Es ist ja nicht so, daß die Kaschubei nur Hinterland, eine vom großen Geschehen vergessene Provinz, jene gehügelte Beschränktheit hinter den Sieben Bergen ist, die sich selbst genügt; Anna Koljaiczeks kaschubisches Kraut wuchert weltweit. Ableger der Linie Woyke, die nach Zukowo zurückweist, wo früher das Kloster war, bis es Domäne wurde, verschlug es, als wieder einmal ein Krieg zu Ende ging, nach Australien: Zwei Brüder Woyke, die unehelich ihre Mutter Stine zurückließen, reisten per Schiff und nahmen Bräute aus Kokoszki und Firoga mit.
Nach dem einen und dem nächsten Krieg wanderten etliche vom Zweig Stomma und ein Kuczorra nach Amerika aus, wo sie in Chicago und Buffalo Nachkommen jenes Josef Koljaiczek vorfanden, der, wie man weiß, zu Beginn des Jahrhunderts unter Flößen seiner Anna entschwand; seitdem viele im Kleinund Großhandel tüchtige Colchics.
Ein Bronski aus Annas väterlicher Wurzel, die in Matarnia Boden hat, ist schon zu Kaisers Zeiten bis nach Japan gekommen, wo er mit Stäbchen zu essen lernte. Einer seiner Enkel hat es in Hongkong zu Familie und Wohlstand gebracht. Nach fünfundvierzig haben, neben Annas Enkelsohn Oskar, der im Rheinland ansässig wurde, mehrere Enkelkinder ihrer verstorbenen Schwestern Amanda, Hulda und Lisbeth in Schwaben und im Ruhrgebiet Fuß gefaßt, weil es, so sagte man damals nicht nur an kaschubischen Tischen, im Osten zwar schöner, im Westen aber besser sei.
Aus Annas mütterlicher Linie Kurbiella, die aber immer wieder, wie aus Kirchenbüchern in Kartuzy, Matarnia und Wejherowo zu lesen ist, mit den Linien Woyke, Stomma, Kuczorra und angeheiratet Lemke und Stobbe lebenslängliche Knoten schlug, ist ein Kurbiella zur Handelsmarine gegangen, doch ab Mitte der fünfziger Jahre in Schweden geblieben. Dort beschloß er, nach Afrika auszuwandern: Seine Postkarten, die Palmenstrände und exotische Früchte zeigen, kommen aus Mombasa, wo er im Hotelgewerbe tätig ist.
So betont alle ausgewanderten Kaschuben sich als US-Bürger, Angehörige des Commonwealth und überbetont als Westdeutsche geben, es hängt ihnen dennoch das Kaschubische, dieser Geruch von Buttermilch und eingekochtem Rübensirup an; auch unser Herr Matzerath, der sich gerne weltmännisch und vielgereist gibt, riecht unterm Kölnisch Wasser anheimelnd nach Stall.
Als Anna Koljaiczek ihren hundertundsiebten Geburtstag mit einladenden Postkarten ausrief, wurde sie in allen fünf Kontinenten, übrigens auch in Montevideo gehört, wo ein Urenkel des untergetauchten Josef Koljaiczek, wie alle Colchics, Handel mit Bauholz und Edelhölzern treibt. Überdies sollen auch Colchics im brasilianischen Urwald beim Kahlschlag und auf Island als Eigner einer Kistenfabrik tätig sein.
Es reist also nicht nur über Poznan und Bydgoszcz, das früher Bromberg hieß, unser Herr Matzerath an; während ein Woyke mit Frau, der nun abenteuerlich Viking heißt und bei der Eisenbahn tätig ist, von Australien her seinen Schiffsweg nimmt, kommt aus der Vielzahl ein einziger Mister Colchic, der eine Stomma geheiratet hat, mit Gattin vom Michigansee her geflogen.
Von Hongkong fliegt über Frankfurt am Main nach Warschau das Ehepaar Bruns, vormals Bronski, das aus der britischen Kronkolonie billig Spielzeug exportiert und nun bänglich gespannt ist, wie sich Mrs. Bruns bei deutlich chinesischer Herkunft zwischen Kaschuben zurechtfinden wird.
Leider hat der Edelholzhändler aus Montevideo absagen müssen; aber jener ehemalige Matrose, der über Schweden nach Afrika fand, kommt und heißt als Hotelmanager noch immer Kurbiella.
Obgleich die Enkelkinder von Annas verstorbenen Schwestern Amanda, Hulda und Lisbeth der Kaschubei zunächst wohnen, haben nur Herr und Frau Stomma, sie eine geborene Pipka, zugesagt, mit zwei halbwüchsigen Kindern zu kommen. Von Gelsenkirchen, wo ihr Fahrradgeschäft mit Reparaturwerkstatt und Filiale in Wanne-Eickel überdies einen Geschäftsführer ernährt, reisen die Stommas per Eisenbahn an. Vergeblich hat unser Herr Matzerath versucht, seinen mutmaßlichen Sohn Kurt und dessen Mutter, die, wie man weiß, eine geborene Truczinski ist, zur Mitreise im Mercedes zu bewegen; doch Maria hielt sich für unabkömmlich. Nach ihres Mannes Tod kurz vor Kriegsende, der, wie Oskar heute meint, vermeidbar gewesen wäre, blieb sie unverheiratet und geschäftstüchtig.
»Neinnein! Dahin will ich nicht zurück mehr!« soll sie gerufen haben. Und Streit gab es deshalb, in dessen Verlauf Vaterschaften bezweifelt wurden; doch dieses leidige Thema hier auszubreiten, würde zu weit führen. Es blieb bei Maria Matzeraths Absage: Sie könne ihre Ladenkette nicht einfach im Stich lassen.
Als ich ihn kurz vor seiner Abreise wie nebenbei fragte: »Sagen Sie, Oskar, wer von den weltweit zerstreuten und seßhaften Kaschuben ist Ihnen persönlich bekannt?«, sagte er: »Eine gewisse Scheu hinderte mich bisher, reisend meiner Vergangenheit nachzugehen. Zwar gab es etliche Korrespondenz, doch außer auf Fotos besonders die Colchics haben fleißig fotografiert wurde nichts anschaulich. Nun hoffe ich, wenn schon nicht meinen Onkel Jan, der meiner armen Mama so schmerzlich vertraut war, so doch dessen Sohn wiederzusehen: Stephan ist nur zwei Monate älter als ich.«
Nach einer Pause, die er nutzte, um an seinen Fingerringen zu drehen, sagte er: »Nunja, Tiefschürfendes wird man sich nicht zu sagen haben. Sie kennen doch diese Familienauftriebe. Viel Gedränge und wenig Nähe. Mir geht es vor allem um meine Großmutter. Einzig sie ist mir leibhaftig geblieben. Zu ihr, nur zu ihr will ich. Allerdings wohnt Anna Koljaiczek nicht mehr in Bissau-Abbau, sondern mehr nach Matern hin, das heute Matarnia heißt. Der Bau des neuen Flughafens war Grund dieser Vertreibung. Deshalb sind jene Kartoffeläcker, die meine Großmutter von Jugend an bestellt und nachgehackt hat, wie manch anderer Mythos auch, unterm Beton verschwunden.«
Während er im lädierten Mercedes unterwegs ist und sich, nach traumloser Übernachtung, von Posen her Bromberg nähert, müssen nun andere Fragen, wenn nicht ihm, dann rhetorisch gestellt werden: Warum abermals Oskar? Hätte er nicht dreißig Jahre alt und in seiner Heilund Pflegeanstalt bleiben können? Und wenn schon gealtert und neuerdings medienverrückt, warum dann zum Hundertundsiebten erst? Weshalb nicht vor Jahren, als es Anlaß genug gab, die runde Zahl zu feiern? Und warum verbat sich Anna Koljaiczek zu allen abgefeierten Geburtstagen Umstände oder wie sie es nannte Fisimatenten, bis sie endlich doch einladende Postkarten in alle Welt verschicken ließ?
Weil sie von Unruhe bewegt war, die mit ihr auf der Bank vorm Haus Platz nahm. Weil ihr seit Jahren inständiger Satz, »Nu mecht baldich zuende jehn«, nicht mehr nur sie, die Uralte meinte, sondern sich umfassend festigte: »Nu mecht baldich aus sain mid alles was is.«
Deshalb bekamen alle, die ihr nah wie fern nahe waren, Postkarten, die der Priester in Matarnia für sie schreiben mußte; denn Anna Koljaiczek hatte zu Hochwürden gesagt: »Faiern willich, abä schraiben muß waißnichwer.«
Und solch eine Postkarte rief auch unseren Herrn Matzerath, der zwar Jahr für Jahr pünktlich der Geburtstage seiner Großmutter gedacht hatte, aber seit Ende des letzten Krieges, als er in einem Güterwagen krank in den Westen gerollt wurde, nie wieder nach Hause gekommen war. Nun reist er in nordöstliche Richtung und starrt ängstlich, als suche er Halt dort, auf den Nacken seines Chauffeurs; denn mit Anna Koljaiczek sieht auch er ziemlich schwarz.

Ein Tuch drüber und fertig! Weil ich nicht will, daß jetzt wieder die Rättin spricht, bleibt der Käfig meiner Weihnachtsratte verhängt. Nichts sehen, nichts hören! Kein Drittes Programm, in dem, zwischen Barockmusik, die Welt in Kommentare zerfällt. Weiß ich doch, daß es bergab geht, immer schneller sogar. Auf meinen Papieren sieht es nicht besser aus: überall stirbt der Wald. Malskat? Das war einmal. (Wer will noch wissen, wie jener Bischof von Lübeck hieß, der ins Chorschlußgewölbe ein steingehauenes Hakenkreuz fügen ließ?) Bleibt das Schiff. Vielleicht kommt es davon. Ich sollte mich an die Frauen halten...
Jetzt ist Gotland in Sicht. »Die Neue Ilsebill« macht neun Knoten Fahrt. Der Forschungsewer lärmt, so rüttelt der Diesel. Damroka will alle Zeit zurückgewinnen, die verloren ging, als gestritten wurde und aus Prinzip Ohrenquallen gezählt werden mußten.
Jetzt streiten die Frauen nicht mehr. Die Meereskundlerin versichert, es liege nun Material genug vor.
Die Steuermännin sagt: »Wenn wir zwischen Öland und Gotland noch kurz paar Messungen machen, sind wir fertig und können von mir aus...«
Damroka schweigt. Sie will nicht nochmal und nochmal sagen, was der Butt ihr gesagt hat.
Die Alte ruft überm Abwasch aus der Kombüse: »Wir werden schon nicht zu spät kommen. Euer Vineta läuft euch nicht weg.«
Und auf den Vorschlag der Steuermännin, zwischen Rügen und Usedom solle noch paarmal der Meßhai rausgehängt werden »Damit uns die DDR-Heinis unseren Forschungsdrang glauben« —, sagt die Maschinistin: »Martha hat recht. Die lassen niemand in ihr Gewässer, der nur Vineta suchen will und sonst nichts.«
So altmodisch und streng heißt die Steuermännin, die aber, riefe ich sie vertraut beim Namen, nicht Martha, sondern ganz anders hieße. Und wenn die Maschinistin hier plötzlich Helga, die Meereskundlerin Vera heißt, haben beide, wo sie sonst wirklich und nebenbei gesagt erfolgreich berufstätig sind, ganz anders lautende Namen. Auch Damroka wird hier nur Damroka gerufen und kommt, wo sie mir nah ist, mit weniger Silben aus. Nur die Alte könnte jederzeit und allerorts Erna heißen. Ich muß das sagen, weil die fünf Frauen an Bord des Schiffes so, wie man sie anderswo ruft, niemals zusammen ein Schiff befahren würden; nur meine Willkür hat sie auf Deck, mittschiffs, in Hängematten versammelt und auf gewünschten Kurs gebracht. Das war nicht leicht. Es hieß: Typisch! Nur Männer denken sich sowas aus. Harmoniesüchtig ist er. Soll wohl ne Friedensfahrt werden!
Tricks und Notlügen mußte ich mir einfallen lassen und kurz vor Reisebeginn versprechen, daß nie Sturm aufkommen werde und niemals Maschinenschaden auf hoher See zu befürchten sei.
Dennoch sind mir Bedingungen gestellt: Kein Grübchen darf ich zählen, kein Muttermal entdecken, quer oder steil keine einzige Falte deuten. Keine der Frauen will ähnlich sein. Sie weigern sich auszusehen, wie ich sie spiegeln möchte. Deshalb ist mir verboten, Profile zu zeichnen, diese Stirn zu wölben, die andere kurz sein zu lassen und Schnittmuster ihrer Augen zu fertigen. Sobald ich sie sprechen oder schweigen lasse, müssen der sprechende und der schweigende Mund ausgespart bleiben. Wie beredte oder verschlossene Lippen sich öffnen, einander treffen, pressen, befeuchten, kann nicht gesagt werden. Ob Backenknochen breit, ein Kinn zierlich, ein anderes voll und ausladend, Ohrläppchen hier freihängen, dort angewachsen sind, soll nicht typisch sein. Keinem Geruch denn jede riecht anders ist es erlaubt, sich Eigenschaftswörter zu suchen. Und nie darf Farbe vorkommen; sie wäre Verrat. Deshalb ist keine der Frauen an Bord blau-, grauoder rehäugig. Von dunkelbraunem, semmelblondem, tiefschwarzem und weizenfarbenem Haar kann nicht die Rede sein. Nur daß Damroka schöngelockt ist, soll hier stehenbleiben. Und soviel noch: aller fünf Frauen Haar ist mehr oder weniger graudurchmischt. Sie sind mir älter und älter geworden, zählen von Mitte vierzig bis weit über siebzig, obgleich sich besonders gerne die Alte immer noch mädchenhaft gibt.
Die vielen abgelebten Jahre. Wenn ich das sagen darf: Sie wurden mit der Zeit schöner. Da sie von Anbeginn so hieß esgut aussahen, konnte es ihnen älter werdend gelingen, ihre früher zu offenkundige Schönheit hinter Schleier zu stellen. So ist es: es sind fünf verschleierte Schönheiten, die nach Vineta wollen. Ihre Geschichten sogar, die alle von vergangenen Männern handeln, sind verschleierte Geschichten; denn nie dürfte ich sagen, wie ich ihnen fremd geworden, abhandengekommen, nie greifbar gewesen, hungrig oder zufällig unterlaufen bin. Auch wer hier wen verletzt, benutzt, überhört, vermißt, im Regen stehengelassen hat, kann nicht Ballast sein für ein Schiff, das bald denn schon steuert »Die Neue Ilsebill« den Hafen von Visby auf Gotland an unterwegs sein wird, die versunkene Stadt zu suchen.
»Mann!« ruft die Maschinistin Helga und schlenkert mit Armen und Beinen, »Ist mir nach Landgang!«
Die Meereskundlerin Vera sagt: »Ich leg einen neuen Film ein in. In Visby soll es interessante Trümmer geben. Alles echt Mittelalter.«
Die Alte, die so oder so Erna gerufen wird, zählt auf, was eingekauft werden muß: »Und unbedingt brauchen wir Flüssiges, paar Flaschen Aquavit. Wer weiß, was es in eurem Unterwasserreich gibt?!«
Die Steuermännin, von der ich sagte, sie heiße Martha, will an Land unbedingt etwas erleben. »Ich glaub«, sagt sie voraus,

»ich reiß mir noch schnell einen Mann auf, zum Abgewöhnen.«
Damroka, die ich heimlich schon immer Damroka gerufen habe, will nach dem Anlegen sofort zum Hafenmeister und die gestempelten Papiere abholen. Sie sagt: »Wenn wir nach Steuerbord hin Mönchgut liegen haben und dem DDR-Grenzschutz, sobald die mit ihrem Boot längsseit kommen, unsere tipptopp Papiere zeigen, kann uns so gut wie nichts mehr passieren.«
Ich halte mich raus. Ich sage nicht, was ich weiß. Daß es zu spät sein könnte, bleibt ungesagt. Ach, stünde den Frauen Vineta doch offen!

Die Rättin datiert uns nach eigener Zählung. Alles, was vor ihrem Auftritt in Europa geschah und nach unserer Rechnung ziemlich genau aufs Datum gebracht wurde, faßt sie mit der Formel, das war zur Zeit der Schwarzen Hausratte, zusammen. Ihre Herkunft bleibt dunkel. Eher Legenden schaffend als aufklärend sagt sie: Wir lebten lange am Kaspischen Meer, bis wir uns eines Tages entschlossen, schwimmend den Fluß Wolga zu überqueren und zu wandern, was uns als Wanderratten bekanntgemacht hat.
Da ihre Ankunft in Europa aus den Hafenstädten des Kontineues und der Britischen Inseln übereinstimmend während der fünfziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts gemeldet wurde, verlief die Völkerwanderung und verbreitete sich die Pest, wie die Rättin sagt, zur Zeit der Schwarzen Hausratte.
Desgleichen sind alle Ratten, die während des Dreißigjährigen Krieges in Magdeburg, Stralsund, Breisach und anderswo roh und abgezogen ihren Preis, gebraten oder gekocht ihren Nährwert hatten, Schwarze Hausratten gewesen.
Dennoch steht die Rättin als Wanderratte, die von Asien her ihren Weg nahm und töricht Rattus norvegicus genannt wird zu jener, mittlerweile nur spärlich nachzuweisenden Gattung Rattus rattus, zur langen Geschichte der Schwarzen Hausratte, die etwas kleiner, spitznasiger, doch proportional noch langschwänziger gewesen sein soll.
Sie sagt: Diese Unterschiede machen wir nicht. Ratte ist Ratte. Und als Ratte an sich waren auch wir bei allen Völkerwanderungen, beim Vormarsch der Pest, im Schatten der Kreuzund Flagellantenzüge, als Johanna brannte, vor Macbeth' Schloß mit allen Kaisern in Rom und auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges dabei. Wenn Ratten auf Gustav Adolfs Schiffen gewesen sein sollen, als er über die Ostsee nach Pommern wollte, sind wir überm Kiel gewesen und zwar in schwarzer Gestalt. Und wenn es in Hameln Hausratten waren, die man, obgleich als gute Schwimmer bekannt, in der Weser zu Tausenden ersäuft haben will, dann waren es abermals wir, die man zu ersäufen versucht hat. Doch namentlich aktiv wurden die Wanderratten erst seit Beginn der Französischen Revolution, die, nach Meinung der Rättin, mit dem niedergeschlagenen Aufstand der Pariser Kommune endete; weshalb ihr der Krieg siebzigeinundsiebzig, als Ratten roh und gebraten wieder mal ihren Preis hatten, besonders wichtig ist. Sobald sie zu längerem Vortrag ausholt, sagt sie: Als wir zur Zeit der Pariser Kommune... oder: Das war kurz nach dem Aufstand der Pariser Kommune... Nach Rechnung der Rättin beginnt kurz vor der Pariser Kommune die trostlose und, wie sie sagt, nichtswürdige Geschichte der weißhaarigen und rotäugigen Laborratte. In den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts wurde es in England und Frankreich Mode, hundert bis zweihundert gefangene Wanderratten unentrinnbar mit einem besonders scharfen Hund, in der Regel mit einem Terrier einzusperren und Wetten über den Zeitaufwand der Rattenvernichtung abzuschließen; ein Vergnügen nicht nur der unteren Klassen. Sobald sich jedoch zwischen gefangenen Ratten Albinos befanden, wurden diese ausgesondert und in Schaubuden und Menagerien als Kuriosität gezeigt. Solche Selektierungen hielten etwa zehn Jahre an, bis ein Gesetz das Rattenverbeißen als Wettspiel zuerst in Frankreich, verspätet in England unter Verbot stellte. Doch da der Bedarf an weißroten Ratten inzwischen gestiegen war, begann man für Schaustellungen geeignete Albinos paarweis zu halten und kam so zu einer Vielzahl weißroter Würfe.
Ein Arzt in Genf, sagt meine Rättin, habe als erster Laborversuche mit den Weißroten gemacht, indem er Nahrungsmittel testete, später Medikamente ins Futter mischte, schließlich seine Laborratten mit Bazillen häufiger Humankrankheiten Diphtherie, Scharlach, Grippe infizierte, doch erst fünfunddreißig Jahre nach dem Aufstand der Pariser Kommune, als im WistarInstitut in Philadelphia die Großproduktion jener bis kurz vor Ultimo nützlich genannter Laborratten begann, setzten sich Weißrote weltweit als Versuchsobjekte durch. Meine Rättin sagt: Etwa hundertundfünfzig Jahre nach unserer Anlandung in Europa wir kamen per Schiff beginnt mit dem Eintritt der Laborratte in die Humangeschichte die Entwicklung zum Großen Knall hin.
Als sie mich soweit historisch unterwiesen hatte, sagte sie: Wußtest du übrigens, daß die Zuchtlaboratorien in Wilmington, Delaware, ihren Welthandel im letzten Jahr der Humangeschichte mit achtzehn Millionen Laborratten per anno und einem Gewinn von dreißig Millionen Dollar beziffert haben? Nicht auszureden ist ihr der zeitraffende Umgang mit dem zwanzigsten Jahrhundert. Den ersten, den zweiten Weltkrieg und den von ihresgleichen vorweggenommenen dritten faßt sie zu einem einzigen Kriegsgeschehen zusammen, das, nach ihren Worten, folgerichtig mit dem Großen Knall endete. Deshalb spricht sie, sobald sie erzählend ausholt, von der Zeit vor oder nach dem Großen Knall. Neuerdings benutzt sie auch Wörter wie Humanzeit oder posthumane Zeit.
Als sie mir kürzlich träumte, sagte sie: Das war noch während der Humanzeit, aber gut hundertfünfzig Jahre nach der Hausrattenzeit, als zu Beginn der Laborrattenära die russische Ostseeflotte, unter Befehl des Admirals Rosjéstwenski, von Libau aus in See stechen wollte, worauf wir von Bord gingen. Und bald nach der Seeschlacht von Tsushima, an der wir nur auf japanischen Schiffen teilnahmen, begann jener große Krieg, der sich, trotz einiger Unterbrechungen, die man erfinderisch für die Entwicklung neuer Vertilgungsmittel nutzte, das Ziel gesetzt hatte, die Menschheit zu vernichten, um mit dem Ende des dreistufigen Weltkrieges die posthumane Zeit einzuleiten. Neulich nahm die Rättin auf unsere Zählung Rücksicht und sagte: Nach Datierung der Humangeschichte war es im Jahr 1630, als wir mit der Flotte des schwedischen Königs Gustav Adolf auf der pommerschen Insel Usedom landeten und anläßlich dieser Anlandung, Usedom vorgelagert, eine versunkene Stadt entdeckten, die, zur Hausrattenzeit gegründet, anfangs Jumne hieß und später anders genannt wurde. Als die Rättin mit nächstem Satz den Namen der versunkenen Stadt nannte, jammerte es in mir: Oh Gott! Wenn die Frauen wüßten, daß die Rättin weiß, wo Vineta liegt, müßten sie verzweifeln. Ich muß sie warnen. Sobald ich erwache, werde ich Damroka von meiner Rättin, von Hausratten und Wanderratten, von rotta, radau, rät, radda und rotto erzählen, die erst nach der Lautverschiebung ratz, ratze, italienisch ratto, französisch rat und deutsch Ratte und Rättin genannt wurden.
Zornig fiel ich ihr ins Wort, als sie zu längerem Bericht ausholte: Das war nach dem Großen Knall...
Lüge! schrie ich. Alles Lügen. Gab keinen Großen Knall. Und wenn es ihn geben sollte, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, werdet auch ihr, wirst auch du, Rättin, diesen Tag X nicht überleben.
Sie blieb ungerührt, erklärte mir noch einmal das seit Noahs Zeiten bewährte Pfropfensystem und sagte: Schon vor dem Knall haben wir, sobald nach Kammerjägerart versucht wurde, Gänge und Nistkammern zu vergasen, Altratten als Pfropfen gesetzt, die mit fettem Hinterteil unsere Zufluchten fugendicht abschlössen.
Als ich weiter Lüge! und Nein! schrie, machte sie einen Sonderschüler aus mir: Deine Dummheit, Alterchen, fordert uns viel Geduld ab. Du wirst nachsitzen müssen. Dir zur Belehrung denn nichts weißt du, nichts! soll mit Schulkreide unser Sicherheitssystem auf die Tafel kommen.
Während mir wieder einmal, als müßte ich ewiglich Belehrungen ausgesetzt bleiben, eine Schultafel in den Traum gerückt wurde, hörte ich: Übrigens haben wir niemals Alttiere zwingen müssen, uns in Schutz zu nehmen. Oft boten sich so viele an, daß wir für jeden Zugang drei Pfropfen hintereinander setzen und alle Nistkammern gegen humane Vergasungsversuche absolut dicht machen konnten. Wie wir uns strecken, verdünnen und geschlankt durch enge Rohrleitungen zwängen können, so sind wir in der Lage, uns aufzupumpen und zum Pfropfen nicht nur gegen Giftgas, sondern auch gegen Wassereinbruch zu werden; womit unser Überleben der Sintflut endlich, so hoffen wir, auch deinem Unverstand erklärt sein sollte.
Also zeichnete sie auf schwarzer Tafel Gänge, Kammern und Pfropfen: ein Labyrinth. Sie hörte nicht auf, Lektionen zu erteilen: Als wir noch kürzlich durch die alte Stadt Danzig gingen und du, unser Freund, unverhohlen Freude zeigtest über den zwar rußgeschwärzten, aber in seiner Substanz guterhaltenen Zustand der vielen historischen Sehenswürdigkeiten, magst du gedacht haben: Erstaunlich, wie unbekümmert der Rattenalltag nach dem Großen Knall verläuft. Doch dieser Eindruck täuscht. Immer noch werden wir von plötzlichen Staubstürmen heimgesucht, gegen deren zersetzende Wirkung nur Flucht in die Gangsysteme, der altbewährte Pfropfen hilft. Anfangs hatten wir Mühe, auch in posthumaner Zeit zahlreich zu sein. Viele Würfe mußten weggebissen werden: fehlende Glieder, offene Köpfe, knotige Schwänze. Deshalb sichern wir unsere Nistkammern immer noch durch Altratten. Ihre von Geschwulsten gezeichneten Hinterteile beweisen, wie notwendig dieser Dienst nach wie vor ist. Schau nur, Freund, schau genau hin.
Und es drehte die Rättin sich und wies mir ihr Hinterteil, damit ich sie als Altratte erkannte, die Pfropfendienst gegen radioaktiven Befall leistet. Sie zeigte eine einzige schwärende Wunde. Knochen freigelegt. Der Schwanz, gereihte Knorpel nur noch. Nichts war vom Fell geblieben. Geschwülste mit Eiterfluß. Ihr Geschlecht, ein pulsierender Krater, der Schaum schlug, verkrampfte, Gerinnsel ausspie . . .
Rättin ! schrie ich. Du stirbst mir weg.
Na und? Sie drehte ihr Hinterteil, diesen Wundherd, langsam, zu langsam weg.
Ich werde in meiner Raumkapsel allein, verdammt allein ohne dich sein . . .
Du übertreibst.
Sei wieder heil, Rättin, ich bitte dich!
Da hörte ich sie leise lachen, nun wieder die Witterhaare im Bild: Du dummer alter Paps. Hast du noch immer nicht bemerkt, daß wir dir bleiben, immer wieder nachgeboren erhalten bleiben, daß uns euer humanes Ich und dessen Sterblichkeit unbekannt ist, weil unser Ich sich aus ungezählten Rattenleben bildet und so den Tod aufhebt? Fürchte dich nicht. Wir gehen dir nicht verloren. Nie wirst du ohne uns sein. Wir hängen an dir, denn schließlich bist du es gewesen, der nützlich wurde, als eine Fehlerquelle vonnöten war, mit deren Hilfe der Große Knall ausgelöst und die posthumane Zeit eingeläutet werden sollte...

Da stimmt doch was nicht.
Weiß nicht was, die Richtung womöglich. Irgendwas, aber was, falsch gemacht, doch wann und wo falsch,
zumal alles läuft wie am Schnürchen, wenn auch in eine Richtung,
die mit Schildern als falsch ausgewiesen ist.

Jetzt suchen wir die Fehlerquelle.
Wir suchen sie außer uns wie verrückt, bis plötzlich jemand wir sagt,
wir alle könnten, mal angenommen zum Spaß, die Fehlerquelle oder du oder du
könntest sie sein.
Wir meinen das nicht persönlich.

Jeder gibt jedem den Vortritt.
Während wie geschmiert alles
in falsche Richtung läuft,
von der gesagt wird,
es gebe, auch wenn sie falsch sei,
die eine nur, begrüßen die Menschen sich mit dem Ruf: Ich bin die Fehlerquelle, du auch?

Selten sind wir so einig gewesen. Niemand sucht mehr, wo was und wann falsch gemacht worden ist.
Auch wird nicht nach Schuld gefragt oder Schuldigen.

Wissen wir doch, daß jeder von uns. Zufrieden wie nie zuvor laufen alle in falsche Richtung den Schildern nach und hoffen, daß sie falsch sind
und wir gerettet nochmal.

Im kosmischen Lehnstuhl angeschnallt wurde ich steif vor Schreck. Hör auf, Rättin! Mach keine Witze. Ich soll, ich habe, einzig ich bin?
Dumm-, taub-, totstellen rief ich mir zu und stellte mich dumm, taub und tot.
Jetzt erst begriff ich: Das paßt ihr in den Kram. Setzt mich in eine Raumkapsel und macht mich zur Fehlerquelle. Hübsch ausgetüftelt hat sie sich das, denn tauglich wäre ich schon: ein technischer Idiot, der, in diesem Gehäuse fehl am Platze, ein Risiko ist. Unfähig, einen simplen Taschenrechner zu bedienen und fern jeder Ahnung, was diese oder jene Mikroprozessoren alles wissen, können und ausführen, sitze ich hier als Fehlerquelle goldrichtig; denn sie behauptet, ich hätte dumm und fahrlässig mit Tasten und Knöpfchen gespielt. Als einer im Weltraum herumpfuschenden Null wäre es mir aus Langeweile und weil der Sonntag nicht aufhören wollte, plötzlich eingefallen, die niedlichen Siliziumchips zu irritieren; schlimmer noch: Über Video-Transfer hätte ich Bildmaterial aus Science-fiction-Filmen und zwar Sequenzen aus Endzeitschnulzen in den realen Output gegeben, dabei das Störsignal übersehen, so daß mein Katastrophenprogramm Fremdobjekte im Zielanflug schließlich den Erdterminal zuerst der westlichen, dann der östlichen Schutzmacht gespeist habe; die hätten natürlich beide nicht lange gefackelt.
So konnte der Große Knall, sagte die Rättin, auch ohne Zutun der Ratten ausgelöst werden. Es sei mir gelungen, mit traumhaft spielerischer Sicherheit und bildscharf jene zielstrebigen Fremdobjekte einzufüttern und den Zeitcode, der anfangs rappelte, wieder zu harmonisieren.
Ich bin die Fehlerquelle! Ausgerechnet mir soll es gelungen sein, spielerisch Schluß zu machen. Nein! schrie ich. Das kommt nicht auf meine Kappe. Du solltest es wissen, Rättin, daß, ich kaum Glühbirnen auswechseln kann und Autofahren auch nicht. Das war immer so, schon als Pimpf, später als Luftwaffenhelfer bei unserer Achtkommaacht, wo ich als K sechs mit dem Folgezeiger nie den Richtzeiger einholte, weshalb ich noch heute diese und andere Unfähigkeiten träume. Ich als Orbit-Observer! Ich als Space-Turner. Ich, ohne Ahnung, was Chips und Klips sind. Ich, der das Kosmonautengequatsche nur aus Filmen kennt. Ich, der vorhin noch verzweifelt versuchte, aufzuhalten, was sich vollzieht, indem ich nach unten Aufhören! Falscher Alarm! rief.
Vergeblich natürlich. Ich kann das ja nicht. Bin zu dumm dafür. Erde! rief ich. Antworten Erde! Aber es kam nur Piepen. Stille danach. Eigengeräusch.
Ich will jetzt aufwachen, sagte ich mir im Traum. Ich will nicht als Fehlerquelle geträumt werden. Gleich nach dem Aufwachen, will ich, vorm Teetrinken noch, nach der Zeitung greifen. Das wollen wir doch mal sehen, was die zu melden haben. Nichts wird von einer Fehlerquelle geschrieben stehen. Im Gegenteil: alles läuft wie gewohnt. Natürlich gibt es Gefahren, aber wann gab es keine? Noch nie war der Friedenswille so groß!
Dennoch sollten sie gewarnt werden, die alten Männer, deren Finger so nah am Knöpfchen zittert. Hört, rief ich, ihr mächtigen Greise: Es heißt, ihr wollt miteinander sprechen und nicht mehr ganz so bös aufeinander sein. Das ist gut so. Redet, bitte redet, ganz gleich über was, aber redet. Und doch müssen wir uns fragen: Was hilft der Welt das neuerliche Gerede, wenn sich abseits eurer Friedensrederei zuerst klitzekleine, dann ziemlich massive Fehler in unser Sicherheitssystem einschleichen, ich meine, sich durchfressen, wie sich gewisse Nager durch Holz, Beton, durch Metall sogar durchfressen, bis sie nehmen wir spaßeshalber mal an in beide Zentralcomputer gelangt sind, dort Unsinn anstiften, schlimmer noch, alle Chips und Klips, unsere so sorgfältig ausgetüftelte Sicherheit durcheinanderbringen, nein, noch schlimmer nicht durcheinanderbringen, vielmehr was da ist und auf Gelegenheit lauert, auslösen, etwas Endgültiges, das nicht mehr zurückgerufen werden kann. Nager schaffen das. Mäuse, zum Beispiel, die kommen überall durch rein raus, kein Löchlein ist denen zu klein, kein Spalt zu eng.
Deshalb, ihr Greise, gilt es Alarm zu geben. Hört ihr, Alarm! Umgehend, nein, sofort müssen die computerhörigen Kommandozentralen der beiden Schutzmächte gegen Mäusebefall gesichert werden. Und nicht gegen Mäuse nur. Immerhin könnte es sein, daß andere, besonders zähe und gegen Gift immune, zudem besonders intelligente Nager, Ratten zum Beispiel, alle für Mäuse wirksame Sicherheitsmaßnahmen umgehen und den humanen Friedenswillen ignorieren. Warum? Aus welchen Motiven?
Na, Schlußmachen wollen sie mit uns, mit der Menschheit total, weil sie uns satt haben, weil sie sich posthumane Zeiten erträumen und nur noch lustig für sich sein wollen; allenfalls Asseln noch, säugende Schmeißfliegen und sirrende Flugschnecken ...
Denn hört, ihr Großen, die ihr so viel Verantwortung tragen müßt, hört, was mir träumte: Es gibt uns nicht mehr. Ich sah in GdaDsk, wo ich als Kind, als Hitlerjunge, als Luftwaffenhelfer zu Hause gewesen bin, nur Ratten noch. Dann träumte mir: Ich sitze in einer Raumkapsel, bin aber nicht auf stellare Erscheinungen fixiert, sondern bemühe mich, was auf der Erde geschieht, in meine Technik zu füttern, damit man unten endlich begreift, daß es nicht weitergehen kann so. Ich meine die vielen Probleme, die, von oben gesehen, überall deutlich ungelöst rumliegen. Zum Beispiel: Wohin mit dem Müll? Oder: Wie sollen die viel zu vielen Quallen gezählt werden? Und wer wird die sterbenden Wälder wieder gesundmachen, sobald wir, wie im Märchen der Prinz, die Fehlerquelle endlich entdeckt haben?
Kurz vorm Erwachen gelang es mir doch noch, in meiner Raumkapsel den Monitor zu beleben. Nach üblichem Bildsalat, was Träume so mit sich bringen abermals unfähig als K sechs -, sah ich mehrere Märchengestalten in einem Auto unterwegs...

Mit Rumpelstilzchen am Steuer, dem ausgelosten Zwerg als Beifahrer, mit dem schlafsüchtigen Dornröschen und dem wachküssenden Prinzen auf den Rücksitzen, fahren sie durch die Stadt Bonn, von der behauptet wird, sie sei die Bundeshauptstadt.
Der Zwerg sitzt auf zwei Kissen und hält mit suchendem Zeigefinger einen Stadtplan auf den Knien. Ortsfremd folgt Rumpelstilzchen den Anweisungen des Zwerges: »Links einordnen!« »Nach der zweiten Straße rechts abbiegen.« Immer wieder küßt der Prinz sein Dornröschen wach, um der Prinzessin hauptstädtische Sehenswürdigkeiten zu zeigen: den Rhein von der Rheinbrücke aus, dann die Beethovenhalle, später, nach einigen Irrfahrten durch die Quartiere der Lobbyisten, ein Hochhaus, das von drei Großbuchstaben erhöht wird und einen modernen Flachbau, der dennoch an eine Baracke erinnern soll. Dornröschen muß ihre langumwimperten Plieraugen weit aufreißen, schläft aber immer wieder ein. Beinahe übersieht Rumpelstilzchen das Haltgebot einer Ampel. »Rot!« schreit der Zwerg.
In der Innenstadt gerät der alte Ford, dessen Motor, dank Hexenbenzin, nicht müde wird, zwischen viele Protestumzüge, die unterschiedliche, oft gegensätzlich laute Transparente vor sich hertragen. Der Prinz und der Zwerg lesen: »Wann kommt das Babyjahr?« »Türken raus!« »Raketen weg!« »Den Frieden aufrüsten!« »Gegen Tierversuche!« »Weg mit Ratten und Schmeißfliegen!« und: »Auch ohne Wald geht das Leben weiter.« »Der Wald stirbt und die Grimmbrüder schlafen!«
Einige Demonstranten sind vermummt, andere mit Dachlatten bewaffnet, viele haben sich als Leichen oder wie zinkgrüne Ratten kostümiert. Jemand liest stehend eine Zeitung, deren Schlagzeile »Russen halten Kanzlerkinder versteckt!« schreit. Weil der Verkehr gerade stockt und der Zeitungsleser nahbei steht, liest der Zwerg den Aufmacher vor. Er kichert und klatscht in die Händchen.
Endlich das Schild »Zum Bundeskanzleramt«. Nach kurzer Fahrt halten sie vorm Kontrollhaus. Beim diensttuenden Offizier weist sich Rumpelstilzchen als Leiter der Kommission »Rettet die Märchen« aus. Wieder einmal muß der Prinz sein Dornröschen wachküssen: »Wir sind da, Liebste!«
Weil der Diensttuende zögert, sagt der Zwerg einen längeren Stummfilmtitel auf: »Wir suchen das Sonderministerium für mittelfristige Waldschäden und sind bei den Herren Minister und Staatssekretär Jacob und Wilhelm Grimm gemeldet. Unser Kennwort heißt Märchenstraße. Es eilt!«
Auf Weisung des Diensttuenden tippt ein wachhabender Soldat das Kennwort in die Elektronik. Auf dem Monitor steht »Kennwort Märchenstraße«. Dann kommt Antwort: »Märchenstraße freigeben«. Der Schlagbaum hebt sich. Der Diensttuende salutiert. Aus offenem Fenster gibt der Prinz Trinkgeld. Erstaunt sieht der junge, ein wenig überforderte Offizier in seinem Handteller eine goldene Münze. (Hier könnte unser Herr Matzerath Rat geben. Soll es ein Maxdor, ein Goldrubel sein?) Im Knusperhäuschen sehen die Märchengestalten, was in Bonn geschieht. Sobald die Delegation den alten Ford verläßt und von Jacob und Wilhelm Grimm vorm Portal des Ministerriums in Empfang genommen wird, klatschen sie Beifall. Sogar des Mädchens abgehauene Hände klatschen. Hänsel und Gretel erklären Rapunzel, wer Jacob, wer Wilhelm ist. Aufgeregt knabbert die Hexe an Knöchlein aus ihrer Sammlung. Die schwerhörige Großmutter sagt zu Rotkäppchen: »Hoffentlich bringen sie mir das Wörterbuch mit. Es müssen ja nicht alle Bände sein. Der Zwerg hat's versprochen.«
In den Amtszimmern der Grimmbrüder hängen an den Wänden großflächige Landkarten, die Waldgebiete und, verschiedenfarbig markiert, Waldschäden zeigen. Jacob bittet die Märchengestalten, um ein Rauchertischchen Platz zu nehmen. Wilhelm legt der Delegation ein altes Exemplar der Grimmschen Hausmärchen vor und bittet um Signaturen. Zuerst signiert Dornröschen, dann der Prinz. Der Zwerg zeichnet als »Dritter Zwerg«. Rumpelstilzchen holt zu großer Unterschrift aus, zögert und macht drei Kreuze. Erst auf Dornröschens Bitten sie sagt: »Aber die Herren wissen doch...« schreibt er in Klammern »Rumpelstilzchen« daneben.
Nachdem der dritte Zwerg die lustig arrangierten Schlümpfe in Jacob Grimms Vitrine bestaunt hat, trägt er (nach einem Vorschlag, den unser Herr Matzerath gemacht hat) den Wunsch von Rotkäppchens Großmutter nach dem Grimmschen Wörterbuch vor: »Sie hört so schwer und liest so gerne.« Geschmeichelt überreicht Jacob Grimm ein Exemplar mit Signatur: »Endlich ist sie erschienen, die vollständige Ausgabe. Es ist der erste Band von A bis Biermolke. Gerne wollen wir weitere Bände nachliefern.«
Jetzt erst bringen die Märchengestalten ihre Klage vor. Rumpelstilzchen springt auf, fordert, stampft den Boden, schüttelt Fäuste. Vornehm und verbindlich wie ein Diplomat gibt sich der Prinz. Der dritte Zwerg agitiert mit anarchistischen Untertönen. Soeben wachgeküßt, jammert Dornröschen mit schwimmendem Blick.
Die Klagen der Märchengestalten sollten in Gesten vom Kniefall bis zum Händeringen von starkem Ausdruck sein und sich mit nur wenigen Untertiteln helfen: »Ohne Wald sind wir verloren!« »Mit dem Wald werden auch wir sterben.« »Arm werden die Menschen ohne Wälder und Märchen sein.« »Rächen werden wir uns!«
Jacob Grimm zeigt auf Fotos von riesigen Fabrikanlagen und Autohalden. Er sagt: »Wir sind leider machtlos. Die Demokratie ist nur Bittsteller. Das große Geld hat die Macht!« Wilhelm Grimm ist den Tränen nahe: »Nicht nur die Mächtigen, wir alle werden mitschuldig sein, wenn der Wald stirbt.« Jetzt heult Dornröschen und läßt sich vom Prinzen nicht trösten. Der dritte Zwerg flucht: »Doch nach den Wäldern werden die Menschen sterben!«
Wütend reißt sich Rumpelstilzchen sein für diesen Effekt präpariertes Bein aus und legt es demonstrativ auf den Schreibtisch des für mittelfristige Waldschäden zuständigen Ministers im Bundeskanzleramt.
Im Knusperhäuschen sehen die Märchengestalten im Zauberspiegel, wie ratlos man in Bonn ist. Alle sind niedergeschlagen. Rapunzel hüllt sich in ihr Haar, will nichts mehr sehen und hören. Schneewittchen möchte am liebsten den in Kunstharz eingeschlossenen Giftapfel essen. Einer der sechs im Märchenwald gebliebenen Zwerge ruft: »Muß denn auf ewig und immer der Kapitalismus siegen!?« Verzweifelt trampelt Rotkäppchen mit roten Stiefelchen: »Scheiße! Ich laß mich vom Wolf fressen!« und läuft aus dem Haus.
Die Großmutter versteht nichts, schüttelt den Kopf, nimmt das beiseite liegende Lackkästchen der Bösen Stiefmutter, schaltet Bonn aus und den Schwarzweißfilm »Rotkäppchen und der Wolf« ein. Nach kurzem Bildsalat, der verschiedene Märchenmotive ahnen läßt, sieht sie endlich, wie der Wolf Rotkäppchen frißt und feurige Augen hat.
Ärgerlich schaltet die Böse Stiefmutter ihren Zauberspiegel aus und ruft: »Was soll dieser Unsinn, Großmutter!« Während Hänsel die verzweifelten Märchengestalten zu trösten versucht, läuft Gretel zum Brunnen, wo sie mit einem Guß aus dem Wassereimer den Froschkönig aus dem Brunnenloch holt. Schmerzhaft lächelnd akzeptiert die damenhafte Prinzessin eine beginnende Dreierbeziehung. (Diese Komplikationen wünscht sich unser Herr Matzerath.)
Doch nun jammert die Hexe laut: »Ach! Ohne Wald werden sich die Kinder nie wieder verlaufen können.« Hänsel tröstet sie, kann sich aber, bevor sie ihn zwischen ihre Titten nimmt, losreißen. Er ruft: »Schluß mit dem Gejammer! Es wird einen Weg geben. Wir müssen nur wollen! Der Mensch kann ohne Wald nicht leben. Ist das klar endlich!?«
In Bonn hat Wilhelm Grimm plötzlich eine Idee. Er sucht die Waldkarten an den Wänden ab und sagt: »Wir werden den Kanzler bewegen, mit uns und weiteren Experten endlich den sterbenden Wald zu besichtigen.«
Jacob Grimm stimmt zu: »Vielleicht geschieht dort ein Wunder.« Der dritte Zwerg will es genau wissen: »Wo, wo genau soll das sein?«
Jacob Grimm zeigt auf der großen Waldkarte, wo der Besichtigungsort sein wird. Wilhelm Grimm zieht mit dem Rotstift einen Kreis um die Besichtigungsstelle. Der Prinz küßt das weinend eingeschlafene Dornröschen wach und weist mit schönem langem Finger auf den Ort zukünftigen Geschehens, und Rumpelstilzchen schnallt sich wieder sein Bein an. Im Knusperhäuschen wird die glückliche Wendung im Zauberspiegel eingefangen. Hänsel notiert den Besichtigungsort. Mit einer primitiven Waldkarte kommen die Zwerge. Hänsels Notiz wird mit der Karte verglichen. Sie finden die Stelle, tragen sie ein und tüfteln mit Hänsel einen Plan aus. Die anderen Märchengestalten sehen fern. Der Zauberspiegel zeigt die Abfahrt der Delegation. Dornröschen hat Wilhelm zum Abschied ein Küßchen gegeben. Die Grimmbrüder winken dem alten Ford nach. Das Mädchen ohne Hände ist so gebannt, daß seine abgehauenen Hände gleichfalls winken. Mürrisch schaltet die Großmutter den Zauberspiegel ab und ruft: »Wo steckt denn Rotkäppchen, das dumme Ding!« Sie stöckert vors Haus. Alle folgen ihr.
Im Käfig wird der schlafende Wolf auf die Seite gelegt. Rübezahl öffnet den Reißverschlußbauch. Kaum aus dem Wolf gekrochen, wird Rotkäppchen von der Großmutter geohrfeigt. Mit Hilfe der Waldkarte klären die Zwerge alle Märchenfiguren über den ausgetüftelten Plan auf. Hänsel, Rübezahl und das Mädchen ohne Hände kommen mit Werkzeug: Schaufeln, Rechen und Hacken.
Da nähert sich aus dem Wald der alte Ford mit der Delegation. Alle finden sich zur großen Begrüßung. Die Hexe schmeichelt Rumpelstilzchen. Lärm und Schulterklopfen bei den Zwergen, die mit dem dritten Zwerg wieder vollzählig sind.
Die Großmutter bekommt Band I des Grimmschen Wörterbuches geschenkt und liest (wie es sich unser Herr Matzerath laut Drehbuchänderung gewünscht hat) aus dem Wörterbuch einzelne, als Untertitel lesbare Wörter vor: »Angst, angstbar sein, was alles uns ängstigt, Angstbeben, im Angsthaus wohnen, im Angstrad laufen, Angstschweiß, angstvoll, ängstlich ...«
So viele »Angstläuse« kümmern die anderen nicht. Unter großem Hallo wird der alte Ford von der Hexe abermals aufgetankt. Hänsel und die Zwerge rufen: »Aufbruch!« und »Äktschen pließ!« Rübezahl wirft den Ford an.
Auf Weisung der Hexe holt ein Zwerg Dornröschens Spindel. Ein anderer Zwerg drückt Jorinde und Joringel Hacken in die Hände. Die Böse Stiefmutter trägt den Zauberspiegel aus dem Knusperhäuschen. Rapunzel steckt unternehmungslustig ihr Haar hoch. Das Mädchen befiehlt seinen abgehauenen Händen, eine Schaufel zu fassen.
Alle wollen aufbrechen, nur die Großmutter will mit dem Wörterbuch zu Hause bleiben. Sie liest den anderen laut vor: »Den Abschied geben, zur Abschiedsstunde, er nahm seinen Abschied, wie Scheiden und Meiden gemeint, Abschiedsbecher gleich Scheidetrunk, des Mondes Abschiedsblick...« Die Märchengestalten antworten mit Abschiedsküssen. Den letzten gibt Rübezahl der Großmutter überm Wörterbuch. Jetzt erst schickt das Mädchen mit den abgehauenen Händen seine Hände mit der Schaufel voraus. Sie fliegen, gefolgt von sieben Raben davon. Überladen mit Märchengestalten verschwindet der alte Ford im Wald. Zurück bleiben einzig die Großmutter und der Wolf. Ihm liest sie aus dem Grimmschen Wörterbuch vor: »Abschlag, abschwatzen, das abgeschlappte obere Augenlid, die Abseite, der abständige Mensch...«

Die schönen Wörter.
Nie mehr soll Labsal gesagt werden.
Keine Zunge rührt sich, mit Schwermut zu sprechen. Nie wieder Stimmen, die uns Glückseligkeit künden. Soviel Kümmernis sprachlos.
Abschied von Wörtern, die vom Mann im Land Uz sagen, er sei nacket von seiner Mutter Leibe kommen.

Könnten wir fernerhin Biermolke
oder Mehlschütte, Honigseim, Krug sagen.
So barmen wir der Amme nach.
Wer weiß, daß der Specht einst Bienenwolf hieß? Wer hieße gerne Nepomuk, Balthasar, Hinz oder Kunz? Abschied nehmen Wörter, die um die Morgengabe, ums Vesperbrot, Abendmahl baten.

Wer wird uns Lebewohl nachrufen,
wer flüstern, das Bett ist gemacht?
Nichts wird uns beiliegen, beschatten, beiwohnen und uns erkennen, wie der Engel der Jungfrau verheißen hat.

Zum Abschied mit Taubheit geschlagen, gehen die Wörter uns aus.

DAS SI EBTE KAPITEL,indemvormBundestag geredet wird, die Sieben Zwerge Individuen sind,fünf Frauen von Bord gehen und was erleben wolen, laut und leise die Quallen singen, unser HerrMatzerath ankommt, Malskat gotisch im Hochchor turnt, vereinsamt die Rättin jammert, Dornröschen sich mit der Spindelsticht und das Schiff über Vineta ankert.

Als mir mit der Stadt Danzig, durch, die einzig ich als Gassenläufer lief, die Rättin träumte, als das Schiff, unterwegs nach Vineta, zögerte, zögerte und nicht im Hafen von Visby anlegen wollte wie auch Oskar unterwegs, auf Polens Chausseen unterwegs blieb -, träumte mir, nachdem ich in weiteren Träumen mehrmals Nein! gerufen, es muß einen Ausweg geben! behauptet und klitzeklein Hoffnung beschworen hatte, ich dürfte vor den Bundestag treten und frei oder vom Blatt eine Rede halten. Und als ich die Abgeordneten in Fraktionen vor mir sitzen sah, den Bundestagspräsidenten erhöht hinter mir und den Kanzler mit seinen Ministern rechts von mir wußte, nahm ich, als wäre es greifbar gewesen, das Wort: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mir ist, als sehe ich Sie alle in ihrer wohldurchdachten Sitzordnung wie im Traum. Und weil ich im Traum hinters Rednerpult gestellt bin, kann es geschehen, daß manches Detail meiner Ausführungen von den Rändern her verschwimmen, andere verletzend scharfkantig sein werden. Träume haben nun mal ihre besondere Optik; sie bestehen auf Unausgewogenheit. Ihrer erforschten Natur nach sprechen sie zwar auf höherer Ebene wahr, nehmen es aber unterm Strich nicht allzu genau; denn schon jetzt, nach erstem Blick in den vollbesetzten Plenarsaal, beginnen die Übergänge von Fraktion zu Fraktion zu zerfließen: ich erkenne keine Parteien mehr, ich sehe nur noch Interessen.
Auch kommt es zu befremdlichen Nebenhandlungen. Kaum habe ich meine Rede begonnen, fällt auf, wie ein Schwarm uniformierter Geldbriefträger etlichen Abgeordneten Scheine hinblättert und wiederholt die Ministerbank mit Summen bedient, wobei vor jeder Vergütung Daumen befeuchtet werden. Außerdem ist mir, als schiebe der Bundeskanzler zu meiner Rechten, während ich rede, Stück für Stück einen großen Keil Buttercremetorte in sich hinein.
Natürlich weiß ich, daß Abgeordnete und Minister nicht öffentlich ausgezahlt werden. Niemals gäbe der Kanzler seiner Lust am Süßen so offensichtlich nach. Nur mein Traum macht das möglich. Er entblößt die Wirklichkeit und erlaubt mir sogar, den Schwarm immer noch wuselnder Geldbriefträger aufzufordern, wohlverdient eine Frühstückspause einzulegen; es muß ja nicht rund um die Uhr bestochen und hinterzogen werden. Ferner bitte ich Sie, Herr Bundeskanzler, ein zweites Tortenstück für meinen Nachredner aufzusparen, damit frei von ablenkenden Nebentätigkeiten ein Vorschlag laut werden kann, der ausschließlich der Kultur förderlich sein soll. Es geht um die Neutronenbombe. Sie erinnern sich, meine Damen und Herren, gestritten wurde um sie. Geächtet sollte sie werden. Empörung kam auf. Auch ich war dagegen, damals. Ausgesprochen unmenschlich nannte ich sie. Und das ist sie, ist sie immer noch. Denn wo die Neutronenbombe hinhaut, geht der Mensch drauf und mit ihm alles Getier. Ich habe mir sagen lassen, daß die beschleunigten Neutronenund Gammastrahlen zuerst das menschliche Nervensystem lähmen, dann den Magen-Darmtrakt zerstören, gleichzeitig innere Blutungen, heftigen Schweißfluß und Durchfall auslösen, schließlich dem Körper bis zum Eintritt des Todes den letzten Tropfen Wasser entziehen, ihn also entsaften, wie unsere Mediziner sagen.
Entsetzlich ist das und kaum auszudenken. Verständlich deshalb die vielen Proteste. Doch vom entsafteten Menschen und sonstigen Lebewesen abgesehen, geht beim Einsatz von Neutronenbomben so gut wie nichts kaputt. Gebäude, Geräte, Fahrzeuge bleiben heil, also auch Banken, Kirchen, Hochtiefgaragen mit Zubehör. Dennoch hat man damals zu Recht gesagt: Das ist uns zu wenig. Was kann uns an produktionsfähigen Fabrikanlagen, funktionstüchtigen Panzern und intakten Kasernen liegen, wenn der Mensch draufgeht?!
Aber wie, frage ich Sie, meine Damen und Herren, sähe es aus, wenn die Neutronenbombe kultursichernde Aufgaben wahrzunehmen hätte? Was fiele uns zu einer Bombe ein, die als Freundin der Künste schonende Aufgaben fände? Könnte man mit ihr leben, wenn sie zielbewußt nicht nur Panzer und Kanonen, sondern auch gotische Dome und barocke Fassaden heil ließe? Mit anderen Worten, wir alle, die wir noch gestern empört waren, sollten zur Neutronenbombe ein neues, ein entkrampftes Verhältnis gewinnen und ihren wahren, ich spreche es aus: ihren kunstsinnigen Charakter erkennen. Erinnern wir uns: die damals heftige Diskussion hat eine zügige Weiterentwicklung bloß taktischer Geschosse zu strategisch wirksamen Neutronenbomben gehemmt. Doch ließe sich die verlorene Zeit aufholen, zumal es nicht an Kapazitäten fehlt. Wer unsere höchsten Kulturgüter auf Dauer geschützt sehen will und ich bin sicher, daß jeder Abgeordnete von diesem Willen getragen wird -, der muß die Produktion vieler Schonbomben fordern.
Selbstverständlich gilt diese Forderung für beide Schutzmächte. Dem Gleichgewicht des Schreckens muß ein Gleichgewicht der Schonung entsprechen. Deshalb ist ein besonderes Abkommen vonnöten, das die Neutronenbombe als Schonbombe ausschließlich dem Kulturschutz verpflichtet. Eine aus beiden Schutzmachtallianzen gebildete Kommission wird, wenn wir nur wollen, vorerst in Europa, dann aber auf allen Kontinenten tätig werden und die wichtigsten Kulturzentren auflisten. Dann gilt es, Schonzonen gleichgewichtig als Zielgebiete auszuweisen. Schließlich muß in beiden Schutzmachtbereichen nachgerüstet werden, weil das vorhandene Potential nicht ausreichen wird. Wir wollen ja möglichst viel Kultursubstanz schonen, die sonst der atomaren Zerstörung anheimfallen müßte. Wenn ich, meine Damen und Herren, Ihre Zwischenrufe richtig verstehe, beginnen Sie, Interesse zu nehmen. Sie fordern mich auf, zur Sache zu kommen. Sie rufen leidenschaftlich: Kunst ist Geschmackssache!
Wie recht Sie haben. Aber unser Geschmack in Sachen Kunst wird sich finden, sobald wir zu Hause, im deutsch-deutschen Bereich das Bewahrenswerte beim Namen nennen: Ich schlage Bamberg und Dresden als zu neutronisierende Städte vor, wobei ihnen die wiederaufgebaute Semperoper und der Bamberger Reiter als Merkwörter behilflich sein mögen. Es könnten, ohne daß ich mich festlegen will, hier Rothenburg ob der Tauber, drüben Stralsund folgen, dann Lübeck und Bautzen...
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren vielen Dank, Herr Präsident -, Zurufe wie: Und was ist mit Celle? oder: Warum nicht Bayreuth? zu unterlassen, weil der gesamtdeutsche Aspekt der geplanten Verschonung Vorrang genießen sollte. Da anzunehmen ist, daß sich die meisten Städte denn überall gibt es Reste Kulturum die Gunst kunstfreundlicher Neutronisierung bewerben werden, wird der noch zu bildenden Findungskommission viel Verantwortung zufallen. Sie wird Kunstverstand zu beweisen haben. Aber sie wird auch lernen müssen, neinzusagen, sobald der einen oder anderen Stadt, heiße sie nun Leipzig oder Stuttgart, Magdeburg oder Frankfurt am Main, die herkömmliche Zielzuweisung erhalten bleiben muß.
Ja doch, ja! Auch ich bedaure zutiefst. Es schmerzt, sagen zu müssen, daß viele europäische Hauptstädte keinen Neutronenschutz werden beanspruchen können. Doch ließe sich, wenn man entschlossen wäre, rechtzeitig zu handeln, ein Gutteil aller von Nuklearschlägen bedrohten Kulturgüter in Städte verlagern, denen schonende Neutronisierung zugesichert ist. Zum Beispiel könnten die Schätze des Vatikan nach Avignon, die Kunstzeugnisse des Louvre nach Straßburg, was Warschau aufzuweisen hat, nach Krakau und die Glanzstücke der Ostberliner Museumsinsel in den schonungswürdigen Kulturkreis Weimar verlagert werden. Ich schließe nicht aus, daß man freiwillig, wenn auch nicht frei von Wehmut, vertraute Domtüren, liebgewonnene Barockfassaden, seit Generationen benutzte Taufbecken und altgewohnte Brückenheilige in Schonzonen auslagern wird; eine gesamteuropäische Transaktion übrigens, durchaus geeignet, Arbeitsplätze zu schaffen. Warum zum Beispiel sollte es unserem Sachverstand nicht gelingen, den Kölner Dom nach Dinkelsbühl zu versetzen, den London Tower nach Stratford zu tragen?
Denn, meine Damen und Herren, was täten wir nicht, um die Zeugnisse europäischer Kultur zu retten!? So könnte Europa zum letzten Mal Größe unter Beweis stellen und beispielhaft sein, damit uns auf anderen Kontinenten schonungsvoll nachgeeifert werde. Deshalb bitte ich, mir eine persönliche Bemerkung zu gestatten, die mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zu dieser Stunde angebracht ist: Wenn meine Heimatstadt Danzig, die seit Ende des vorläufig letzten Weltkrieges GdaDsk heißt, das Glück haben sollte, den neutronisierten Städten anzugehören, also mit allen Türmen und Türmchen, den Giebelhäusern und Beischlägen, mit ihrem Neptunsbrunnen und all ihrer backsteingotischen Strenge den dritten Weltkrieg überdauern dürfte, fiele mir jedes, aber auch jedes zu bringende Opfer leicht.
Gewiß wird man rufen: Das ist inhuman! Zynismus ist das. Und auch ich habe mich anfangs gefragt: Was nützt uns aller Kulturschutz, wenn in den neutronisierten Städten jegliches Leben, in dessen Fleisch, wie die Bibel sagt, Odem ist, bis zum Eintritt des Todes entsaftet wird? Wer bliebe übrig, das Geschonte zu schauen und staunend zu rufen: Welch unvergängliche Schönheit!?
Wir sollten uns dennoch nicht beirren lassen. Es bleibt keine andere Wahl. Wie die Freiheit fordert auch die Kunst ihren Preis. Deshalb sollten Sie, meine Damen und Herren, mit aller Festigkeit Ihre Entscheidung treffen.
Doch wie ich in den Plenarsaal blicke und sehe, wie sehr sich die Bänke gelichtet haben, mehr noch, daß ich alleine in diesem Hohen Hause bin denn nun ist auch der Kanzler samt Kabinett verschwunden -, beginne ich zu zweifeln. Ich frage mich: Werden die abwesenden Abgeordneten bereit sein, so konsequent kunstfreundlich zu handeln, wie sie bei anderer Gelegenheit, als unsere Freiheit geschützt werden mußte, zu diesen Mittelstreckendingsbums wie heißen sie noch?! mehrheitlich Ja sagten?
Doch fort sind sie, keinem Wort zugänglich mehr. Dabei hätte ich gerne weitere Vorschläge gemacht, geeignet den Schutz der neutronisierten Kunstdenkmäler zu vervollkommnen. Es geht um den Dreck danach.
Wie ich aus posthumaner Quelle weiß und wie alle Experten jetzt schon versichern, werden nach dem Großen Knall Aschewolken den Himmel verfinstern. Stürme werden diesen geballten Ausdruck letzter menschlicher Möglichkeit um den Erdball tragen, so daß die heilgebliebenen Kathedralen, reichverzierten Schlösser und heiteren Barockfassaden bald rußgeschwärzt sein werden. Auf allem wird Ruß liegen. Dicker, fettiger Ruß. Schaden ohnegleichen wäre die Folge. Ein Jammer! Eine Kulturschande! Will denn niemand hören? Heh, Kanzler!
Fort ist er, ließ nur Krümel zurück. Dabei müßte man gegensteuern. Jetzt und sofort! Forschungsmittel müßten freigegeben, deutscher Erfindungsgeist mobilisiert und unsere Chemiekonzerne aufgefordert werden, einen ablösbaren Schutzstoff zu entwickeln, damit der Ruß nicht auf ewige Zeiten...
Ich weiß, die Frage bleibt offen: wer, zum Teufel, soll später die Schutzbeschichtungen lösen? Wären Sie, meine Damen und Herrn von der Opposition, noch anwesend, könnten Sie mich mit dem Zwischenruf Es sind doch alle Menschen verstrahlt, entsaftet, krepiert! in Verlegenheit bringen. Dennoch wüßte ich einen Weg. Es muß ja nicht alle Mühe und Arbeit, wie die Bibel sagt, dem Menschengeschlecht aufgebürdet bleiben. Ich erinnere an die erwiesene Überlebensfähigkeit der gemeinen Wanderratte, Rattus norvegicus genannt. Sie wird sein, wenn wir nicht mehr sind. Sie wird unsere fürsorglieh geschonten Kulturzeugnisse vorfinden. Allzeit dem Menschen anhänglich, wird die überlebende Ratte neugierig wie Ratten nun einmal sind die rußgeschwärzten Schutzschichten Zentimeter für Zentimeter abpellen und staunen über die heile Pracht...
Dann träumte ich nicht mehr, ich dürfte vor dem Bundestag eine Rede halten. Meinen letzten Satz Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre beredte Abwesenheit! hörte ich mich hellwach sprechen.
Wie gut, daß noch nichts entschieden ist: Unser Herr Matzerath unterwegs, das Schiff läuft im Hafen von Visby ein, meine Weihnachtsratte schläft und mag vom Dritten Programm träumen, doch in Grimms Wäldern wächst der Widerstand: alle Märchengestalten sind wildentschlossen.

Wie sollen wir uns die Sieben Zwerge vereinzelt vorstellen? Was läßt sich, außer daß beide das traurigste aller traurigen Paare sind, über Jorinde und Joringel noch sagen? Ist der Kußzwang es wert, gründlicher untersucht zu werden? Das und mehr möchte unser Herr Matzerath wissen, sobald er aus Polen zurück ist. Zwar gefällt es ihm, daß ich allen Sieben eine anarchische Grundhaltung eingebe, doch will er jeden Zwerg individuell ausgestattet sehen. Es könnte der zweite buchhalterisch jeden Kuß des Prinzen auf einem Zählzettel vermerken, während der vierte den wachküssenden Prinzen nachäfft; später werden wir sehen, wie der erste, der sechste und der siebte Zwerg den jungen Mann mit dem unersättlichen Kußmund mißtrauisch überwachen.
Es fällt auf, daß alle Sieben ihr Schneewittchen benutzen: Nicht nur muß das kränkliche Wesen die Wäsche waschen und bügeln, ihnen Knöpfe annähen und sieben Paar Schuhe auf Hochglanz putzen; man sieht auch diesen und jenen mit dem immer folgsamen Hausmütterchen in einer Dachkammer verschwinden. Sobald der Kunde nach relativ kurzer Zeit pfeifend treppab steigt, und Schneewittchen Mal um Mal erschöpfter aus ihrer Kammer wankt, kassiert die Böse Stiefmutter Münzen alter Prägung, preußische Thaler, Goldstücke darunter. Ruppig sind sie, laut und in ihre Knobelspiele vernarrt. Gemeinsame Übungen halten sie körperlich fit: Fingerhakeln und Beinstellen. Höflich gehen die Zwerge nur mit der Hexe um, die von allen Pensionsgästen, sogar von der Bösen Stiefmutter respektiert wird; beide vertiefen sich gelegentlich in Gespräche, in deren Verlauf Emanzipationsfragen nicht unbeantwortet bleiben.
Allzeit tritt die Wirtin des Knusperhäuschens als Herbergsmutter, also streng und fürsorglich zugleich auf, und nur gelegentlich, wenn sie mit Hänsels Fingern spielt, wird ihre Natur deutlich. Man darf vermuten, daß sie ein Verhältnis mit dem Hausknecht Rübezahl oder mit Rumpelstilzchen oder mit beiden hat, denn der ungeschlachte Riese und der humpelnde Kellner parieren erschrocken, sobald sie den langen Zeigefinger krümmt. Sie sieht es nicht gerne, wenn sich Rübezahl von Rapunzel den Bart kämmen läßt. Es mißfällt ihr, wenn Rumpelstilzchen sein Bein abschnallt, um den Stumpf mit den Armstümpfen des Mädchens zu vergleichen.
Oft verlangt die Hexe nach dem Froschkönig, den sie und Gretel häufiger mit Wassergüssen aus dem Brunnenschacht holen, als es die Filmhandlung will. Beide schwatzen gerne mit dem gekrönten Taucher, dessen Unterwassergeschichten reich an Pointen sind. Die Dame überhört das Geplauder und ist einzig mit ihrem Kopfschmerz beschäftigt, sobald ihr der Frosch von der Stirn ins Brunnenloch springt. Es wird Bewunderung für die leidende Schönheit deutlich, wenn ihr die Wirtin des Knusperhäuschens lindernde, aus getrocknetem Froschlaich gedrehte Pillen zu einem Schluck froschgrüner Flüssigkeit reicht.
Gerne läge die Hexe neben dem Brunnen; doch wie sie sich mit Erlaubnis der Dame, an deren Stelle legen darf, verweigert der Frosch den Sprung, vom Brunnenrand auf die hexische Stirn. Als wünschte sie sich das Sprichwort »Liebe läßt sich nicht zwingen« als Untertitel, lagert die Dame sich lächelnd und erfährt sogleich Kühlung. Und Gretel, die alles gesehen hat, grinst anzüglich, als wüßte das Kind, wie dem königlichen Frosch Seitensprünge beizubringen wären.
Nicht alle Vorschläge unseres Herrn Matzerath leuchten ein: Er will und sei es, um mich zu reizen -, daß das Grimmsche Wörterbuch Band für Band von Riesenschnekken herbeigebracht wird, bis alle zweiunddreißig Bände der Großmutter vorliegen; außerdem ordnete er vor seiner Abreise nach Polen an, es solle Rotkäppchen immer erst dann den Reißverschluß öffnen und in den Wolfsbauch kriechen, wenn sich die Großmutter weigere, das dumme Ding unter ihre Röcke zu lassen. Ich will diesen Eingriff in mein Drehbuch nicht kommentieren, wenngleich ich unseren Herrn Matzerath nicht begreife: Rotkäppchens Großmutter ist keine Anna Koljaiczek; doch stimmen wir überein, wenn Oskar den Kußzwang des Prinzen besonders herausgearbeitet sehen will.
Das Absurde des Küssens, der Küssende als Wiederholungstäter, das Wachküssen als mechanischer Vorgang, diese stupide Mißachtung der Hygiene, all das verlangt nach einem Schauspieler, der begabt ist, gleichbleibend teilnahmslos alles zu küssen, was Dornröschen ähnlich sieht; denn im Verlauf der Handlung soll dem Prinzen die echte Kußvorlage entzogen werden, worauf er nicht nur an Rapunzel und Schneewittchen Küsse verteilen, sondern sich auch an einer Puppe vergreifen wird, die der sechste und siebte Zwerg aus Stroh, Moos und Lumpen gebastelt haben.
Nie würde ich so weitgehen wie unser Herr Matzerath, der das Küssen eine den Tod vorschmeckende Krankheit nennt: doch soll die Filmhandlung zeigen, welche Gefahr die Küsserei des Prinzen heraufbeschwört. Leer und hübsch, wie er ist, wird er ohne Dornröschen von Sinnen sein.
Und Jorinde und Joringel? Wie läßt sich Trauer darstellen, die auf gleichbleibender Mimik besteht? Und Rapunzel? Ihr fatal langes Haar? Dieser Überfluß, keinem Kamm gewachsen?
Nein, es kommt mir keine Perücke ins Drehbuch, die von anarchischen Zwergen herabgerissen und als Haarwisch zum Spielball werden könnte, bis von Rapunzel nur noch Gespött bliebe. Geträumt langes, aus rotem Gold gesponnenes und dennoch naturwüchsiges Haar soll es sein, das aus dem Fenster im Obergeschoß des Knusperhäuschens weht, Wunschhaar, Traumhaar, die einzige Fahne, der ich zu folgen bereit bin. Deshalb nenne ich meine Damroka schöngelockt. Mit ihrem Haar fällt mir mehr zu, als die Rättin da ist sie wieder! wegreden kann. Und weil ich wortwörtlich an Damrokas Haar hänge, bekommt Rapunzel Nein, Herr Matzerath! keine Perücke verpaßt.

Nachdem die fünf Frauen ihr Schiff im Hafen von Visby auf Gotland festgemacht haben, sind sie zwar angekommen, doch weiter als je zuvor von Vineta entfernt. Gut dreihundertfünfzig Meilen weit lief ihr Schiff in Richtung Osten. Nach der Insel Møn sahen sie die Insel Bornholm schwinden. Sie waren dem schwedischen Festland auf Höhe von Ystad, dann, als sie in der Hanöbucht stritten, auf Sichtweite nah gewesen: ein flacher Küstenstreifen, den Industrieanlagen markieren. Endlich verging ihnen backbord die langgestreckte Insel Öland. Nach zweiundsechzig Stunden Fahrt hatten sie, wie ich errechnet habe, über siebenhundert Liter Diesel verbraucht und liefen mit annähernd leerem Reservetank in den Hafen von Visby ein. Alle Vorräte gingen zur Neige. Trinkwasser wurde knapp. Von Wolle keine Rede mehr. Nichts mehr hätte erzählt oder noch einmal erzählt werden können. Der Streit in der Hanöbucht, als letzte Quallen geholt wurden, hatte viele Wörter verbraucht. Also riefen sie mit halben Sätzen nur, was das Schiff von ihnen verlangte.
Weil zudem viel Zeit vergangen ist, bleiben für den Landgang nur wenige Stunden. Damroka geht zum Hafenmeister, die gestempelten DDR-Papiere holen. Die Maschinistin und die Steuermännin lassen »Die Neue Ilsebill« volltanken, dazu alle Reservekanister. Die Alte und die Meereskundlerin räumen in einem Konsumladen, was die Küche braucht, aus Tiefkühltruhen. Da schwaches Bier nur und kein Aquavit in Regalen zu greifen ist, verflucht die Alte das Königreich Schweden und dessen Moral. Endlich treibt sie zwischen Lagerschuppen mit Hilfe eines betrunkenen Finnen doch noch zwei Literflaschen Fusel zum Überpreis auf.
Jetzt erst sind die Frauen für Landgang frei. Schnell Klamotten gewechselt und Wetterhäute zu Bündeln gerollt. Eigentlich will Damroka an Bord bleiben, doch weil ihr die Alte und die Meereskundlerin zureden »Ohne Dich macht das überhaupt keinen Spaß« und weil die Maschinistin und die Steuermännin beteuern: »Dann bleiben auch wir an Bord«, läßt sie sich überreden. Ein wenig zerstreut, als müsse sie von weither Gedanken zurückrufen, sucht sie die Schlüssel, schließt sie das Steuerhaus und leider nicht alle Niedergänge ab.
Da in Visby, einer Stadt, die auf Prospekten mehr bietet als sich in knapper Zeit erlaufen ließe, dennoch viel los ist, kommt die Meereskundlerin kaum dazu, überall rumstehende Trümmer zu fotografieren und geht der Wunsch der Steuermännin, sich rasch, nebenbei einen Mann aufzureißen, nicht in Erfüllung. Keinen weiteren Schnaps kann die Alte auftreiben. Damroka ist ohne Wünsche. Und die Maschinistin, einfach nur so auf Landgang scharf, sagt, wie sie den Betrieb in der Stadt sieht: »Los, laufen wir irgendwo mit. Vielleicht passiert was.«
Denn auch in Visby wird, wie zu dieser Stunde in vielen anderen Städten, gegen dies und das protestiert. Da es vier oder fünf Protestzüge sind, die in verschiedene Richtungen ziehen und gegen Tierversuche und für Freiheit in Polen und Nicaragua zugleich auf Transparenten, in Sprechchören laut werden, muß Damroka, die einige Brocken Schwedisch erinnert, übersetzen, was Transparente und Sprechchöre aussagen. Nach kurzer Beratung entscheiden die Frauen sich. Gegen das Wettrüsten wollen sie nicht mehr laufen. »Mit Drogen«, ruft die Alte, »hab ich nie was am Hut gehabt.« »Polen«, sagt die Maschinistin, »kann man nicht in einen Topf mit Nicaragua werfen.« Also hängen sie sich, weil die Meereskundlerin sagt: »Mal sehen, ob die auch gegen Quallenzählerei sind«, den Tierschützern an.
Sie laufen an kaputten Kirchen, dann an der teils kaputten, teils ordentlich wieder aufgebauten Stadtmauer vorbei, die, wie im Prospekt zu lesen steht, von Visbys Geschichte erzählt. Am Stadtrand hält der Protestzug vor einem Flachbau, der sich abweisend wissenschaftlich gibt, doch offenbar in Verruf geraten ist, denn alle dreißig bis vierzig Kinder, Frauen und Männer, zu denen die fünf Frauen auf Landgang gezählt werden können, rufen immer wieder auf schwedisch, daß sie gegen Tierversuche sind. Auf deutsch ruft die Alte zuerst alleine, dann von der Meereskundlerin unterstützt: »Macht Schluß mit dem dämlichen Quallenzählen!«
Es regnet, wie es oft in diesem verregneten Sommer regnet. Sonst geschieht nichts, bis ein Stein geworfen wird und Glas splittert, worauf viele Steine geworfen werden. Bald sind alle Fenster der Vorderseite des Institutes für Grundlagenforschung zerschmissen.
Ich bin sicher, daß die Maschinistin den ersten Stein und die Steuermännin den zweiten wirft. Erst nach dem dritten Stein, den entweder die Alte oder die Meereskundlerin geworfen hat denn Damroka schmeißt nicht -, sehe ich Schweden mit Steinen werfen. Jedenfalls hat die Maschinistin, damit was passiert, als erste. Griffbereit liegen taubeneigroße Kiesel als Rückstand von Bauarbeiten am Straßenrand zuhauf.
Im Flachbau rührt sich nichts. Niemand hindert das Schwedenvolk, durch die entglaste Tür einzudringen. Die Steuermännin will mit dem Ruf »Mir nach!« hinterdrein. Schon hat sich die Maschinistin ein Stück Bauholz gegriffen. Die Meereskundlerin knipst, wie sie sagt, »schnell zwei drei Andenken« Die Alte ruft: »Los! Vielleicht stehn drin paar Buddeln rum.« Aber Damroka entscheidet: »Wir müssen hier weg. Das reicht. Schluß mit dem Landgang. In einer Stunde legen wir ab.« Also sehen die Frauen nicht, was ich sehe: welche Versuchstiere von den Schweden, die alle gelbe oder rote Plastikkutten gegen das Wetter tragen, befreit werden. Außer Meerschweinchen, Laborratten und Labormäusen auch zehn Kaninchen, fünf Hunde und vier Rhesusaffen. Weil unterwegs immer wieder Protestzüge den Weg sperren, schließlich mit Sirenengeheul Polizei kommt und hier Sperren errichtet, dort mit Hunden auf Spur gesetzte Suchtrupps ausschickt, erreichen die Frauen über Umwegen erst und ziemlich müde gelatscht den Hafen.
Die Vermutung der Maschinistin: »Wetten, die haben jede Menge Viecher laufenlassen« wird stumm hingenommen, desgleichen die Klage der Alten: »Die armen Tiere, laufen jetzt draußen rum. Wir hätten eins mitnehmen sollen. War ein ganz junger Hund darunter.«
Damroka kommt ohne Anweisungen aus. Während die Leinen eingeholt werden, schließt sie das Steuerhaus auf und wird vorm letzten Niedergang nachdenklich, weil das Vorschiff offensteht.
Da wirft die Maschinistin den Diesel an. Die Meereskundlerin sagt: »Weiß jemand, wo mein Taschenrechner hin ist?" Bevor die Alte ihren finnischen Fusel entkorkt und der Steuermännin und sich eingegossen hat, legt »Die Neue Ilsebill« ab. Es ist früher Nachmittag. Zeitweilig regnet es nicht. Keine der Frauen will sprechen. Das Steinewerfen gibt nichts mehr her. Hat der Landgang enttäuscht? Es sieht so aus, als seien die Frauen an ein Schweigegelübde gebunden, das, wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, erst über der versunkenen Stadt gelöst werden kann.
Doch wie sie gegen Abend bei nördlicher Helle die Hoburgbank, ein Flachwasser südlich Gotland, überlaufen und dabei in ein weites, die Fahrt minderndes Quallenfeld geraten, das, selbst wenn sie nach Steuerbord ausweichen, dem Schiff zu folgen scheint, will den schweigenden Frauen, aber auch mir, der ich alle fünf stumm halte, vorkommen, es liege über dem Wasser ein aufund abschwellender Ton, es finde ein wortloses Singen statt, das keinen Anfang, kein Ende kennt, es seien Millionen Ohrenquallen wer sonst? im Flachwasser bei Stimme plötzlich oder durch höheren Willen wundersam auf Gesang gestimmt.
Schon schleppt die Meereskundlerin den Meßhai an Deck. Mit Hilfe der Steuermännin wirft sie das Spezialnetz aus, holt bei geminderter Fahrt denn auch Damroka will diesen Zwischenhol das Netz wieder ein, kippt den Fang auf den Tisch im Mittelschiff, breitet zwölf und mehr mittelgroße Quallen auf der Arbeitsplatte aus und hört, was auch Steuermännin und Maschinistin hören, daß die Aurelien ein Geräusch, nein, einen Ton von sich geben, der, tiefer gestimmt als das Singen über der See, dennoch chorisch zum Gesang schwillt und sogar überm Motorengeräusch auf Deck gehört werden kann, denn die Alte verläßt die Spaghetti in der Kombüse, bricht das von mir verhängte Schweigegebot und ruft: »Mann, die singen ja wirklich!«; worauf alle fünf Frauen, zuletzt die Meereskundlerin, glauben, was sie in hoher und tiefer Lage hören.
Aurelia aurita, die Schöngezeichnete, deren lappige Mitte von einem blauvioletten Kleeblatt vierblättrig stigmatisiert ist, kann singen. Sie, die durchsichtig astralen, mit der See atmenden, in Schwärmen wandernden, als Plage verfluchten Medusen, sie, die sonst, kaum auf den Tisch gebreitet, ohne Laut schrumpfen und Glanz verlieren, sobald Formalin ihr Schrumpfen verzögern soll, singen trotz schlaffer Velarlappen: ein schwellender, in Höhen zitternder, in tiefer Lage orgelnde Ton macht den Lagerraum des einstigen Frachtewers eng. Nie zuvor, es sei denn im biblischen Feuerofen, wurde so dringlich gesungen.
Wer das glauben mag, will dennoch Beweise. Damroka läßt einen zweiten, den dritten Hol mit dem Meßhai zu. Nachdem sie das Ruder der Steuermännin gegeben hat, nimmt sie, auf Vorschlag der Meereskundlerin, mit einem Tonbandgerät, das bisher für Bachkantaten und Orgelpräludien gut war, den Medusengesang auf, als könne einzig Technik das Unerhörte bestätigen oder hoffen die Frauen, befürchten sie insgeheim durch keinen Pieps auf dem Tonträger widerlegen.
Also lassen sie das Band ablaufen. Und wie es, technisch einwandfrei, den Medusengesang reproduziert, trägt die Meereskundlerin das Gerät an Deck, worauf sich die Tonbandaufzeichnung mit dem höhergestimmten Singsang, der über der See liegt, wunderbar mischt, als seien Technik und Natur ausnahmsweise bereit, gemeinsame Sache zu machen. Erst spät, mit dem Dämmern, verlieren sich die Quallenfelder, schwindet der Originalton. Doch wollen die Frauen noch lange nicht in die Hängematten. Immer wieder hören sie dem Tonband ab, was im Arbeitsraum, dann mit dem Mikrophon an langer Angel dicht überm Wasser aufgenommen wurde. Beim Kontrollhören sprechen die Frauen wenig. Die Meereskundlerin sagt: »Das glaubt mir im Institut niemand, was wir da draufhaben live.«
Trotzdem wird die Vermutung der Alten, es handle sich um ein unerklärliches Phänomen, belächelt. Spekulationen schießen ins Kraut, etwa die Frage der Maschinistin, ob von der Höhe des Medusengesanges auf die Dichte der Quallenschwärme geschlossen werden könne. »Damit wäre«, sagt sie, »eine Methode ganz ohne Meßhai und ähnlichen Klimbim gefunden.«
Damroka spricht von der Mehrchörigkeit der singenden Quallenfelder und nennt Chorwerke von Gesualdo. Die Meereskundlerin weiß Daten: »Der Schwarm über der Hoburgbank war zwar ungewöhnlich groß, aber nicht so dicht wie die Schwärme in der Kieler Förde. Dort werden zwischen März und Oktober bis zu sieben Milliarden Individuen gemessen, die man, vom durchschnittlichen Medusengewicht ausgehend, auf einskommasechs Millionen Tonnen Gesamtgewicht umrechnen kann. Stellt euch mal diese Biomasse singend vor, und wir könnten mit unserem Mikrophon...«
Noch lange nach Mitternacht versuchen die Frauen, sich Medusengesang bei solch kompakter Quallendichte vorzustellen. Damroka zieht Vergleiche mit liturgischen Gesängen. »Gregorianik«, sagt sie und »bis zu Palestrina«.
Die Alte ruft »Alles Quatsch, eure Erklärsucht!« und trinkt vom Fusel auf das unerklärliche Phänomen.
Wer hat »kosmische Einwirkungen« gesagt? Die Maschinistin, die Steuermännin?
Alle reden durcheinander. So hab ich sie gern: aufgeregt flirrend verhext, so gute wie böse Feen. Ihre heftigen oder weitschweifigen Gesten. Ihr Lächeln, das nicht mehr sachlich sein will. Verzaubert singen sie, während das Tonband läuft, nach Art der Medusen, endlich einträchtig: im Gesang. Nie wäre es mir gelungen, ihre Stimmen so harmonisch zu flechten...
Wie sie doch noch für einige Stunden in ihre Hängematten finden, sagt Damroka, die mit frischgebrühtem Kaffee das Steuer übernimmt: »Anfangs dachte ich, Mensch, das ist ja Suscepit Israel aus dem Magnificat, aber jetzt könnt ich wetten: die Quallen sind Zwölftöner.«
Der Rest der Nacht gehört dem Diesel.
Sobald aber, mit Sonnenaufgang, wieder der Singsang der Ohrenquallen über der See liegt, machen die Frauen, nach kurzem Schlaf, keine fahrthemmenden Meßfänge mehr, sondern lassen Tonband nach Tonband laufen, indem sie das nun leisere Singen der verdünnten Quallenschwärme aufzeichnen und gleichzeitig Altbespielungen löschen: nicht nur Bachkantaten und Orgelpräludien, auch Joan Baez, Bob Dylan, wem sie sonst noch, älter werdend, zugehört hatten.
Die Meereskundlerin liest Zahlen vom Zählwerk des Tonbandgerätes ab und trägt sie der Seekarte ein. Sie haben das Flachwasser der Mittelbank hinter sich und überlaufen jetzt, nordöstlich Bornholm, Tiefen um hundert Meter. Dennoch bleibt dünngewoben ein Stimmengespinst über der See und hilft, bis zum späten Nachmittag gute Fahrt zu machen.
Erst gegen Abend, sobald sie nordwestlich der Oderbank wieder Flachwasser überlaufen, dann mit dem Glas, schließlich mit bloßem Auge Rügen, Kap Arkona, Stubbenkammer, die Kreidefelsen erkennen, schwillt der Gesang an und mindert die Fahrt; auf Höhe der Greifswalder Oie werden sie von einem Boot der DDR-Grenzpolizei gestoppt.
Vielchöriger Medusengesang liegt über dem Tuckern der gedrosselten Schiffsmotoren. Drei Mann kommen uniformiert an Bord. Damroka legt die gestempelten Papiere vor. Die Grenzpolizisten sind höflich, gründlich. Offenbar vorbereitet auf das Aufkreuzen des Forschungsschiffes in den Gewässern der Deutschen Demokratischen Republik, durchsuchen sie das Schiff. Kommentarlos werden Hängematten gezählt. Mit Wohlwollen nehmen sie Einblick in Meßunterlagen. Sie finden an Schautafeln und statistischen Erhebungen Gefallen; doch wie sie von der Meereskundlerin übereifrig auf den Medusengesang angesprochen werden, ergreift immer bereites Mißtrauen die Grenzpolizisten. Schroff verneinen sie: Ihnen komme kein Gesang zu Gehör. Die Quallenvorkommen seien durchaus normal. Übrigens wisse jeder, jedenfalls in der DDR, daß Quallen nicht singen können.
Dank deutlichem Anstoß gelingt es der Maschinistin, die Meereskundlerin von einer Demonstration des Medusengesanges mit Hilfe der Tonbänder abzuhalten. Damroka beschwichtigt dienstliches Mißtrauen: »Sie wissen ja, meine Herren, wir Frauen hören manchmal die Flöhe husten.«
Die Polizisten danken der Kapitänin mit Gelächter. Sogar ein Männerwitz wird gewagt: »Können die Damen auch schwimmen?« Doch den Fusel, den die Alte in halbvollen Wassergläsern anbietet, lehnen sie mit gesamtdeutscher Redensart ab, Dienst habe Dienst, Schnaps Schnaps zu bleiben. Sie wünschen »Gute Fahrt und ein ruhiges Wochenende«.
Wie das Grenzboot ablegt, ruft einer der Polizisten von Bord zu Bord: »Wir machen ne Erfolgsmeldung draus, Mädels: DDR-Quallen können singen!« Als wollten die Medusen diesen Fortschritt bestätigen, schwillt ihr Gesang an, während die Schiffe Abstand nehmen.
Ich will nun behaupten, daß dieses den Grenzpolizisten unhörbare Singen einzig den Frauen und ihrem Reiseziel gilt; denn wie sie mit halber Fahrt südlichen Kurs auf die der Festlandküste vorgelagerte Insel Usedom nehmen, gewinnt das Chorsingen der Medusen nicht nur Volumen, sondern Ausdruck sogar, der sich steigert, als solle ein Hosianna angestimmt werden. Es sind Jubelchöre, die »Die Neue Ilsebill« begrüßen und den Kurs des Schiffes leiten, denn immer, wenn sich der Bug nach Westen in Richtung Greifswalder Bodden richtet oder allzu östlich die polnische Küste, die Insel Wollin ansteuert, nimmt der Gesang ab, um auf strikt südlichem Kurs wieder zu jubeln.
Damroka hat die vergilbte Karte, in der das Vinetatief eingezeichnet ist, aus dem Seesack geholt und ausgebreitet. Östlich der Insel Rüden, nördlich Peenemünde steht oberhalb der Markierung der Name der versunkenen Stadt geschrieben. Damroka hört einzig auf den wegweisenden Medusengesang, steuert entsprechenden Kurs und sieht die Karte bestätigt. Spät am Abend ankern sie über der bezeichneten Stelle. Doch weil die See eingedunkelt keinen Blick mehr in die Tiefe erlaubt, müssen die Frauen den nächsten Morgen abwarten, so gerne sie jetzt schon ihre Stadt bewohnen möchten.
Auch unterm ausgesternten Nachthimmel will der Medusengesang nicht abklingen. Es bleibt ein von sanftem Atem getragener Ton. Damroka will ein Kyrie, später ein Agnus Dei hören. Die Meereskundlerin hört Elektronisches, die Alte eine Wurlitzerorgel. Entweder der Steuermännin oder der Maschinistin fallen als Vergleich Sphärenklänge ein. Noch lange sitzen sie dicht bei dicht hinterm Steuerhaus und hören, was sie hören wollen, bis sie Damrokas Mahnung, »Wir sollten morgen gut ausgeschlafen sein«, folgen. Sie finden in ihre Hängematten doch keinen Schlaf.
Morgen ist Sonntag. Ich weiß nicht, ob später noch einmal der Butt gerufen wird. Und wenn ich es wüßte, hörte ich dennoch nicht, was er zu sagen weiß.
Neinnein, Rättin! Noch jemand kommt ans Ziel. Dich will ich nicht hören, rief ich, dich nicht! Es muß noch die andere Reise zu Ende gehn.
Da sagte die Rättin, von der mir träumt: Ist ja gut, Freundchen. Auch wenn das alles vergangen und ausgelebt ist, bleib nur bei deiner Gegenwart und sage: Sie wälzen sich in den Hängematten, er fährt im dicken Mercedes die Grunewaldska hoch auf das Olivaer Tor zu, die Frauen werden morgen in aller Frühe, er wird noch heute, sogleich...
Am Sonnabendnachmittag trifft unser Herr Matzerath mit Chauffeur in GdaDsk ein, wo beide im Hotel Monopol, dem Hauptbahnhof gegenüber, vorbestellte Zimmer beziehen. Nach kurzem Stadtbummel inmitten zu vieler Touristen, die das Gesehene mit Sehenswürdigkeiten auf Postkarten vergleichen, und nachdem er vom Stockturm aus durchs Langgasser Tor in die Langgasse gefunden und dort, nach Seitenblicken in Nebengassen, sein Danzig zwar gesehen, aber nicht wiedererkannt hat, beschließt er, obgleich der Neptunsbrunnen und das brakige Mottlauwasser anheimeln, noch heute, am Vorabend des Geburtstages, in die Kaschubei zu fahren und sich einen kurzen Umweg nur durch die Straßen seiner Kindheit im Vorort Langfuhr zu erlauben; aber nicht zu beschwichtigende Unruhe treibt ihn dergestalt überhastet in Richtung Großmutter oder ist es ihr Sog, der zerrt, saugt, ihn zieht? -, daß Oskar nach nur flüchtigem Augenschein im Labesweg und vorm gestreckten Ziegelbau der Pestalozzi-Schule, alles Gesehene als verloren abtut und sich nicht in die Herz-Jesu-Kirche, womöglich vor den Marienaltar stellen will; vielmehr drängt er seinen Chauffeur, nun direkt, über Hochstrieß und Brentau, den Weg nach Matern zu suchen, wo Anna Koljaiczek, seit ihrer Vertreibung aus Bissau-Abbau, Wohnung in einem niedrigen Häuschen gefunden hat.
Ein Garten gehört dazu mit Apfelbäumen und Sonnenblumen am Zaun. Schon vor dem Haus stehen unterm Kastanienbaum Gäste zur Vorfeier versammelt. Die niedrige Gute Stube, in der die Großmutter morgen hundertundsieben Jahre alt sein wird, ist zu eng, alle zu fassen, die von nahbei und weitweg gekommen sind.
Bruno ist beim Mercedes geblieben, der die Kaschubenkinder anzieht. Da steht nun unser bucklicht Männlein zwischen den Woykes und Bronskis, den Stommas und Kurbiellas, den weitgereisten Vikings, Bruns und Colchics. In maßgeschneiderter Kluft deutet er Verbeugungen an und mischt sich zwischen die Festgäste unterm Kastanienbaum, die sich, wie er nun leibhaftig da ist, verwundern, obgleich unseres Herrn Matzerath Legende allen bekannt und seinem Mercedes vorausgelaufen zu sein scheint. Ein nicht nur familiäres Lächeln empfängt ihn, als wolle man sagen: Wir wissen Bescheid. Dennoch stellt er sich diesem und jenem Gast vor und findet in Sigismund Stomma, jenem stattlichen Fahrradhändler, der mit Frau und zwei halbwüchsigen Kindern von Gelsenkirchen her angereist ist, einen Dolmetscher, der ihm alle kaschubischen Artigkeiten seiner Verwandten in jenes Deutsch bringt, das im Ruhrgebiet gesprochen wird. Mit Herrn und Frau Bruns, die von Hongkong her den Weg in die Kaschubei fanden und dem Vorfest eine exotische Note geben, plaudert unser Herr Matzerath recht flüssig auf englisch, desgleichen mit den australischen Vikings und den Colchics vom Michigansee, die ihn später, wie auch Kasimir Kurbiella aus Mombasa am Indischen Ozean, in der überfüllten Guten Stube umarmen und etwas zu lärmig begrüßen werden.
Doch noch steht er unterm Kastanienbaum und nennt Missis Bruns eine Lady, auf daß bald alle von »Lady Bruns« sprechen, als sei sie von chinesischem Adel.
Er futtert Mohnkuchen und schlägt ein Gläschen Kartoffelschnaps nicht aus. Vor dem niedrigen Haus findet sich auf langem Tisch, was die Kaschuben selbst in mageren Jahren zu bieten haben: saure Pilze und hartgekochte Eier mit Schnittlauch übergrünt, gekümmelten Krautsalat und Schüsseln voller Schweinekopfsülze, Radieschen, Dillund Senfgurken, Streusel-, Mohn-, Quarkkuchen, in daumendicke Stücke geschnittene Wurst, Grießund Vanillepudding. Dazu noch Griebenschmalz, Apfelmus und hackfleischgefüllte Piroggen, die jener Priester aus Matarnia unserem Herrn Matzerath anbietet, der die vielen einladenden Postkarten geschrieben und in alle Welt geschickt hat.
Der Schwarzrock stellt ihm weitere Verwandte vor, unter ihnen zwei junge Männer mit zeitgemäßem Schnauzbart, die auf der Leninwerft arbeiten und so auffallend blauäugig sind, daß Oskar nicht erstaunt ist, mit Stephan Bronskis Söhnen zu sprechen. »Unverkennbar«, sagt er, »euer lieber Großvater, mein Onkel Jan, der meiner armen Mama so innig verbunden war, will mich anschauen, wie er mich oft, als hätte er ein Geheimnis wahren und dennoch preisgeben wollen, angeschaut hat.« Die Bronskisöhne müssen sich beugen, damit sie ihr Onkel umarmen kann. Hingegen wirkt die Begrüßung mit dem Vater der beiden Werftarbeiter, obgleich der Priester nicht dolmetsehen muß, ein wenig steif. Mutmaßlich einander näher verwandt, als man sich eingestehen möchte, sind beide Herren etwa gleich alt. »So sieht man sich wieder«, sagt unser Herr Matzerath zu Stephan Bronski und hält auf Distanz.
Die vielen Verwandten! Außer Herzlichkeiten teilt man einander Krankheiten und deren Verlauf mit. Dann führt der Priester mit wegweisender Geste und den Worten: »Doch nun wollen wir uns in die Gute Stube wagen«, Oskar ins Haus, wo hinter engstehenden Gästen, die hastig trinken und lachend immer wieder einander begrüßen, seine Großmutter verborgen im Lehnstuhl am Fenster sitzt.
Seit einigen Stunden trägt sie am schwarzen Sonntagskleid ein weißrotes Ordensband, das ihr zwei Herren aus Warschau im Namen der Volksrepublik Polen überreicht und sogleich angesteckt haben. Einst stattlich, hat das Alter sie schrumpfen lassen und zierlich gemacht. Einem Winterapfel gleicht ihr Gesicht. Mit ihren Händen verwachsen scheint der Rosenkranz zu sein, den sie, wenngleich heiter dem Auftrieb der Gäste zugewendet, Perle nach Perle bewegt, als seien Gebete immer noch überschüssig.
Ach, denke ich bei mir, wie bange wird unserem bucklichten Männlein sein? Wie freudig oder ängstlich mag er dem Priester durch den dichtgefügten Block der Gäste folgen? Ist es nicht so, daß das Trinken, Lachen und Schulterschlagen aufhört, weil alle sehen wollen, wie sich unser Herr Matzerath seiner Großmutter nähert?
Blumengeschmückt ist der Lehnstuhl. Durchs Fenster schauen Sonnenblumen, die nach dem kühlen und regnerischen Frühsommer nicht besonders hoch stehen, aber doch leuchten und an Sonnenblumen erinnern, die vor vielen Jahren viel höher an Großmutters Gartenzaun standen.
Nur Mut, Oskar! rufe ich unserem Herrn Matzerath zu. Es stehen die beiden Regierungsbeamten links und ein Prälat aus Oliva, als Abgesandter des Bischofs, rechts vom blumengeschmückten Lehnstuhl. Zwischen Staat und Kirche sitzt Anna Koljaiczek und trägt das schwarze Sonntagskleid gewiß über weiteren Röcken. Nur Mut! Und schon schiebt der Priester aus Matarnia das bucklicht Männlein in die so lange ersehnte, aber vorweg auch bänglich bedachte Position. Ich will ihm beistehen und schlage durch Zuruf Kniefall vor.
Aber unser Herr Matzerath behält Haltung. Er beugt sich über die den Rosenkranz bewegenden Hände, küßt die eine die andere Hand, sagt in das Schweigen der dichtstehenden Gäste »Verehrte Frau Großmutter« und stellt sich als Enkelsohn vor: »Ich bin, Sie erinnern sich gewiß, Oskar, jadoch, der kleine Oskar, der mittlerweile nun auch bald sechzig zählt...« Da Anna Koljaiczek nur sprechen kann, wie sie immer gesprochen hat, tätschelt sie zuerst, ohne vom Rosenkranz zu lassen, des kleinen Mannes Hand und sagt dann immer wieder: »Hädd ech jewußt doch, daß kommen mechst, Oskarchen, hädd ech jewußt doch...«
Dann sprechen beide von alten Zeiten. Was alles gewesen und nun vergangen ist. Wie es immer schlimmer kam und nur manchmal ein bißchen besser wurde. Was alles hätte sein sollen und doch ganz anders schiefging. Wer schon tot ist und wer noch hier und da lebt. Und wer seit wann auf welchem Friedhof liegt.
Ich bin sicher, daß beide zu Tränen kommen, sobald von Anna Koljaiczeks Tochter, Herrn Matzeraths Mutter Agnes die Rede ist: von Jan und Agnes und Alfred und Agnes und von Jan, Agnes und Alfred. Doch weil die dichtstehenden Gäste wieder miteinander beschäftigt sind und nicht aufhören wollen, sich lärmig zu begrüßen, kann ich von diesem Gespräch nur wenige Sätze aufzeichnen. Da ist viel »Waißte noch, Oskarchen« zu hören und immer wieder: »Da mecht ech miä noch lang dran äinnern.«
Endlich und nachdem beiläufig nach Maria und Kurtchen gefragt wurde, höre ich die Frage: »Warst och schon bai de Post ond hast jeguckt, wo jewesen ist?«
Worauf unser Herr Matzerath seiner Großmutter verspricht: Er werde am nächsten Morgen das mittlerweile historisch gewordene Gebäude am Rähm, die Polnische Post aufsuchen und seines Onkels Jan gedenken.
Dann nimmt er Abschied und will zeitig »am morgigen Ehrentag« wieder da sein. »Darf ich, liebe verehrte Großmutter, wie damals, Sie erinnern sich, als wir auf dem Güterbahnhof Abschied nahmen, Babka, liebe Babka zu Ihnen sagen?« Den Buckel unter großkariertem Jackett, so sehe ich unseren Herrn Matzerath im Gedränge verschwinden. Jetzt ist er wieder zwischen den Bronskis und Woykes erkennbar. Säuerlich riecht die Enge, als wäre die Gute Stube mit Molke gewischt worden. Wiederholte Begrüßung mit den amerikanischen Colchics. Kasimir Kurbiella lädt ihn mit erstem Satz nach Mombasa ein. Überaus zierlich nimmt sich die Chinesin zwischen so vielen Kaschuben aus. Endlich, nach zwei wasserklaren Kartoffelschnäpsen und einer letzten Pirogge, sucht er den Weg zum Mercedes, in dem Bruno unbewegt sitzt und als Chauffeur mit Mütze den Stern auf der Kühlerhaube vor begehrlichem Zugriff bewacht.

Seine Schuhe, Größe fünfunddreißig, sind um die Spitze und um die Hacke aus safrangelbem, um den Mittelfuß aus weißem Leder. Meine Weihnachtsratte muß sich anhören, wie ich unseren Herrn Matzerath ausputze: Er trägt eine goldgefaßte Brille und zu viele Ringe an kurzen Fingern. Die rubinbesetzte Krawattennadel gehört zu seiner Ausstattung. Wie zu kühleren Jahreszeiten einen weichen Velour, trägt er den Sommer über Strohhüte. In seinem Mercedes läßt sich ein Tischchen ausklappen, auf dem er, sobald ihn längere Reisen ermüden, mit offenen Karten gegen jemand und noch jemand Skat spielt; wie sich Oskar später freuen wird, wenn er während der Rückfahrt zum Hotel Monopol ein Herzhandspiel gegen Jan Bronski und seine arme Mama gewinnt.
Selbst hier, bei seiner Großmutter zu Besuch, im Herzen der Kaschubei, kann er nicht aufhören, die fünfziger Jahre umzugraben, als wären in diesem Acker besondere Schätze verbuddelt worden. Es ist der Prälat aus Oliva, ein wie gesalbt freundlicher, der deutschen Sprache eher zurückhaltend mächtiger Herr, der sich die Geschichte vom täuschend gotisch malenden Maler Malskat anhören muß, geduldig und zum Zuhören bestellt; wie meine Weihnachtsratte da ist, mich anzuhören.
Nachdem unser Herr Matzerath einem streitnahen Geplänkel unterm Kastanienbaum ausgewichen ist es ging um die verbotene Gewerkschaft Solidarno[ -, begleitet der Prälat das bucklichte Männlein mit der rubinbesetzten Krawattennadel und den zweifarbigen Schühchen zum Mercedes, dessen Blechschäden ins Auge fallen. Abendsonnenschein auf dem blanken Schädel, den Strohhut vor der Brust, spricht Oskar wie vor größerer Versammlung. Ich höre den Prälaten seufzen und weiß nicht, ob er der Matzerathschen Theorien wegen seufzt oder ob es das Wort »Solidarno[« ist, das nach dem Staat nun der Kirche Sorgen bereitet. Seine katholische Geduld erinnert mich an die Gelassenheit meiner Weihnachtsratte, die
ich bin sicher anstelle meiner Versuche, Oskar wieder in Gang zu setzen, lieber das Dritte Programm, den Schulfunk für alle hört: etwas über Fixsterne, Lichtgeschwindigkeit und fünftausend Lichtjahre entfernte Galaxien...
In gleichbleibender Haltung, sie mit angelegten Ohrmuscheln und immerfort spielenden Witterhaaren, die Augen wie Glasperlen blank, er im Schwarzrock, hinter dickglasiger Brille und inwie auswendig gesalbt, so hören die Weihnachtsratte und der Prälat aus Oliva mir und Herrn Matzerath zu, wie wir beide vom Maler Malskat berichten. Natürlich weiß der Prälat, daß der Mercedes mit dem beredten Männlein sogleich abfährt, worauf die Kirche das letzte Wort haben wird; wie meine Weihnachtsratte weiß, daß ich ihr zuhören muß, sobald sie mir träumt.
Doch noch bin ich dran. Die Rättin muß warten. Dem Ende falls es zu Ende gehen sollte, läuft die Posse voran...

Ab Winter neunundvierzig/fünfzig turnte er in dreißig Meter Höhe alleine und erfinderisch zuerst im Langhaus, dann im Hochchor der Lübecker Marienkirche, denn sein eleganter immer Kontakte suchender Arbeitgeber kam selten so hoch nach oben. Dietrich Fey gab sich unten, im Bauschutt, geschäftig. Er mußte seinen Malskat abschirmen. Kein unbefugtes Auge durfte sehen, wie das Wunder von Lübeck Gestalt gewann. Deshalb hatte er überall warnende Schilder aufstellen lassen: »Achtung Absturzgefahr!« »Vorsicht!« »Für Unbefugte kein Zutritt!«
Unbefugt, so hoch nach oben in Malskats Bereich zu steigen, waren selbst Gerüstarbeiter und Maurer. Kam sachkundiger Besuch, darunter inund ausländische Kunsthistoriker, die ab Anfang einundfünfzig einzeln und in Gruppen anreisten, lösten Fey und seine Gehilfen mit Zugleinen Klappergeräusche aus, die Malskat hoch oben zu warnen hatten. Meist gelang es Fey, die Experten mit Kopien abzuspeisen, die nebenbei für Informationszwecke und eine Wanderausstellung entstanden waren; alle Duplikate von Malskats Hand.
Die Wanderausstellung wurde landesweit ein Erfolg, zumal der Bundespräsident und der König von Schweden vor etlichen Schautafeln anerkennend genickt hatten. In Zeitungen und Vorträgen wiederholte sich die Neuprägung »lübischer Stil«. Als »Wiege der Gotik« kam die Stadt zu Ehren. Von einer Werkstatt wurde gesprochen, die ab Ende des dreizehnten Jahrhunderts unter Anleitung eines genialen Dommeisters stilbildend gewirkt habe. Das Wunder von Lübeck fand Glauben.
Kein Wunder, daß es dem Landeskonservator Dr. Hirschfeld, der als erster Zweifel äußerte, nicht gelang, seine Kritteleien aufrechtzuerhalten. Schließlich wurde er an sich selbst irre und schrieb in seinem Buch von St. Marien zu Lübeck: »...Im Hochchor und Langhaus Obergaden empfinden wir vor den Werken des Meisters ganz unmittelbar jene gewaltige Zeugniskraft, die nur das Original besitzt.«
Im Juni einundfünfzig zog noch einmal Gefahr auf, als sich anläßlich einer Tagung westdeutscher Denkmalpfleger, die extra des Wunders wegen nach Lübeck gekommen waren, etliche Herren in die Marienkirche begaben und sich von Fey nicht abhalten ließen, hoch ins Gerüst zu steigen. Bescheiden trat Malskat zur Seite. Fey erklärte, wies nach, war mit Engelszungen beredt und konnte doch nicht verhindern, daß die Professoren Scheper und Deckert Bedenken äußerten und trotz aller Feyschen Redekunst mit restlichen Bedenken aus dem Gerüst stiegen.
Als freilich tags darauf alle in Lübeck versammelten Denkmalpfleger zusammentrafen, geschah abermals ein Wunder: Keine Anklage wurde erhoben, vielmehr forderten die Kongreßteilnehmer die Regierung in Bonn auf, weitere hundertfünfzigtausend DM in die Kasse der Lübecker Kirchenleitung fließen zu lassen. Das freute den Oberkirchenrat Göbel; aber auch Malskat, der seinen Stundenlohn gesichert sah. Weitere Störungen waren kaum ernst zu nehmen. Als eine Studentin die Thesen ihrer Doktorarbeit »Die Wandmalereien in der Lübecker Marienkirche« an Ort und Stelle überprüfen wollte und heimlich ins Gerüst stieg, wurde sie von Fey erwischt, der sanft aber nachdrücklich auf die Gefahren ihrer Kletterei hinwies. Obgleich sie leichte Gerüstschuhe trug und sich schwindelfrei nannte, durfte sie nie wieder zu Malskat hoch. Dennoch stellte die Studentin, nach nur flüchtigem Augenschein oben, unten angekommen kritische Fragen. Anhand der Fotos und Kopien wies sie auf romanische Elemente im Faltenwurf hin. Ihr Erstaunen über die Leuchtkraft der Farben im Hochchor war mit Zweifeln untermischt. Es hätte doch, sagte sie, in der Nacht auf Palmsonntag zweiundvierzig, als Lübecks Marienkirche von innen nach außen brannte, das Kupferblau im Obergaden wie auch im Chor oxidieren und einschwärzen müssen.
Als Fey die Studentin abermals erwischte, wie sie zu Malskat hoch wollte, um dort vom Kupferblau Farbproben zu nehmen, drohte er ihr mit Kirchenverbot. So einsam wurde der erfindungsreiche Maler in dreißig Metern Höhe gehalten. Wenig später gelang es Fräulein Kolbe, so hieß die Studentin, ihr Mißtrauen zu überwinden: sie begeisterte sich am Lübecker Wunder, wenngleich sie in ihrer Doktorarbeit die Einmaligkeit der Wandmalerei im Hochchor immer wieder unglaublich nannte. So sehr sie suchte: es ließ sich keine Ähnlichkeit mit dem im norddeutschen Raum üblichen Knitterstil beweisen. Sie blieb verblüfft wegen der romanischen Elemente besonders im dritten Joch und kam zum Schluß: im Hochchor sei insgesamt der Einfluß von Chartres und Le Mans zu spüren. Der Chormeister zu Lübeck müsse Frankreich bereist, werde dort gelernt haben.
Nun ließe sich viel über Malskats Vorleben und seine Bildungsreisen gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts spekulieren; feststeht, daß er hoch oben im Gerüst der Gegenwart enthoben war und eine Freiheit gewann, die ihm beim Setzen der Konturen gotische Empfindungen erlaubte, die seinen einundzwanzig Heiligen im Hochchor und mehr als fünfzig Heiligen im Obergaden des Langhauses nach und nach zu zwingendem Ausdruck verhalfen. Nichts wog die Zeit. Nur ein Sprung und ein Moment inbrünstiger Rückbesinnung war ihm die Spanne von siebenhundert Jahren.
Zu Recht haben die einerseits getäuschten, andererseits scharfsinnigen Kunsthistoriker damals festgestellt, daß sich die Wandmalereien in Schleswigs Dom wie Vorstudien zur Ausmalung der Lübecker Marienkirche ansehen lassen. Trotz Kriegsund Soldatenzeit war Malskat Malskat geblieben, gereifter vielleicht und noch konsequenter rückbezogen; denn wenn ich jetzt sage, das Mittelalter war seine Zeit, sehe ich ihn leibhaftig vor siebenhundert Jahren hoch im Gerüst: die verfilzte Wollmütze über beide Ohren gezogen.
Er wird nach dem Niedergang des Stauferreiches, während wirrer und rechtloser Jahre, bis ins Greisenalter kurz vorm Auftritt der Pest in vielen Kirchen und Heiliggeisthospitälern tätig gewesen sein; überall hinterließ seine Werkstatt Spuren. Deshalb dürfen wir davon ausgehen, daß auch die sechsundfünfzig Heiligen im Langhaus-Obergaden der Marienkirche von ihm sind. Wenngleich Jahrzehnte zwischen der frühen Secco-Malerei im Chor und der späteren, in Rot, Blau, Grün Ockergelb und Schwarz gefertigten Arbeit im Mittelschiff liegen, ist allen übers Menschenelend hinwegblickenden Heiligen in ihrem Faltenwurf die Pinselführung des Chormeisters abzulesen.
Und alles »alla prima«, aus freier Hand gemalt. Nur wenige Anhaltspunkte gaben Musterbücher, die das Ikonografische betrafen. Wenn im Prozeß später das Buch eines gewissen Bernath, »Die Malerei des Mittelalters«, als Malskats Quelle erkannt wurde, bestätigt dieser Hinweis nur die frühen romanischen byzantinischen, ja, auf der rechten Stirnwand Süd des Chorpolygons sogar koptischen Einflüsse. Was der Chorund Langhausmeister vor siebenhundert Jahren gemalt hat, gelang Malskat später aufs neue. So überbrückte er Jahrhunderte, so wurde durch ihn des letzten Krieges zerstörende Wut zunichte, so triumphierte er über die Zeit.
Nun gut, ich kenne die Einwände der Herren Scheper und Grundmann: hier soll der Christus der Sophienkirche in Konstantinopel, dort eine thronende Maria aus dem Dom zu Triest anregend gewesen sein. Glühproben der verschiedenen Farbpigmente, Schichtschnitte von Mörtelteilen, chemische, mikroskopische Untersuchungen wurden gemacht. Obendrein Malskats Geständnis: Die Drahtbürste! Der Konturen und Farbflächen zerkratzende Scherben. Das gekonnte Nachaltern. Der Puderbeutel!
Dazu ist zu sagen: Fey, sein Arbeitgeber verlangte von ihm dieses Glaubwürdigmachen vergehender, spurengrabender Zeit. Nichts Neues, das Alte wollte man wiederhaben, wenn auch ein wenig beschädigt. Malskats Talent erlaubte diese Zugaben. Schließlich hat der spätere Meister des Hochchors
-doch wohl des Langhauses auch in den Jahren vor der Währungsreform Bilder nach Chagall und Picasso gemalt, die über Fey, der gleich nach fünfundvierzig sein Arbeitgeber wurde, in den Kunsthandel kamen. So hielt man sich über Wasser.
Aber mit dem neuen Geld, das die nichtsnutze Reichsmark über Nacht ablöste, brach auch eine neue Zeit an; deren Anfänge verlangten als Fundament eine solidere Fälschung. Und weil sich allgemein das Fälschen und Verfälschen zu einer Lebensart mauserte, die recht bald regierungsamtlich wurde, worauf die alten Zustände, als wäre in ihrer Folge nichts Entsetzliches geschehen, als neue Zustände ausgegeben wurden, entstanden in Deutschland zwei Staaten, die als »falsche Fuffziger« so nennt unser Herr Matzerath alle Produkte aus diesem entlegenen Jahrzehnt in den Handel kamen, in Umlauf blieben und mittlerweile als echt gelten.
Was Malskat tat, war zeitgemäß. Hätte er geschwiegen, wäre ihm nie der Prozeß gemacht worden. Er hätte den Schummel unter der Decke lassen sollen, wie es die Staatsmänner taten; deren doppelte Fälschung hatte Zukunft für sich. Bald machten sie alle Welt glauben, es gehöre der eine, der andere Staat ins eine, ins andere Siegerlager. So münzten sie einen verlorenen Krieg in einen gewinnträchtigen Doppelsieg um: zwei falsche Fuffziger zwar, doch klingende Münze.
Natürlich wäre die Fälschung mit Händen zu greifen gewesen, doch sahen die Täuscher einander ohne Zwinkern als echt an, und auch den mittlerweile verfeindeten Siegern war Zugewinn lieb. Selbst wenn die Fälschung erkannt wurde, blieb man dem schönen Schein treu; denn allzu armselig und schadhaft waren die Originale: zwei Trümmerhaufen, nicht gewillt, einen einzigen zu bilden.
Deshalb sagt unser Herr Matzerath immer wieder: »Malskat lag richtig. Er hätte sich zwischen Adenauer und Ulbricht auf gemalte Säulenkapitelle stellen, keine byzantinischen und koptischen Einflüsse scheuen und sich als Mittelstück dieser Dreieinigkeit feiern sollen; etwa auf der rechten Stirnwand Süd, wo die drei Eremiten, Mönche genannt, ihr Stelldichein hatten.«
Das ist zu spät leicht gesagt, denn als Lothar Malskat auf dreißig Meter hohem Gerüst in Kälte und Zugluft stand, wo er aus freier Hand die sieben Felder im Hochchor mit diversen Heiligen und im Mitteljoch mit der Jungfrau samt Kind belebte und dabei unentwegt seine Lieblingsmarke Juno rauchte, als Geld, unentwegt Geld von Bonn nach Lübeck floß, betrug sein Stundenlohn fünfundneunzig Pfennige neuer Währung, wie hätte er sich zwischen so hochkarätigen Staatsmännern begreifen sollen.
Neinnein, Herr Matzerath! Sie mögen fern in der Kaschubei und solange ihnen der Prälat aus Oliva Gehör schenkt, recht haben, was den Schätzwert des Kanzlers von damals und des damaligen Generalsekretärs betrifft; der Alte und der Spitzbart waren waschechte Fälscher und mögen fortan »falsche Fuffziger genannt werden, Malskat jedoch signierte seine Gotik, wenn auch versteckt.

Die Zwiemacht aus Zwietracht.
Zwiefach die eine Lüge getischt.
Hier und da auf alte Zeitung
neue Tapeten geleimt.
Was gemeinsam lastet, hebt sich
als Zahlenspiel auf, ist von statistischem Wert; die Endsummen abgerundet.

Hausputz im Doppelhaus.
Ein wenig Scham für besonderen Anlaß und schnell die Straßenschilder vertauscht. Was ins Gedächtnis ragt, wird planiert. Haltbar verpackt die Schuld
und als Erbe den Kindern vermacht.
Nur was ist, soll sein und nicht mehr, was war.

So trägt sich ins Handelsregister
doppelte Unschuld ein, denn selbst der Gegensatz taugt zum Geschäft. Über die Grenze
spiegelt die Fälschung sich: täuschend vertuscht, echter als echt und Überschüsse zuhauf. Für uns, sagt die Rättin, von der mir träumt, war Deutschland nie zwiegeteilt,
sondern als Ganzes gefundenes Fressen.

Sicher, es lebt sich ganz gut seitdem. Die posthumane Zeit bekommt uns: wir nehmen in jeder Beziehung zu. Endlich menschenfrei belebt sich die Erde wieder: es kreucht und fleucht. Die Meere atmen auf. Es ist, als wolle die Luft sich verjüngen. Und überall findet sich vorrätig Zeit, unendlich viel Zeit.
Und doch hätten wir das Humane gerne behutsamer schwinden sehen, nicht Knall auf Fall. Schließlich hatten sich die Menschen mehrere verzögerte, mittelbis langfristig programmierte Untergänge offengehalten. Es war ja der menschliche Geist schon immer auf vieles gleichzeitig aus. Zum Beispiel vollzog sich fortgeschritten, doch nicht gründlich zu Ende gedacht, die Vergiftung der Elemente, eine bis Ultemosch, wie wir den Schluß nannten, wachsende Belastung, die sogar dem Rattengeschlecht übel anschlug, obgleich unsereins auf Dauer jedes Gift bis zur Bekömmlichkeit umzuwerten verstand. Dennoch witterten wir mit Sorge, was der Mensch Flüssen und Meeren zusetzte, was alles er der Luft beizumengen bereit war, wie tatenlos klagend er seine Wälder bergab sterben ließ. Als Ratten, denen Leben und Überleben eins ist, konnten wir nur vermuten, daß den Humanen das Leben nicht mehr schmeckte. Sie hatten es satt. Es reichte ihnen. Sie gaben sich auf und taten nur noch affig als ob. Über die Zukunft, ihre in früheren Zeiten so phantastisch möblierte Zimmerflucht, machten sie Witze, hingegen war ihnen das Nichts etwas, auf das zu starren sich lohnte. Jeder Tat und sie blieben ja wie gewohnt tätig hing Sinnlosigkeit als Geruch an, eine Ausdünstung übrigens, die unsereins ekelte.
Und auch du, Freund, sagte die Rättin, warst fleißig beim Abschiednehmen. Man konnte das nachlesen; und wir lasen ja sprichwörtlich viel. Ach, was sich alles auf Endzeit reimte! Wie wohltönend ihnen aller Tage Abend gewiß war. Mit letztem Ehrgeiz wurde das große Finale als Wettkampf betrieben, komischer noch: Hingerissen vom Ende, veräußerten sich viele Künstler so restlos, als wäre ihnen, wie seit altersher, der Lorbeer immergrün, Unsterblichkeit sicher gewesen. Mir war, als gedächte die Rättin unser gerührt und mit Wehmut. Doch dann kam sie wieder zur Sache. Hör zu: Eine weitere Spielart des Untergangs wurde vom Menschengeschlecht als Übervölkerung ausgetragen. Besonders dort wo sie arm waren, legten die Menschen Wert darauf, immer mehr zu werden, als wollten sie Armut durch Kindersegen aufheben; ihr letzter Papst war ein reisender Fürsprecher dieser Methode. So wurde der Hungertod gottgefällig und schrieb sich nicht nur statistisch fort. Sie fraßen einander das knappe Futter weg. Warum, rief die Rättin, wurden die Menschen nicht satt, wenn es uns Ratten doch reichte? Weil sich Überfluß hier aus Mangel anderswo speiste. Weil sie, um Preise zu halten, Angebote verknappten. Weil ein geringer Teil des Menschengeschlechts vom Hunger des Großteils lebte. Sie aber sagten: Weil wir zu viele sind, wird gehungert.
Lächerlich diese Rechnung. Futze Chissoresch! Ihre verfluchte Mangelwirtschaft. Wie wir ohne Mühe satt wurden und dennoch weltweit Milliarden zählten, hätte die annähernd gleichgroße Humanpopulation zum Zeitpunkt des Großen Knalls durchaus gesättigt sein können, es lag ja genug auf Lager. Mehr noch: gerne hätten wir den humanen Wachstumsprognosen entsprochen und mit ihnen das Jahr zweitausend als sechs, wenn nicht sieben Milliarden Ratten erlebt, jegliche Gattung zufrieden und satt.
Nachdem sie meinen Traum mit statistischen Daten überfüllt hatte, sagte die Rättin: Daraus ist leider nichts geworden. Der Entschluß der Menschen, sich nicht zu Tode zu hungern, nicht von Giften übersättigt zu krepieren, auch nicht hungrig und vergiftet, bei immer knapperem Wasser, den langsamen Dursttod, vielmehr das plötzliche Ende zu suchen, dieser selbstsüchtige und kindisch ungeduldige Entschluß bereitet uns Ratten zuvor nicht ausreichend bedachte Probleme: wir werden uns ändern müssen. Die posthumane Zeit verlangt uns neues Verhalten ab. Uns mangelt ein Gegenüber. Ohne das Menschengeschlecht und seine Ernten, Vorräte, Abfälle, Ekelgefühle und Vertilgungssüchte sind wir Ratten zukünftig ganz auf uns gestellt. Zugegeben: es fiel leicht, allzu leicht, in seinem Schatten zu leben; nun fehlt uns der Mensch...
Da sie weiterhin jammerte, rief ich: Aber es gibt doch hier und dort neutronisierte Städte. Mit Hilfe von Schonbomben haben wir äußerlich heile Refugien geschaffen. Ein Kulturabkommen zu euren Gunsten war vorletztes Menschenwerk. Ich bitte dich, Rättin: sind wir nicht kürzlich noch durch menschenfreie Gassen gelaufen? Und hatten wir beide nicht Freude an den zwar rußgeschwärzten, doch schön gebliebenen Giebeln, Türmen, Torbögen, an Sehenswürdigkeiten, anheimelnd vertraut? Vergeblicher Trost. Die Rättin, von der mir träumt, wollte nicht aufhören mit dem Jammern. Nicht mehr in ihren Fluchtbauten vergraben, nicht mehr in Danzigs Gassen sah ich sie laufen, im Müll behaust fand ich sie. Hier erzählte sie mir aus zerknautschtem Schrott heraus von plötzlichen, dem Rattengeschlecht noch immer verderblichen Staubstürmen, dort wohnte sie in Schutz gewährenden Plastikfolien, die, durch Winde bewegt, als immer gefüllte Segel mit meiner Rättin wanderten. Immer wieder: der Große Knall. Immer wieder: die Einsamkeit danach. Und immer wieder und noch einmal: wie sehr den Ratten der Mensch fehle.
Aber ich bin doch da! rief ich. In meiner Raumkapsel: ich. Auf meiner Umlaufbahn: ich. In deinen und meinen Träumen: ich, du und ich!
Hast ja recht, Freundchen, lenkte sie ein. Wie tröstlich, daß jemand da ist, der ich ich ich, immerzu ich sagt; schon verehren wir dich ein wenig. In den städtischen Zufluchten und Revieren gibt es Rattenvölker, die dich geradezu anbeten: Sobald sie auf Plätzen oder in Kirchen den aufrechten Gang üben, meinen sie dich. Wir ländlichen Rattenvölker hingegen haben außer dir noch jemand, dessen immer noch atmende Reste anbetungswürdig sind. Ein Bündelchen nur, aber belebt. Offenbar eine uralte Frau. Die blieb in ihrem Lehnstuhl, als alle rausliefen und hopsgingen. Mühsam lebt sie, von uns Ratten ernährt. Wir tun der Alten gut. Hat sie Durst, tränken wir sie. Wie dich städtische Ratten anbeten, beten Landratten sie an. Und sie, die Uralte brabbelt für uns: Wie es früher gewesen ist. Was alles vergangen bleibt. Wer auf Besuch kam. Was ihr Leid brachte, das bißchen Freude nahm und zu schmerzen nicht aufhören wollte.
Aber das ist doch, rief ich. Rättin, ich bitte dich! Noch steht ihr Geburtstag bevor. Erst morgen ist Sonntag. Sie will feiern, gefeiert werden.
Jaja, sagte die Rättin. Aber nun will sie sterben und kann nicht. Deshalb erzählt sie uns traurige und manchmal auch lustige Geschichten von früher. Aus Vorkriegs-, Kriegsund Zwischenkriegszeiten. Wie die Kaschuben mit Polen und Deutschen mal leidlich, mal elend lebten. Und wie sie als junges Ding mit Pferdchen und Wagen, dann, als der Fortschritt kam, mit der Eisenbahn von Kokoschken auf städtische Wochenmärkte gefahren ist. Und was alles ihre Kiepen füllte: Kartoffeln und Wruken, Gurken und Himbeeren. Frische Eier, einen Gulden die Mandel, hat sie verkauft. Und auf Martin zwei Gänse. Und jeden Herbst körbevoll Grünlinge und Maronen, Pfifferlinge und Braunkappen, weil in den Wäldern der Kaschubei die Pilze zuhauf standen

Bei aller Skepsis: Dieser Wald ist immer noch heil. In unserem Film, der Grimms Wälder heißt, stehen hier dunkelnd, dort licht Buchen, Tannen, Eichen, Eschen und Birken, Ahorn und Ulmen sogar. Gebüsch öffnet, schließt sich. Getier im Unterholz. Immer neues Grün, aber auch spätsommerliche, frühherbstliche Farben. Die Vogelbeeren der Ebereschen. Aus Moosund Nadelgründen schießen Kremplinge und Flaschenboviste, der Parasol. Unter Eichen rufen Fliegenpilze nahstehende Steinpilze aus. Schuppig der Habichtpilz. Aus Baumstümpfen wuchert in Horden der Hallimasch. Und Blaubeeren, mit Kämmen zu ernten. Dann wieder säumt Farn den Waldweg, auf dem die Märchengestalten, Rübezahl und die Zwerge zu Fuß, die anderen im alten Ford mit Rumpelstilzchen am Steuer, zum Tatort unterwegs sind.
Einer der Zwerge, ich glaube, der zweite, der auf dem Trittbrett fährt, während die anderen eilig tippeln, ruft: »Halt!« Alle Sieben breiten auf Moos zwischen Pilzen, die im Hexenkreis stehen, eine handgezeichnete Waldkarte aus. Sie messen, vergleichen, streiten um Daumensprünge, geben endlich die neue Richtung an: »Hier ist es, hier!« Und hier finden sich auch die Hände des Mädchens ein, die mit der Schaufel vorausgeflogen sind und nun tätig werden.
Denn hier muß der Waldweg umgelegt, muß die alte Wegspur gelöscht werden. Sogar Jorinde und Joringel, die außer traurigsein nichts können, müssen schaufeln und hacken. Die Hexe befiehlt mehreren Bäumen, sich zu entwurzeln und an bezeichneter Stelle neu Wurzeln zu schlagen. Des Mädchens abgehauene Hände schaufeln ein Loch, in das der dritte und vierte Zwerg einen Wegweiser setzen, der vorher in ganz andere Richtung wies.
Der Froschkönig legt sich in einen Waldbach, wird zum Frosch und leitet den Bach in ein neues, den alten Weg kreuzendes Bachbett, worauf er wieder zum König wird, der seiner Dame, die untätig leidet, die Stirn mit Quellwasser kühlt.
Auf allen vieren kriecht Rübezahl über den alten Weg. Wo immer sein Bart die Wegspur berührt, treibt Moos, wächst Farn, schießen Pilze.
Weil Rumpelstilzchen wieder mal aufstampft, muß ein Ameisenberg sieben Sprünge weit umziehen und sich samt Eiersegen und Aufzucht neu einrichten. (Nach Anweisung unseres Herrn Matzerath soll sich das dumme Rotkäppchen in einen hohlen Baum hocken, dort Daumen lutschen und den fleißigen Märchengestalten faul zugucken.) Jetzt ist der falsche Waldweg täuschend echt und der richtige kaum mehr zu ahnen. Worauf die Böse Stiefmutter Befehle erteilt: Rübezahl muß Dornröschen gewaltsam vom Prinzen trennen. Der soeben noch gutmütige Riese verfinstert sich. Er packt und hebt Dornröschen mit einer Hand, ist nicht mehr Hausknecht, sondern herrischer Geist aus dem Riesengebirge. Der erste, sechste und siebte Zwerg halten den weinenden Prinzen. Mit der Spindel läuft der vierte Zwerg schnellfüßig Rübezahl hinterdrein, der das bereits wieder schlafende Dornröschen in Richtung Tatort entführt.
Von Schneewittchen will sich der Prinz nicht trösten lassen. Auch von Rotkäppchen, das aus dem hohlen Baum springt, will er nichts wissen. Die abgehauenen Hände des Mädchens streicheln den traurigen Lockenkopf, dessen Kußmund verzweifelt Luftküsse verteilt. Wie von Sinnen ist er. Erst Rapunzel gelingt es, mit langem Haar den Prinzen von seinem Leid abzulenken.
»Den Spiegel bitte!« ruft die Böse Stiefmutter, worauf die abgehauenen Hände den Zauberspiegel aus dem alten Ford holen und auf einen Baumstumpf stellen. Sobald sich die Märchengestalten, mit Hänsel und Gretel in der Mitte, vor dem Spiegel versammelt haben und gruppiert sind, als wollte eine Großfamilie, weil Dienstag ist, Dallas sehen, schaltet die Böse Stiefmutter ihr wundersames Fernsehen ein. (Wie unser Herr Matzerath noch kürzlich sagte: »Keines der allerneuesten Medien, das nicht im Märchen seinen Ursprung hätte.«) Zuerst sieht man Rübezahl mit dem schlafenden Dornröschen beladen durch toten Wald stapfen. Unermüdlich läuft mit der Spindel der vierte Zwerg hinterdrein.
Dann sieht man Rotkäppchens Großmutter, die noch immer dem Wolf aus Grimms Wörterbuch, Band eins, vorliest. Und jetzt kommt die Wagenkolonne des Kanzlers mit Ministern und Experten ins Bild. Noch ist sie, hinter Blaulicht und von Polizisten auf Motorrädern flankiert, auf der Autobahn unterwegs.
Abermals schaltet die Böse Stiefmutter um: Der Zwerg mit der Spindel folgt Rübezahl, der das schlafende Dornröschen in einer Turmruine treppauf trägt, bis hoch zur Turmkammer, der das Dach fehlt. Plötzlich kommen die abgehauenen Hände ins Bild. Sie putzen die Turmkammer, während Rübezahl das Dornröschen behutsam an einen Steintisch setzt; der Zwerg legt die Spindel in den Schoß der schlafenden Schönen. Vor dem Zauberspiegel wird der Fleiß des Mädchens ohne Hände gelobt. Der Prinz, der durch Rapunzels Haare hindurch alles gesehen hat, jammert. Er will fort und sein Dornröschen wie gewohnt wachküssen. Aber die Zwerge halten ihn, so sehr er zappelt. Abermals verhängt ihn Rapunzel. Nachdem der Zauberspiegel wiederum die Großmutter gezeigt hat, wie sie noch immer dem Wolf vorliest, zeigt er jetzt des Kanzlers Wagenkolonne, die in den heilen Wald einbiegt. Blaulicht voran, kommt sie näher und näher. Auf ein Zeichen der Hexe verstecken sich alle Märchengestalten. Den alten Ford schieben die Zwerge ins Gebüsch. Einzig Hänsel und Gretel bleiben zurück, als seien sie ausgestoßen und gottverlassen allein. So stellen sie sich wartend auf den neuen falschen Weg.
Jetzt kommt aus der Tiefe des Waldes hinterm Blaulicht die Wagenkolonne des Kanzlers. Hänsel und Gretel winken und rufen: »Hier, Papa! Hier sind wir, hier!« Sie laufen rufend den falschen Weg lang. Der Kanzler und Papa folgt ihnen in Richtung Tatort, bis der soeben noch heile Wald immer kränklicher, sumpfiger, unwegsam wird. Über Sprechfunkgeräte hört man Piepen, Pfeiftöne, Befehlsdurchsagen: »Kanzlerkinder verfolgen!« »Ausschwärmen, einkreisen!«
Die schwarzen Automobile bleiben stecken, müssen von allen Insassen verlassen werden und versinken, eins nach dem anderen, in blubberndem Morast, schließlich auch das Automobil des Kanzlers, dessen Mercedesstern bis zum Schluß glänzt.
Ungeordnet irren der Kanzler und seine Experten und Minister, unter ihnen die Grimmbrüder durch toten Wald. Mit entsicherten Maschinenpistolen sind Polizisten bemüht, die ihnen aufgetragene Sicherheit aufrechtzuerhalten. Unter der Last ihrer Apparate stöhnen die Leute vom Fernsehen, filmen aber gleichwohl das Durcheinander.
Der Kanzler ruft: »Kinder, wo seid ihr? Wo seid ihr denn, Kinder?«
Die Experten streiten über die Richtung. Die Polizisten erschrecken sich gegenseitig. Die Grimmbrüder helfen einander aus dem Morast. Der Kanzler ruft. Das Fernsehen hält drauf. Sieben Raben in toten Bäumen. Hänsel und Gretel locken den hilflosen Haufen immer tiefer in den abgestorbenen Wald. Sie rufen: »Hier gehts lang, Papa, hier!«
Auf Vorschlag unseres Herrn Matzerath, der immer auf Nebenhandlungen bedacht ist, finden die Grimmbrüder nun in der Einöde ein langes goldenes Haar. Wenige Schritte weiter glänzt abermals ein Haar gülden. Und so fort. Indem sie den Goldhaaren folgen, sehen die Grimmbrüder schließlich, wer sie ins Abseits gelockt hat: zwischen toten Bäumen Rapunzel. Wunderschön anzusehn spielt sie mit ihrem Langhaar und lockt den Minister für mittelfristige Waldschäden und seinen Staatssekretär in eine bestimmte Richtung.
Andere Märchengestalten erscheinen, verschwinden zwischen Bäumen; die Sieben Zwerge tragen Schneewittchen im Sarg; Rumpelstilzchen springt, tanzt und ruft: »Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß« ; Rotkäppchen ist mit dem Henkelkorb unterwegs.
Immer mehr Märchengestalten kommen und vergehen:Wehmütig Jorinde und Joringel, das arme Mädchen mit den abgehauenen Händen, den Frosch auf schöner Stirn schreitet eine Dame vorbei, und immer wieder sieht man die Hexe lachen. Und was noch alles im Buch der Hausmärchen vorkommt. Wie willenlos folgen die Grimmbrüder ihren Gestalten, bis aus totem Wald wieder Märchenwald wird. Und wie sich der Märchenwald zur Lichtung öffnet, steht, inmitten der Lichtung, in Stein gehauen ein Denkmal, das die Grimmbrüder Schulter an Schulter abbildet. (Hier nun möchte unser Herr Matzerath eine Gruppe von Professoren versammelt sehen, die alle Märchenexperten und Hintersinnforscher sind. Sie sollen die soziologischen, linguistischen und psychologischen Dimensionen der Grimmschen Hausmärchen ausleuchten und die Grimmbrüder in ein längeres Fachgespräch ziehen. Ich bin dagegen.)
Fraglos und nur staunend sollen sich Jacob und Wilhelm Grimm als Grimmbrüder in Stein gehauen sehen, indes sich nach und nach alle Märchengestalten um sie versammeln. Schneewittchen erhebt sich lächelnd im gläsernen Sarg. Rapunzel steht in ihr Haar gekleidet. Das Mädchen ohne Hände versteckt seine Armstümpfe hinterm Rücken. Ein wenig verlegen knöpft sich die Hexe über ihren enormen Titten zu. Alle, alle zeigen sich, nur Rübezahl fehlt.
Abseits steht er und weint, weil er als Berggeist in Grimms Märchen nicht vorkommt. (Dennoch halte ich unseres Herrn Matzerath Vorschlag, den armen Rübezahl nach seinem Märchendichter Musäus rufen zu lassen, für zu ausgedacht. Einleuchtender wäre es, wenn Wilhelm Grimm zartfühlig Rübezahls Not erkennen, den ungeschlachten Riesen suchen, finden und in den Kreis der Grimmschen Märchengestalten aufnehmen würde.) Wilhelms Untertitel heißt: »Auch Rübezahl soll fortan zu uns gehören.«
»Jaja«, sagt Rumpelstilzchen, »so sehen wir uns wieder, meine Herren.«
Wilhelm Grimm sagt: »Schau, lieber Bruder, alle haben sich um uns versammelt.«
Jacob Grimm sagt: »Nicht alle sind da, lieber Bruder. Hänsel und Gretel fehlen. Und schau um dich: es fehlt uns Dornröschen.«
Während die drei Aufpasserzwerge den Prinzen, der plappern will, zurückhalten, stellt die Böse Stiefmutter, die den Grimmbrüdern zugeknöpft streng begegnet, ihren Zauberspiegel zu Füßen des steingehauenen Denkmals auf und schaltet das Aktionsprogramm ein.
Am Tatort sitzt das schlafende Dornröschen mit der Spindel im Schoß am Steintisch des Turmzimmers. Die abgehauenen Hände achten darauf, daß die Spindel nicht vom Schoß fällt. Um den Turm versammeln sich der Kanzler und sein Gefolge. Rasch küßt der Zwerg, der die Spindel getragen hat, nach Art des Prinzen Dornröschen wach. Dann läuft er treppab und mit Hänsel und Gretel, die hinter der Turmruine versteckt gewartet haben, schnellfüßig davon. Die abgehauenen Hände und die Sieben Raben folgen ihnen. Gretel ruft laufend: »Hoffentlich klappt es!«
Um den Turm beginnt wieder der Streit der Experten. Die Polizisten bilden einen sichernden Kreis um den Kanzler und seine restlichen Minister. Erschöpft läßt sich der Kanzler von einem Referenten aus der Provianttasche ein großes Stück Buttercremetorte geben. »Ach«, ruft er, »wie schwer wird mir das Regieren gemacht!« Dann beißt er zu, kaut und sieht traurig kauend, Dornröschen in der Turmkammerruine sitzen. Es klappert mit den Augendeckeln, will sogleich wieder einschlafen. Da ruft der Kanzler mit halbvollem Mund: »Hast du vielleicht meine lieben Kinder gesehen?«
Dornröschen erschrickt und sticht sich mit der Spindel in den Finger, bis Blut kommt.
Und nun erstarren alle zugleich: der Kanzler mit dem Tortenstück in der Hand, die streitenden Minister und Experten, die Polizisten mit ihren in Anschlag gebrachten Maschinenpistolen, die immer drehbereiten Fernsehmänner und auf Stichworte lauernden Journalisten. Und während sie noch streitend aufeinander deuten, mit den Maschinenpistolen den Feind suchen, Notizen kritzeln, die Fernsehkamera surren lassen und Torte mampfen, sinken alle mit Dornröschen in tiefen Schlaf. Sogleich beginnt aus der Ödnis zwischen den toten Bäumen eine Dornenhecke zu wachsen, die immer höher schießt, dichter wird, undurchdringlicher, als treibe sie Stacheldraht, bis die erstarrte Gesellschaft zu Füßen der Turmruine, in der Dornröschen schläft, verschwunden, bis die Regierung mit allem Drum und Dran nicht mehr da ist.
Im Zauberspiegel auf dem Denkmalsockel sehen die Märchengestalten und die Grimmbrüder den Erfolg ihrer Aktion. Es herrscht Freude. Sogar den Grimmbrüdern will diese Spielweise von Entmachtung gefallen.
Und freudig werden Hänsel und Gretel, der vierte Zwerg und die abgehauenen Hände begrüßt. Die Hexe gratuliert ihnen:

»Großartig habt ihr das gemacht, Kinder!«
Alle klatschen Beifall, auch die abgehauenen Hände. Nur die Grimmbrüder sehen wir verstört, weil sie die vermißten Kanzlerkinder hier wiedersehen: aufgehoben als Hänsel und Gretel. Zwar begrüßt Wilhelm Grimm die beiden freundlich mit dem Untertitel: »Und wir haben befürchtet, der Russe habe die Kanzlerkinder entführt«, doch Jacob Grimm ist voller Bedenken: »Ach, eure armen Eltern! Außerdem gibt es keine Regierung mehr. Unordnung wird herrschen. Chaos droht!« Da löst sich der wachküssende Prinz aus Rapunzels Haar und bietet den Grimmbrüdern seine Dienste an: »Soll ich Dornröschen wieder wachküssen? Ich kann das!«
Er will fortlaufen, aber sogleich hängen die drei Aufpasserzwerge an ihm. Ganz und gar Berggeist, Köhler und Wilder Mann, ohrfeigt Rübezahl den Prinzen. Hänsel ruft: »Es wird hiergeblieben!« (Und bevor er nach Polen abreiste, sagte unser Herr Matzerath noch, an dieser Stelle müsse des Froschkönigs Dame dem weinenden Prinzen ihre geplagte Stirn zum Kuß anbieten; aber ich meine, es würde diese Nebenhandlung vom weiteren Geschehen nur ablenken.)
Ohne Umstände wollen alle Märchengestalten den Grimmbrüdern nun ihre Pension, das Knusperhäuschen zeigen, wohin mittlerweile viele Lastschnecken, eine der anderen folgend, alle Bände des Grimmschen Wörterbuchs geliefert haben; die letzte trägt den Band zweiunddreißig: von Zobel bis Zypressenzweig...

Immer noch liest die Großmutter aus dem Märchen dem Bösen Wolf aus dem Märchen
aus dem Wörterbuch vor.

Sein Wolfsbauch, den ein Reißverschluß öffnet und schließt, ist voller Wörter
aus alter Zeit: Wehmutter, Wehrmut, Wehleid...

Jetzt findet die Großmutter in Grimms Wörterbuch, von dem mittlerweile alle Bände aufliegen, den Namen der Stadt Vineta, in der die Vineter wohnten,

bis die See über die Stadt kam. Da heult der Wolf und will aus dem Mund der Großmutter mehr hören, als über Vineta geschrieben steht.

Läuten, Geläut, Glockengeläut, sagt die Großmutter zum Wolf aus dem Märchen, hört man
bei Windstille über der glatten See.