotischer Abglanz mehr. Inzwischen ist alles verjährt.

Sie spricht. Oder erlaubt sie mir, indem sie mich träumt, ungetrübt noch immer zu glauben, sie träume mir und habe, damit ich schweige, als Rättin eindeutig wieder das Wort genommen?
Und ist noch immer die Raumkapsel mein Ort? Bleibt diese Umlaufbahn ewiglich vorgeschrieben? Ellipsen träumen, leichte Abweichungen wünschen, einfach aussteigen, als wäre ich nicht angeschnallt.
Sie hockt in der Kuppel der Sternwarte neben dem Frauentor, das zur Mottlau führt. Sie sagt: Dieser Altbau, in dem schon der Astronom Johannes Hevelius am großen Quadranten saß und des Mondes Phasen überwachte, erlaubt uns, sichernd rundum zu blicken, und Rückblicke auch: Wir hätten zuschlagen müssen, schon längst. Bald wird es zu spät sein. Und ich sah, was die Rättin im Rückblick aussprach: So einig wir Rattenvölker uns nach dem Knall gewesen sind Überleben ist alles! -, so heftig stritten wir nach der Reviernahme der Watsoncricks. Unsere Andachten in der Marienkirche fanden nicht mehr zu jener Einfalt zurück, die dich, unseren lieben Freund, vermuten ließ, wir Ratten seien auf katholische Weise andächtig. Abermals zerrüttete uns eifernder, vor und hinterm Altar ausgetragener, die Pfeiler hoch, bis ins Netzgewölbe verschleppter Protestantismus, dieses Humangezänk über den richtigen Weg, diese alle Nasen krausende Rechthaberei, dieses allzumenschliche Entwederoder. Gründlich entzweit, hätten wir uns zerfetzen mögen. Forderten die einen: Fort mit den Nippels! Macht sie fertig, noch heute! hieß die Gegenforderung: Noch nicht. Abwarten. Wir wollen nichts übereilen. Sie jammerte: Dabei hatten wir alle einträchtig auf die Rückkehr des Menschengeschlechts gehofft, in welcher Gestalt auch immer. Trotz glimpflichen Überlebens und wohlgenährt wachsender Vielzahl fehlte der Mensch uns. Und wenn wir jene uralte, bis zur transportfähigen Leichtigkeit geschrumpfte Frau, zu deren Füßen das hutzlige Knäblein hockt, zum Ziel unserer Gebete gemacht haben, dann war es der Wunsch nach des Menschen Wiederkehr, der uns fromm werden ließ. Sogar jene blauweißen Winzlinge schlossen wir ein in unsere Gebete, auf daß sie hilfreich würden, uns ackern lehrten. Unser Gesang, dem du, Herr, gregorianische Qualität abzuhören bereit warst, sollte ihn, nur ihn, den Erlöser herbeisingen, auf daß er kommen möge, unsere menschenfreie Einsamkeit aufzuheben.
Jadoch ja, sagte die Rättin, es stimmt, so ganz und gar einsam waren wir nicht. Es wuchs anderes Getier nach, das uns teils ekelhaft, wie die säugenden Schmeißfliegen, teils Beute im Rahmen der Landwirtschaft war Tauben, Spatzen, Feldmäuse -, doch nichts Menschliches fiel der Natur ein. Als sie dann kamen oh, Herr, wie haben wir das Schiff zitternd herbeigesehnt und in Tagträumen vorgeahnt -, war die Enttäuschung groß.
So nicht! rief erstes Entsetzen. So unentschieden haben wir ihn nicht gewollt. Solche Ausgeburt, mag sie auch blauäugig sein, ist weder noch. Dieses so komische wie schreckliche Gemisch, dem überdies Schweinisches beigefügt wurde, kann unsereins nicht entsprechen und kränkt obendrein das Bild vom Menschen, wie wir es heil immer noch in uns tragen. Dafür, für diesen das mußt auch du zugeben menschlichen Pfusch haben wir nicht überlebt. Denn wenn wir dich in deiner Raumkapsel oder uns beigesellt träumen, bleibst du uns herrlich und beispielhaft.
Mag sein, sagte die Rättin in der Kuppel der Sternwarte neben dem Frauentor, von wo aus die Speicherinsel besonders einsichtig wird, daß unsere Partei zu früh Eliminieren! Ausrotten! gerufen hat; mag sein, daß wir, die Radikalen, zu spontan versucht haben, unsere richtige Erkenntnis in allgemeinen Vernichtungswillen umzusetzen. Jedenfalls wurden sofort Gegenstimmen laut: Abwarten. Nicht aus dem Auge verlieren. Aus ihren Gewohnheiten vorsichtig Schlüsse ziehen und ihre Schwachstellen finden.
Andere hofften und spekulierten: Vielleicht hauen die wieder ab. Vielleicht kümmern ihnen die Würfe weg. Vielleicht sind sie Fehlplanungen nur und in diesem Sinne durchaus menschlich sogar.
Also bezogen wir Merkposten, hier, in der alten Sternwarte, dem Westufer der Speicherinsel gegenüber und in den Schießscharten des Milchkannenturms, die dem Ostufer zugewendet sind. Seit Wochen, Monaten schieben wir Wache, doch nichts trifft ein: weder hauen sie ab, noch kümmern sie weg. Du siehst ja, wie sie mehr und mehr werden, während unser Streit immer verbissener wird. Nicht nur städtisch, auch auf dem Land sind wir parteiisch entzweit. Schon werden die Rüben-, Mais-, Sonnenblumenfelder geteilt. Feindselig sind neue Reviergrenzen markiert. Streit ums Saatgut läßt den Gerstenund Linsenanbau zurückgehen. Beide Parteien legen gesondert Vorräte an. Umschichtig versammeln wir uns in Sankt Marien. Kürzlich wurde beschlossen, daß alle links von der Brotbänkenund der Jopengasse zur Mottlau hinführenden Gassen von uns, alle rechtsläufigen Gassen bis hinterm Vorstädtischen Graben von den Versöhnlern bewohnt werden. Die hören nicht auf, Hoffnungen zu plappern: Vielleicht kann man mit ihnen auf Dauer auskommen. Wenn man sie zufriedenstellt, wird sich die Menschenratte uns anpassen. Schließlich ist sie abhängig von uns. Sie lebt von gespeicherten Vorräten, die wir überschüssig, seit vielen Ernten überschüssig gelagert haben. Wir sollten ihnen zukommen lassen, was sie benötigen. Nennt es Deputat, den Zehnten, oder Tribut. Jedenfalls sollten sie nicht hungern müssen. Hunger könnte sie angriffig machen. Wir Ratten sollten wissen, was Hunger heißt!
Bitter, als stieße ihr jahrtausendalte Erfahrung auf, lachte die Rättin: Hör dir das an, Herr! Die ewiggleichen Sprüche unbelehrbarer Abwiegler und Versöhnler. Wir hingegen sehen klar, allzu klar. Mehr und mehr werden sie haben wollen. Am Ende teilen sie uns zu, was übrig geblieben ist. Auf Rationen gesetzt werden wir sein. Raffgier, ihre Habsucht wird über uns kommen. Das ist das Menschliche an den Nippels. Schlußmachen! rufen wir, machen aber nicht Schluß, sondern beißen uns mit unsereins rum. In der Wollwebergasse, um den Stockturm und hinterm Zeughaus ist es zu Straßenschlachten gekommen, auf dem Land nur zu kleineren Übergriffen bisher.
Und ich sah, wie sie sich befetzten. Bis zum Verenden ineinander verbissen. Der Rattenzähne unverminderte Schärfe. Überallhin, wo ihr Streit in Kampf umschlug, führte die Rättin mich. So streng um die Speicherinsel herum Distanz gehalten wurde, damit den Manippels der Zwist der Rattenvölker verborgen blieb, im Stadtkern hemmte nichts die Parteien. Rattengruppen, die aus dem Zeughaus, das neuerdings, wie auch der Theaterbau nebenan, Lagerhaus ist, Maiskolben und nicht entkernte Sonnenblumen trugen, um diese Feldfrüchte als Zehnten durch die Wollwebergasse, die Langgasse hoch und durchs Grüne Tor auf die Brücke zur Speicherinsel zu schleppen, wurden schon vorm Zeughausportal von Rattenhorden, die aus der Jopengasse einfielen, angegriffen und in Zweikämpfe verwickelt. Dezimiert und geschwächt gelang es nur wenigen Transportgruppen der Versöhnler, sich bis zur Brücke durchzukämpfen: schmale Kost fiel den Manippels zu.
Ich rief: Ein magerer Tribut ist das!
Die Rättin: Immer noch viel zu viel!
Ich: Jedenfalls leiden sie Mangel.
Geschieht ihnen recht! rief sie, tun ja nichts als fressen und rammeln und rammeln und fressen.
Die Speicherinsel sah übervölkert aus. Zwar hatten sie kampflos die in Richtung Strohdeich anschließende Insel zwischen dem Kielgraben und der Mottlau besetzt und im ehemaligen Pumpwerk, sowie auf dem Bleihof zusätzliches Quartier gefunden, dennoch schauten aus allen Speicherluken und Dachfenstern erwachsene und kindliche Watsoncricks. Gedränge auf den Kaianlagen und auf der Chmielna, wie die Polen die Hopfengasse genannt hatten. Aufläufe vor den Brücken, besonders vor der breiten Überführung der Leningradzka, die vormals als Vorstädtischer Graben die Rechtstadt begrenzt hatte. Überall stauten sie sich, nun ausgemergelt und knochig. Ihre anfangs skandinavisch anmutende Gelassenheit, ihr schwedisch-sozialdemokratisches Phlegma war von umsichgreifender Unruhe, von kaum zu bändigendem Tatendrang abgelöst. Was übers Wasser trug: ihre zwar rauhe, doch bisher gemütliche, gaumig verschlumpfte Sprache erfand sich kehlig Flüche und Drohungen.
Und dann sahen die Rättin und ich, wie sie sich formierten. Nicht, daß sie sich bewaffnet hätten, etwa mit Eisenstäben, leicht aus Kellerfenstern zu brechen; unbewaffnet bildeten sie einen Stoßkeil, der im Laufschritt über die Brücke durchs Grüne Tor auf den Langen Markt drang. Ihm folgten Kolonnen: blond, blauäugig, die Rattenköpfe nach vorn gerichtet, als müsse links rechts nichts beachtet werden, als gäbe es einen Willen nur. Natürlich gleichberechtigt: weibliche und männliche Watsoncricks nahmen, ohne Widerstand zu finden, den Langen Markt bis zur Matzkauschen Gasse ein. Mit Doppelposten beiderlei Geschlechts besetzten sie die Beischläge der reichgegiebelten Patrizierhäuser. Ungerührt erlaubten sie, als gehe sie das nichts an, die Flucht der Rattensippen aus den markierten Gebäuden, desgleichen aus dem Artushof, der als Maislager diente, sowie aus dem hochgetürmten Rathaus, das ihnen als Kornlager zufiel; im Rathauskeller lagerten Sonnenblumenkerne und Zuckerrüben. Weiter drangen sie nicht vor. Gleich hinterm löwengeschmückten Rathausportal, das über Treppen zur Langgasse führt, sperrten sie die Gasse mit Betonkübeln ab, die während der Humanzeit, als die Innenstadt Fußgängerzone war, für Blumenschmuck bestimmt gewesen waren. Überdies pißten und koteten sie neue Markierrungen.
Stille danach. Keine heftigen Bewegungen mehr. Sie fraßen langsam in sich hinein. Dann standen lässig und nordländisch überlegsam wechselnde Gruppen um den Neptunsbrunnen geschart. Es sah aus, als wären sie von Gedanken bewegt wie man der ansehnlichen Bronze, einem muskulös nackten Mann mit Dreizack, neuerdings Wasserspiele beibringen könne; einige mimten albern den Meeresgott.
Paß auf, sagte die Rättin, lange halten die nicht still. Das reicht denen nicht. Ein Weilchen, bis ihnen neue Würfe ins Haus stehen, werden sie Ruhe geben, doch dann ist die Langgasse bis zum Tor und zum Stockturm dran, danach das Quartier von der Reitbahn bis zur Ankerschmiedegasse. Vielleicht lassen sie die Vorstadt uns. Aber die gesamte Rechtstadt um Sankt Marien werden sie bis zum Altstädtischen Graben aufrollen; uns bleibt Stare Miasto, wie die Polen das Revier um Sankt Katharinen genannt haben. Dort, desgleichen zwischen Poggenpfuhl und Fleischergasse und in der ohnehin überfüllten Niederstadt, dürfen wir dann zusammenrücken, bis auch diese Reviere geräumt werden müssen. Und danach, wetten, sind Ratten nur noch als Landvolk geduldet, das von den Weichselniederungen bis ins kaschubische Bergland unter Aufsicht ackern und ackern muß, damit die Watsoncricks zu fressen genug haben.
Als ich dem Betrieb zwischen der Speicherinsel und dem Langen Markt stumm zusah und nicht ohne Vergnügen beobachtete, wie mehrere Großsippen aus den Raiffeisenspeichern in reichgegiebelte Patrizierhäuser umzogen, wobei sie stuhlund tischähnliche Möbel schleppten, sagte die Rättin übereifrig, als wollte sie mich von weiteren Menschlichkeiten der Nippels ablenken: Übrigens wandert unsereins wieder. Abermals haben wir Zuzug aus Rußland bekommen. Und neulich trafen erste Einwanderer aus Indien ein. Interessante Nachrichten bringen die mit. Zwar gibt es Kiew und Odessa als Städte nicht mehr, aber auch dort sollen Menschenratten zu Fuß und per Schiff aufgetaucht sein. Gleiche Nachricht von der Malabarküste. Selbst wenn nur die Hälfte dieser Meldungen stimmt, wäre es falsch, einfach wegzuhören. Immerhin wissen wir nun, was anderswo Sache ist. Die indischen Manippels sollen wie unsere beschaffen, doch zusätzlich geflügelt, ja, wie Engel geflügelt sein; von den russischen heißt es: Sie haben ein Vierergesäuge und können sich schneller als unsere Schweden vermehren. Ach, rief die Rättin, hätten wir die nur sogleich fix und fertig gemacht, wie die russischen Watsoncricks, die grusinischer Herkunft gewesen sein sollen, gleich nach der Anlandung erledigt wurden. Zwischen den Trümmern der Stadt Odessa hat unsereins sie zu Tode gehetzt. Die in Kiew hingegen sind mächtig geworden. Es sollen, so unglaublich das klingt, US-Produkte sein, die kurz vor Schluß der Humanzeit subversiv eingeschleust wurden: ziemlich massive schwarze darunter.

Das alles hätte unser Herr Matzerath gerne zum Videofilm verarbeitet. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, daß seine Firma das wunderbare Überleben der Rattenmenschen und deren Fortentwicklung in vorproduzierten Kassetten demnächst bereithält; wie Oskar den hundertundsiebten Geburtstag seiner Großmutter Anna Koljaiczek bis ins geringste kaschubische Detail vorgewußt, mit Hilfe der Firma Post Futurum produziert und der Geburtstagsgesellschaft, bis auf die Schlußsequenz, zur Ansicht gebracht hat.
Er weiß, wie man Zukunft einfängt. Geschmäcklerisch versteht er es, Kommendes vorzukosten. Den Vorschein, von dem Bloch sprach, setzt er in Szene. Doch muß unser Herr Matzerath alles, nicht nur sich und seine korrekt gekleidete Fragwürdigkeit, nein, alles was geschah, geschieht und geschehen wird, historisch einbetten, so auch den Anteil der Rattenmenschen am Verlauf der posthumanen Geschichte. In seinem Videofilm, der wie angekündigt in großer Auflage vertrieben werden und den Videomarkt überschwemmen soll, umschifft »Die Neue Ilsebill« nicht etwa schnurstracks die Halbinsel Hela, um Kurs auf die Danziger Hafeneinfahrt zu nehmen, vielmehr muß das Wrack warten, damit jene Goten, die vor mehr als tausendfünfhundert Jahren durch Losentscheid ausgesiedelt wurden, sich auf Wanderung begeben können. Vom Weichselmündungsgebiet bis ans Ufer des Schwarzen Meeres verfolgt sie unser Herr Matzerath. Ins entlegene Hispanien und den italienischen Stiefel runter zieht er mit ihnen. Und immer räumen Ratten wechselnde Lagerplätze ab, sind Ratten diversen Schlachtfeldern beigesellt. Die auf den 26. Juni 1630 datierte Anlandung des Schwedenkönigs Gustav Adolf, auch »Lew aus Mitternacht« genannt, muß gleichfalls herhalten, um den Auftritt der Rattenmenschen vorzubereiten. Da unser Herr Matzerath immer wieder, als müsse er das Kleinwüchsige seiner frühen, das Bucklichte seiner späteren Existenz aufheben, großzügige Panoramen entwirft und Weitläufigkeiten Punktumgeschichten vorzieht, hat er des Schweden Anlandung auf Usedom wer zählt die Schiffe, wer die Segel? mit Satzkaskaden aus des Großmeisters Döblin Roman »Wallenstein« kommentiert; indem der Videofilm beidhändig ausholt, entreißt er einerseits der Vergangenheit in Fetzen Geschichte, und stiehlt er andererseits der Zukunft den kühnen Entwurf.
Selbstverständlich machen auf Gustav Adolfs Schiffen Ratten die Überfahrt mit. Noch ist es die Schwarze Hausratte und nicht die graue Wanderratte, die Europas Geschick bestimmt. Und selbstverständlich gehen mit den schwedischen und finnischen Bauernsöhnen Ratten an Land, um fortan bei Nördlingen und Lützen, bei Wittstock auch, wo immer der Krieg verlängert wird, geschichtsträchtig zu sein.
Daß nun auch noch im Jahre nullvier des russischen Admirals Rosjéstwenski Baltische Flotte im Hafen und auf der Reede von Libau ankert, damit wir sehen, wie eilends Ratten das anrüchige Geschwader verlassen, mag einigen Betrachtern des demnächst käuflichen Videofilms als überflüssig erscheinen, doch wollte der Produzent der Kassette nichts auslassen. So ist er nun mal. Immer das noch und das. Sogar schwermütig singen läßt er die russischen Matrosen auf ihren rattenfreien Pötten. Doch jetzt, gut vorbereitet durch grobund feindatierte Geschichte, gehen endlich die Manipulierten an Land. Oder immer noch nicht? Muß abermals dem Vorspann ein Vorspann folgen? Fehlt eine letzte historische Untermalung?
Unser Herr Matzerath wollte sich nicht jene Zeitspanne wegkürzen, in deren Verlauf sein existentieller Bruch markiert wurde. Also sehen wir die brennende Stadt Danzig, Flüchtlingstrecks und die Flucht übers Wasser. Überladene Schiffe sollen Zivilisten, Parteischranzen, verwundete oder noch heile Soldaten vor der anrückenden Sowjetmacht retten und in westliche Ostseehäfen bringen. Die »Wilhelm Gustloff« sehen wir am 30. Januar 1945 zwölf Seemeilen querab Stolpmünde mit über fünftausend Menschen, die »Steuben« am 10. Februar mit über dreitausendfünfhundert sinken. Drei Fahrten, nach denen sich siebenundzwanzigtausend Flüchtlinge als gerettet sehen, macht die »Cap Arcona« und kentert dann brennend vor Schleswig-Holsteins Küste mit fünfeinhalbtausend Häftlingen aus dem Konzentrationslager Neuengamme an Bord. Falsch orientiert griffen britische Bomber an. Das geschah am dritten Mai, fünf Tage vor Ende des Zwischenkrieges. Doch auch diese Episode wird von den Ratten wahrgenommen. Keine will die »Wilhelm Gustloff« auf letzter Fahrt begleiten. Und kaum ist die »Cap Arcona« mit KZ-Häftlingen belegt, sehen wir, wie tausend Ratten und mehr das vom Unglück bestimmte Schiff, wie es geschrieben steht, eilig verlassen. Er läßt nichts aus. Das alles, auch Menschen und Ratten auf letzten Fährprähmen und Küstenschiffen unter ihnen der Lastewer »Dora« zeigt unser Herr Matzerath. Indem er nun dem Geschehen vorgreift und mit dem Auslaufen des Forschungsschiffes »Die Neue Ilsebill« die knappe Zeit vorm Großen Knall einblendet, folgt er seiner Video-Dramaturgie, die alles gleichzeitig weiß.
Endlich erleben wir die fünf Frauen filmisch vor Visbys Forschungsinstitut für Gentechnologie. Wir hören Rufe, sehen Scheiben splittern. Vor unseren videosüchtigen Augen werden Käfige geöffnet. Wir freuen uns mit den befreiten Tieren. Anfangs sieht es aus, als werden nur Normaltiere freigesetzt, doch wer genau hinsieht, bemerkt, daß außer ihnen ein gutes Dutzend Freiheit gewinnt, dem etliche Testreihen angeschlagen sind: Mensch und Ratte, Ratte und Mensch über Gene miteinander verkettet, perfekte Watsoncricks, die sogleich den Weg zum Hafen finden.
Das zeigt unser Herr Matzerath in seinem Film, der übrigens betont sachlich »Davor und danach« heißt, ausführlich: Wie die Rattenmenschen, ein jeglicher knapp meterhoch, die Kaianlagen erreichen; wie sie ein Zollboot streng bewacht finden, ihnen ein Ausflugsdampfer wenig geeignet erscheint und ihnen endlich die »Ilsebill« gefällt; wie sie Proviant aus Lagerschuppen rauben, bepackt an Bord gehen und ihnen ein Niedergang offensteht; wie achtzehn oder neunzehn durch eine Luke kriechen und zwischen dem Holzund dem Eisenboden des ehemaligen Lastewers Zuflucht finden.
Die Rattenmenschen im Film sehen aus, als hätte ich sie geträumt. Und wie nun die fünf Frauen gleich darauf das Schiff bemannen, sehe ich, daß auch unser Herr Matzerath die Kapitänin schön befunden hat. Sie gleicht meiner Damroka und auch die anderen Frauen sind mir im Film nicht fremd. Wir sehen das Schiff ablegen und auslaufen.
Von nun an verläuft die Videogeschichte schnurstracks. Was Gustav Adolf vormachte, will »Die Neue Ilsebill« wiederholen: sie nimmt Kurs auf Usedom. Was Gustav Adolf versäumte, ist den Frauen Verheißung und Reiseziel: Sie ankern überm Vinetatief und lassen die Küstenkontrolle über sich ergehen, ohne daß die DDR-Polizisten fündig werden. Hübsch die Filmszene, wie sich die Frauen schönmachen, mit Schmuck behängen, auf Deck flanieren und ihre Lieblingsrollen, lauter Königinnen spielen.
Natürlich hätte unser Herr Matzerath hier abermals mit historischen Einblendungen ausufern können, vielleicht sogar müssen. Doch wie er die Episode mit dem sprechenden Butt, der im Gespräch mit Damroka das nahe Ende verkündet, einfach wegläßt, danach den vielchörigen Medusengesang ausspart und nichts, wie er sagt, »Irrationales« zuläßt, so unterschlägt er auch die Geschichte der versunkenen Stadt und das verheißene Frauenreich, um ohne Umweg zum Schlußpunkt der Humangeschichte zu kommen.
Mag sein, daß Oskar den sprechenden Butt und dessen Visionen als Ablenkung von seiner Existenz empfinden mußte. Mag sein, daß ihn der Medusengesang der Ohrenquallen allzu schmerzhaft an das glastötende Geschrei seiner Kindheitsjahre erinnerte. Vermutlich waren ihm, dem zwar kleinwüchsigen, aber überbetont männlichen Herrn, die Herrschaftswünsche der Frauen suspekt. Jedenfalls sparte er aus, ließ weg, unterschlug und verneinte. Er verbat seinem Videofilm überhöhende Effekte und erlaubte dem Großen Knall, sich wie von heiterem Himmel herab zu ereignen.
Als Schicksal, unabwendbar geschieht es. Niemand hat das gewollt, niemand hat das verhindert. Schuldfragen stellen sich nicht. Auch fehlen Hinweise auf tätige Ratten in Großcomputeranlagen. Alles geschieht aus sich heraus. Wir erleben Blitze und heilloses Licht wie letztgültige Inszenierungen. Wir sehen über Peenemünde, Stralsund und weiter weg die aus anderen Filmen vertrauten Pilze wuchern. Wir könnten annehmen, es sei das alles nur ein Naturereignis, läge nicht unseres Herrn Matzeraths Erzengelstimme trompetenhell über dem Endgeschehen.
Rufen hören wir ihn: »So läuft ab, was seit langem anlief. So geht in Erfüllung, was sich die Menschen gegenseitig versprochen haben. Auf dieses Ereignis hin hat sich das Menschengeschlecht erzogen. So endet, was nie hätte beginnen dürfen. Oh, Vernunft! Oh, Unsterblichkeit! Zwar wurde nichts fertig, doch nun ist alles vollbracht.«
Folgerichtig verdampfen die Frauen an Bord des Schiffes, ohne ihr Vineta gefunden zu haben. Hätte der Vorausschau unseres Herrn Matzerath nicht doch eine milde, immerhin denkbare Fügung einfallen können: etwas Tröstliches? Es hätte seine Dramaturgie eher gesteigert, wenn er dem Butt kurz vor Schluß erlaubt hätte, platt über Vineta zu schwimmen, das schiefe Maul zu öffnen und alle fünf Frauen, meine Damroka voran, von Bord des Schiffes in die Tiefe zu rufen. Es hätte, unter Wasser zwar und allem posthumanen Geschehen entrückt, mit der Gründung von Feminal-City eine neue Geschichte beginnen und das Ende der letzten mildern können. Aber nein! Folgerichtig und streng konsequent: zu nichts mußte ihre Schönheit vergehen. Ich nicht, Oskar hat das gewollt. Seitdem fehlen die Frauen mir schmerzlich. Also treibt das Wrack auf östlichem Kurs trostlos. Doch im Vorschiff rührt sich manipuliertes Leben. Nur für Sekunden zeigt der Videofilm Gestalten auf schwarzem Schiffsrumpf. Auch sie haben Verluste erlitten. Sechs, nein sieben Exemplare der neuen Gattung krepierten und werden nun über Bord geworfen. Zwölf sind geblieben. Man ahnt menschliche Gliedmaßen, ihre rattigen Köpfe. Es gehen vier oder fünf, die offensichtlich weiblichen Geschlechts sind, wie gelernt seemännischer Arbeit nach: sie halten das Wrack auf Kurs. Dann plötzlich flüchten alle unter Deck, weil ein Staubsturm aufkommt. Auch die Watsoncricks fürchten den weltweiten Befall. Einblendungen zeigen, wie schlimm es überall aussieht. Nicht nur Moskau und New York sind zu Staub geworden, nicht nur das Donezbecken, die Poebene und das Ruhrgebiet sind verbrannte Erde, auch Zürich und Bombay, Rio und Kapstadt waren einmal. Hongkong! Das soll Hongkong gewesen sein? Man mag nicht aufzählen, was des Herrn Matzerath Videokunst im Vorgriff hinwegrafft, einebnet, zu Kraterlandschaften wandelt oder in Sonderfällen, wo Kulturgut geschont werden durfte, als Kulisse erhält, Florenz etwa, Kyoto und
wie wir wissen GdaDsk. Doch so weltumfassend der Schlußstrich im Film gezogen wird, so ungehemmt, bei anhaltender Finsternis und Kälte, Staubstürme alles Lebendige tilgen, schemenhaft bleibt dennoch das Wrack im Bild, bis endlich die Sonne nicht mehr verdunkelt ist und Staubstürme belebenden Winden weichen. Einige Nippels sieht man sich räkeln auf Deck.
Ich gebe zu, daß dieser Teil der Matzerathschen Videoproduktion Längen aufweist. Schließlich sind uns filmische Katastrophenauswertungen aus vielen, während der Schlußphase gängigen Kinofilmen bekannt. Nochmals einfallsreich nahm der Homo ludens seinen Ausgang vorweg. Dennoch unterscheidet sich die Matzerathsche Schöpfung, trotz der genannten Mängel, von üblichen Endzeitprodukten. Ihr Vorgriff auf fürsorglich geplantes Nachleben beweist Perspektive. Einleuchtend ist das Finale des Films, das die posthumane Geschichte im Übergang zur neohumanen thematisiert: Mehr noch als im Traum, den mir die Rättin aus ängstlicher Rattensicht kommentierte, wird im Videofilm die Schönheit, ja, der Liebreiz insbesondere weiblicher Rattenmenschen offenbar. Immer wieder wühlt die Kamera in rotblonder, in weizenheller Behaarung; auf Armen, Schenkeln und Brüsten schmeichelt sie flaumig, fellartig dicht liegt sie den Schultern an, flauschig bettet sie kurios anmutende Ringelschwänzlein knapp unterm Steiß, das Haupthaar nicht vergessen. Vom Rattenköpfchen abwärts ach, ihre weißbewimperte Blauäugigkeit! fällt es den Rücken lang glatt, aber auch lockig, so daß mir, dank filmischer Aufbereitung der Lockenpracht, neuerdings meine Damroka in Träumen faßlich wird.
Langsam bis zögerlich: sie ist es, schöngelockt. Und meiner Damroka Bernsteinkette hängt ihr nun an. Ach, lieber Herr Matzerath, wie wünsche ich mir den Sieg der Watsoncricks über die niederen Rattenvölker! Und schon nimmt mein Wunsch Gestalt an und erlaubt zaghaftes Hoffen...
Jedenfalls sagt die Rättin, was auch der Videofilm ortskundig vorauswußte: Nach der Anlandung bei Glockengeläut nehmen sie Revier nach Revier, die gesamte Rechtstadt zwischen Vorund Altstädtischem Graben in Besitz, ohne Gewalt übrigens, kraft gelassen bewiesener Autorität. Sie vernichten die Rattenvölker nicht, drängen sie nur, eigenen Bedürfnissen folgend, beiseite. Selbstverständlich, nicht fordernd nehmen sie Anteil an Gerste-, Mais-, Sonnenblumenvorräten. Bei der Lagerung und Verteilung der städtisch zentral gehäuften Vorräte sind sie ordnend und planend behilflich.
Die Rättin gibt zu: gerecht, wenn auch nach zunehmend längeren Wartezeiten, wird ausgeteilt. Weiterhin bleibt den Rattenvölkern der Besuch der Marienkirche, ferner der Kirchen Sankt Katharinen, Birgitten, Trinitatis und Nikolaus erlaubt. Bei ihrer Gesetzgebung, die gaumig bis kehlig, aber auch anheimelnd verschlumpft gesprochenes Recht verkündet, fällt allgemein Toleranz auf: Nicht mehr dürfen die Katholischen das letzte Wort haben; es ist allen Ratten die Ausübung jeglicher Religion gestattet. Also beten sie wieder auf verschiedene Weise. So geregelt verläuft hinter begrünten Schlammwällen städtisches Leben; die ländlichen Reviere lassen sie, bis auf gelegentliche Kontrollgänge, außer acht. In Kartuzy, Tczew und Novy Staw, das vormals Neuteich hieß, haben sie Außenstellen errichtet.
Alles in allem führen die Schwedischmanipulierten und die kaschubischen Ratten sowie die zugereisten kürzlich wanderten afrikanische Großsippen ein auf verträgliche Weise ein harmonisches Leben, das unser Herr Matzerath, der einerseits verschrumpelt zu Füßen der geschrumpften Großmutter hockt und andererseits mit seinem Dauerkatheter fortexistiert, gerne der Zukunft vorbehält.
Nachdem er mir seinen Videofilm »Davor und danach« exklusiv gezeigt hatte, sagte er: »Wenn wir demnächst meinen sechzigsten Geburtstag feiern, möchte ich mit Ihnen gerne Ihre liebe Frau unter den Gästen sehen.«

Als gäbe es kein Telefon, per Postkarte wurde mir das Einlaufen des Schiffes in den Hafen von Travemünde gemeldet: »Brief folgt.«
Im folgenden Brief steht besorgt viel Liebes: neben der Wolldecke fürs Doppelbett sei ein Pullover für mich fertig geworden. Weiterhin lese ich: Wie geplant hätte die Schiffsreise ihren Verlauf genommen. Sogar die Küstengewässer der DDR wären ohne besondere Schwierigkeit zu befahren gewesen. Allerdings habe man weder Greifswald noch Peenemünde anlaufen dürfen. »Zuviel Konservenkost! Abends wurde oft Chormusik a cappella gehört.«
Weiter sagt der Brief, daß der Forschungsauftrag annähernd erfüllt worden sei. Zwar müsse ein weiteres Zunehmen der Ohrenquallenbestände befürchtet werden, doch könne man nicht oder noch nicht von einer Verquallung der Ostsee sprechen. Bei andauerndem Algenbefall bleibe jedoch ein regionales Umkippen als Gefahr weiterhin angezeigt, überm Flachwasser stinke die See. »Ich jedenfalls habe vom Quallenzählen die Nase gestrichen voll.«
Ich lese im Brief, der der Postkarte folgte, natürlich hätten sich Spannungen an Bord nicht vermeiden, lassen. »Was ich vorausgesagt habe: viel zu eng ist der Kahn!« Natürlich seien olle Kamellen wieder mal aufgewärmt worden. Rückblickend sei das Verhalten der Steuermännin, die immer, selbst wenn es krächze, die erste Geige spielen müsse, besonders ärgerlich. Trotz heftigem Wortwechsel mit der Maschinistin »und zwar in Visby, beim Landgang, wo sie uns alle ins Kino geschleppt hat, irgendein Amischinken lief: Monstren, halb Tier, halb Mensch...« sei mit ihr auszukommen gewesen. Enttäuschend das Verhalten der Meereskunden: »Die kennt ihre Arbeit nur.«
Alle drei, sagt der Brief, seien in Kiel schon von Bord gegangen. »Die Steuermännin hat Termine beim Oberlandesgericht: wichtig wichtig! Der Maschinistin steht wieder mal eine Steuerprüfung ins Haus. Natürlich wird die Meereskundlerin dringend im Institut erwartet. Hatten es eilig auf einmal die Damen. Nur die Alte hat bis zum Festmachen in Travemünde ausgehalten und zum Schluß noch das Deck und die Back geschrubbt.«
Von merkwürdigen Wolkenbildungen gibt der Brief Bericht und vom verregneten Sommer. Kein Wort übers Vinetatief. Møns Klinten und die Kreidefelsen der Insel Rügen werden »schöner als man sich vorstellen kann« genannt. Sogar ein Bordfest habe man gefeiert: »Nur unter uns natürlich. War ganz lustig!« Und unvermittelt lese ich: »So interessant die Reise trotz allem gewesen ist, die Ilsebill wird dennoch verkauft werden müssen.« Es heißt: Wiederholt gemachte Erfahrung zeige, daß die Frauen noch nicht gelernt hätten, einander auf engem Schiff zu ertragen. »Weiß nicht, wie das kommt! Immer hat es zwischen allen geknistert. Selbst mir sind die zu vielen Weiber an Bord gelegentlich auf die Nerven gegangen.« Zum Schluß finde ich hinter kreisrund angedeuteten Küssen abermals Liebes und die Ankündigung geschrieben: Es wolle meine Damroka demnächst wieder ganz zurück zur Musik.

Nicht meine Ratte, ein schwarzes Klavier
träumte mir, das, von Kakteen überwuchert nach Europa, wo es verboten war, Klaviere zu halten, überführt werden wollte.
Und in Europa, träumte mir,
fand sich eine letzte Pianistin,
die ihre Finger nicht von den Kakteen und so weiter lassen konnte.

War kein Klavier, ein Bechsteinflügel war es, der schwarz, doch nun grün überwuchert nach einer Pianistin
herkömmlich europäischer Schule schrie.

Den Deckel über den Tasten legte sie mit der Schere frei und unten im Dickicht
beide Pedale.

Sie spielte in meinem Traum nur kurz von Bartók was: schnell langsam schnell. Dann wucherten neu die Kakteen; und alles war grün wie in Brasilien zuvor.

Als mir wieder die Rättin träumte,
erzählte ich ihr. Deine Kakteen, sagte sie, sind Einbildung nur, der Bechsteinflügel hingegen ist eine Orgel, die überlebt hat.

Da hörte ich in Sankt Marien Bach: laut leise gewaltig. Das Kirchenschiff mit Ratten gefüllt.
Die Organistin jedoch
war schöngelockt über die Schultern lang.

DAS Z WÖLFTEKAPITEL,indemeineKutschein
die Vergangenheit fährt, zweialte Herren von dazumalreden, eine andere Damroka schöngelockt ist, Museumsstücke gesammeltund Ratten gemästet werden, eine traurige Nachricht das Geburtstagsfest trübt, Solidarno[siegt, doch vom Menschen nichts bleibt und sich die letzte Hoffnung verkrümelt.

Nur Hänsel und Gretel entkommen. Alles, was Märchen war und gut oder böse auszugehen versprach, haben die drachenähnlichen Spezialfahrzeuge niedergewalzt, zermanscht, kleingekriegt, hinter sich ausgespieen, planiert und allegemacht. Zum Schluß wurde der Prinz, der sein Dornröschen wachgeküßt hatte, worauf vom Kanzler und dessen Gefolge der Schlaf fiel, mitsamt dem erwachten Dornröschen dergestalt in den Waldboden gestampft, daß uns, die wir im Film wie im Leben immer das Nachsehen haben, einzig sein Kußmund geprägt als Fragment bleibt. Zukünftig wird niemand mehr küssen wie er. Kein Dauerschlaf will über uns kommen. Fortan werden sich alle Träume hellwach abspielen.
Das Gelächter der Militärs. »Alles kaputt!« Sie schlagen sich auf die Schulter.
Kein Wunder, daß es weitergeht wie zuvor, nein, schlimmer, weil ohne Hoffnung jetzt. Doch während die Experten streiten, als könne es anders nicht sein, während Minister und Bosse wie gewöhnlich ihre Geschäfte machen und dabei rundum gesichert werden, weil jede Maschinenpistole wieder in Anschlag gebracht ist, während noch die Generäle gesegnet werden, denn auch den Bischöfen fällt Neues nicht ein, und der Kanzler fürs Fernsehen, zudem den Journalisten zur Freude, lauthals »Hansi! Margarete!« ruft, laufen Hänsel und Gretel davon.
Unser Herr Matzerath will das so. Ich stimme ihm zu. Irgendwer muß entkommen. Ganz ohne Märchen will niemand sein.
Das sagen landauf landab alle, doch auf die Frage der Journalisten, »Herr Altkanzler, vermissen Sie Ihre Kinder sehr?«, antwortet nicht der Vater, sondern der Kanzlergeneral: »Wir werden auch diesen Verlust zu verschmerzen wissen.« Obgleich sie niemand verfolgt, laufen Hänsel und Gretel noch immer entsetzt durch den toten Wald, dessen Leichenstarre anhält. Kein Blick zurück, nur weg weg weg... Wie nun die Fernsehleute die Industriebosse mit vorgehaltenem Mikrophon fragen: »Und was soll mit dem Wald geschehen?«, sagt einer der Bosse: »Abschreiben! Wir werden den Wald einfach abschreiben! Wie die Märchen, so werden wir auch den Wald.«
Das bleibt als Untertitel stehen, während Hänsel und Gretel Hand in Hand laufen.
Auf Fragen geben die Bischöfe alles Geschehen, ob bös oder gut, als Gottes Willen aus: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen«, sagt der eine, und der andere sagt: »Es hat wohl so sollen sein.«
Wie auf der Klappe zu lesen steht, die ein Assistent vor jedem Interview schlägt, wird die Fernsehreportage »Hexe tot Märchen aus« heißen.
Nach ihrer Meinung befragt, reden zum Schluß Minister und Experten durcheinander: »Neue Gutachten müssen her!« »Unabhängige selbstverständlich!« »Jetzt müssen Prioritäten gesetzt werden!« »Andere reden vom Wald, wir klammern ihn aus!« »Nicht der Wald stirbt, sondern der Leistungswille!« »Das sind doch Kindereien, Kindereien sind das!« Lachend laufen Hänsel und Gretel davon. Und wie sie Hand in Hand durch den toten Wald laufen, beginnt er mit treibendem Jungholz zu grünen. Sprung nach Sprung verändert sich das abgestorbene Geäst und mit ihm die lachenden Kinder, wie sie hüpfen und springen. Als kämen sie rückläufig voran, sind Hänsel und Gretel nun nach alter Mode gekleidet. In Bundhosen, Schnürschuhen, Strickstrümpfen und langem Rock laufen sie und zeigen unter der Mütze, dem Häubchen wippende Zöpfe, fliegende Locken. Von des Zeichners Ludwig Richter Hand sind sie entworfen; und der Wald grünt, wie ihn der Maler Moritz von Schwind, ein frommer Schöpfer, gemalt hat: Tannendunkel, hochragende Buchen, Eichen, Ulmen, uralter Mischwald, in dessen Tiefe kein Köhler dringt.
So laufen sie, als gäbe es Märchen noch, als werde das Einhorn sogleich, als sei, wo Häher auffliegen, der Specht pocht und Pilze im Kreis stehen, die Hexe nicht fern. Im Unterholz regt sich was. Wieder der Ameisenberg. Wie anfangs, als noch Hoffnung war, ist es ein gülden Haar, das die Waldtaube im Schnabel hält, um ihnen, bei wechselnd gefiltertem Licht, durch Farn, über Moos und Nadelgründe den Weg zu weisen, denn irgendwo geht es hin.
Und wo sich mitten im Wald zwei Wege kreuzen, sehen Hänsel und Gretel, die gar nicht erstaunt sind, eine mit Schimmeln bespannte Kutsche auf der Wegkreuzung stehn. Ohne Kutscher auf dem Bock, vierspännig und mit Silbernägeln beschlagen, als habe sie gütigst der Schloßherr geschickt, wartet die Kutsche.
Die Schimmel schnauben. Ihr Zaumzeug blinkt. Da öffnet sich der Kutschenschlag zum Wiedersehn. Freundlich grüßen Jacob und Wilhelm Grimm, die wie Hänsel und Gretel biedermeierlich gekleidet sind: mit hohen Hüten, gerüschten Kragen, in Jacken aus Sammet, die Taschen und Ärmel mit Schnüren bordiert; wie uns die beiden Herren von vergilbten Stichen her vertraut sind, dazumal, als sie in Hessen und anderswo Märchen zusammentrugen, damals, als der Wald noch Wald war. (Unser Herr Matzerath meint, viel gäbe es jetzt nicht mehr zu sagen.) Ich lasse Wilhelm Grimm dennoch den Satz: »Setzt euch nur zu uns, Kinder!« Und einladend soll Jacob Grimms Untertitel heißen: »In solcher Gegenwart ist kein Bleiben. Wir sind nicht mehr erwünscht.«
Es könnten nun artig Hänsel und Gretel ihren Knicks, ihren Diener machen und zweistimmig sagen: »Ahnte uns doch, daß wir nicht allzeit verloren sind.«
Sie steigen in die Kutsche, die ohne Kutscher, nur von vier Schimmeln gelenkt, nicht etwa vorwärts, vielmehr die Kutsche voran, die Schimmel hinter sich trabend, in die Vergangenheit fährt, deren Verlauf unterhaltsam ist: es begegnet den Reisenden allerlei einfaches Volk.
Links und rechts des holprigen Wegs, der bald den Wald verläßt, dann jedoch, zwischen Wiesen und Kornfeldern, weiterem Wald zuläuft, sehen wir Menschen in alter Tracht, in Lumpen und uniformen Monturen ausschreiten, sich Schritt für Schritt mühen, flott unterwegs, schwer beladen: Das alte Weiblein krumm unterm Reisigbündel, der Mann, der den Bienenstock trägt, die Kiepenfrau, der Bauer, das Kalb am Strick, zwei wandernde Handwerksburschen, die Gänsemagd, der Bettelbub, aber auch landlose Leute und in Ketten Gefangene, die von Soldaten allseits bewacht sind.
Doch wie die Kutsche, in der sich Hänsel und Gretel mit den Grimmbrüdern gefunden haben, rückläufig ist, so treten alle, die ihnen begegnen, Schritt nach Schritt hinter sich: Als werde das alte Weiblein vom Reisigbündel, der Mann vom Bienenstock, des Töpfers Frau von schwerer Kiepenlast und der Bauer vom Kalb mit dem Strick gezogen. Nach rückwärts wandern singend die Handwerksburschen. In den Stall zurück treiben die Gänse die Magd. Hinter sich betteln will fortan der Bub. Und auch die Landlosen und Gefangenen hoffen samt Wachsoldaten, wenn sie einander nur weit genug ins Reich Eswareinmal schleppen und treiben, Land endlich zu finden, besser besoldet und frei von Ketten zu sein. So viel verspricht die Vergangenheit.
Hier könnte der Stummfilm »Grimms Wälder« enden. Wem aber der rückgewendete Schluß des stummen Films vom sterbenden Wald und vom Ende der Märchen zu verheißungsvoll, von Hoffnung geschönt und nicht böse genug ist, der möge, rät unser Herr Matzerath, die Zeitung aufschlagen und lesen, bis daß ihn Zorn überkommt, was des Kanzlers Experten zu sagen haben. Das Märchen von Hänsel und Gretel ist jedenfalls aus.
Ach Ratte, Rättlein! Was bleibt uns noch außer dem Dritten Programm? Wo ist noch Hoffnung? Mit wem zur Hand könnte ich, wenn mir träumt, sagen: Noch sind wir! Es gibt uns! Wir wollen und werden...
Sicher, Malskat ist da. Mitgenommen von so viel vergangener Gegenwart haust er auf einer Insel im Deepenmoor bei Lübeck und nahe der todsicheren Grenze zwischen den Staaten, die einander jeweils ein anderes Deutschland vortäuschen. Als ehrlicher Trugbildner hat er seine Zeitgenossen, die bis zum Schluß Fälscher blieben, überlebt, kümmerlich zwar, aber doch allseits geachtet, während der alte Fuchs und der sächselnde Spitzbart uns bitter aufstoßen.
Und wenn ich, Rättlein, behaupte, nicht nur Malskat, auch unser Herr Matzerath ist immer noch da und produziert marktgängige Videokassetten, solltest du mir, der ich gleichfalls noch bin und nur zeitweilig in meiner Raumkapsel hocke, glauben, daß es so ist. Ich habe dir, was du gerne magst, Käsebröcklein gebracht. Ich beweise mich dir durch Streicheln, Gutzureden, mit frischer Streu. Und auch Damroka, die es wiederum gibt, kommt manchmal mit ihrem Kaffeepott auf einen Sprung vorbei und sieht uns zu, wie wir korrespondieren.
Bliebe einzig die These zu widerlegen, nach der alles Täuschung und Nachglanz nur ist. Es heißt: Wir sind gar nicht mehr, werden scheintätig nur geträumt von einzig wirklichen Rattenvölkern, die uns, die wir mal waren, immer aufs neue erfinden, damit der Mensch den Ratten als Vorstellung nicht ausgeht. Willentlich träumen sie mich, dich, deinen offenen Käfig, die Käsebröcklein und Malskat auf seiner Insel im Deepenmoor, desgleichen Damrokas Kurzbesuche, den medienverrückten Herrn Matzerath und das Dritte Programm, dessen tapfere Sprecher behaupten, es gehe weiter, es lohne zu leben und Schulfunk für alle zu hören. Hoffnung finde sich, wenn auch nur krümelgroß. Alle Gefahren seien abwendbar durch Vernunft und Verzicht und allumfassendes Umdenken. Man müsse nur wollen. Dann lasse sich wiederum Zukunft planen. Bei aller Skepsis, das Jahr Zweitausend komme bestimmt. Es heißt sogar: Man werde die restlichen Wälder mit Schutzhäuten beschichten; man könne unter Glaskuppeln frische Luft für Großsiedlungsräume garantieren; der Hunger ließe sich gentechnisch aufheben; bald wisse man Mittel, den Menschen auf Dauer friedlich zu stellen; auch bequeme die Zeit sich allmählich, voroder nachgeholt verfügbar zu sein; man müsse nur, sagt das Dritte Programm, den Willen haben zum Wollen und umdenken möglichst bald...
So leben wir fort, geträumt von einzig wirklichen Rattenvölkern, deren Geschichte Fortschritte macht. Immer mehr, sagt die Rättin, fällt den Watsoncricks zu. Was unseres Herrn Matzerath Videofilm als Ausblick bot, ist wohlorganisiert tatsächlich geworden: Sie haben im Raum Danzig-GdaDsk ein Abgabesystem entwickelt, das den Menschenratten Nahrung im Überfluß und allen Rattenvölkern, die Ackerbau betreiben, ländlichen Besitz garantiert.
Wie immer man Machtverhältnisse regelt, ohne Eigentum geht es offenbar nicht; eine nunmehr auch posthumane Einsicht. Könnte es sein, daß wir, von Ratten geträumt, auf jene Rattenmenschen, von denen uns träumt, konstruktiv Einfluß gewinnen? Es soll ja vormals, als Mann mit Bart, Gott allen Bildern gefällig gewesen sein, die wir uns machten von ihm. Sie wächst. Meine Weihnachtsratte wächst zusehends. Ich staune. Dabei ist bekannt, daß ordinäre Wanderratten, desgleichen Laborratten während ihrer drei Jahre anhaltenden Lebenszeit immerfort wachsen. Besorgt sehe ich ihrem Wachstum zu. Sie könnte nicht mehr sein eines Tages, erstarrt rücklings liegen, verreckt. Was werde ich mir auf Weihnachten wünschen, wenn es kein Rättlein, nur noch Malskat mit seiner verjährten Geschichte, unseren Herrn Matzerath auf dem Videomarkt, ab und zu Damroka und bei laufendem Dritten Programm mich, aus allen Träumen gefallen, nur mich noch gibt?
Die Rättin behauptet, es sei den Watsoncricks gelungen, das Wasserspiel des Neptunbrunnens und in Sankt Marien das Orgelwerk auch wieder in Gang zu setzen; und kaum aus Polen zurück, will unser Herr Matzerath jene vorproduzierte Kassette, die den hundertundsiebten Geburtstag seiner Großmutter vorweggenommen hat, in den Videohandel bringen.
Die Orgel in der Marienkirche brannte gegen Ende des Zwischenkrieges aus, doch wurde kurz vor Schluß der Humanzeit ein neues Orgelwerk dem geretteten Prospekt der Johanneskirche eingebaut.
Jetzt hat unser Herr Matzerath vor, einen mehrteiligen Film zu produzieren, der sich dem Thema Adenauer-MalskatUlbricht stellen soll. »Fälscher am. Werk« könnte der Arbeitstitel heißen oder »Falsche Fuffziger« nur.
Die Rättin sagt, es gefalle den Rattenvölkern, Orgelkonzerten zu lauschen, die ihnen die Watsoncricks allsonntäglich bieten. Kürzlich soll unser Herr Matzerath den Maler Malskat auf seiner Insel im Deepenmoor aufgesucht haben. Natürlich fuhr unser Herr Matzerath mit Chauffeur im Mercedes vor. »Hol über!« rief Oskar, als er sah, daß keine Brücke zur Moorinsel führt. Malskat holte das bucklichte Männlein mit dem Ruderboot. Der Chauffeur mußte beim Mercedes warten. Im Dritten Programm, das immer Bescheid weiß, ist Bach jetzt dran: Toccata und Fuge F-Dur. Aber auch Buxtehude, sagt die Rättin, ist den Watsoncrick geläufig. Es soll kein Geheimnis bleiben, was sich die beiden älteren Herren auf der Moorinsel zu sagen hatten.
Während der eine in enger Stube dennoch, als wäre ihm kürzester Auslauf genug, auf und ab ging und dabei die Hände beredt verwarf, hörte der andere zu, den ewigen Wollmützenfilz halb über die Ohren gezogen. Der eine sagte: »Eigentlich sollte der sterbende Wald in Produktion gehen, aber Ihr Fall geht vor.« Der andere schwieg.
»Man muß das alles, die Vernichtung der Chorheiligen und Grimms Wälder als Folge und Einheit sehen«, sagte das bucklichte Männlein auf seinem Weg auf und ab. Unter der Wollmütze entfiel dem Maler nur selten ein Wort, allenfalls Handwerkliches zum Detail.
Zwischendurch sprachen beide, wie um Abstand und Anlauf zu nehmen, von ihrer Kindheit. Sie nannten Danzig und Königsberg unvergeßlich. »Entscheidend war«, sagte der eine, »daß mir meine arme Mama zum dritten Geburtstag eine Trommel aus Blech, die weißrot lackiert war, geschenkt hat, worauf ich mein Wachstum einzustellen beschloß.« »Schon als Kind«, sagte der andere, »malte ich viel, wobei mir in meines Vaters Antiquitätenhandel altmeisterliche Tafeln zum Vorbild wurden.« Dann ließen beide ihre Jugend auf sich beruhen und fühlten sich, kaum hatten sie die Kriegszeit mit wenigen Sätzen beendet und die anschließende Schwarzmarktzeit armselig, aber vergnüglich genannt, in den fünfziger Jahren zu Hause.
»Es hätte«, sagte der eine, »jener amerikanische Song, der immer wieder von einem Quartett namens The Platters vorgetragen wurde und dessen Titel Sie erinnern sich gewiß, lieber Malskat recht überzeugend The Great Pretender geheißen hat, durchaus den beiden deutschen Staaten als Nationalhymne dienen können, selbstredend in Plural gebracht.«
»We are the Great Pretenders« sang der eine, worauf der andere einen Karnevalsschlager der fünfziger Jahre vorschlug, nach dessen Wortlaut immer wieder die Frage nach der Bezahlung gestellt wird.
»Unser Film«, sagte unser Herr Matzerath, »der das neue Medium, die Video-Technik der fließenden Übergänge nutzen wird, sollte besonders jungen Menschen, die weder Lug noch Trug ahnen, bildmächtig die Augen öffnen, auf daß ihnen die Ära der Großfälschungen endlich bekannt wird.«
»Ich habe«, sagte der Maler Malskat, »meinen kleinen Anteil am großen Schwindel immerhin selbsttätig auffliegen lassen. Plötzlich hörte der Spaß für mich auf.«
Da sagte, indem er zu längerer Rede bereitstand, unser Herr Matzerath über den Maler Malskat hinweg: »Wir beginnen mit dem Einrüsten gegen Ende der vierziger Jahre, zeigen also, indem wir von Tatort zu Tatort beispielhaft wechseln, wie im Innenraum der Lübecker Marienkirche das große Gerüst wächst, blenden sodann die Vorbereitungen zur Ausrufung des einen wie des anderen Staates ein, hier etwa den Eifer des Parlamentarischen Rates, dort zwischen Pankow und Karlshorst beflissenes Hin und Her, um nun auf drei Ebenen das gesamtdeutsche Fälscherwerk einzuleiten, wobei Russen und Amerikaner nebst Kunstexperten von Anbeginn ahnen, daß jeweils Trugbilder entstehen, doch nicht begreifen wollen, wie glaubwürdig jedem Schwindel, wenn er lang genug dauert, Wirklichkeit zuwächst. Da in der Marienkirche nur rieselnder Farbstaub von alter Wandmalerei zeugt, muß eines ostpreußischen Malers Hand gegen geringen Stundenlohn gotische Säulenheilige aus dem Nichts, nein, aus des Malers Fundgrube schöpfen, die seit seiner Kindheit angereichert ist. Desgleichen erfüllen sich hier frühe Wunschträume von rheinisch-klerikalem, dort von sächsisch-preußischem Zuschnitt. Auf soviel Gelegenheit haben jene Staatsmänner, indianischen Aussehens der eine, biedermännisch der andere, lange warten müssen; es wurde dem Maler mit gotischem Fundus so viel Fläche noch nie geboten. Schon heißen die staatlichen Trugbilder Republik, die Wandmalereien: das Wunder von Lübeck. Zwar werden hier wie drüben, so auch im Gewölbe des Hochchors Hakenkreuze weggemeißelt, zwar löffelt man hier wie dort den hier demokratisch, dort kommunistisch gesättigten Lernstoff, auf daß er eingeht wie Milchsuppe, aber noch lange hallt hinter neuen Fassaden das Geschrei von gestern; es stinken Leichen aus noch so sorgsam vermauerten Kellern; etlicher Lübecker Pfaffen kackbraunes Ansehen bereitet Mühe, in neuer Unschuld gottwohlgefällig zu sein. Doch der Schwindel gelingt! Soeben noch um Nachsicht bettelnde Besiegte haben sich ihrer jeweiligen Siegermacht eingenistet. Was heißt hier Laus im Pelz! Schon sind sie militärisch zurechnungsfähig aufs neue. Sie rufen Bauauf Bauauf! und Esgehtwiederaufwärts! Sie reden von Schuld, wie man von Schulden und Tilgungsraten redet. Bald sind die einen weniger arm als ihre erschöpfte Siegermacht, fest glauben die anderen sich demnächst reicher als ihre benachbarten Sieger; und auch die Wandmalereien in der Lübecker Marienkirche geben weit mehr her als jemals dagewesen. Hier wird nicht gekleckert mit Gotik, hier wird geklotzt. Überall steht, liegt, kniet man ergriffen vor allumfassendem Scheinwerk. Und alle Welt staunt, wie rasch sich eine Niederlage ins Gegenteil kehren läßt. Auferstanden aus Ruinen! Wir sind wieder wer! singt, ruft man und schlägt sich auf die Schulter. Das soll uns mal einer nachmachen. Gestern noch letzter Dreck und heute? Nun ja, ein trauriger Aufstand der Arbeiter verregnete drüben, ein mehr gemurmelter als lautstarker Ohnemichprotest verlief sich hier. Skandale, Peinlichkeiten genug, aber die gibt es anderswo auch. Man muß nur brav sein und der Großsieger Lieblingskind bleiben, niemanden aufs Baugerüst lassen, oft genug vom ersten deutschen Arbeiterund Bauernstaat, von unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung und von der stilbildenden Kraft norddeutscher Gotik sprechen, dann wird der Schwindel allenorts eingesegnet. So geschehen in Bonn, Pankow, Lübeck, wo während der Siebenhundertjahrfeier sogar der Meisterfälscher Adenauer als Kanzler dem Trugbild aufsitzt; oder ahnte der Alte den Schwindel und bewunderte einzig die Machart? >Dat han se jutjemacht!< soll er gesagt und dabei katholisch gezwinkert haben...«
Unser Herr Matzerath hielt ein. Kleine Schritte machte er in Malskats niedriger Stube. Mit knappen Bemerkungen trug er noch dies und das zur Video-Produktion »Falsche Fuffziger« bei: Mode und Geschmack jener Jahre müßten bildhaft werden. Nicht nur die obligaten Nierentische und gähnend leeren Großformate gegenstandsloser Malerei, auch Messerschmitts Kabinenroller und etliche Borgwardkarossen gehörten ins Bild, zudem das Wachstum zweier Armeen. Es möge im Lied ständig bei Capri die Sonne im Meer versinken, Fritz Walter Fußball spielen, und überall müßten in Amt und Würden die Mörder unter uns sein. »Jadoch!« rief er. »Hinter Fassaden muß unentwegt das Verbrechen ticken, diese nicht abzustellende Uhr. Sagen Sie, bester Malskat, es heißt, Sie hätten im Ornament der Kapitelle, desgleichen im Faltenwurf Ihrer Heiligen gelegentlich Ratten, einzeln und paarweise Ratten versteckt...«
Malskat stritt ab. Eine Menge Fabelgetier gewiß, die Truthähne im Kreuzgang zu Schleswig seien von seiner Hand, aber Ratten niemals, die wären selbst im Traum ihm nicht eingefallen.
Besinnlichkeit lagerte zwischen den beiden als Staub ab. Sie dachten sich zurück. Besonders mag es unserem Herrn Matzerath gefallen haben, sein Leben Station nach Station rückläufig aufzuspulen. Dann nahm er die goldumränderte Brille ab, zeigte seine blauen, jedes Wunder durchschauenden Augen, lud unvermittelt den Maler zu seinem demnächst fälligen Geburtstag ein und sagte: »Mein lieber Malskat, Sie hätten den Schwindel auf sich beruhen lassen sollen.« Darauf der Maler: »Mag sein, daß Sie recht haben. Aber ich bin nun mal eine ehrliche Haut.«

Wie in der Kirche das Amen,
alles ist vorbestimmt, weshalb auf vielen Papieren und in Filmen, die spannend sind, unser Ende bereits geklappt hat und nun Legende ist, wie diese Geschichte aus Hameln, die gleichfalls vorbestimmt war.
Als nämlich die Kinder mit ihren Ratten verschütt im Kalvarienberg saßen und die Zeit nicht vergehen wollte, flüsterten sie
einander zu: Das ist nicht das Ende,
Man wird uns suchen und
finden bestimmt.

Die Hämelschen Bürger, die ihre Kinder samt Ratten im Berg vermauert und dann
verschüttet hatten, beschlossen, ihre Kinder zu suchen, taten, als suchten sie wirklich,
begaben sich auf Suche und riefen: Wir werden sie finden bestimmt.

Nur eines der Kinder im Berg sagte zu seiner Ratte: Man wird uns nicht finden, weil niemand uns sucht. Das war schon, das weiß ich, vorherbestimmt.

Ich kann sie zeichnen auf weißem Papier: Die Rättin, von der mir träumt, trägt ihr Haar gelockt und wird zunehmend menschlich. Wenn sie beiläufig sagt, die Herrschaft der neuschwedischen Watsoncricks im Raum Danzig-GdaDsk erweist sich als milde und kommt ohne Härte aus, spricht sie in eigener Sache. Keine Weihnachtsratte, nicht mehr die Rättin mit nacktem Schwanz belebt meine Träume bei Tag und bei Nacht, vielmehr will mich dieser rattige Mensch schöngelockt an Damroka erinnern, die eigentlich auf einem Forschungsschiff mit anderen Frauen verging, dann aber, weil mir eine Postkarte träumte, der ein Brief zu folgen versprach, plötzlich wieder da war: zuhaus.
Sie hört mir geduldig zu. Sie versteht meine Klagen, mein Leugnen ihrer prächtigen Wirklichkeit. In immer neuen Einfällen gefällt sich ihr Haar. Liebster, sagt sie, reicht es dir nicht, nur noch geträumt, einzig von mir geträumt zu werden und fortan außer Verantwortung zu sein, weil du abseits meiner Träume nicht bist?
Angenehm ist es, von ihr, die ich sagt, geträumt zu werden. Sie zeigt mir alles. Die aufrecht schreitenden Neuschweden in den Gassen der Danziger Rechtstadt. Wie sie als Paare mit ihrer Aufzucht wirklich niedlich ist der kindliche Rattenmensch anzusehen vom Langgasser Tor bis zum Langen Markt auf und ab schlendern. Von Normalratten keine Spur. Nur wenn sie als Inspekteure immer zu zweit das Umland, die Weichselniederungen, die Kaschubei bereisen, kommen gewöhnliche Ratten ins Bild.
Freundlich und aufmerksam überwachen die Watsoncricks den Ackerbau der Rattenvölker. Sie raten und wissen viel. Noch immer herrscht Gersteund Maisanbau vor, leuchten weite, gehügelte Sonnenblumenfelder. Immer noch fangen Jungratten, hinterm Fruchtkorb versteckt, Tauben, Spatzen, sonstige Schädlinge weg.
Die Neuschweden sagen: Wir gehen behutsam vor. Schließlich sind es unmanipulierte Ratten gewesen, die nicht nur sich, die auch uns versorgten, die uns, als wir nur wenige und geschwächt waren, hätten vertilgen können. Aber sie nahmen uns an. Zur Ankunft Glockengeläut. Als Menschen in verbesserter Ausgabe erkannten sie uns. Nicht deine Rückkehr, Liebster, war ersehnter Wunsch, vielmehr galt ihr Flehen und Singen unserem Kommen. Du hast mir von Messen erzählt, hast das Beten der Rattenvölker nach deinem Verständnis katholisch genannt. Das ist Unsinn, Aberglaube. Wir haben ihren Versammlungen eine neue, sozusagen reformierte Ordnung gegeben.
Und ich sah die Veränderungen im Innenraum der Marienkirche: Anna Koljaiczek als Mumie mit dem geschrumpften Oskar zu Füßen, desgleichen aller Altarschmuck, die Golddukaten und weißblaue Schlümpfe, die Brille samt Futteral, der Brieföffner, das Gebiß, der schmiedeeiserne Schriftzug Solidarno[, Polens Staatsorden und Oskars Ringe waren verschwunden. Kalte Strenge und protestantische Leere herrschten. Den Dienst am Altar versahen steif und umständlich, als müßten sie einander überwachen, zwei männliche Neuschweden. Doch von der Kanzel herab sprach sie, meine Schöngelockte über alle versammelten Rattenvölker hinweg: in wiederholten Abwandlungen war einzig von Mühe und Arbeit die Trübsinnige Feierlichkeit ging vom Altar von der Kanzel aus, bedrückte, hielt nieder, ließ nicht zu, daß sich die Ratten hätten aufrichten können, so geduckt wurden sie gehalten. Auch war ihrem Gesang nichts Gregorianisches abzuhören. Sie sangen strophige Lieder. Mir war, als hörte ich: Ein feste Burg... oder: Verzage nicht, du Häuflein klein... Doch kamen mir die bekannten Kirchenliedtexte total verschlumpft vorjedem dritten Wort war das Gemaule der Watsoncricks draufgesetzt. Schon fühlte ich mich versucht mitzusingen. Das ist die zweite Lautverschiebung, sagte die manipulierte Damroka ohne verschobenen Akzent, allenfalls rollte sie das R, wie es seit altersher in Vorpommern gerollt wird. Ich fand sie auf der Orgelbank, die, auf neuschwedisches Maß gebracht, mitsamt dem Spieltisch winzig anmutete im Vergleich zu den ragenden Orgelpfeifen. Sie präludierte mit Händen und Füßen, als wäre ihr das Orgelspiel wie Einund Ausatmen gegeben worden; all das hatte mit drei Buchstaben die Zauberformel DNS möglich gemacht.
Während sie Jesu meine Freude variierte, hörte ich Damroka berichten: Übrigens haben wir diese grauslige Mumie und ihren mumifizierten Gnom nicht etwa eliminiert. Du findest beide im hintersten Winkel der Orgelempore, dort kaum beachtet mittlerweile. Wie du weißt, kommen wir ohne Gewalt aus. Wir sind für langsame, schmerzlose Übergänge. Vernünftige Einsicht leitet unser Handeln, weshalb wir das Anbeten der beiden Mumien nicht etwa verboten haben, sondern dulden und an bestimmten Tagen fördern sogar. Zum Beispiel aus Anlaß des Großen Knalls. Jahr für Jahr feiern wir ihn, indem wir die Mumien, wie zum Tag unserer Anlandung auch, den Rattenvölkern zur Anbetung freigeben. Von dieser letzten menschlichen Körperlichkeit geht mittlerweile abschreckende Wirkung aus, die als späte Erkenntnis nützlich ist. Seht, sage ich immer wieder von der Kanzel herab: Nie wieder soll es so werden. Seht, wohin es die Menschen gebracht haben. Diese Mumien sollten uns Mahnung und Warnung zugleich sein. Seht, wie schrecklich!
Und auch auf mich sprach die gelockte Menschenrättin aufklärend ein. Sie sagte, ohne mit Händen und Füßen vom Orgelspiel zu lassen: Indem wir den Anteil Ratte in uns bejahen, werden wir wahrhaft human. Und weil wir unseres menschlichen Anteils bewußt sind, ist uns das Rattige wesentlich geworden. Ursprünglich Menschenwerk zwar, weisen wir über unsere Schöpfer hinaus, denen rückblickend unser Mitgefühl gilt. Sie scheiterten an sich, während wir, dank des Rattigen in uns, zukünftig sind.
Sie gab das Orgelspiel auf, drehte mir die Rattenschnauze aber auch die beiderseits fallende Lockenpracht zu und sagte: Ein Grund mehr, den Rattenvölkern zwar mit Anteilnahme, aber auch distanziert zuzusehen, wenn sie in Gruppen jenen letzten Satelliten auf seiner Umlaufbahn anbeten, in dem du, mein Liebling, den ich mir immer wieder nahbei heranträume, für ewig aufgehoben bist. Wir hören dein Räsonieren. Deine Klagen und Forderungen sind uns bekannt. Dein Geschrei Erde kommen! Antworten, Erde! verführt uns gelegentlich, Witze auf deine Kosten zu machen. Dein abgekapselter Traum, nach dem es die Menschen tätig und voller Ideen weiterhin gibt, teilt sich uns mit. Wir verstehen ihn gut, deinen Zorn. Begreiflich, deine verspätete Reue. Wenn du um deine Damroka trauerst, rührt es mich an.
Mir war, als hätte ich meinen Kopf und mit ihm all meine Einsamkeit in ihr Gelöck betten dürfen, einzig ihr Gelächter verstörte. Immer noch auf der Orgelbank, doch die Hände im Schoß nun, sagte sie: Manchmal lächeln wir allerdings, wenn du immer wieder behauptest, nur deiner humanen Männlichkeit und deinen öden Weibergeschichten komme Wirklichkeit zu, während ich, immerhin deine Geliebte, und alle Schwedischmanipulierten, zudem die uns anvertrauten Rattenvölker dein Traumprodukt seien, austauschbar gegen andere Träume.
Streng plötzlich hörte ich sie: Das muß aufhören! Ausflüchte dulden wir nicht. Es könnte uns einfallen, dich zu vergessen, dich nicht mehr komisch zu finden, anderes als dich, säugende Schmeißfliegen etwa zu träumen. Ich hoffe, du verstehst meinen kleinen Hinweis.
Wir stritten. Ich rief: Die gibt es überhaupt nicht, deine dämlichen Schmeißfliegen!
Sie hielt gegen: Dich wird es demnächst nicht mehr geben! Ich lenkte ein: Ist ja gut, Damroka. Laß bitte diese Drohungen.
Sie blieb streng und zog dabei Orgelregister: Eine Warnung nur, liebster Freund, damit dir klar wird, in welches Loch du fallen könntest, falls ich...
Der Rest ging im Brausen der Orgel unter. Leise, vielleicht zu leise aber sie hörte mich dennoch sagte ich: Nein, bitte, nein. Ich finde dich immer noch schön. Mehr noch: ich träume dich körperlich, mit Haut und Haar sozusagen. Richtig eingesponnen bin ich und verschmust, auch wenn ihr Nippels etwas zu kleinwüchsig geraten seid. Ich gewöhne mich, passe mich an. Sogar dein rattiges Antlitz kann meine Liebe nicht schrekken. Wir sollten näher, noch näher zusammen, damit wir ein Fleisch, wenn nur die Orgelbank nicht so winzig und dein Löchlein so eng...
So hörte ich mich laut über Bach oder Buxtehude, über alle Register hinweg: Ja, dich, nur noch dich will ich und will ich! Liebe, nie habe ich sie so mächtig empfunden. Alles mögliche, dein Gespons, dein Narr, dein himmlischer Bräutigam will ich sein. Zum anknabbern, auffressen, mit Haut und Haar auffressen find ich, hab ich dich lieb ... Aber hör endlich auf, Liebste, mir mein bißchen armselige Wirklichkeit abzusprechen. Die gehört mir. Von der lasse ich nicht, verstanden! Da kannst du schöntun, so rattig du willst. Kaum erwacht, werde ich den Drehknopf bedienen und mich durchs Dritte Programm bestätigen lassen. Das weiß immer Rat, gibt Trost und baut auf Vernunft. Das sagt voraus, was morgen in Brüssel beschlossen wird. Das macht Hoffnung, wenn auch nur klitzekleine, auf demnächst beginnende Dauergespräche. Immerhin läuft hier und da wieder was. Die Zinsen werden gesenkt. Der Papst hat Reisepläne zuhauf. Sommerschlußverkauf wird die Wirtschaft beleben. Und seinen Geburtstag will unser Herr Matzerath feiern, sechzig wird er; ein Fest, zu dem wir, Damroka, ich bitte dich, herzlich geladen sind. Doch du bleibst ungerührt, als sei das alles der Papst, Brüssel, der SommerschlußverkaufEinbildung nur, bloße Fiktion...
Ihr Orgelspiel brach ab. Kein Nachhall. Ich fürchtete mich. Weder sie noch die winzige Orgelbank waren zu ertasten. Wieder in meiner Raumkapsel angeschnallt, hörte ich sie. Schmerzhaft entrückt füllte ihr Bild den Monitor. Mein Stammeln: Aber ich wollte doch nur ein paar mittelfristige Daten...
Dieses gerollte R. Ihre in Vorpommern geprägte Stimme: Red hier nicht Kraut und Rüben. Langsam solltest du wissen, daß es euch, samt Drittem Programm, nur noch in unseren Träumen gibt. Oderbei aller Liebe noch deutlicher: solange wir und die uns anvertrauten Rattenvölker bereit sind, uns an euch, die gottähnlichen Selbstvernichter zu erinnern, gibt es menschliches Getriebe, also auch dich als immer schwächer werdenden Reflex. Übrigens bedauern wir unseren Gedächtnisschwund, dieses Verblassen einst deutlicher Bilder. Wir gehen dagegen an, sind nicht untätig. Vorerst im Artushof, später im Rathaus werden wir ein Museum errichten, in dem Überreste aus der Humanzeit zur belehrenden Ansicht gebracht werden sollen. Noch immer gibt euer Müll viel her. Auch sonst blieb in Kellern, Gewölben einiges ansehnlich: Schreibmaschinen, Telefonapparate, eine Filmkamera, ein heiler Volkswagen, Ersatzteile und Zubehör, ein leidlich erhaltener Bechsteinflügel sogar. Auch soll jene uralte Frau mit ihrem Knirps nicht länger auf der Orgelempore verstauben, sondern als Stück unserer Sammlung endlich zur Ruhe kommen. Und selbstverständlich werden wir, wie schon die Rattenvölker zuvor, alles tun, um die Bausubstanz der Stadt Danzig-GdaDsk zu erhalten. Weiß Gott: Mühe und Arbeit genug.
Nach einigem Betteln und Schönreden, bei dem Zeit unermeßlich verging, durfte ich mich wieder abschnallen und ihr nah sein. Unter ihrer Obhut sah ich das Museum menschlicher Spätgeschichte. Und ich sah Gruppen der Rattenvölker, geführt von belehrenden Watsoncricks, Wendeltreppen hinauf, die Rathausräume durcheilen. Sichtliche Ordnung herrschte. Alles an seinem Platz. Und was gab es nicht alles zu sehen! Schau nur! rief meine Geliebte, die, wie zur Feier, unterm Lockenfall meiner Damroka Bernsteinkette trug, schau nur, was alles von euch geblieben ist.
Einen Zahnarztstuhl sah ich, daneben entsprechendes Werkzeug. Kleincomputer neben einer altmodischen Kaufmannswaage. Viel Kunst, gotische Stücke darunter. Man stelle sich vor: Porzellan! Aber auch leichte und schwere Waffen: Flugabwehrraketen! Daneben die Spielzeugabteilung einladend aufgebaut und von einzelnen und zu Gruppen gestellten Schlümpfen durchsetzt: Den mit dem Beil, die mit den Sensen, zwei, die mit Tennisschlägern Freizeit gestalten, jenen, der mit der Kelle Spielzeugverkehr regelt, den Müßiggänger, den Obstverkäufer, etliche Schlümpfe, die einer sachkundig aufgebauten Kleinsteisenbahn zugeordnet sind und auf dem Bahnsteig warten; alle niedlich wie eh und je. Ich sah Küchengeräte: Mixer und Toaster, sah Polizeizubehör: Schlagstöcke, Handschellen, Helme mit Visier. Restbestände menschlicher Historie mit zumeist deutsch-polnischen Bezügen sah ich: zwischen Orden und Plaketten auch Solidarno[, den schmiedeeisernen Schriftzug, dessen viertletzter Buchstabe noch immer weißrot das Fähnchen hält.
Ach! und auch das noch. Was ich nicht sehen wollte Nun guck schon! rief sie, guck dir das an -, sah ich als Stück meiner Kindheit: jenes zwischen Haff und Ostsee gelegene Konzentrationslager, das Stutthof hieß und nur eines von über tausendsechshundert Lagern gewesen war, breitete sich als Zeugnis der Humangeschichte in modellhafter Nachbildung, nicht die Öfen, keine Baracke vergessen.
Auf dem Rückweg sah ich einen Globus, den die Besuchsratten gerne berührt und bewegt hätten, aber sie durften nicht. Und als ich in der Buchabteilung, wo, wie bei den Musikinstrumenten, viel Andrang herrschte, zwischen vielen, allerdings recht haltlosen Büchern etliche polnische Großwerke, Pan Tadeus, Ferdydurke, entdeckte, hielt ich Ausschau nach ihm und seiner Großmutter. Doch erst im Roten Rathaussaal, wo früher das Zinsgroschenbild Platz gehabt hatte, fand ich als Mumie Anna Koljaiczek und ihren Enkelsohn. Endlich zur Ruhe gekommen. Von brüchigem Stoff halb verdeckt, er ihr zu Füßen. Doch etwas fehlte.
Ich flüsterte mit meiner Liebsten. Sie lächelte, jadoch, jene Schöngelockte, in der ich meine Damroka weiß, lächelte und erlaubte, daß eine leidlich heile Blechtrommel, die mir beim Besuch der Spielzeugabteilung unübersehbar gewesen war, in den Rathaussaal umsiedeln durfte. Zwei Aufsicht führende Neuschweden besorgten das. Oskar bekam, was ihm fehlte. Lachend rief meine Liebste: Wie sagte man früher? Ordnung muß sein!
Später, an anderen Ort entrückt oder genauer, in meine Kapsel gesperrt, hörte ich sie, ohne ihren manipulierten Liebreiz im Bild zu haben: Du siehst, wir geben uns Mühe. Viele Stücke fanden sich im städtischen Bereich, anderes, etwa Scherben kaschubischer Töpferware, wurde zugetragen. Nach unserer Absicht soll das Menschenbild nicht ganz und gar verblassen. So bleibt den Rattenvölkern geradezu auferlegt, sich humaner Größe und Anmaßung zu erinnern; wobei ich einräume, daß von uns Menschenratten oder Rattenmenschen, wie du sagst, gelegentlich Zwang ausgehen muß. Wir ordnen Museumsbesuche an. Da wir die Kernund Kornvorräte unter Kontrolle haben, fällt es nicht schwer, den Vollzug unserer Weisungen zu sichern. Daß wir die ländlich ackernden Rattenvölker durch Vergabe von Besitztiteln wenn nicht abhängig, so doch anhänglich machen, hat Folgen: Schon ist das Land von den Flußmündungen bis ins Hügelland aufgeteilt. Alle Völker stellen Transportkolonnen, denn alle Vorräte werden zentral gelagert. Einzig die Stadt erlaubt Übersicht. Verteilt wird hier. Und wir verteilen. Niemand muß hungern nach diesem System, dessen Devise erträglicher Mangel heißt...
Hier brach sie ab. Sie hatte sich nachdenklich geredet. Nach einer Pause, die mir für Spiele mit anderen Wirklichkeiten blieb
ich rief Termine, ein bevorstehendes Geburtstagsfest auf -, hörte ich sie besorgt: Wir sehen dieser Entwicklung nicht ohne Bedenken zu. Die Gefahr möglicher Rückfälle in allzu bekanntes Humanverhalten ist angezeigt, zumal es uns möglich wurde, Feuer zu schlagen, was, wie du weißt, Folgen haben wird, nein, schon hat. Wir Menschenratten garen, kochen, rösten unsere Maiskolben, desgleichen die Jagdbeute der Akkerratten, die neuerdings total abgeliefert werden muß, weil uns, schier unersättlich, nach Fleisch überm Feuer verlangt. Gewiß, sie tun, was erwartet wird. Aber das reicht nicht, reicht immer weniger. Nur langsam greifen unsere Bemühungen, dem Fleischmangel durch Planwirtschaft abzuhelfen. Meine Ahnung wurde von ihrem Bericht übertroffen: Da in einigen Regionen, besonders auf fettem Marschland, die Populationen übermäßig zugenommen haben, mußte durch Auslese die Verdünnung der Rattenvölker beschlossen werden, vorerst im Weichselmündungsgebiet, wo aus Rußland und Indien zugewanderte Völker siedeln, später wird das kaschubische Hinterland erfaßt, wo Altansässige, mit Deutschstämmigen gemischt, ihre Parzellen haben. Wir konzentrieren besonders kräftig geratene Jungtiere auf abgesondertem Gebiet... Stimmt! rief sie, du hast es erraten: Am Ort unserer Anlandung, wo immer noch das Schiffswrack festgemacht liegt und an Feiertagen besucht werden darf, auf der sogenannten Speicherinsel füttern wir selektierte Jungratten mit ausgewählten Kernund Kornqualitäten bis zur Übersätte und Schlachtreife. Da es uns gelungen ist, Speiseratten weit über Normalgewicht zu mästen, werden wir, selbst wenn außerhalb der Erntesaison Tauben knapp sind, demnächst gut mit Röstfleisch versorgt sein. Seitdem wir Garküchen führen, fehlt uns schon jetzt eigentlich nichts. Immer schmort, brutzelt was. Wir sollten zufrieden sein, uns bescheiden. Dennoch hat, weil die letzten Gersteernten überreich ausfielen, nun doch das Bierbrauen begonnen, wenngleich diese Neuerung im Rat der Neuschweden lange umstritten war. In der Zeughauspassage, auf einigen Beischlägen der Frauengasse und im Ratskeller wird ausgeschenkt. Mit Maß natürlich und immer unter Kontrolle. Gruppenbesäufnisse müssen genehmigt werden und finden unter Aufsicht statt. Doch als kürzlich der Tag des Großen Knalls gefeiert wurde es war der fünfundsiebzigste Jahrestag-, boten unsere Leute den anwesenden Rattendelegationen ein nur noch widerlich zu nennendes Schauspiel: in Horden torkelnd die Langgasse rauf und runter, der Neptunbrunnen verkotzt...
Das alles bereitet mir Sorgen, Liebster, sagte sie und war mir wieder nah auf der winzigen Orgelbank. Sie präludierte. Traurig klang das, nach Passion. Ach, Damroka!

Auf der Suche nach Unterschied zum Getier wird gern als menschliches Sondervermögen die Liebe genannt.
Nicht Nächstenliebe, die Tieren geläufiger als dem Menschen ist, soll hier gemeint sein, vielmehr geht es um Tristan und Isolde, und andere exemplarische Paare,
die selbst unter Schwänen
nicht auszudenken sind.
So wenig wir vom Wal und seiner Kuh wissen,
Szenen wie zwischen Faust und Gretchen
wären diesen Großsäugern fremd,
wenn nicht unnatürlich.
Höher als des Hirsches Brunst steht das Hohelied Salomonis. Nichts Äffisches reicht an die Liebenden von Verona heran. Keine Nachtigall, nicht die Lerche, nur der Mensch liebt um jeden Preis, außerhalb der Saison, bis zum Wahn und über den Tod hinaus.
Wie man weiß, möchten die Liebenden
einander auffressen sogar.
Das stimmt, Liebste: mit Haut und Haaren sogleich. Vorher jedoch und bei Lautenmusik —
braten wir uns ein Doppelstück
saftig vom Schwein.

Ich bitte dich, laß uns die Einladung annehmen. Schau, er hat Karten drucken lassen, ein wenig albern, in Sütterlinschrift. Es soll kein großer Auftrieb werden, nur allernächste Freunde. Dich hat er handschriftlich besonders erwähnt: »... und bringen Sie bitte Ihre Damroka mit...« Kleiden dürfen wir uns nach Laune und Lust. Um Antwort wird gebeten. (Malskat soll abgesagt haben, leider.)
Wir kamen zu früh. Vorerst nur wenige Gäste. Unter ihnen jene langbeinigen Damen seiner Wahl, die allzeit wie zivil gekleidete Krankenschwestern aussehen: soviel ermüdende Fürsorge. Sein Auftritt stand noch bevor. Damroka trug ihr Goldgelbes. Ich hatte mir als Geschenk die in Polen illegal gedruckte Übersetzung seiner Erinnerungen ausgedacht: eine Rarität in zwei Bänden auf armseligem Papier. (Die legale Ausgabe kam kürzlich erst auf den Markt und war rasch vergriffen.)
Nur wenige Herren aus der Produktion, sein Prokurist, die Damen vom Vertrieb, zwei japanische Geschäftsfreunde und etliche Filmemacher mit Namen, die ihm mehr oder weniger verpflichtet sind, unter ihnen ein ewiger Jüngling im Smoking und in Bergsteigerschuhen, der seinem Genie gerne in Urwäldern, Sandwüsten oder wie Luis Trenker einst auf überhohen Bergen Auslauf gibt. Dazu ein Professor besonderer Wahl und ein unrasierter Dichter, der stets finster blickte, obgleich seine kindlich anmutende Begleiterin ein wenig jener Maria Truszinski ähnelt, die als junges Ding, bevor sie Frau Matzerath wurde, gerne Holzperlen als Kette trug. Doch Maria, die tatsächlich kam und zum strammen Kostüm echte Perlen zeigte, nahm ihr Jugendbild nicht wahr, blieb vielmehr um ihren Sohn Kurtchen, diesen dicklichen Flegel besorgt, der sogleich aufs Büffet zusteuerte.
Noch immer stand sein Auftritt bevor. Halblaut wies ich Damroka in die nun annähernd komplette Geburtstagsgesellschaft ein. Den Professor kannte sie schon. »Jener Oberkellner«, sagte ich, »der den zu süßen Sekt serviert, ist sein Chauffeur Bruno und tauglich für alles.«
Anfang September. Draußen Altweibersommer. Durch die Fensterfront zur Veranda sickerte Abendlicht. Damroka mißfiel das Genie in Bergsteigerschuhen: »Der spiegelt sich immerzu.« Über der locker gruppierten Versammlung lag die Stimme des Professors, der wie zu weit größerem Publikum sprach. Mit Bezug zum immer noch abwesenden Gastgeber wies er auf seine grundlegenden Ausführungen zur Rolle des Außenseiters hin. Einer der Filmemacher, dem es vor nicht allzu langer Zeit gelungen war, mit eigener Produktion den Jugendjahren des Geburtstagskindes nahezukommen, bestätigte: Genau das, Oskars exemplarisches Außenseitertum habe er zeigen wollen. Da trat er auf. Nicht wie erwartet durch die Doppeltür, durch einen seitlichen Einlaß, den man Tapetentür nennen möchte, fand unser Herr Matzerath zu seinen Gästen. Verzögert entdeckt, applaudierte man ihm.
Wir sahen ihn verlegen. Er wollte sich keinem Grüppchen gesellen. Jacke wie Hose großkariert. War seine Brille beschlagen? Irritiert suchte er die Versammlung ab, übersah mich, trotz Damroka, vermißte wohl diesen und jenen, Malskat gewiß, gab sich Haltung plötzlich und begrüßte vor allen Gästen Maria, die sich zum Wangenkuß beugen mußte, was seiner zur Matrone erwachsenen Jugendliebe seit eh und je peinlich gewesen ist. Kurtchen futterte fern am Büffet: Lachshäppchen, Krusten vom Schweinebraten.
Danach blieb unser Herr Matzerath umringt. Glückwünsche über Glückwünsche nahm er entgegen. (Jenem Filmemacher, der ihn, auf Anraten des Professors, als Außenseiter erkannt hatte, war er herzlicher zugetan als mir, dem er seinen Dauerkatheter verdankt.)
Und was ihm nicht alles geschenkt wurde! Auf langem Tisch lagerten Päckchen, sogar Pakete ab. Nur flüchtig nahm er wahr, was offen lag, doch schien ihn die polnische Ausgabe seiner Erinnerungen zu erfreuen: »Spät, aber immerhin.« Als ich ihm Damroka, die auch mich überragt, vorstellte und er, den Glatzkopf im Nacken, schräg zu ihr aufblickte, gelang ihm jenes Lächeln, das jedem, den es betrifft, plötzliche Hitze eingibt und dennoch frieren macht. »Ich verstehe«, sagte er, mehr nicht. Dann war er wieder umringt.
Es ließe sich noch viel zum Beginn der Geburtstagsfeier sagen. Etwa: Das bald eröffnete Büffet war in Marias Feinkostabteilung zum Sonderpreis berechnet worden. Oder: Nach Freigabe der Terrasse beeilten sich die Japaner, Gruppenfotos mit dem Geburtstagskind zu knipsen, darunter eines, das Oskar zwischen Damroka und mir zeigt. Oder: Kurtchen erzählte unserem Herrn Matzerath aufdringlich von seinen Schulden, wobei er »Bruderherz« zu ihm sagte. Oder: Ein Spätsommerabend, keine Mücken, Heiterkeit, güldene... Doch drängt es mich nun, Schatten auf dieses Fest zu werfen, so natürlich und nur an den Rändern gekünstelt es zu verlaufen versprach.
Es war Bruno, der die Nachricht auf silbernem Tablett als Telegramm brachte. Sonstige Telegramme und eilige Glückwünsche hatte er bisher auf dem Gabentisch gestapelt, dieses trug er aus. Mag sein, daß Brunos Manier, besondere Botschaften verschleppt, wie gegen Widerstand auszutragen, der Geburtstagsgesellschaft zunehmend Stille befahl; nach mir merkte jener Filmemacher auf, der Oskars Befindlichkeiten zeitweilig nah gewesen ist, dann der Professor, schließlich spürten alle, daß etwas nach fremder Regie geschehen sein mochte. Sagte ich schon, daß unser Herr Matzerath beim Lesen die Brille abnimmt? Er hielt sie seitlich, den kleinen Finger gespreizt. Er las, blickte um sich, war ganz im Besitz alles durchschauender Blauäugigkeit, winkte mit knapper Geste Kurtchen herbei, sagte »Mein Sohn« zu ihm, ferner: »Sie war deine Urgroßmutter« und bat ihn, das Telegramm zu verlesen.
In Matarnia vom Priester des gleichnamigen Kirchspiels aufgegeben, sprach der Telegrammtext den Tod Anna Koljaiczeks aus. Es hieß, sie sei im biblischen Alter entschlafen. Kurtchen war seiner Aufgabe nicht gewachsen, er stotterte, buchstabierte sich durch. »Wir trauern mit Ihnen«, hieß es zum Schluß.
Bruno wird geahnt haben, wie unser Herr Matzerath dem Tod seiner Großmutter zu begegnen imstande war: Er goß allseits so umsichtig nach, daß Oskars Wunsch, man möge mit ihm und im Gedanken an Anna Koljaiczek, das Glas heben, sogleich erfüllt werden konnte. Dann verbat er sich jegliche Kondolenz, ersuchte vielmehr die Gäste, den Fortgang der Feier, so verschattet sie nunmehr sei, als ganz im Sinne der Verstorbenen zu begreifen.
Also blieben die Gäste, nur Kurtchen ging. Alle standen in Gruppen und sprachen gedämpft. Als unser Herr Matzerath bat, sich setzen zu dürfen, stellte sich Maria neben ihn. Wie verloren er im zu geräumigen Sessel saß, die Lackschuhe beträchtlich überm Parkett. Damroka sagte: »Siehst du, sie hält seine Hand.« Marias Geste war nicht flüchtig. Solange er saß, stand sie ihm bei.
Ich weiß nicht mehr, wer außer mir den Professor gebeten hat, zum gegebenen Anlaß zu reden, wahrscheinlich die Filmemacher und der Dichter; jedenfalls sprach er aus dem Stegreif und dennoch dergestalt umfassend, als sollte mit seinem Nachruf auf Anna Koljaiczek die Welt und ihr Zustand erklärt werden. »Wir alle wissen, was sie verkörperte«, sagte er, um sogleich preiszugeben, was alle wußten: »Dieses ein Jahrhundert und länger währende Aushalten und Erdulden schrecklicher, mehr noch, barbarischer Geschichte. Sicher, sie lebte am Rande, erlitt die Zeit. Es war mehr ihr Enkelsohn, der sich einmischte, tätig, jawohl, auch schuldig wurde. Doch ohne sie, die immer blieb, wo sie von Anbeginn war, auf jenen kaschubischen Äckern, die wir wissen es mittlerweile die Welt bedeuten, wäre er, unser Außenseiter und äußerst fragwürdiger Held, ohne Ort, wie verloren gewesen.«
Dann erinnerte der Professor an Oskars dreißigsten Geburtstag und sagte mit der Laune des Kenners aller noch so versteckten Details: »Damals glaubte er, sich uns entziehen zu können.« Dann nannte er unseres Herrn Matzeraths spätere Existenz zeittypisch für die fünfziger Jahre, gab auch von sich und seinem Außenseitertum Bericht und erwähnte nur kurz, doch nicht frei von kritischen Nebentönen, die Matzerathsche Video-Produktion: »Unser Freund hat nun mal diesen Medientick!« Er schloß nach einem Nebensatz, der mich betraf und nach charmanter Reverenz Maria zu Ehren, allseits einvernehmlich: »Doch nun ist Oskar wieder ganz unser!« So nahm die verschattete Geburtstagsfeier dennoch einen heiteren Verlauf. Man gratulierte dem Redner. Hätte meine Damroka ihn nicht in ein längeres Gespräch über frühbarocke Kirchenmusik verwickelt, wäre am Ende mehr der Professor als das Geburtstagskind gefeiert worden. Danach nahm sie ihn mit einer Schilderung ihrer Ostseereise gefangen, die keine Station ausließ: Møns Klint, Visby, der Greifswalder Bodden... »Doch von Quallen«, sagte sie, »habe ich jetzt genug. Schließlich mischte sich Oskar, anfangs noch Hand in Hand mit Maria, wieder unter die Gäste.
Beiläufig erfuhr ich, daß an eine Produktion von »Grimms Wälder« vorläufig nicht zu denken sei. Das teilte mir der Prokurist der Firma »Post Futurum« mit. Es solle demnächst, wenn mich das tröste, der Fall Malskat aufgegriffen werden. Herr Matzerath, hieß es, sei überzeugt, daß man den Schlüssel für unsere Zukunft unter den Ablagerungen der fünfziger Jahre suchen müsse.
Die Filmemacher nannten ihre nächsten Termine. Aus nicht einsichtigen Gründen verfinsterte sich der Dichter. Ohne sich von mir zu verabschieden, ging Maria. Dummerweise ließ ich mich mit dem Genie auf ein Streitgespräch ein. Wie gut, daß der Professor und mit ihm Damroka bei Laune blieben. Sogar den Dichter lehrten sie, unrasiert dennoch zu lächeln. Und wie freundlich von unserem Herrn Matzerath, in die Händchen zu klatschen, Aufmerksamkeit zu erbitten.
Wie um das Fest angemessen ausklingen zu lassen, kündigte er die Vorführung einer, so sagte er, »vornehmlich privaten Produktion« an, die aber durch »traurige Nachricht« von nunmehr allgemeinem Interesse sei. Also sahen wir alle jene Post-Futurum-Produktion, die mittlerweile von vergangenen Abläufen handelt. Bruno zog Vorhänge gegen die Abendsonne, rückte Stühle in lockere Sitzordnung, schob ein Großschirmgerät in zentrale Position, goß allseits noch einmal ein und fütterte dann den Recorder mit der Kassette: »Der hundertundsiebte Geburtstag der verehrungswürdigen Anna Koljaiczek, geborene Bronski.«
Wie gut, daß dies ländliche Fest zur Ansicht kam; denn hätte Oskar die städtische Feier seines sechzigsten Geburtstages vorproduziert, müßte ich jetzt berichten, wie getreu seine Ahnungen bis ins Detail sind: Alles, Marias Feinkostbuffet, jedes Lachsund Gänsebrustschnittchen gezählt, alle Gäste, so auch des Dichters Bartstoppeln, meiner Damroka goldgelbes Kleid, jene zum Smoking getragenen Bergsteigerschuhe, das Telegramm schließlich auf dem Silbertablett, wie Kurtchen es durchbuchstabiert, wie der Professor, zum Vortrag gedrängt, welthaltig ausholt, auch er als Person kleinwüchsig großkariert, alles, sage ich, wäre vorgeahnt, der Zukunft entrissen und in Produktion gegeben worden, einschließlich Marias Hand auf seinem Händchen; aber er schonte uns und ließ sein Fest in Anna Koljaiczeks Guter Stube ausklingen.
Als Damroka und ich mit den letzten Gästen in die Garderobe drängten, winkte mich unser Herr Matzerath noch einmal zurück. »Reden wir vom Tatsächlichen!« rief er. »Haben Sie die Finger dieser Watsoncricks gezählt, von eins bis fünf ordentlich gezählt? Tun Sie das, tun Sie das bald!«

Bei nächster Gelegenheit zählte ich. Wie alle Schlümpfe, die Oskar, als er nach Polen reiste, den Kaschubenkindern beschert hat, auf daß sie glücklich seien, haben alle Neuschweden, sobald ich sie mir nahbei träume, also auch meine Schöngelockte, die auf der Orgelbank sitzt, außer dem Daumen nur jeweils drei Finger an jeder Hand. Dennoch sind sie wie Schlümpfe geschickt, sah ich sie doch gelernt hantieren, bis jeder Humanschrott sich seiner Funktion erinnerte: der Schraubschlüssel, der Hammer, das Rad und der Zirkel. Nicht nur in Befehlstönen hörte sich ihre Sprache verschlumpft an, vielmehr steckte, sobald ich genau hinhörte, in jedem dritten Wort die Silbe Schlumpf als Voroder Nachtrag, als Zwischenstück. Sie fraßen sich schlumpfsatt und zeigten sich, ihrer skandinavischen Herkunft gemäß, ziemlich maulschlümpfig. Unser Herr Matzerath meint, es müsse den gotländischen Genmanipulatoren kindlichen Spaß bereitet haben, ihren Chimären außer der Vierfingerhand jenes Plastikwelsch zu programmieren, dessen infantiler Grundzug den späthumanen Forschern von kleinauf geläufig war. Man dürfe sogar ernste Absicht der Universität Uppsala hinter dieser linguistischen Eingebung vermuten, sollte doch die extreme Ratte mit dem extremen Menschen auch umgangssprachlich versöhnt werden.
Und in der Tat: man kann den Watsoncricks zur Zeit ihrer Anlandung und Besiedlung der Speicherinsel ein gemäßigt ausgleichendes, nennen wir es, sozialdemokratisches Verhalten nicht absprechen. Ihre Abstimmungen und Geschäftsdebatten wollten kein Ende finden, Begriffe wie sozialschlümpfige Schlumpfordnung und Schlümpfokratie waren zu hören. Und die Rattenvölker hörten zu, zwar aus Distanz, aber doch lernbegierig. So konnte es nicht verwundern, daß auch ihre Sprache während der Phase der zweiten Lautverschiebung Schlumpfkürzel übernahm; weshalb unser Herr Matzerath, dem ja von Kindheit an, und lange bevor es Schlümpfe gab, deren Wesen nicht fremd gewesen ist, seiner Video-Produktion über die posthumane-Entwicklung Zwischentitel beisteuern will, folgender Spielart etwa: Am schlümpfigen Wesen die Welt soll genesen!
Das tat die Welt leider nicht. Alles lief wieder mal schief. Zu meiner Weihnachtsratte sagte ich nach dem Schulfunk für alle: Siehst du, jetzt fressen die Neuschweden fette Ratten vom Spieß. Das mußte so kommen. Es ist zuviel Mensch in ihnen. Die Rättin, von der mir träumt, will nicht mehr der ordinären Wanderratte gleichen, sondern schöngelockt wie Damroka sein. Oder war ich es, der nicht mehr dich, Rättlein, träumen wollte, der, wenn schon Ratte, dann eine manipulierte sich wünschte? So oder so geträumt, es darf nicht sein, daß diese Nippels zukünftig sind. Weg mit ihnen! Komm raus, Rattentier! Sag: Die schaffen wir auch noch. Die machen sich selbst fertig, und wir helfen nach. Die sind zu menschlich geraten. Erst als das Dritte Programm die Wasserstände der Elbe und Saale brachte, kam sie aus ihrem Verschlag. Sie streckte sich, witterte wie gewohnt, blieb ein Weilchen zwischen Futternapf und Saugflasche und suchte erst wieder ihren halbdunkeln Bau auf, als die Sendung Politik am Mittag begann: Nicaragua und kein Ende.
Wie erwachsen sie ist, obgleich sie immer noch wächst. Wir stimmen überein: Es muß mit diesen Watsoncricks ein Ende nehmen! Und selbst unser Herr Matzerath, dessen Videofilm eigentlich den Menschenratten Zukunft sichern wollte, äußerte kurz nach seinem sechzigsten Geburtstag mit letzter Rede Bedenken.
»Sehen Sie«, sagte er und stellte sein Spielbein seitlich, »ich bin von Kindheit an medienbestimmt gewesen. Einem blechernen Ding sprach ich mehr Kraft zu, als ihm gegeben war und scheiterte jämmerlich. Man hat meiner Stimme, die allerdings schneidend war, mehr Gewalttaten nachgesagt, als ich verbürgen möchte; doch ich verlor mein schützendes Medium in böser Zeit. Als es dann wieder aufwärts ging und die falschen Fuffziger Hoffnung auf mehr und mehr machten, habe ich, weil der Stimmverlust endgültig war, auf das Blech meiner Kindheit zurückgreifen müssen. Indem ich ein überholtes Instrument abermals belebte und auf ihm Vergangenheit beschwor, gelang es mir, so lange Konzertsäle zu füllen, bis jedermann das Vergangene satt hatte. So lebte ich schlecht und recht von Zinsen und Erinnerungen, wollte schon aufgeben und der allzeit gewärtigen Schwärze das letzte Wort lassen, da wurden mir neue Medien gefällig. Besonders liegt mir die intime Videokassette. Sie eignet sich für den Hausgebrauch. Kurzum: ich fand meine Marktlücke, produzierte aufklärende Erotik leicht über Mittelmaß, entdeckte dann aber, als sich das Ende aller Humangeschichte immer absehbarer vorwegnehmen ließ, ein Betätigungsfeld, das meinen Talenten entspricht. Nach letztem Rückblick, den ich mir und dem Maler Malskat schuldig bin, soll mit der Ausfahrt des Schiffes >Die Neue Ilsebill< unser Ausklang dokumentiert und der Verlauf posthumaner Geschichte vorweggenommen werden. Freilich hätte ich den Neuschweden mehr Ratteninstinkt und weniger menschliche Vernunft gewünscht. Aller Voraussicht nach spricht die Entwicklung für einen kurzen Prozeß. Unruhe hat sich der beherrschten Rattenvölker bemächtigt. Leider wird alles seinen vorbestimmten Gang gehen. Um eine Prognose zu wagen und gleichzeitig mit meiner kürzlich verstorbenen Großmutter zu sprechen: »Da mecht nuscht nech blaiben von.«

Nicht im Werder, es beginnt in der Kaschubei. Von den Rändern der Maisund Gerstenfelder verschwinden die doppelten Nippels. In großflächig angebauten Sonnenblumenkulturen gehen sie unter. Plötzlich von Ratten, immer mehr Ratten befallen, endet ihre Aufpasserpflicht. Kinderleicht sieht das aus. Als spiele man Räuber und Gendarm. Das hätte man lange zuvor schon gekonnt. Ratten, die soeben noch über Maisstrohglut geröstete Mastratten hätten sein können, nagen nun manipuliertes Fleisch vom Gebein.
Nein, falsch. Bevor es in der Kaschubei, dann im Werder beginnt, geschieht etwas. Jener schmiedeeiserne Schriftzug der zuletzt im Rathaus Museumsstück war, ist verschwunden. Die Neuschweden vermissen die eiserne Schrift zwar, geben dem Diebstahl aber kein besonderes Gewicht gelegentlich wurde dies und das, einzelne Schlümpfe zum Beispiel gestohlen -, doch begehen sie nun einen Fehler, indem sie, ihrer Macht allzu sicher, der schmiedeeisernen Schrift Aussage und bis in die Humanzeit zurückreichende Bedeutung unterschätzen. Jedenfalls bricht, kaum ist das eiserne Wort entführt und seitdem im Untergrund wirksam, nach und nach alles zusammen, was die Watsoncricks zur Sicherung ihres Systems aufgebaut hatten.
Gewiß es kommen neue Aufpasser. Aber auch sie verschwinden in den Feldern, bleiben verschollen, sind auffindbar als Gerippe nur noch. Der Transport von Maiskolben und Fruchtkörben der Sonnenblumen, Gersteund Linsenfuhren verzögern sich, werden gestört, finden immer seltener die städtischen Zentrallager Große Mühle, Hotel Hevelius, Zeughaus, Stadttheater und Leninwerftkantine, hören schließlich ganz auf. Strafexpeditionen stoßen ins Leere, werden in die Irre geführt, verzetteln sich im Schwemmland der Weichselniederungen, in den gehügelten Feldern der Kaschubei, erschöpfen sich und kehren dezimiert zurück. Nachdem die Außenposten Kartuzy und Novy Staw, zudem in Küstennähe jenes gesicherte Trümmerfeld, das vormals Oliva hieß, gefährdet, nicht mehr zu halten sind, ziehen sich die Neuschweden hinter die Grünstreifen der Schlammwälle ins Stadtgebiet zurück. Die Kasematten im Hagelsberg werden geräumt. Dann wird der Bischofsberg aufgegeben.
Jetzt erst fahnden sie ernsthaft nach dem verschwundenen Museumsstück. Alle Sakristeien, die Keller der Werftkantine stehen unter Verdacht. Der gestohlene Schriftzug soll mal hier, mal dort kurz gesichtet worden sein. Kein Erfolg. Einzig Gerüchte nehmen zu. Im Bereich der Speicherinsel, auf dessen Gelände dicht gedrängt junge Mastratten konzentriert sind, kommt es im Verlauf von Suchaktionen, ohne daß die Schrift gefunden wird, zu Zusammenstößen: abschreckend müssen Massenschlachtungen angeordnet werden. Auch auf dem Gelände der Leninwerft, desgleichen in jenen Kirchen, die als Ort geheimer Rattenversammlungen in Verruf sind Sankt Birgitten zum Beispiel -, bleibt die Suche nach dem Wort erfolglos. Dabei liegt es in der Luft, flüstert sich fort und fort. Es wird verboten, das Vermaledeite, das Unsägliche auszusprechen. Selbst die verschlumpfte Weitergabe des Viersilbers steht unter Verbot. Weil im Zustand der Trunkenheit lauthals das Wort wiederholt gegrölt wurde, und weil Gerste ohnehin nicht mehr geliefert wird, ist ab sofort jegliches Bierbrauen untersagt. Hilflos mutet es an, wie sie in Doppelreihen das Zeughaus, die Mühle, den Hotelhochbau, alle Vorratslager bewachen, denn noch ahnen sie nicht, daß ihre Kornund Kernvorräte von unten weg schwinden, durch Wühlgänge abgezogen werden, als wirke im Untergrund mächtiger Sog. Keine der stockwerkhohen Aufschüttungen ist zu halten, sie fallen treppab. Nachdem nun auch die übergroßen Mastratten aufständisch geworden sind und ihre Mastfutteranlage, dann die gesamte Speicherinsel, zuletzt den Bleihof in Besitz genommen haben, so daß von der neuschwedischen Verwaltung des konzentrierten Fleischlagers nichts außer Knochen und blondem Gewöll geblieben ist, beginnt der Hunger, beginnt das Aushungern der Menschenratten.
Ich sehe sie unsicher, ängstlich. Nichts mehr von skandinavischer Ruhe und gotländischem Wagemut. Sie verkriechen sich in die Häuserzeilen der Rechtund Altstadt. Ihnen gewohntes Gasselaufen, etwa die Frauengasse rauf, die Langgasse runter, ist gefährlich geworden. Weil es den Rattenvölkern gelingt, durchs immer noch offene Kanalisationssystem in alle Altund Neubauten einzusickern, indem sich Ratte nach Ratte durch steigende Rohrleitungen zwängt, wird die Lage der Neuschweden nun auch von innen her unsicher, unhaltbar. Ihre letzte Zuflucht heißt Sankt Marien. Das wird als Weisung von Haus zu Haus gerufen.
Ich sehe, mit welcher Hast, wenn auch in Formationen, sie vom Holzund Kohlenmarkt abziehen. Stockturm, Rathaus und Langer Markt werden geräumt. Flucht von der Hundegasse durch die Beutlergasse. Vom Hakelwerk und der ehemals Polnischen Post flüchten sie in Keilformationen auf die Mottlau zu, über den Fischmarkt, die Lange Brücke, durchs Heiliggeisttor. Durch alle Tore in drangvoller Enge. Inzwischen ungeordnet der Marienkirche entgegen, wo sie alle es mögen zum Schluß knapp zwanzigtausend sein verhungern werden, wenn kein Wunder geschieht. Doch bietet ihnen die weiträumige Hallenkirche keine rettende Ausflucht oder gar Wundertätiges, denn jeder Blick nach oben zeigt nur neue Gefahren auf: in allen Gewölben, jeden Strebpfeiler bis zum Schlußstein hoch hängen, zu Trauben gebündelt, Jungratten; geduldig warten sie ab.
Nur mühsam läßt sich der Ausbruch von Panik dämmen. Außer Hunger setzt den Watsoncricks bald eine Seuche zu. Es ist, als kämpfe in ihnen Gen gegen Gen. Offenbar bricht verstärkt Menschliches durch. Bei kleinstem Anlaß gehen sie sich an die Kehle. Sie würgen einander ab. Die Zahl der Kadaver wächst sich im Mittelschiff zum Leichenberg aus. Schon müssen sie den Altarraum aufgeben, jetzt die Orgelempore, von der bis dahin Musik als Trost kam, zuletzt eine Passacaglia. Aus Furcht, von allen Ausgängen abgeschnitten zu werden, sammelt sich der schwindende Rest zum Nordportal hin. Keine Hundert sind es mehr, und täglich zählen sie weniger. Sie versuchen es, schaffen es nicht, es widert sie an, einander zu fressen. Am Ende raffen sich die letzten Neuschweden auf es sind fünf, nein, ich zähle neun, zwölf und verlassen das Totenhaus.
Über die Frauengasse suchen sie Ausflucht. Sie schleppen sich an Beischlägen vorbei, die von Ratten besetzt sind. Auf Gesimsen, Portalfassungen, in allen Fenstern drängen sie dicht bei dicht. Es werden die letzten zwölf nicht angefallen, und doch sind es jetzt nur noch neun, dann acht, sieben, die durchs Frauentor auf die Lange Brücke finden. Fünf, von denen eine ausgezehrt meine Damroka ist, wollen vom Grünen Tor über die Brücke zur Speicherinsel, schaffen es auch zu fünft, doch wie sie, Damroka voran, das andere Mottlauufer erreichen und auf ihr Schiff wollen, sehen sie Die Neue Ilsebill übers Deck hin von Ratten bewohnt.
War das nicht vorauszusehen? Und wie hätten sie jenes Wrack, das lange Zeit als Sehenswürdigkeit von Gruppen besucht werden durfte, wieder seetüchtig machen wollen? Und wohin, wäre der Diesel angesprungen, hätten die Letzten sich retten können?
Es sind junge Mastratten, vormals schmackhaft genannt, die das Deck und die Niedergänge mittschiffs, zum Bugraum besetzt halten. Noch stehen drei der Schwedischmanipulierten aufrecht. Sie schwanken, halten sich aneinander. Es rührt zu sehen, wie sie mit schwachen Gesten die Mastratten auffordern, das Wrack zu räumen. Ihre weizenblonde Behaarung ist fahl, lehmig geworden und zottelt verfilzt; doch aus den zinkgrünen Jungratten wurden graubraune, schwarze dann: seit Beginn des Aufstandes dunkelten, schwärzten sie ein. So näherten sich die Rattenvölker wie rückläufig jener Gattung an, die zu Humanzeiten rattus rattus, die Schwarze Hausratte genannt wurde und Gerüchten zufolge den Menschen die Pest gebracht haben soll.
Wie nun als letzte meine Damroka schlappmacht sie geht auf die Knie, strähnig ihr Haar und über die anderen fällt, sind gleich darauf alle fünf von Ratten befallen schwarz. Ihr Fleisch schwindet. Sie zucken noch. Aber kein Wimmern, kein Wehklagen. Doch ist mir, als hörte ich Glockengeläut, schwächer jedoch, viel schwächer als bei Ankunft der Watsoncricks.

Mir träumte, ich dürfte Hoffnung fassen, den Krümel nur oder was sonst geblieben auf Tellern leergefressen und hoffen, daß etwas, keine Idee, eher ein Zufall,
freundlich genannt, unterwegs sei,
ohne an Grenzen zu stoßen,
und sich verbreite ansteckend,
eine heilsame Pest.

Mir träumte, ich dürfte hoffen wieder
auf Winteräpfel, die Martinsgans,
auf Erdbeeren Jahr für Jahr
und auf der Söhne beginnende Glatze,
der Töchter Ergrauen, der Enkel Postkartengrüße, hoffen auf Vorschüsse, Zinseszins, als hätte der Mensch wieder unbegrenzten Kredit.

Ich träumte, ich dürfte mir Hoffnung machen und suchte nach Wörtern, geeignet sie zu begründen, begründet mir träumend Hoffnung zu machen. Also probierte ich aus und sagte gute,
neue und kleine Hoffnung. Nach der vorsichtigen sollte es plötzliche sein. Ich nannte sie
trügerisch, bat sie, uns gnädig zu werden. Als letzte Hoffnung träumte sie mir, schwach auf der Brust.

Mir träumte, ich dürfte hoffen zuletzt: überall legt jeder den Zündschlüssel ab und bei offener Tür sind die Menschen einander sicher fortan. Es trog meine Hoffnung nicht: sein Brot
kaut niemand mehr ungeteilt; doch jene Heiterkeit die ich erhoffte, ist nicht von unserer Art:
lauthals lachen die Ratten uns aus,
seitdem wir mit letzter Hoffnung
alles vertan haben.

Na, hast du die eiserne Schrift gesehen? Und hast du sie buchstabiert? Mittschiffs stand sie viersilbig auf dem Wrack und wurde leserlich, als wir vom Deck weg Schluß machten. Da ist sie wieder und lacht. Eine der schwarzen Jungratten, die in den Weichselniederungen selektiert und zur Mast konzentriert wurden, ist meine Rättin: Wir haben das Sagen wieder! Nichts, kein Krümel ist von ihnen geblieben. Nur wir, siehst du, in Zukunft wir Ratten nur noch.
Ich sehe sich vermehrende Völker. Zu guter Letzt menschenfrei gibt ihnen die Erde Raum. Fischreich will die See wieder sein. Auf den Hügeln hinter der Stadt wachsen die Wälder dicht. Vögel nutzen den Himmel. Neues, zuvor nie geahntes Getier tritt hervor, darunter endlich die säugenden Schmeißfliegen. Das alte Danzig jedoch zerfällt. Es bröckeln die reichgeschmückten Fassaden. Türme stürzen geborsten. Gotische Giebel neigen sich, kippen weg. Langsamer Verfall, jeder Backstein, Sankt Marien, alle Kirchen geben sich auf. Und wie sie den Schlußstrich zieht, sagt die Rättin: So wurde des Menschengeschlechts schlimmster Gedanke gelöscht. Seine letzte Ausgeburt ist vertilgt. Was jene Schrift aus Eisen sagt, haben wir geübt, nicht der Mensch. Nichts zeugt von ihm, das fortleben könnte.
Mein übliches Nein. Es könnte doch sein, Rättin, ich bitte dich, daß wir mit letzter Hoffnung...
Ach ja, dich hatten wir ganz vergessen in deiner Kapsel ewiglich um und um. Na, neue Pläne, Termine?
Sie sagt: Warum nicht! Da es ihn nicht mehr gibt, sollte der Mensch sich Hoffnung noch und noch machen dürfen, damit unsereins was zu lachen hat, wenn wir euch bei Gelegenheit träumen...
Der Rest geht in Gelächter unter, das sich zu erdumlaufender Heiterkeit auswächst. Ungezählt vielschwänzige Würfe und Wurfeswürfe, denen ich Spaß mache.
Trotzdem, sage ich, bleibt Hoffnung genug, daß nicht ihr geträumten Ratten, sondern in Wirklichkeit wir...
Wir Ratten sind wirklicher, als dir träumen könnte.
Aber es muß doch trotz allem...
Nichts muß mehr, nichts.
Ich will aber, will wieder...
Was denn, was?
Nur angenommen, es gäbe uns Menschen noch... Gut, nehmen wir an.
... doch diesmal wollen wir füreinander und außerdem friedfertig, hörst du, in Liebe und sanft, wie wir geschaffen sind von Natur...
Ein schöner Traum, sagte die Rättin, bevor sie verging.


hosted by www.boox.to 



Inhal tsverzeichnis
DASERSTEKAPITEL, indem ein Wunsch inErfüllung geht, inNoahs Arche keinPlatz für Ratten ist, vom Menschen nur Müllbleibt, ein Schiff oft seinenNamen wechselt, die Saurier aussterben, ein alter Bekannter auftritt, eine Postkarte einlädt, nach Polen zu reisen, der aufrechteGang geübt wird und mächtig Stricknadeln klappern.................................................................................. 5

DAS Z WEITEKAPITEL,indemMeistefälscherbenannt und Ratten Mode werden, der Schlußbestritten wird, Hänselund Greteldavonlaufen, imDritten Programm über Hamelnwas läuft, jemand nicht weiß, ob er reisen soll,das Schiff amUnglücksortankert, es hinterherKlopse gibt, Menschenblöcke brennen und Rattenvölker allerorts den Verkehr sperren............................................................... 37

D ASDRITTEKAPITEL, indem sich Wunder ereignen, Hänselund Gretelstädtisch seinwolen, unser Herr Matzerath an der Vernunft zweifelt, fünf Hängematten belegt sind, das Dritte Programm schweigen muß,inStege Ausverkauf und inPolen Mangelherrschen, eine Filmschauspielerin geheiligtwidund Truthähne Geschichte machen.................................................................................. 70

D ASVIERTEKAPITEL, indem Abschied genommen wird, ein Vertrag reifzur Unterschrift vorliegt, Hänselund Gretelankommen, Rattenköttelgefunden werden, Sonntagsstimmungherrscht, Ultimo ist, einige Goldstücke überzähligsind, Malskat zu den Soldaten muß,es schwerfällt, von den Frauen zu lassen, und das Schiff vor Kreidefelsen ankert.................................................................... 103

D ASFÜNFTEKAPITEL, indem eine Raumkapselkreist, unser Herr Matzerath schwarzsieht, die Rättin fehlende Angst beklagt, die Stadt GdaDsk äußerlich heilbleibt, die Frauen um Ohrenquallen sich streiten, Hänselund Gretel zur Aktion aufrufen, die Erziehung des Menschengeschlechts fortgesetzt und eine Preisrede gehalten wird... 144

D ASSECHSTEKAPITEL, indem der Rattenmensch denkbar und beim Wacheschieben geträumt wird, sich die Rättin als ortskundig erweist, das kaschubische Kraut wuchert, falsche Namen den Frauen anhängen, gleich nach dem Aufräumen die posthumane Geschichte beginnt, ich als Fehlerquelleerkannt werde, das große Gelddie Macht und Wilhelm Grimm eine Idee hat..................................... 177

DAS SI EBTE KAPITEL,indemvormBundestag geredet wird, die Sieben Zwerge Individuen sind, fünf Frauen von Bord gehen und was erleben wolen, laut und leise die Quallen singen, unser HerrMatzerath ankommt, Malskat gotisch imHochchorturnt,vereinsamtdie Rättinjammert, Dornröschen sich mit der Spindelsticht und das Schiff über Vineta ankert..................................................................... 218

D ASACHTEKAPITEL, indem fünf Gedenkminuten vergehen, der Geburtstagseinen Verlauf nimmt, die Rättin von Irrlehrenberichtet, der Kuckuck imFilmund in Wirklichkeit ruft, die Frauen sich schön machen, Oskar unter die Röcke kriecht, fast alles seinEnde findet und auf dem Bischofsberg Kreuze errichtet werden...................... 265

D ASNEUNTEKAPITEL, indem die Frauen noch einmal aufleben, das Land ohne Regierung ist, nagend Hunger herrscht,zweiMumien samt Zubehör überführt werden, worauf der Ackerbau beginnt, Ratte, Vogelund Sonnenblume ein Bildergeben, die Menschen nur noch als ob sind, es überallsprießt, treibt und rankt, schonwieder Oskar dazwischenredet und nach der ersten Lautverschiebung das Erntedankfestgefeiert wird............................................... 304 DAS ZEHNTE KAPITEL,indembeimFestaktein Gewitter niedergeht, unserHerr Matzerath sich behauptet, die Rättin dem treibenden Wrack Geheimnissenachsagt, der Prinz davonläuft, Neues aus Hamelnberichtet wird, die Ratten dichtgedrängt voller Erwartung sind, keine Post Nachricht aus Travemünde bringt, doch zu Beginn des neuen Zeitalters die Glocken läuten................................. 347

D ASELFTEKAPITEL, indem die Gekommenen seßhaft werden, der Dornröschenschlaf schrecklich endet, inHamelnDrillinge überraschen, imLübecker Bildfälscherprozeßgeurteiltwird, die Speicherinselzu eng ist,unser Herr Matzerath wieder einmalalles vorausgewußt hat, die Watsoncricks Ordnung schaffen und -weildie Post gute Nachricht bringt Musik tröstet........................................... 382

DAS Z WÖLFTEKAPITEL,indemeineKutscheindie Vergangenheit fährt, zweialte Herren von dazumalreden, eine andere Damroka schöngelockt ist, Museumsstücke gesammeltund Ratten gemästet werden, einetraurige Nachricht das Geburtstagsfesttrübt, Solidarno[siegt, doch vom Menschen nichts bleibt und sich die letzte Hoffnung verkrümelt......................................................... 420