Es ist ja nicht so, daß die Kaschubei nur
Hinterland, eine vom großen Geschehen vergessene Provinz, jene
gehügelte Beschränktheit hinter den Sieben Bergen ist, die sich
selbst genügt; Anna Koljaiczeks kaschubisches Kraut wuchert
weltweit. Ableger der Linie Woyke, die nach Zukowo zurückweist, wo
früher das Kloster war, bis es Domäne wurde, verschlug es, als
wieder einmal ein Krieg zu Ende ging, nach Australien: Zwei Brüder
Woyke, die unehelich ihre Mutter Stine zurückließen, reisten per
Schiff und nahmen Bräute aus Kokoszki und Firoga mit.
Nach dem einen und dem nächsten Krieg wanderten etliche vom Zweig
Stomma und ein Kuczorra nach Amerika aus, wo sie in Chicago und
Buffalo Nachkommen jenes Josef Koljaiczek vorfanden, der, wie man
weiß, zu Beginn des Jahrhunderts unter Flößen seiner Anna
entschwand; seitdem viele im Kleinund Großhandel tüchtige
Colchics.
Ein Bronski aus Annas väterlicher Wurzel, die in Matarnia Boden
hat, ist schon zu Kaisers Zeiten bis nach Japan gekommen, wo er mit
Stäbchen zu essen lernte. Einer seiner Enkel hat es in Hongkong zu
Familie und Wohlstand gebracht. Nach fünfundvierzig haben, neben
Annas Enkelsohn Oskar, der im Rheinland ansässig wurde, mehrere
Enkelkinder ihrer verstorbenen Schwestern Amanda, Hulda und Lisbeth
in Schwaben und im Ruhrgebiet Fuß gefaßt, weil es, so sagte man
damals nicht nur an kaschubischen Tischen, im Osten zwar schöner,
im Westen aber besser sei.
Aus Annas mütterlicher Linie Kurbiella, die aber immer wieder, wie
aus Kirchenbüchern in Kartuzy, Matarnia und Wejherowo zu lesen ist,
mit den Linien Woyke, Stomma, Kuczorra und angeheiratet Lemke und
Stobbe lebenslängliche Knoten schlug, ist ein Kurbiella zur
Handelsmarine gegangen, doch ab Mitte der fünfziger Jahre in
Schweden geblieben. Dort beschloß er, nach Afrika auszuwandern:
Seine Postkarten, die Palmenstrände und exotische Früchte zeigen,
kommen aus Mombasa, wo er im Hotelgewerbe tätig ist.
So betont alle ausgewanderten Kaschuben sich als US-Bürger,
Angehörige des Commonwealth und überbetont als Westdeutsche geben,
es hängt ihnen dennoch das Kaschubische, dieser Geruch von
Buttermilch und eingekochtem Rübensirup an; auch unser Herr
Matzerath, der sich gerne weltmännisch und vielgereist gibt, riecht
unterm Kölnisch Wasser anheimelnd nach Stall.
Als Anna Koljaiczek ihren hundertundsiebten Geburtstag mit
einladenden Postkarten ausrief, wurde sie in allen fünf
Kontinenten, übrigens auch in Montevideo gehört, wo ein Urenkel des
untergetauchten Josef Koljaiczek, wie alle Colchics, Handel mit
Bauholz und Edelhölzern treibt. Überdies sollen auch Colchics im
brasilianischen Urwald beim Kahlschlag und auf Island als Eigner
einer Kistenfabrik tätig sein.
Es reist also nicht nur über Poznan und Bydgoszcz, das früher
Bromberg hieß, unser Herr Matzerath an; während ein Woyke mit Frau,
der nun abenteuerlich Viking heißt und bei der Eisenbahn tätig ist,
von Australien her seinen Schiffsweg nimmt, kommt aus der Vielzahl
ein einziger Mister Colchic, der eine Stomma geheiratet hat, mit
Gattin vom Michigansee her geflogen.
Von Hongkong fliegt über Frankfurt am Main nach Warschau das
Ehepaar Bruns, vormals Bronski, das aus der britischen Kronkolonie
billig Spielzeug exportiert und nun bänglich gespannt ist, wie sich
Mrs. Bruns bei deutlich chinesischer Herkunft zwischen Kaschuben
zurechtfinden wird.
Leider hat der Edelholzhändler aus Montevideo absagen müssen; aber
jener ehemalige Matrose, der über Schweden nach Afrika fand, kommt
und heißt als Hotelmanager noch immer Kurbiella.
Obgleich die Enkelkinder von Annas verstorbenen Schwestern Amanda,
Hulda und Lisbeth der Kaschubei zunächst wohnen, haben nur Herr und
Frau Stomma, sie eine geborene Pipka, zugesagt, mit zwei
halbwüchsigen Kindern zu kommen. Von Gelsenkirchen, wo ihr
Fahrradgeschäft mit Reparaturwerkstatt und Filiale in Wanne-Eickel
überdies einen Geschäftsführer ernährt, reisen die Stommas per
Eisenbahn an. Vergeblich hat unser Herr Matzerath versucht, seinen
mutmaßlichen Sohn Kurt und dessen Mutter, die, wie man weiß, eine
geborene Truczinski ist, zur Mitreise im Mercedes zu bewegen; doch
Maria hielt sich für unabkömmlich. Nach ihres Mannes Tod kurz vor
Kriegsende, der, wie Oskar heute meint, vermeidbar gewesen wäre,
blieb sie unverheiratet und geschäftstüchtig.
»Neinnein! Dahin will ich nicht zurück mehr!« soll sie gerufen
haben. Und Streit gab es deshalb, in dessen Verlauf Vaterschaften
bezweifelt wurden; doch dieses leidige Thema hier auszubreiten,
würde zu weit führen. Es blieb bei Maria Matzeraths Absage: Sie
könne ihre Ladenkette nicht einfach im Stich lassen.
Als ich ihn kurz vor seiner Abreise wie nebenbei fragte: »Sagen
Sie, Oskar, wer von den weltweit zerstreuten und seßhaften
Kaschuben ist Ihnen persönlich bekannt?«, sagte er: »Eine gewisse
Scheu hinderte mich bisher, reisend meiner Vergangenheit
nachzugehen. Zwar gab es etliche Korrespondenz, doch außer auf
Fotos besonders die Colchics haben fleißig fotografiert wurde
nichts anschaulich. Nun hoffe ich, wenn schon nicht meinen Onkel
Jan, der meiner armen Mama so schmerzlich vertraut war, so doch
dessen Sohn wiederzusehen: Stephan ist nur zwei Monate älter als
ich.«
Nach einer Pause, die er nutzte, um an seinen Fingerringen zu
drehen, sagte er: »Nunja, Tiefschürfendes wird man sich nicht zu
sagen haben. Sie kennen doch diese Familienauftriebe. Viel Gedränge
und wenig Nähe. Mir geht es vor allem um meine Großmutter. Einzig
sie ist mir leibhaftig geblieben. Zu ihr, nur zu ihr will ich.
Allerdings wohnt Anna Koljaiczek nicht mehr in Bissau-Abbau,
sondern mehr nach Matern hin, das heute Matarnia heißt. Der Bau des
neuen Flughafens war Grund dieser Vertreibung. Deshalb sind jene
Kartoffeläcker, die meine Großmutter von Jugend an bestellt und
nachgehackt hat, wie manch anderer Mythos auch, unterm Beton
verschwunden.«
Während er im lädierten Mercedes unterwegs ist und sich, nach
traumloser Übernachtung, von Posen her Bromberg nähert, müssen nun
andere Fragen, wenn nicht ihm, dann rhetorisch gestellt werden:
Warum abermals Oskar? Hätte er nicht dreißig Jahre alt und in
seiner Heilund Pflegeanstalt bleiben können? Und wenn schon
gealtert und neuerdings medienverrückt, warum dann zum
Hundertundsiebten erst? Weshalb nicht vor Jahren, als es Anlaß
genug gab, die runde Zahl zu feiern? Und warum verbat sich Anna
Koljaiczek zu allen abgefeierten Geburtstagen Umstände oder wie sie
es nannte Fisimatenten, bis sie endlich doch einladende Postkarten
in alle Welt verschicken ließ?
Weil sie von Unruhe bewegt war, die mit ihr auf der Bank vorm Haus
Platz nahm. Weil ihr seit Jahren inständiger Satz, »Nu mecht
baldich zuende jehn«, nicht mehr nur sie, die Uralte meinte,
sondern sich umfassend festigte: »Nu mecht baldich aus sain mid
alles was is.«
Deshalb bekamen alle, die ihr nah wie fern nahe waren, Postkarten,
die der Priester in Matarnia für sie schreiben mußte; denn Anna
Koljaiczek hatte zu Hochwürden gesagt: »Faiern willich, abä
schraiben muß waißnichwer.«
Und solch eine Postkarte rief auch unseren Herrn Matzerath, der
zwar Jahr für Jahr pünktlich der Geburtstage seiner Großmutter
gedacht hatte, aber seit Ende des letzten Krieges, als er in einem
Güterwagen krank in den Westen gerollt wurde, nie wieder nach Hause
gekommen war. Nun reist er in nordöstliche Richtung und starrt
ängstlich, als suche er Halt dort, auf den Nacken seines
Chauffeurs; denn mit Anna Koljaiczek sieht auch er ziemlich
schwarz.
Ein Tuch drüber und fertig! Weil ich nicht
will, daß jetzt wieder die Rättin spricht, bleibt der Käfig meiner
Weihnachtsratte verhängt. Nichts sehen, nichts hören! Kein Drittes
Programm, in dem, zwischen Barockmusik, die Welt in Kommentare
zerfällt. Weiß ich doch, daß es bergab geht, immer schneller sogar.
Auf meinen Papieren sieht es nicht besser aus: überall stirbt der
Wald. Malskat? Das war einmal. (Wer will noch wissen, wie jener
Bischof von Lübeck hieß, der ins Chorschlußgewölbe ein
steingehauenes Hakenkreuz fügen ließ?) Bleibt das Schiff.
Vielleicht kommt es davon. Ich sollte mich an die Frauen
halten...
Jetzt ist Gotland in Sicht. »Die Neue Ilsebill« macht neun Knoten
Fahrt. Der Forschungsewer lärmt, so rüttelt der Diesel. Damroka
will alle Zeit zurückgewinnen, die verloren ging, als gestritten
wurde und aus Prinzip Ohrenquallen gezählt werden mußten.
Jetzt streiten die Frauen nicht mehr. Die Meereskundlerin
versichert, es liege nun Material genug vor.
Die Steuermännin sagt: »Wenn wir zwischen Öland und Gotland noch
kurz paar Messungen machen, sind wir fertig und können von mir
aus...«
Damroka schweigt. Sie will nicht nochmal und nochmal sagen, was der
Butt ihr gesagt hat.
Die Alte ruft überm Abwasch aus der Kombüse: »Wir werden schon
nicht zu spät kommen. Euer Vineta läuft euch nicht weg.«
Und auf den Vorschlag der Steuermännin, zwischen Rügen und Usedom
solle noch paarmal der Meßhai rausgehängt werden »Damit uns die
DDR-Heinis unseren Forschungsdrang glauben« —, sagt die
Maschinistin: »Martha hat recht. Die lassen niemand in ihr
Gewässer, der nur Vineta suchen will und sonst nichts.«
So altmodisch und streng heißt die Steuermännin, die aber, riefe
ich sie vertraut beim Namen, nicht Martha, sondern ganz anders
hieße. Und wenn die Maschinistin hier plötzlich Helga, die
Meereskundlerin Vera heißt, haben beide, wo sie sonst wirklich und
nebenbei gesagt erfolgreich berufstätig sind, ganz anders lautende
Namen. Auch Damroka wird hier nur Damroka gerufen und kommt, wo sie
mir nah ist, mit weniger Silben aus. Nur die Alte könnte jederzeit
und allerorts Erna heißen. Ich muß das sagen, weil die fünf Frauen
an Bord des Schiffes so, wie man sie anderswo ruft, niemals
zusammen ein Schiff befahren würden; nur meine Willkür hat sie auf
Deck, mittschiffs, in Hängematten versammelt und auf gewünschten
Kurs gebracht. Das war nicht leicht. Es hieß: Typisch! Nur Männer
denken sich sowas aus. Harmoniesüchtig ist er. Soll wohl ne
Friedensfahrt werden!
Tricks und Notlügen mußte ich mir einfallen lassen und kurz vor
Reisebeginn versprechen, daß nie Sturm aufkommen werde und niemals
Maschinenschaden auf hoher See zu befürchten sei.
Dennoch sind mir Bedingungen gestellt: Kein Grübchen darf ich
zählen, kein Muttermal entdecken, quer oder steil keine einzige
Falte deuten. Keine der Frauen will ähnlich sein. Sie weigern sich
auszusehen, wie ich sie spiegeln möchte. Deshalb ist mir verboten,
Profile zu zeichnen, diese Stirn zu wölben, die andere kurz sein zu
lassen und Schnittmuster ihrer Augen zu fertigen. Sobald ich sie
sprechen oder schweigen lasse, müssen der sprechende und der
schweigende Mund ausgespart bleiben. Wie beredte oder verschlossene
Lippen sich öffnen, einander treffen, pressen, befeuchten, kann
nicht gesagt werden. Ob Backenknochen breit, ein Kinn zierlich, ein
anderes voll und ausladend, Ohrläppchen hier freihängen, dort
angewachsen sind, soll nicht typisch sein. Keinem Geruch denn jede
riecht anders ist es erlaubt, sich Eigenschaftswörter zu suchen.
Und nie darf Farbe vorkommen; sie wäre Verrat. Deshalb ist keine
der Frauen an Bord blau-, grauoder rehäugig. Von dunkelbraunem,
semmelblondem, tiefschwarzem und weizenfarbenem Haar kann nicht die
Rede sein. Nur daß Damroka schöngelockt ist, soll hier
stehenbleiben. Und soviel noch: aller fünf Frauen Haar ist mehr
oder weniger graudurchmischt. Sie sind mir älter und älter
geworden, zählen von Mitte vierzig bis weit über siebzig, obgleich
sich besonders gerne die Alte immer noch mädchenhaft
gibt.
Die vielen abgelebten Jahre. Wenn ich das sagen darf: Sie wurden
mit der Zeit schöner. Da sie von Anbeginn so hieß esgut aussahen,
konnte es ihnen älter werdend gelingen, ihre früher zu offenkundige
Schönheit hinter Schleier zu stellen. So ist es: es sind fünf
verschleierte Schönheiten, die nach Vineta wollen. Ihre Geschichten
sogar, die alle von vergangenen Männern handeln, sind verschleierte
Geschichten; denn nie dürfte ich sagen, wie ich ihnen fremd
geworden, abhandengekommen, nie greifbar gewesen, hungrig oder
zufällig unterlaufen bin. Auch wer hier wen verletzt, benutzt,
überhört, vermißt, im Regen stehengelassen hat, kann nicht Ballast
sein für ein Schiff, das bald denn schon steuert »Die Neue
Ilsebill« den Hafen von Visby auf Gotland an unterwegs sein wird,
die versunkene Stadt zu suchen.
»Mann!« ruft die Maschinistin Helga und schlenkert mit Armen und
Beinen, »Ist mir nach Landgang!«
Die Meereskundlerin Vera sagt: »Ich leg einen neuen Film ein in. In
Visby soll es interessante Trümmer geben. Alles echt
Mittelalter.«
Die Alte, die so oder so Erna gerufen wird, zählt auf, was
eingekauft werden muß: »Und unbedingt brauchen wir Flüssiges, paar
Flaschen Aquavit. Wer weiß, was es in eurem Unterwasserreich
gibt?!«
Die Steuermännin, von der ich sagte, sie heiße Martha, will an Land
unbedingt etwas erleben. »Ich glaub«, sagt sie voraus,
»ich reiß mir noch schnell einen Mann auf, zum
Abgewöhnen.«
Damroka, die ich heimlich schon immer Damroka gerufen habe, will
nach dem Anlegen sofort zum Hafenmeister und die gestempelten
Papiere abholen. Sie sagt: »Wenn wir nach Steuerbord hin Mönchgut
liegen haben und dem DDR-Grenzschutz, sobald die mit ihrem Boot
längsseit kommen, unsere tipptopp Papiere zeigen, kann uns so gut
wie nichts mehr passieren.«
Ich halte mich raus. Ich sage nicht, was ich weiß. Daß es zu spät
sein könnte, bleibt ungesagt. Ach, stünde den Frauen Vineta doch
offen!
Die Rättin datiert uns nach eigener Zählung.
Alles, was vor ihrem Auftritt in Europa geschah und nach unserer
Rechnung ziemlich genau aufs Datum gebracht wurde, faßt sie mit der
Formel, das war zur Zeit der Schwarzen Hausratte, zusammen. Ihre
Herkunft bleibt dunkel. Eher Legenden schaffend als aufklärend sagt
sie: Wir lebten lange am Kaspischen Meer, bis wir uns eines Tages
entschlossen, schwimmend den Fluß Wolga zu überqueren und zu
wandern, was uns als Wanderratten bekanntgemacht hat.
Da ihre Ankunft in Europa aus den Hafenstädten des Kontineues und
der Britischen Inseln übereinstimmend während der fünfziger Jahre
des achtzehnten Jahrhunderts gemeldet wurde, verlief die
Völkerwanderung und verbreitete sich die Pest, wie die Rättin sagt,
zur Zeit der Schwarzen Hausratte.
Desgleichen sind alle Ratten, die während des Dreißigjährigen
Krieges in Magdeburg, Stralsund, Breisach und anderswo roh und
abgezogen ihren Preis, gebraten oder gekocht ihren Nährwert hatten,
Schwarze Hausratten gewesen.
Dennoch steht die Rättin als Wanderratte, die von Asien her ihren
Weg nahm und töricht Rattus norvegicus genannt wird zu jener,
mittlerweile nur spärlich nachzuweisenden Gattung Rattus rattus,
zur langen Geschichte der Schwarzen Hausratte, die etwas kleiner,
spitznasiger, doch proportional noch langschwänziger gewesen sein
soll.
Sie sagt: Diese Unterschiede machen wir nicht. Ratte ist Ratte. Und
als Ratte an sich waren auch wir bei allen Völkerwanderungen, beim
Vormarsch der Pest, im Schatten der Kreuzund Flagellantenzüge, als
Johanna brannte, vor Macbeth' Schloß mit allen Kaisern in Rom und
auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges dabei. Wenn
Ratten auf Gustav Adolfs Schiffen gewesen sein sollen, als er über
die Ostsee nach Pommern wollte, sind wir überm Kiel gewesen und
zwar in schwarzer Gestalt. Und wenn es in Hameln Hausratten waren,
die man, obgleich als gute Schwimmer bekannt, in der Weser zu
Tausenden ersäuft haben will, dann waren es abermals wir, die man
zu ersäufen versucht hat. Doch namentlich aktiv wurden die
Wanderratten erst seit Beginn der Französischen Revolution, die,
nach Meinung der Rättin, mit dem niedergeschlagenen Aufstand der
Pariser Kommune endete; weshalb ihr der Krieg siebzigeinundsiebzig,
als Ratten roh und gebraten wieder mal ihren Preis hatten,
besonders wichtig ist. Sobald sie zu längerem Vortrag ausholt, sagt
sie: Als wir zur Zeit der Pariser Kommune... oder: Das war kurz
nach dem Aufstand der Pariser Kommune... Nach Rechnung der Rättin
beginnt kurz vor der Pariser Kommune die trostlose und, wie sie
sagt, nichtswürdige Geschichte der weißhaarigen und rotäugigen
Laborratte. In den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts
wurde es in England und Frankreich Mode, hundert bis zweihundert
gefangene Wanderratten unentrinnbar mit einem besonders scharfen
Hund, in der Regel mit einem Terrier einzusperren und Wetten über
den Zeitaufwand der Rattenvernichtung abzuschließen; ein Vergnügen
nicht nur der unteren Klassen. Sobald sich jedoch zwischen
gefangenen Ratten Albinos befanden, wurden diese ausgesondert und
in Schaubuden und Menagerien als Kuriosität gezeigt. Solche
Selektierungen hielten etwa zehn Jahre an, bis ein Gesetz das
Rattenverbeißen als Wettspiel zuerst in Frankreich, verspätet in
England unter Verbot stellte. Doch da der Bedarf an weißroten
Ratten inzwischen gestiegen war, begann man für Schaustellungen
geeignete Albinos paarweis zu halten und kam so zu einer Vielzahl
weißroter Würfe.
Ein Arzt in Genf, sagt meine Rättin, habe als erster Laborversuche
mit den Weißroten gemacht, indem er Nahrungsmittel testete, später
Medikamente ins Futter mischte, schließlich seine Laborratten mit
Bazillen häufiger Humankrankheiten Diphtherie, Scharlach, Grippe
infizierte, doch erst fünfunddreißig Jahre nach dem Aufstand der
Pariser Kommune, als im WistarInstitut in Philadelphia die
Großproduktion jener bis kurz vor Ultimo nützlich genannter
Laborratten begann, setzten sich Weißrote weltweit als
Versuchsobjekte durch. Meine Rättin sagt: Etwa hundertundfünfzig
Jahre nach unserer Anlandung in Europa wir kamen per Schiff beginnt
mit dem Eintritt der Laborratte in die Humangeschichte die
Entwicklung zum Großen Knall hin.
Als sie mich soweit historisch unterwiesen hatte, sagte sie:
Wußtest du übrigens, daß die Zuchtlaboratorien in Wilmington,
Delaware, ihren Welthandel im letzten Jahr der Humangeschichte mit
achtzehn Millionen Laborratten per anno und einem Gewinn von
dreißig Millionen Dollar beziffert haben? Nicht auszureden ist ihr
der zeitraffende Umgang mit dem zwanzigsten Jahrhundert. Den
ersten, den zweiten Weltkrieg und den von ihresgleichen
vorweggenommenen dritten faßt sie zu einem einzigen Kriegsgeschehen
zusammen, das, nach ihren Worten, folgerichtig mit dem Großen Knall
endete. Deshalb spricht sie, sobald sie erzählend ausholt, von der
Zeit vor oder nach dem Großen Knall. Neuerdings benutzt sie auch
Wörter wie Humanzeit oder posthumane Zeit.
Als sie mir kürzlich träumte, sagte sie: Das war noch während der
Humanzeit, aber gut hundertfünfzig Jahre nach der Hausrattenzeit,
als zu Beginn der Laborrattenära die russische Ostseeflotte, unter
Befehl des Admirals Rosjéstwenski, von Libau aus in See stechen
wollte, worauf wir von Bord gingen. Und bald nach der Seeschlacht
von Tsushima, an der wir nur auf japanischen Schiffen teilnahmen,
begann jener große Krieg, der sich, trotz einiger Unterbrechungen,
die man erfinderisch für die Entwicklung neuer Vertilgungsmittel
nutzte, das Ziel gesetzt hatte, die Menschheit zu vernichten, um
mit dem Ende des dreistufigen Weltkrieges die posthumane Zeit
einzuleiten. Neulich nahm die Rättin auf unsere Zählung Rücksicht
und sagte: Nach Datierung der Humangeschichte war es im Jahr 1630,
als wir mit der Flotte des schwedischen Königs Gustav Adolf auf der
pommerschen Insel Usedom landeten und anläßlich dieser Anlandung,
Usedom vorgelagert, eine versunkene Stadt entdeckten, die, zur
Hausrattenzeit gegründet, anfangs Jumne hieß und später anders
genannt wurde. Als die Rättin mit nächstem Satz den Namen der
versunkenen Stadt nannte, jammerte es in mir: Oh Gott! Wenn die
Frauen wüßten, daß die Rättin weiß, wo Vineta liegt, müßten sie
verzweifeln. Ich muß sie warnen. Sobald ich erwache, werde ich
Damroka von meiner Rättin, von Hausratten und Wanderratten, von
rotta, radau, rät, radda und rotto erzählen, die erst nach der
Lautverschiebung ratz, ratze, italienisch ratto, französisch rat
und deutsch Ratte und Rättin genannt wurden.
Zornig fiel ich ihr ins Wort, als sie zu längerem Bericht ausholte:
Das war nach dem Großen Knall...
Lüge! schrie ich. Alles Lügen. Gab keinen Großen Knall. Und wenn es
ihn geben sollte, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, werdet auch
ihr, wirst auch du, Rättin, diesen Tag X nicht überleben.
Sie blieb ungerührt, erklärte mir noch einmal das seit Noahs Zeiten
bewährte Pfropfensystem und sagte: Schon vor dem Knall haben wir,
sobald nach Kammerjägerart versucht wurde, Gänge und Nistkammern zu
vergasen, Altratten als Pfropfen gesetzt, die mit fettem Hinterteil
unsere Zufluchten fugendicht abschlössen.
Als ich weiter Lüge! und Nein! schrie, machte sie einen
Sonderschüler aus mir: Deine Dummheit, Alterchen, fordert uns viel
Geduld ab. Du wirst nachsitzen müssen. Dir zur Belehrung denn
nichts weißt du, nichts! soll mit Schulkreide unser
Sicherheitssystem auf die Tafel kommen.
Während mir wieder einmal, als müßte ich ewiglich Belehrungen
ausgesetzt bleiben, eine Schultafel in den Traum gerückt wurde,
hörte ich: Übrigens haben wir niemals Alttiere zwingen müssen, uns
in Schutz zu nehmen. Oft boten sich so viele an, daß wir für jeden
Zugang drei Pfropfen hintereinander setzen und alle Nistkammern
gegen humane Vergasungsversuche absolut dicht machen konnten. Wie
wir uns strecken, verdünnen und geschlankt durch enge Rohrleitungen
zwängen können, so sind wir in der Lage, uns aufzupumpen und zum
Pfropfen nicht nur gegen Giftgas, sondern auch gegen Wassereinbruch
zu werden; womit unser Überleben der Sintflut endlich, so hoffen
wir, auch deinem Unverstand erklärt sein sollte.
Also zeichnete sie auf schwarzer Tafel Gänge, Kammern und Pfropfen:
ein Labyrinth. Sie hörte nicht auf, Lektionen zu erteilen: Als wir
noch kürzlich durch die alte Stadt Danzig gingen und du, unser
Freund, unverhohlen Freude zeigtest über den zwar rußgeschwärzten,
aber in seiner Substanz guterhaltenen Zustand der vielen
historischen Sehenswürdigkeiten, magst du gedacht haben:
Erstaunlich, wie unbekümmert der Rattenalltag nach dem Großen Knall
verläuft. Doch dieser Eindruck täuscht. Immer noch werden wir von
plötzlichen Staubstürmen heimgesucht, gegen deren zersetzende
Wirkung nur Flucht in die Gangsysteme, der altbewährte Pfropfen
hilft. Anfangs hatten wir Mühe, auch in posthumaner Zeit zahlreich
zu sein. Viele Würfe mußten weggebissen werden: fehlende Glieder,
offene Köpfe, knotige Schwänze. Deshalb sichern wir unsere
Nistkammern immer noch durch Altratten. Ihre von Geschwulsten
gezeichneten Hinterteile beweisen, wie notwendig dieser Dienst nach
wie vor ist. Schau nur, Freund, schau genau hin.
Und es drehte die Rättin sich und wies mir ihr Hinterteil, damit
ich sie als Altratte erkannte, die Pfropfendienst gegen
radioaktiven Befall leistet. Sie zeigte eine einzige schwärende
Wunde. Knochen freigelegt. Der Schwanz, gereihte Knorpel nur noch.
Nichts war vom Fell geblieben. Geschwülste mit Eiterfluß. Ihr
Geschlecht, ein pulsierender Krater, der Schaum schlug,
verkrampfte, Gerinnsel ausspie . . .
Rättin ! schrie ich. Du stirbst mir weg.
Na und? Sie drehte ihr Hinterteil, diesen Wundherd, langsam, zu
langsam weg.
Ich werde in meiner Raumkapsel allein, verdammt allein ohne dich
sein . . .
Du übertreibst.
Sei wieder heil, Rättin, ich bitte dich!
Da hörte ich sie leise lachen, nun wieder die Witterhaare im Bild:
Du dummer alter Paps. Hast du noch immer nicht bemerkt, daß wir dir
bleiben, immer wieder nachgeboren erhalten bleiben, daß uns euer
humanes Ich und dessen Sterblichkeit unbekannt ist, weil unser Ich
sich aus ungezählten Rattenleben bildet und so den Tod aufhebt?
Fürchte dich nicht. Wir gehen dir nicht verloren. Nie wirst du ohne
uns sein. Wir hängen an dir, denn schließlich bist du es gewesen,
der nützlich wurde, als eine Fehlerquelle vonnöten war, mit deren
Hilfe der Große Knall ausgelöst und die posthumane Zeit eingeläutet
werden sollte...
Da stimmt doch was nicht.
Weiß nicht was, die Richtung womöglich. Irgendwas, aber was, falsch
gemacht, doch wann und wo falsch,
zumal alles läuft wie am Schnürchen, wenn auch in eine
Richtung,
die mit Schildern als falsch ausgewiesen ist.
Jetzt suchen wir die Fehlerquelle.
Wir suchen sie außer uns wie verrückt, bis plötzlich jemand wir
sagt,
wir alle könnten, mal angenommen zum Spaß, die Fehlerquelle oder du
oder du
könntest sie sein.
Wir meinen das nicht persönlich.
Jeder gibt jedem den Vortritt.
Während wie geschmiert alles
in falsche Richtung läuft,
von der gesagt wird,
es gebe, auch wenn sie falsch sei,
die eine nur, begrüßen die Menschen sich mit dem Ruf: Ich bin die
Fehlerquelle, du auch?
Selten sind wir so einig gewesen. Niemand sucht
mehr, wo was und wann falsch gemacht worden ist.
Auch wird nicht nach Schuld gefragt oder Schuldigen.
Wissen wir doch, daß jeder von uns. Zufrieden
wie nie zuvor laufen alle in falsche Richtung den Schildern nach
und hoffen, daß sie falsch sind
und wir gerettet nochmal.
Im kosmischen Lehnstuhl angeschnallt wurde ich
steif vor Schreck. Hör auf, Rättin! Mach keine Witze. Ich soll, ich
habe, einzig ich bin?
Dumm-, taub-, totstellen rief ich mir zu und stellte mich dumm,
taub und tot.
Jetzt erst begriff ich: Das paßt ihr in den Kram. Setzt mich in
eine Raumkapsel und macht mich zur Fehlerquelle. Hübsch
ausgetüftelt hat sie sich das, denn tauglich wäre ich schon: ein
technischer Idiot, der, in diesem Gehäuse fehl am Platze, ein
Risiko ist. Unfähig, einen simplen Taschenrechner zu bedienen und
fern jeder Ahnung, was diese oder jene Mikroprozessoren alles
wissen, können und ausführen, sitze ich hier als Fehlerquelle
goldrichtig; denn sie behauptet, ich hätte dumm und fahrlässig mit
Tasten und Knöpfchen gespielt. Als einer im Weltraum
herumpfuschenden Null wäre es mir aus Langeweile und weil der
Sonntag nicht aufhören wollte, plötzlich eingefallen, die
niedlichen Siliziumchips zu irritieren; schlimmer noch: Über
Video-Transfer hätte ich Bildmaterial aus Science-fiction-Filmen
und zwar Sequenzen aus Endzeitschnulzen in den realen Output
gegeben, dabei das Störsignal übersehen, so daß mein
Katastrophenprogramm Fremdobjekte im Zielanflug schließlich den
Erdterminal zuerst der westlichen, dann der östlichen Schutzmacht
gespeist habe; die hätten natürlich beide nicht lange
gefackelt.
So konnte der Große Knall, sagte die Rättin, auch ohne Zutun der
Ratten ausgelöst werden. Es sei mir gelungen, mit traumhaft
spielerischer Sicherheit und bildscharf jene zielstrebigen
Fremdobjekte einzufüttern und den Zeitcode, der anfangs rappelte,
wieder zu harmonisieren.
Ich bin die Fehlerquelle! Ausgerechnet mir soll es gelungen sein,
spielerisch Schluß zu machen. Nein! schrie ich. Das kommt nicht auf
meine Kappe. Du solltest es wissen, Rättin, daß, ich kaum
Glühbirnen auswechseln kann und Autofahren auch nicht. Das war
immer so, schon als Pimpf, später als Luftwaffenhelfer bei unserer
Achtkommaacht, wo ich als K sechs mit dem Folgezeiger nie den
Richtzeiger einholte, weshalb ich noch heute diese und andere
Unfähigkeiten träume. Ich als Orbit-Observer! Ich als Space-Turner.
Ich, ohne Ahnung, was Chips und Klips sind. Ich, der das
Kosmonautengequatsche nur aus Filmen kennt. Ich, der vorhin noch
verzweifelt versuchte, aufzuhalten, was sich vollzieht, indem ich
nach unten Aufhören! Falscher Alarm! rief.
Vergeblich natürlich. Ich kann das ja nicht. Bin zu dumm dafür.
Erde! rief ich. Antworten Erde! Aber es kam nur Piepen. Stille
danach. Eigengeräusch.
Ich will jetzt aufwachen, sagte ich mir im Traum. Ich will nicht
als Fehlerquelle geträumt werden. Gleich nach dem Aufwachen, will
ich, vorm Teetrinken noch, nach der Zeitung greifen. Das wollen wir
doch mal sehen, was die zu melden haben. Nichts wird von einer
Fehlerquelle geschrieben stehen. Im Gegenteil: alles läuft wie
gewohnt. Natürlich gibt es Gefahren, aber wann gab es keine? Noch
nie war der Friedenswille so groß!
Dennoch sollten sie gewarnt werden, die alten Männer, deren Finger
so nah am Knöpfchen zittert. Hört, rief ich, ihr mächtigen Greise:
Es heißt, ihr wollt miteinander sprechen und nicht mehr ganz so bös
aufeinander sein. Das ist gut so. Redet, bitte redet, ganz gleich
über was, aber redet. Und doch müssen wir uns fragen: Was hilft der
Welt das neuerliche Gerede, wenn sich abseits eurer Friedensrederei
zuerst klitzekleine, dann ziemlich massive Fehler in unser
Sicherheitssystem einschleichen, ich meine, sich durchfressen, wie
sich gewisse Nager durch Holz, Beton, durch Metall sogar
durchfressen, bis sie nehmen wir spaßeshalber mal an in beide
Zentralcomputer gelangt sind, dort Unsinn anstiften, schlimmer
noch, alle Chips und Klips, unsere so sorgfältig ausgetüftelte
Sicherheit durcheinanderbringen, nein, noch schlimmer nicht
durcheinanderbringen, vielmehr was da ist und auf Gelegenheit
lauert, auslösen, etwas Endgültiges, das nicht mehr zurückgerufen
werden kann. Nager schaffen das. Mäuse, zum Beispiel, die kommen
überall durch rein raus, kein Löchlein ist denen zu klein, kein
Spalt zu eng.
Deshalb, ihr Greise, gilt es Alarm zu geben. Hört ihr, Alarm!
Umgehend, nein, sofort müssen die computerhörigen Kommandozentralen
der beiden Schutzmächte gegen Mäusebefall gesichert werden. Und
nicht gegen Mäuse nur. Immerhin könnte es sein, daß andere,
besonders zähe und gegen Gift immune, zudem besonders intelligente
Nager, Ratten zum Beispiel, alle für Mäuse wirksame
Sicherheitsmaßnahmen umgehen und den humanen Friedenswillen
ignorieren. Warum? Aus welchen Motiven?
Na, Schlußmachen wollen sie mit uns, mit der Menschheit total, weil
sie uns satt haben, weil sie sich posthumane Zeiten erträumen und
nur noch lustig für sich sein wollen; allenfalls Asseln noch,
säugende Schmeißfliegen und sirrende Flugschnecken ...
Denn hört, ihr Großen, die ihr so viel Verantwortung tragen müßt,
hört, was mir träumte: Es gibt uns nicht mehr. Ich sah in GdaDsk,
wo ich als Kind, als Hitlerjunge, als Luftwaffenhelfer zu Hause
gewesen bin, nur Ratten noch. Dann träumte mir: Ich sitze in einer
Raumkapsel, bin aber nicht auf stellare Erscheinungen fixiert,
sondern bemühe mich, was auf der Erde geschieht, in meine Technik
zu füttern, damit man unten endlich begreift, daß es nicht
weitergehen kann so. Ich meine die vielen Probleme, die, von oben
gesehen, überall deutlich ungelöst rumliegen. Zum Beispiel: Wohin
mit dem Müll? Oder: Wie sollen die viel zu vielen Quallen gezählt
werden? Und wer wird die sterbenden Wälder wieder gesundmachen,
sobald wir, wie im Märchen der Prinz, die Fehlerquelle endlich
entdeckt haben?
Kurz vorm Erwachen gelang es mir doch noch, in meiner Raumkapsel
den Monitor zu beleben. Nach üblichem Bildsalat, was Träume so mit
sich bringen abermals unfähig als K sechs -, sah ich mehrere
Märchengestalten in einem Auto unterwegs...
Mit Rumpelstilzchen am Steuer, dem ausgelosten
Zwerg als Beifahrer, mit dem schlafsüchtigen Dornröschen und dem
wachküssenden Prinzen auf den Rücksitzen, fahren sie durch die
Stadt Bonn, von der behauptet wird, sie sei die
Bundeshauptstadt.
Der Zwerg sitzt auf zwei Kissen und hält mit suchendem Zeigefinger
einen Stadtplan auf den Knien. Ortsfremd folgt Rumpelstilzchen den
Anweisungen des Zwerges: »Links einordnen!« »Nach der zweiten
Straße rechts abbiegen.« Immer wieder küßt der Prinz sein
Dornröschen wach, um der Prinzessin hauptstädtische
Sehenswürdigkeiten zu zeigen: den Rhein von der Rheinbrücke aus,
dann die Beethovenhalle, später, nach einigen Irrfahrten durch die
Quartiere der Lobbyisten, ein Hochhaus, das von drei Großbuchstaben
erhöht wird und einen modernen Flachbau, der dennoch an eine
Baracke erinnern soll. Dornröschen muß ihre langumwimperten
Plieraugen weit aufreißen, schläft aber immer wieder ein. Beinahe
übersieht Rumpelstilzchen das Haltgebot einer Ampel. »Rot!« schreit
der Zwerg.
In der Innenstadt gerät der alte Ford, dessen Motor, dank
Hexenbenzin, nicht müde wird, zwischen viele Protestumzüge, die
unterschiedliche, oft gegensätzlich laute Transparente vor sich
hertragen. Der Prinz und der Zwerg lesen: »Wann kommt das
Babyjahr?« »Türken raus!« »Raketen weg!« »Den Frieden aufrüsten!«
»Gegen Tierversuche!« »Weg mit Ratten und Schmeißfliegen!« und:
»Auch ohne Wald geht das Leben weiter.« »Der Wald stirbt und die
Grimmbrüder schlafen!«
Einige Demonstranten sind vermummt, andere mit Dachlatten
bewaffnet, viele haben sich als Leichen oder wie zinkgrüne Ratten
kostümiert. Jemand liest stehend eine Zeitung, deren Schlagzeile
»Russen halten Kanzlerkinder versteckt!« schreit. Weil der Verkehr
gerade stockt und der Zeitungsleser nahbei steht, liest der Zwerg
den Aufmacher vor. Er kichert und klatscht in die
Händchen.
Endlich das Schild »Zum Bundeskanzleramt«. Nach kurzer Fahrt halten
sie vorm Kontrollhaus. Beim diensttuenden Offizier weist sich
Rumpelstilzchen als Leiter der Kommission »Rettet die Märchen« aus.
Wieder einmal muß der Prinz sein Dornröschen wachküssen: »Wir sind
da, Liebste!«
Weil der Diensttuende zögert, sagt der Zwerg einen längeren
Stummfilmtitel auf: »Wir suchen das Sonderministerium für
mittelfristige Waldschäden und sind bei den Herren Minister und
Staatssekretär Jacob und Wilhelm Grimm gemeldet. Unser Kennwort
heißt Märchenstraße. Es eilt!«
Auf Weisung des Diensttuenden tippt ein wachhabender Soldat das
Kennwort in die Elektronik. Auf dem Monitor steht »Kennwort
Märchenstraße«. Dann kommt Antwort: »Märchenstraße freigeben«. Der
Schlagbaum hebt sich. Der Diensttuende salutiert. Aus offenem
Fenster gibt der Prinz Trinkgeld. Erstaunt sieht der junge, ein
wenig überforderte Offizier in seinem Handteller eine goldene
Münze. (Hier könnte unser Herr Matzerath Rat geben. Soll es ein
Maxdor, ein Goldrubel sein?) Im Knusperhäuschen sehen die
Märchengestalten, was in Bonn geschieht. Sobald die Delegation den
alten Ford verläßt und von Jacob und Wilhelm Grimm vorm Portal des
Ministerriums in Empfang genommen wird, klatschen sie Beifall.
Sogar des Mädchens abgehauene Hände klatschen. Hänsel und Gretel
erklären Rapunzel, wer Jacob, wer Wilhelm ist. Aufgeregt knabbert
die Hexe an Knöchlein aus ihrer Sammlung. Die schwerhörige
Großmutter sagt zu Rotkäppchen: »Hoffentlich bringen sie mir das
Wörterbuch mit. Es müssen ja nicht alle Bände sein. Der Zwerg hat's
versprochen.«
In den Amtszimmern der Grimmbrüder hängen an den Wänden
großflächige Landkarten, die Waldgebiete und, verschiedenfarbig
markiert, Waldschäden zeigen. Jacob bittet die Märchengestalten, um
ein Rauchertischchen Platz zu nehmen. Wilhelm legt der Delegation
ein altes Exemplar der Grimmschen Hausmärchen vor und bittet um
Signaturen. Zuerst signiert Dornröschen, dann der Prinz. Der Zwerg
zeichnet als »Dritter Zwerg«. Rumpelstilzchen holt zu großer
Unterschrift aus, zögert und macht drei Kreuze. Erst auf
Dornröschens Bitten sie sagt: »Aber die Herren wissen doch...«
schreibt er in Klammern »Rumpelstilzchen« daneben.
Nachdem der dritte Zwerg die lustig arrangierten Schlümpfe in Jacob
Grimms Vitrine bestaunt hat, trägt er (nach einem Vorschlag, den
unser Herr Matzerath gemacht hat) den Wunsch von Rotkäppchens
Großmutter nach dem Grimmschen Wörterbuch vor: »Sie hört so schwer
und liest so gerne.« Geschmeichelt überreicht Jacob Grimm ein
Exemplar mit Signatur: »Endlich ist sie erschienen, die
vollständige Ausgabe. Es ist der erste Band von A bis Biermolke.
Gerne wollen wir weitere Bände nachliefern.«
Jetzt erst bringen die Märchengestalten ihre Klage vor.
Rumpelstilzchen springt auf, fordert, stampft den Boden, schüttelt
Fäuste. Vornehm und verbindlich wie ein Diplomat gibt sich der
Prinz. Der dritte Zwerg agitiert mit anarchistischen Untertönen.
Soeben wachgeküßt, jammert Dornröschen mit schwimmendem
Blick.
Die Klagen der Märchengestalten sollten in Gesten vom Kniefall bis
zum Händeringen von starkem Ausdruck sein und sich mit nur wenigen
Untertiteln helfen: »Ohne Wald sind wir verloren!« »Mit dem Wald
werden auch wir sterben.« »Arm werden die Menschen ohne Wälder und
Märchen sein.« »Rächen werden wir uns!«
Jacob Grimm zeigt auf Fotos von riesigen Fabrikanlagen und
Autohalden. Er sagt: »Wir sind leider machtlos. Die Demokratie ist
nur Bittsteller. Das große Geld hat die Macht!« Wilhelm Grimm ist
den Tränen nahe: »Nicht nur die Mächtigen, wir alle werden
mitschuldig sein, wenn der Wald stirbt.« Jetzt heult Dornröschen
und läßt sich vom Prinzen nicht trösten. Der dritte Zwerg flucht:
»Doch nach den Wäldern werden die Menschen sterben!«
Wütend reißt sich Rumpelstilzchen sein für diesen Effekt
präpariertes Bein aus und legt es demonstrativ auf den Schreibtisch
des für mittelfristige Waldschäden zuständigen Ministers im
Bundeskanzleramt.
Im Knusperhäuschen sehen die Märchengestalten im Zauberspiegel, wie
ratlos man in Bonn ist. Alle sind niedergeschlagen. Rapunzel hüllt
sich in ihr Haar, will nichts mehr sehen und hören. Schneewittchen
möchte am liebsten den in Kunstharz eingeschlossenen Giftapfel
essen. Einer der sechs im Märchenwald gebliebenen Zwerge ruft: »Muß
denn auf ewig und immer der Kapitalismus siegen!?« Verzweifelt
trampelt Rotkäppchen mit roten Stiefelchen: »Scheiße! Ich laß mich
vom Wolf fressen!« und läuft aus dem Haus.
Die Großmutter versteht nichts, schüttelt den Kopf, nimmt das
beiseite liegende Lackkästchen der Bösen Stiefmutter, schaltet Bonn
aus und den Schwarzweißfilm »Rotkäppchen und der Wolf« ein. Nach
kurzem Bildsalat, der verschiedene Märchenmotive ahnen läßt, sieht
sie endlich, wie der Wolf Rotkäppchen frißt und feurige Augen
hat.
Ärgerlich schaltet die Böse Stiefmutter ihren Zauberspiegel aus und
ruft: »Was soll dieser Unsinn, Großmutter!« Während Hänsel die
verzweifelten Märchengestalten zu trösten versucht, läuft Gretel
zum Brunnen, wo sie mit einem Guß aus dem Wassereimer den
Froschkönig aus dem Brunnenloch holt. Schmerzhaft lächelnd
akzeptiert die damenhafte Prinzessin eine beginnende
Dreierbeziehung. (Diese Komplikationen wünscht sich unser Herr
Matzerath.)
Doch nun jammert die Hexe laut: »Ach! Ohne Wald werden sich die
Kinder nie wieder verlaufen können.« Hänsel tröstet sie, kann sich
aber, bevor sie ihn zwischen ihre Titten nimmt, losreißen. Er ruft:
»Schluß mit dem Gejammer! Es wird einen Weg geben. Wir müssen nur
wollen! Der Mensch kann ohne Wald nicht leben. Ist das klar
endlich!?«
In Bonn hat Wilhelm Grimm plötzlich eine Idee. Er sucht die
Waldkarten an den Wänden ab und sagt: »Wir werden den Kanzler
bewegen, mit uns und weiteren Experten endlich den sterbenden Wald
zu besichtigen.«
Jacob Grimm stimmt zu: »Vielleicht geschieht dort ein Wunder.« Der
dritte Zwerg will es genau wissen: »Wo, wo genau soll das
sein?«
Jacob Grimm zeigt auf der großen Waldkarte, wo der Besichtigungsort
sein wird. Wilhelm Grimm zieht mit dem Rotstift einen Kreis um die
Besichtigungsstelle. Der Prinz küßt das weinend eingeschlafene
Dornröschen wach und weist mit schönem langem Finger auf den Ort
zukünftigen Geschehens, und Rumpelstilzchen schnallt sich wieder
sein Bein an. Im Knusperhäuschen wird die glückliche Wendung im
Zauberspiegel eingefangen. Hänsel notiert den Besichtigungsort. Mit
einer primitiven Waldkarte kommen die Zwerge. Hänsels Notiz wird
mit der Karte verglichen. Sie finden die Stelle, tragen sie ein und
tüfteln mit Hänsel einen Plan aus. Die anderen Märchengestalten
sehen fern. Der Zauberspiegel zeigt die Abfahrt der Delegation.
Dornröschen hat Wilhelm zum Abschied ein Küßchen gegeben. Die
Grimmbrüder winken dem alten Ford nach. Das Mädchen ohne Hände ist
so gebannt, daß seine abgehauenen Hände gleichfalls winken.
Mürrisch schaltet die Großmutter den Zauberspiegel ab und ruft: »Wo
steckt denn Rotkäppchen, das dumme Ding!« Sie stöckert vors Haus.
Alle folgen ihr.
Im Käfig wird der schlafende Wolf auf die Seite gelegt. Rübezahl
öffnet den Reißverschlußbauch. Kaum aus dem Wolf gekrochen, wird
Rotkäppchen von der Großmutter geohrfeigt. Mit Hilfe der Waldkarte
klären die Zwerge alle Märchenfiguren über den ausgetüftelten Plan
auf. Hänsel, Rübezahl und das Mädchen ohne Hände kommen mit
Werkzeug: Schaufeln, Rechen und Hacken.
Da nähert sich aus dem Wald der alte Ford mit der Delegation. Alle
finden sich zur großen Begrüßung. Die Hexe schmeichelt
Rumpelstilzchen. Lärm und Schulterklopfen bei den Zwergen, die mit
dem dritten Zwerg wieder vollzählig sind.
Die Großmutter bekommt Band I des Grimmschen Wörterbuches geschenkt
und liest (wie es sich unser Herr Matzerath laut Drehbuchänderung
gewünscht hat) aus dem Wörterbuch einzelne, als Untertitel lesbare
Wörter vor: »Angst, angstbar sein, was alles uns ängstigt,
Angstbeben, im Angsthaus wohnen, im Angstrad laufen, Angstschweiß,
angstvoll, ängstlich ...«
So viele »Angstläuse« kümmern die anderen nicht. Unter großem Hallo
wird der alte Ford von der Hexe abermals aufgetankt. Hänsel und die
Zwerge rufen: »Aufbruch!« und »Äktschen pließ!« Rübezahl wirft den
Ford an.
Auf Weisung der Hexe holt ein Zwerg Dornröschens Spindel. Ein
anderer Zwerg drückt Jorinde und Joringel Hacken in die Hände. Die
Böse Stiefmutter trägt den Zauberspiegel aus dem Knusperhäuschen.
Rapunzel steckt unternehmungslustig ihr Haar hoch. Das Mädchen
befiehlt seinen abgehauenen Händen, eine Schaufel zu
fassen.
Alle wollen aufbrechen, nur die Großmutter will mit dem Wörterbuch
zu Hause bleiben. Sie liest den anderen laut vor: »Den Abschied
geben, zur Abschiedsstunde, er nahm seinen Abschied, wie Scheiden
und Meiden gemeint, Abschiedsbecher gleich Scheidetrunk, des Mondes
Abschiedsblick...« Die Märchengestalten antworten mit
Abschiedsküssen. Den letzten gibt Rübezahl der Großmutter überm
Wörterbuch. Jetzt erst schickt das Mädchen mit den abgehauenen
Händen seine Hände mit der Schaufel voraus. Sie fliegen, gefolgt
von sieben Raben davon. Überladen mit Märchengestalten verschwindet
der alte Ford im Wald. Zurück bleiben einzig die Großmutter und der
Wolf. Ihm liest sie aus dem Grimmschen Wörterbuch vor: »Abschlag,
abschwatzen, das abgeschlappte obere Augenlid, die Abseite, der
abständige Mensch...«
Die schönen Wörter.
Nie mehr soll Labsal gesagt werden.
Keine Zunge rührt sich, mit Schwermut zu sprechen. Nie wieder
Stimmen, die uns Glückseligkeit künden. Soviel Kümmernis
sprachlos.
Abschied von Wörtern, die vom Mann im Land Uz sagen, er sei nacket
von seiner Mutter Leibe kommen.
Könnten wir fernerhin Biermolke
oder Mehlschütte, Honigseim, Krug sagen.
So barmen wir der Amme nach.
Wer weiß, daß der Specht einst Bienenwolf hieß? Wer hieße gerne
Nepomuk, Balthasar, Hinz oder Kunz? Abschied nehmen Wörter, die um
die Morgengabe, ums Vesperbrot, Abendmahl baten.
Wer wird uns Lebewohl nachrufen,
wer flüstern, das Bett ist gemacht?
Nichts wird uns beiliegen, beschatten, beiwohnen und uns erkennen,
wie der Engel der Jungfrau verheißen hat.
Zum Abschied mit Taubheit geschlagen, gehen die Wörter uns aus.
DAS SI EBTE KAPITEL,indemvormBundestag geredet wird, die Sieben Zwerge Individuen sind,fünf Frauen von Bord gehen und was erleben wolen, laut und leise die Quallen singen, unser HerrMatzerath ankommt, Malskat gotisch im Hochchor turnt, vereinsamt die Rättin jammert, Dornröschen sich mit der Spindelsticht und das Schiff über Vineta ankert.
Als mir mit der Stadt Danzig, durch, die einzig
ich als Gassenläufer lief, die Rättin träumte, als das Schiff,
unterwegs nach Vineta, zögerte, zögerte und nicht im Hafen von
Visby anlegen wollte wie auch Oskar unterwegs, auf Polens Chausseen
unterwegs blieb -, träumte mir, nachdem ich in weiteren Träumen
mehrmals Nein! gerufen, es muß einen Ausweg geben! behauptet und
klitzeklein Hoffnung beschworen hatte, ich dürfte vor den Bundestag
treten und frei oder vom Blatt eine Rede halten. Und als ich die
Abgeordneten in Fraktionen vor mir sitzen sah, den
Bundestagspräsidenten erhöht hinter mir und den Kanzler mit seinen
Ministern rechts von mir wußte, nahm ich, als wäre es greifbar
gewesen, das Wort: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mir ist,
als sehe ich Sie alle in ihrer wohldurchdachten Sitzordnung wie im
Traum. Und weil ich im Traum hinters Rednerpult gestellt bin, kann
es geschehen, daß manches Detail meiner Ausführungen von den
Rändern her verschwimmen, andere verletzend scharfkantig sein
werden. Träume haben nun mal ihre besondere Optik; sie bestehen auf
Unausgewogenheit. Ihrer erforschten Natur nach sprechen sie zwar
auf höherer Ebene wahr, nehmen es aber unterm Strich nicht allzu
genau; denn schon jetzt, nach erstem Blick in den vollbesetzten
Plenarsaal, beginnen die Übergänge von Fraktion zu Fraktion zu
zerfließen: ich erkenne keine Parteien mehr, ich sehe nur noch
Interessen.
Auch kommt es zu befremdlichen Nebenhandlungen. Kaum habe ich meine
Rede begonnen, fällt auf, wie ein Schwarm uniformierter
Geldbriefträger etlichen Abgeordneten Scheine hinblättert und
wiederholt die Ministerbank mit Summen bedient, wobei vor jeder
Vergütung Daumen befeuchtet werden. Außerdem ist mir, als schiebe
der Bundeskanzler zu meiner Rechten, während ich rede, Stück für
Stück einen großen Keil Buttercremetorte in sich hinein.
Natürlich weiß ich, daß Abgeordnete und Minister nicht öffentlich
ausgezahlt werden. Niemals gäbe der Kanzler seiner Lust am Süßen so
offensichtlich nach. Nur mein Traum macht das möglich. Er entblößt
die Wirklichkeit und erlaubt mir sogar, den Schwarm immer noch
wuselnder Geldbriefträger aufzufordern, wohlverdient eine
Frühstückspause einzulegen; es muß ja nicht rund um die Uhr
bestochen und hinterzogen werden. Ferner bitte ich Sie, Herr
Bundeskanzler, ein zweites Tortenstück für meinen Nachredner
aufzusparen, damit frei von ablenkenden Nebentätigkeiten ein
Vorschlag laut werden kann, der ausschließlich der Kultur
förderlich sein soll. Es geht um die Neutronenbombe. Sie erinnern
sich, meine Damen und Herren, gestritten wurde um sie. Geächtet
sollte sie werden. Empörung kam auf. Auch ich war dagegen, damals.
Ausgesprochen unmenschlich nannte ich sie. Und das ist sie, ist sie
immer noch. Denn wo die Neutronenbombe hinhaut, geht der Mensch
drauf und mit ihm alles Getier. Ich habe mir sagen lassen, daß die
beschleunigten Neutronenund Gammastrahlen zuerst das menschliche
Nervensystem lähmen, dann den Magen-Darmtrakt zerstören,
gleichzeitig innere Blutungen, heftigen Schweißfluß und Durchfall
auslösen, schließlich dem Körper bis zum Eintritt des Todes den
letzten Tropfen Wasser entziehen, ihn also entsaften, wie unsere
Mediziner sagen.
Entsetzlich ist das und kaum auszudenken. Verständlich deshalb die
vielen Proteste. Doch vom entsafteten Menschen und sonstigen
Lebewesen abgesehen, geht beim Einsatz von Neutronenbomben so gut
wie nichts kaputt. Gebäude, Geräte, Fahrzeuge bleiben heil, also
auch Banken, Kirchen, Hochtiefgaragen mit Zubehör. Dennoch hat man
damals zu Recht gesagt: Das ist uns zu wenig. Was kann uns an
produktionsfähigen Fabrikanlagen, funktionstüchtigen Panzern und
intakten Kasernen liegen, wenn der Mensch draufgeht?!
Aber wie, frage ich Sie, meine Damen und Herren, sähe es aus, wenn
die Neutronenbombe kultursichernde Aufgaben wahrzunehmen hätte? Was
fiele uns zu einer Bombe ein, die als Freundin der Künste schonende
Aufgaben fände? Könnte man mit ihr leben, wenn sie zielbewußt nicht
nur Panzer und Kanonen, sondern auch gotische Dome und barocke
Fassaden heil ließe? Mit anderen Worten, wir alle, die wir noch
gestern empört waren, sollten zur Neutronenbombe ein neues, ein
entkrampftes Verhältnis gewinnen und ihren wahren, ich spreche es
aus: ihren kunstsinnigen Charakter erkennen. Erinnern wir uns: die
damals heftige Diskussion hat eine zügige Weiterentwicklung bloß
taktischer Geschosse zu strategisch wirksamen Neutronenbomben
gehemmt. Doch ließe sich die verlorene Zeit aufholen, zumal es
nicht an Kapazitäten fehlt. Wer unsere höchsten Kulturgüter auf
Dauer geschützt sehen will und ich bin sicher, daß jeder
Abgeordnete von diesem Willen getragen wird -, der muß die
Produktion vieler Schonbomben fordern.
Selbstverständlich gilt diese Forderung für beide Schutzmächte. Dem
Gleichgewicht des Schreckens muß ein Gleichgewicht der Schonung
entsprechen. Deshalb ist ein besonderes Abkommen vonnöten, das die
Neutronenbombe als Schonbombe ausschließlich dem Kulturschutz
verpflichtet. Eine aus beiden Schutzmachtallianzen gebildete
Kommission wird, wenn wir nur wollen, vorerst in Europa, dann aber
auf allen Kontinenten tätig werden und die wichtigsten
Kulturzentren auflisten. Dann gilt es, Schonzonen gleichgewichtig
als Zielgebiete auszuweisen. Schließlich muß in beiden
Schutzmachtbereichen nachgerüstet werden, weil das vorhandene
Potential nicht ausreichen wird. Wir wollen ja möglichst viel
Kultursubstanz schonen, die sonst der atomaren Zerstörung
anheimfallen müßte. Wenn ich, meine Damen und Herren, Ihre
Zwischenrufe richtig verstehe, beginnen Sie, Interesse zu nehmen.
Sie fordern mich auf, zur Sache zu kommen. Sie rufen
leidenschaftlich: Kunst ist Geschmackssache!
Wie recht Sie haben. Aber unser Geschmack in Sachen Kunst wird sich
finden, sobald wir zu Hause, im deutsch-deutschen Bereich das
Bewahrenswerte beim Namen nennen: Ich schlage Bamberg und Dresden
als zu neutronisierende Städte vor, wobei ihnen die
wiederaufgebaute Semperoper und der Bamberger Reiter als Merkwörter
behilflich sein mögen. Es könnten, ohne daß ich mich festlegen
will, hier Rothenburg ob der Tauber, drüben Stralsund folgen, dann
Lübeck und Bautzen...
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren vielen Dank, Herr Präsident
-, Zurufe wie: Und was ist mit Celle? oder: Warum nicht Bayreuth?
zu unterlassen, weil der gesamtdeutsche Aspekt der geplanten
Verschonung Vorrang genießen sollte. Da anzunehmen ist, daß sich
die meisten Städte denn überall gibt es Reste Kulturum die Gunst
kunstfreundlicher Neutronisierung bewerben werden, wird der noch zu
bildenden Findungskommission viel Verantwortung zufallen. Sie wird
Kunstverstand zu beweisen haben. Aber sie wird auch lernen müssen,
neinzusagen, sobald der einen oder anderen Stadt, heiße sie nun
Leipzig oder Stuttgart, Magdeburg oder Frankfurt am Main, die
herkömmliche Zielzuweisung erhalten bleiben muß.
Ja doch, ja! Auch ich bedaure zutiefst. Es schmerzt, sagen zu
müssen, daß viele europäische Hauptstädte keinen Neutronenschutz
werden beanspruchen können. Doch ließe sich, wenn man entschlossen
wäre, rechtzeitig zu handeln, ein Gutteil aller von Nuklearschlägen
bedrohten Kulturgüter in Städte verlagern, denen schonende
Neutronisierung zugesichert ist. Zum Beispiel könnten die Schätze
des Vatikan nach Avignon, die Kunstzeugnisse des Louvre nach
Straßburg, was Warschau aufzuweisen hat, nach Krakau und die
Glanzstücke der Ostberliner Museumsinsel in den schonungswürdigen
Kulturkreis Weimar verlagert werden. Ich schließe nicht aus, daß
man freiwillig, wenn auch nicht frei von Wehmut, vertraute
Domtüren, liebgewonnene Barockfassaden, seit Generationen benutzte
Taufbecken und altgewohnte Brückenheilige in Schonzonen auslagern
wird; eine gesamteuropäische Transaktion übrigens, durchaus
geeignet, Arbeitsplätze zu schaffen. Warum zum Beispiel sollte es
unserem Sachverstand nicht gelingen, den Kölner Dom nach
Dinkelsbühl zu versetzen, den London Tower nach Stratford zu
tragen?
Denn, meine Damen und Herren, was täten wir nicht, um die Zeugnisse
europäischer Kultur zu retten!? So könnte Europa zum letzten Mal
Größe unter Beweis stellen und beispielhaft sein, damit uns auf
anderen Kontinenten schonungsvoll nachgeeifert werde. Deshalb bitte
ich, mir eine persönliche Bemerkung zu gestatten, die mit Erlaubnis
des Herrn Präsidenten zu dieser Stunde angebracht ist: Wenn meine
Heimatstadt Danzig, die seit Ende des vorläufig letzten Weltkrieges
GdaDsk heißt, das Glück haben sollte, den neutronisierten Städten
anzugehören, also mit allen Türmen und Türmchen, den Giebelhäusern
und Beischlägen, mit ihrem Neptunsbrunnen und all ihrer
backsteingotischen Strenge den dritten Weltkrieg überdauern dürfte,
fiele mir jedes, aber auch jedes zu bringende Opfer
leicht.
Gewiß wird man rufen: Das ist inhuman! Zynismus ist das. Und auch
ich habe mich anfangs gefragt: Was nützt uns aller Kulturschutz,
wenn in den neutronisierten Städten jegliches Leben, in dessen
Fleisch, wie die Bibel sagt, Odem ist, bis zum Eintritt des Todes
entsaftet wird? Wer bliebe übrig, das Geschonte zu schauen und
staunend zu rufen: Welch unvergängliche Schönheit!?
Wir sollten uns dennoch nicht beirren lassen. Es bleibt keine
andere Wahl. Wie die Freiheit fordert auch die Kunst ihren Preis.
Deshalb sollten Sie, meine Damen und Herren, mit aller Festigkeit
Ihre Entscheidung treffen.
Doch wie ich in den Plenarsaal blicke und sehe, wie sehr sich die
Bänke gelichtet haben, mehr noch, daß ich alleine in diesem Hohen
Hause bin denn nun ist auch der Kanzler samt Kabinett verschwunden
-, beginne ich zu zweifeln. Ich frage mich: Werden die abwesenden
Abgeordneten bereit sein, so konsequent kunstfreundlich zu handeln,
wie sie bei anderer Gelegenheit, als unsere Freiheit geschützt
werden mußte, zu diesen Mittelstreckendingsbums wie heißen sie
noch?! mehrheitlich Ja sagten?
Doch fort sind sie, keinem Wort zugänglich mehr. Dabei hätte ich
gerne weitere Vorschläge gemacht, geeignet den Schutz der
neutronisierten Kunstdenkmäler zu vervollkommnen. Es geht um den
Dreck danach.
Wie ich aus posthumaner Quelle weiß und wie alle Experten jetzt
schon versichern, werden nach dem Großen Knall Aschewolken den
Himmel verfinstern. Stürme werden diesen geballten Ausdruck letzter
menschlicher Möglichkeit um den Erdball tragen, so daß die
heilgebliebenen Kathedralen, reichverzierten Schlösser und heiteren
Barockfassaden bald rußgeschwärzt sein werden. Auf allem wird Ruß
liegen. Dicker, fettiger Ruß. Schaden ohnegleichen wäre die Folge.
Ein Jammer! Eine Kulturschande! Will denn niemand hören? Heh,
Kanzler!
Fort ist er, ließ nur Krümel zurück. Dabei müßte man gegensteuern.
Jetzt und sofort! Forschungsmittel müßten freigegeben, deutscher
Erfindungsgeist mobilisiert und unsere Chemiekonzerne aufgefordert
werden, einen ablösbaren Schutzstoff zu entwickeln, damit der Ruß
nicht auf ewige Zeiten...
Ich weiß, die Frage bleibt offen: wer, zum Teufel, soll später die
Schutzbeschichtungen lösen? Wären Sie, meine Damen und Herrn von
der Opposition, noch anwesend, könnten Sie mich mit dem Zwischenruf
Es sind doch alle Menschen verstrahlt, entsaftet, krepiert! in
Verlegenheit bringen. Dennoch wüßte ich einen Weg. Es muß ja nicht
alle Mühe und Arbeit, wie die Bibel sagt, dem Menschengeschlecht
aufgebürdet bleiben. Ich erinnere an die erwiesene
Überlebensfähigkeit der gemeinen Wanderratte, Rattus norvegicus
genannt. Sie wird sein, wenn wir nicht mehr sind. Sie wird unsere
fürsorglieh geschonten Kulturzeugnisse vorfinden. Allzeit dem
Menschen anhänglich, wird die überlebende Ratte neugierig wie
Ratten nun einmal sind die rußgeschwärzten Schutzschichten
Zentimeter für Zentimeter abpellen und staunen über die heile
Pracht...
Dann träumte ich nicht mehr, ich dürfte vor dem Bundestag eine Rede
halten. Meinen letzten Satz Ich danke Ihnen, meine Damen und
Herren, für Ihre beredte Abwesenheit! hörte ich mich hellwach
sprechen.
Wie gut, daß noch nichts entschieden ist: Unser Herr Matzerath
unterwegs, das Schiff läuft im Hafen von Visby ein, meine
Weihnachtsratte schläft und mag vom Dritten Programm träumen, doch
in Grimms Wäldern wächst der Widerstand: alle Märchengestalten sind
wildentschlossen.
Wie sollen wir uns die Sieben Zwerge vereinzelt
vorstellen? Was läßt sich, außer daß beide das traurigste aller
traurigen Paare sind, über Jorinde und Joringel noch sagen? Ist der
Kußzwang es wert, gründlicher untersucht zu werden? Das und mehr
möchte unser Herr Matzerath wissen, sobald er aus Polen zurück ist.
Zwar gefällt es ihm, daß ich allen Sieben eine anarchische
Grundhaltung eingebe, doch will er jeden Zwerg individuell
ausgestattet sehen. Es könnte der zweite buchhalterisch jeden Kuß
des Prinzen auf einem Zählzettel vermerken, während der vierte den
wachküssenden Prinzen nachäfft; später werden wir sehen, wie der
erste, der sechste und der siebte Zwerg den jungen Mann mit dem
unersättlichen Kußmund mißtrauisch überwachen.
Es fällt auf, daß alle Sieben ihr Schneewittchen benutzen: Nicht
nur muß das kränkliche Wesen die Wäsche waschen und bügeln, ihnen
Knöpfe annähen und sieben Paar Schuhe auf Hochglanz putzen; man
sieht auch diesen und jenen mit dem immer folgsamen Hausmütterchen
in einer Dachkammer verschwinden. Sobald der Kunde nach relativ
kurzer Zeit pfeifend treppab steigt, und Schneewittchen Mal um Mal
erschöpfter aus ihrer Kammer wankt, kassiert die Böse Stiefmutter
Münzen alter Prägung, preußische Thaler, Goldstücke darunter.
Ruppig sind sie, laut und in ihre Knobelspiele vernarrt. Gemeinsame
Übungen halten sie körperlich fit: Fingerhakeln und Beinstellen.
Höflich gehen die Zwerge nur mit der Hexe um, die von allen
Pensionsgästen, sogar von der Bösen Stiefmutter respektiert wird;
beide vertiefen sich gelegentlich in Gespräche, in deren Verlauf
Emanzipationsfragen nicht unbeantwortet bleiben.
Allzeit tritt die Wirtin des Knusperhäuschens als Herbergsmutter,
also streng und fürsorglich zugleich auf, und nur gelegentlich,
wenn sie mit Hänsels Fingern spielt, wird ihre Natur deutlich. Man
darf vermuten, daß sie ein Verhältnis mit dem Hausknecht Rübezahl
oder mit Rumpelstilzchen oder mit beiden hat, denn der
ungeschlachte Riese und der humpelnde Kellner parieren erschrocken,
sobald sie den langen Zeigefinger krümmt. Sie sieht es nicht gerne,
wenn sich Rübezahl von Rapunzel den Bart kämmen läßt. Es mißfällt
ihr, wenn Rumpelstilzchen sein Bein abschnallt, um den Stumpf mit
den Armstümpfen des Mädchens zu vergleichen.
Oft verlangt die Hexe nach dem Froschkönig, den sie und Gretel
häufiger mit Wassergüssen aus dem Brunnenschacht holen, als es die
Filmhandlung will. Beide schwatzen gerne mit dem gekrönten Taucher,
dessen Unterwassergeschichten reich an Pointen sind. Die Dame
überhört das Geplauder und ist einzig mit ihrem Kopfschmerz
beschäftigt, sobald ihr der Frosch von der Stirn ins Brunnenloch
springt. Es wird Bewunderung für die leidende Schönheit deutlich,
wenn ihr die Wirtin des Knusperhäuschens lindernde, aus
getrocknetem Froschlaich gedrehte Pillen zu einem Schluck
froschgrüner Flüssigkeit reicht.
Gerne läge die Hexe neben dem Brunnen; doch wie sie sich mit
Erlaubnis der Dame, an deren Stelle legen darf, verweigert der
Frosch den Sprung, vom Brunnenrand auf die hexische Stirn. Als
wünschte sie sich das Sprichwort »Liebe läßt sich nicht zwingen«
als Untertitel, lagert die Dame sich lächelnd und erfährt sogleich
Kühlung. Und Gretel, die alles gesehen hat, grinst anzüglich, als
wüßte das Kind, wie dem königlichen Frosch Seitensprünge
beizubringen wären.
Nicht alle Vorschläge unseres Herrn Matzerath leuchten ein: Er will
und sei es, um mich zu reizen -, daß das Grimmsche Wörterbuch Band
für Band von Riesenschnekken herbeigebracht wird, bis alle
zweiunddreißig Bände der Großmutter vorliegen; außerdem ordnete er
vor seiner Abreise nach Polen an, es solle Rotkäppchen immer erst
dann den Reißverschluß öffnen und in den Wolfsbauch kriechen, wenn
sich die Großmutter weigere, das dumme Ding unter ihre Röcke zu
lassen. Ich will diesen Eingriff in mein Drehbuch nicht
kommentieren, wenngleich ich unseren Herrn Matzerath nicht
begreife: Rotkäppchens Großmutter ist keine Anna Koljaiczek; doch
stimmen wir überein, wenn Oskar den Kußzwang des Prinzen besonders
herausgearbeitet sehen will.
Das Absurde des Küssens, der Küssende als Wiederholungstäter, das
Wachküssen als mechanischer Vorgang, diese stupide Mißachtung der
Hygiene, all das verlangt nach einem Schauspieler, der begabt ist,
gleichbleibend teilnahmslos alles zu küssen, was Dornröschen
ähnlich sieht; denn im Verlauf der Handlung soll dem Prinzen die
echte Kußvorlage entzogen werden, worauf er nicht nur an Rapunzel
und Schneewittchen Küsse verteilen, sondern sich auch an einer
Puppe vergreifen wird, die der sechste und siebte Zwerg aus Stroh,
Moos und Lumpen gebastelt haben.
Nie würde ich so weitgehen wie unser Herr Matzerath, der das Küssen
eine den Tod vorschmeckende Krankheit nennt: doch soll die
Filmhandlung zeigen, welche Gefahr die Küsserei des Prinzen
heraufbeschwört. Leer und hübsch, wie er ist, wird er ohne
Dornröschen von Sinnen sein.
Und Jorinde und Joringel? Wie läßt sich Trauer darstellen, die auf
gleichbleibender Mimik besteht? Und Rapunzel? Ihr fatal langes
Haar? Dieser Überfluß, keinem Kamm gewachsen?
Nein, es kommt mir keine Perücke ins Drehbuch, die von anarchischen
Zwergen herabgerissen und als Haarwisch zum Spielball werden
könnte, bis von Rapunzel nur noch Gespött bliebe. Geträumt langes,
aus rotem Gold gesponnenes und dennoch naturwüchsiges Haar soll es
sein, das aus dem Fenster im Obergeschoß des Knusperhäuschens weht,
Wunschhaar, Traumhaar, die einzige Fahne, der ich zu folgen bereit
bin. Deshalb nenne ich meine Damroka schöngelockt. Mit ihrem Haar
fällt mir mehr zu, als die Rättin da ist sie wieder! wegreden kann.
Und weil ich wortwörtlich an Damrokas Haar hänge, bekommt Rapunzel
Nein, Herr Matzerath! keine Perücke verpaßt.
Nachdem die fünf Frauen ihr Schiff im Hafen von
Visby auf Gotland festgemacht haben, sind sie zwar angekommen, doch
weiter als je zuvor von Vineta entfernt. Gut dreihundertfünfzig
Meilen weit lief ihr Schiff in Richtung Osten. Nach der Insel Møn
sahen sie die Insel Bornholm schwinden. Sie waren dem schwedischen
Festland auf Höhe von Ystad, dann, als sie in der Hanöbucht
stritten, auf Sichtweite nah gewesen: ein flacher Küstenstreifen,
den Industrieanlagen markieren. Endlich verging ihnen backbord die
langgestreckte Insel Öland. Nach zweiundsechzig Stunden Fahrt
hatten sie, wie ich errechnet habe, über siebenhundert Liter Diesel
verbraucht und liefen mit annähernd leerem Reservetank in den Hafen
von Visby ein. Alle Vorräte gingen zur Neige. Trinkwasser wurde
knapp. Von Wolle keine Rede mehr. Nichts mehr hätte erzählt oder
noch einmal erzählt werden können. Der Streit in der Hanöbucht, als
letzte Quallen geholt wurden, hatte viele Wörter verbraucht. Also
riefen sie mit halben Sätzen nur, was das Schiff von ihnen
verlangte.
Weil zudem viel Zeit vergangen ist, bleiben für den Landgang nur
wenige Stunden. Damroka geht zum Hafenmeister, die gestempelten
DDR-Papiere holen. Die Maschinistin und die Steuermännin lassen
»Die Neue Ilsebill« volltanken, dazu alle Reservekanister. Die Alte
und die Meereskundlerin räumen in einem Konsumladen, was die Küche
braucht, aus Tiefkühltruhen. Da schwaches Bier nur und kein Aquavit
in Regalen zu greifen ist, verflucht die Alte das Königreich
Schweden und dessen Moral. Endlich treibt sie zwischen
Lagerschuppen mit Hilfe eines betrunkenen Finnen doch noch zwei
Literflaschen Fusel zum Überpreis auf.
Jetzt erst sind die Frauen für Landgang frei. Schnell Klamotten
gewechselt und Wetterhäute zu Bündeln gerollt. Eigentlich will
Damroka an Bord bleiben, doch weil ihr die Alte und die
Meereskundlerin zureden »Ohne Dich macht das überhaupt keinen Spaß«
und weil die Maschinistin und die Steuermännin beteuern: »Dann
bleiben auch wir an Bord«, läßt sie sich überreden. Ein wenig
zerstreut, als müsse sie von weither Gedanken zurückrufen, sucht
sie die Schlüssel, schließt sie das Steuerhaus und leider nicht
alle Niedergänge ab.
Da in Visby, einer Stadt, die auf Prospekten mehr bietet als sich
in knapper Zeit erlaufen ließe, dennoch viel los ist, kommt die
Meereskundlerin kaum dazu, überall rumstehende Trümmer zu
fotografieren und geht der Wunsch der Steuermännin, sich rasch,
nebenbei einen Mann aufzureißen, nicht in Erfüllung. Keinen
weiteren Schnaps kann die Alte auftreiben. Damroka ist ohne
Wünsche. Und die Maschinistin, einfach nur so auf Landgang scharf,
sagt, wie sie den Betrieb in der Stadt sieht: »Los, laufen wir
irgendwo mit. Vielleicht passiert was.«
Denn auch in Visby wird, wie zu dieser Stunde in vielen anderen
Städten, gegen dies und das protestiert. Da es vier oder fünf
Protestzüge sind, die in verschiedene Richtungen ziehen und gegen
Tierversuche und für Freiheit in Polen und Nicaragua zugleich auf
Transparenten, in Sprechchören laut werden, muß Damroka, die einige
Brocken Schwedisch erinnert, übersetzen, was Transparente und
Sprechchöre aussagen. Nach kurzer Beratung entscheiden die Frauen
sich. Gegen das Wettrüsten wollen sie nicht mehr laufen. »Mit
Drogen«, ruft die Alte, »hab ich nie was am Hut gehabt.« »Polen«,
sagt die Maschinistin, »kann man nicht in einen Topf mit Nicaragua
werfen.« Also hängen sie sich, weil die Meereskundlerin sagt: »Mal
sehen, ob die auch gegen Quallenzählerei sind«, den Tierschützern
an.
Sie laufen an kaputten Kirchen, dann an der teils kaputten, teils
ordentlich wieder aufgebauten Stadtmauer vorbei, die, wie im
Prospekt zu lesen steht, von Visbys Geschichte erzählt. Am
Stadtrand hält der Protestzug vor einem Flachbau, der sich
abweisend wissenschaftlich gibt, doch offenbar in Verruf geraten
ist, denn alle dreißig bis vierzig Kinder, Frauen und Männer, zu
denen die fünf Frauen auf Landgang gezählt werden können, rufen
immer wieder auf schwedisch, daß sie gegen Tierversuche sind. Auf
deutsch ruft die Alte zuerst alleine, dann von der Meereskundlerin
unterstützt: »Macht Schluß mit dem dämlichen
Quallenzählen!«
Es regnet, wie es oft in diesem verregneten Sommer regnet. Sonst
geschieht nichts, bis ein Stein geworfen wird und Glas splittert,
worauf viele Steine geworfen werden. Bald sind alle Fenster der
Vorderseite des Institutes für Grundlagenforschung
zerschmissen.
Ich bin sicher, daß die Maschinistin den ersten Stein und die
Steuermännin den zweiten wirft. Erst nach dem dritten Stein, den
entweder die Alte oder die Meereskundlerin geworfen hat denn
Damroka schmeißt nicht -, sehe ich Schweden mit Steinen werfen.
Jedenfalls hat die Maschinistin, damit was passiert, als erste.
Griffbereit liegen taubeneigroße Kiesel als Rückstand von
Bauarbeiten am Straßenrand zuhauf.
Im Flachbau rührt sich nichts. Niemand hindert das Schwedenvolk,
durch die entglaste Tür einzudringen. Die Steuermännin will mit dem
Ruf »Mir nach!« hinterdrein. Schon hat sich die Maschinistin ein
Stück Bauholz gegriffen. Die Meereskundlerin knipst, wie sie sagt,
»schnell zwei drei Andenken« Die Alte ruft: »Los! Vielleicht stehn
drin paar Buddeln rum.« Aber Damroka entscheidet: »Wir müssen hier
weg. Das reicht. Schluß mit dem Landgang. In einer Stunde legen wir
ab.« Also sehen die Frauen nicht, was ich sehe: welche
Versuchstiere von den Schweden, die alle gelbe oder rote
Plastikkutten gegen das Wetter tragen, befreit werden. Außer
Meerschweinchen, Laborratten und Labormäusen auch zehn Kaninchen,
fünf Hunde und vier Rhesusaffen. Weil unterwegs immer wieder
Protestzüge den Weg sperren, schließlich mit Sirenengeheul Polizei
kommt und hier Sperren errichtet, dort mit Hunden auf Spur gesetzte
Suchtrupps ausschickt, erreichen die Frauen über Umwegen erst und
ziemlich müde gelatscht den Hafen.
Die Vermutung der Maschinistin: »Wetten, die haben jede Menge
Viecher laufenlassen« wird stumm hingenommen, desgleichen die Klage
der Alten: »Die armen Tiere, laufen jetzt draußen rum. Wir hätten
eins mitnehmen sollen. War ein ganz junger Hund
darunter.«
Damroka kommt ohne Anweisungen aus. Während die Leinen eingeholt
werden, schließt sie das Steuerhaus auf und wird vorm letzten
Niedergang nachdenklich, weil das Vorschiff offensteht.
Da wirft die Maschinistin den Diesel an. Die Meereskundlerin sagt:
»Weiß jemand, wo mein Taschenrechner hin ist?" Bevor die Alte ihren
finnischen Fusel entkorkt und der Steuermännin und sich eingegossen
hat, legt »Die Neue Ilsebill« ab. Es ist früher Nachmittag.
Zeitweilig regnet es nicht. Keine der Frauen will sprechen. Das
Steinewerfen gibt nichts mehr her. Hat der Landgang enttäuscht? Es
sieht so aus, als seien die Frauen an ein Schweigegelübde gebunden,
das, wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, erst über der
versunkenen Stadt gelöst werden kann.
Doch wie sie gegen Abend bei nördlicher Helle die Hoburgbank, ein
Flachwasser südlich Gotland, überlaufen und dabei in ein weites,
die Fahrt minderndes Quallenfeld geraten, das, selbst wenn sie nach
Steuerbord ausweichen, dem Schiff zu folgen scheint, will den
schweigenden Frauen, aber auch mir, der ich alle fünf stumm halte,
vorkommen, es liege über dem Wasser ein aufund abschwellender Ton,
es finde ein wortloses Singen statt, das keinen Anfang, kein Ende
kennt, es seien Millionen Ohrenquallen wer sonst? im Flachwasser
bei Stimme plötzlich oder durch höheren Willen wundersam auf Gesang
gestimmt.
Schon schleppt die Meereskundlerin den Meßhai an Deck. Mit Hilfe
der Steuermännin wirft sie das Spezialnetz aus, holt bei
geminderter Fahrt denn auch Damroka will diesen Zwischenhol das
Netz wieder ein, kippt den Fang auf den Tisch im Mittelschiff,
breitet zwölf und mehr mittelgroße Quallen auf der Arbeitsplatte
aus und hört, was auch Steuermännin und Maschinistin hören, daß die
Aurelien ein Geräusch, nein, einen Ton von sich geben, der, tiefer
gestimmt als das Singen über der See, dennoch chorisch zum Gesang
schwillt und sogar überm Motorengeräusch auf Deck gehört werden
kann, denn die Alte verläßt die Spaghetti in der Kombüse, bricht
das von mir verhängte Schweigegebot und ruft: »Mann, die singen ja
wirklich!«; worauf alle fünf Frauen, zuletzt die Meereskundlerin,
glauben, was sie in hoher und tiefer Lage hören.
Aurelia aurita, die Schöngezeichnete, deren lappige Mitte von einem
blauvioletten Kleeblatt vierblättrig stigmatisiert ist, kann
singen. Sie, die durchsichtig astralen, mit der See atmenden, in
Schwärmen wandernden, als Plage verfluchten Medusen, sie, die
sonst, kaum auf den Tisch gebreitet, ohne Laut schrumpfen und Glanz
verlieren, sobald Formalin ihr Schrumpfen verzögern soll, singen
trotz schlaffer Velarlappen: ein schwellender, in Höhen zitternder,
in tiefer Lage orgelnde Ton macht den Lagerraum des einstigen
Frachtewers eng. Nie zuvor, es sei denn im biblischen Feuerofen,
wurde so dringlich gesungen.
Wer das glauben mag, will dennoch Beweise. Damroka läßt einen
zweiten, den dritten Hol mit dem Meßhai zu. Nachdem sie das Ruder
der Steuermännin gegeben hat, nimmt sie, auf Vorschlag der
Meereskundlerin, mit einem Tonbandgerät, das bisher für
Bachkantaten und Orgelpräludien gut war, den Medusengesang auf, als
könne einzig Technik das Unerhörte bestätigen oder hoffen die
Frauen, befürchten sie insgeheim durch keinen Pieps auf dem
Tonträger widerlegen.
Also lassen sie das Band ablaufen. Und wie es, technisch
einwandfrei, den Medusengesang reproduziert, trägt die
Meereskundlerin das Gerät an Deck, worauf sich die
Tonbandaufzeichnung mit dem höhergestimmten Singsang, der über der
See liegt, wunderbar mischt, als seien Technik und Natur
ausnahmsweise bereit, gemeinsame Sache zu machen. Erst spät, mit
dem Dämmern, verlieren sich die Quallenfelder, schwindet der
Originalton. Doch wollen die Frauen noch lange nicht in die
Hängematten. Immer wieder hören sie dem Tonband ab, was im
Arbeitsraum, dann mit dem Mikrophon an langer Angel dicht überm
Wasser aufgenommen wurde. Beim Kontrollhören sprechen die Frauen
wenig. Die Meereskundlerin sagt: »Das glaubt mir im Institut
niemand, was wir da draufhaben live.«
Trotzdem wird die Vermutung der Alten, es handle sich um ein
unerklärliches Phänomen, belächelt. Spekulationen schießen ins
Kraut, etwa die Frage der Maschinistin, ob von der Höhe des
Medusengesanges auf die Dichte der Quallenschwärme geschlossen
werden könne. »Damit wäre«, sagt sie, »eine Methode ganz ohne
Meßhai und ähnlichen Klimbim gefunden.«
Damroka spricht von der Mehrchörigkeit der singenden Quallenfelder
und nennt Chorwerke von Gesualdo. Die Meereskundlerin weiß Daten:
»Der Schwarm über der Hoburgbank war zwar ungewöhnlich groß, aber
nicht so dicht wie die Schwärme in der Kieler Förde. Dort werden
zwischen März und Oktober bis zu sieben Milliarden Individuen
gemessen, die man, vom durchschnittlichen Medusengewicht ausgehend,
auf einskommasechs Millionen Tonnen Gesamtgewicht umrechnen kann.
Stellt euch mal diese Biomasse singend vor, und wir könnten mit
unserem Mikrophon...«
Noch lange nach Mitternacht versuchen die Frauen, sich
Medusengesang bei solch kompakter Quallendichte vorzustellen.
Damroka zieht Vergleiche mit liturgischen Gesängen. »Gregorianik«,
sagt sie und »bis zu Palestrina«.
Die Alte ruft »Alles Quatsch, eure Erklärsucht!« und trinkt vom
Fusel auf das unerklärliche Phänomen.
Wer hat »kosmische Einwirkungen« gesagt? Die Maschinistin, die
Steuermännin?
Alle reden durcheinander. So hab ich sie gern: aufgeregt flirrend
verhext, so gute wie böse Feen. Ihre heftigen oder weitschweifigen
Gesten. Ihr Lächeln, das nicht mehr sachlich sein will. Verzaubert
singen sie, während das Tonband läuft, nach Art der Medusen,
endlich einträchtig: im Gesang. Nie wäre es mir gelungen, ihre
Stimmen so harmonisch zu flechten...
Wie sie doch noch für einige Stunden in ihre Hängematten finden,
sagt Damroka, die mit frischgebrühtem Kaffee das Steuer übernimmt:
»Anfangs dachte ich, Mensch, das ist ja Suscepit Israel aus dem
Magnificat, aber jetzt könnt ich wetten: die Quallen sind
Zwölftöner.«
Der Rest der Nacht gehört dem Diesel.
Sobald aber, mit Sonnenaufgang, wieder der Singsang der
Ohrenquallen über der See liegt, machen die Frauen, nach kurzem
Schlaf, keine fahrthemmenden Meßfänge mehr, sondern lassen Tonband
nach Tonband laufen, indem sie das nun leisere Singen der
verdünnten Quallenschwärme aufzeichnen und gleichzeitig
Altbespielungen löschen: nicht nur Bachkantaten und Orgelpräludien,
auch Joan Baez, Bob Dylan, wem sie sonst noch, älter werdend,
zugehört hatten.
Die Meereskundlerin liest Zahlen vom Zählwerk des Tonbandgerätes ab
und trägt sie der Seekarte ein. Sie haben das Flachwasser der
Mittelbank hinter sich und überlaufen jetzt, nordöstlich Bornholm,
Tiefen um hundert Meter. Dennoch bleibt dünngewoben ein
Stimmengespinst über der See und hilft, bis zum späten Nachmittag
gute Fahrt zu machen.
Erst gegen Abend, sobald sie nordwestlich der Oderbank wieder
Flachwasser überlaufen, dann mit dem Glas, schließlich mit bloßem
Auge Rügen, Kap Arkona, Stubbenkammer, die Kreidefelsen erkennen,
schwillt der Gesang an und mindert die Fahrt; auf Höhe der
Greifswalder Oie werden sie von einem Boot der DDR-Grenzpolizei
gestoppt.
Vielchöriger Medusengesang liegt über dem Tuckern der gedrosselten
Schiffsmotoren. Drei Mann kommen uniformiert an Bord. Damroka legt
die gestempelten Papiere vor. Die Grenzpolizisten sind höflich,
gründlich. Offenbar vorbereitet auf das Aufkreuzen des
Forschungsschiffes in den Gewässern der Deutschen Demokratischen
Republik, durchsuchen sie das Schiff. Kommentarlos werden
Hängematten gezählt. Mit Wohlwollen nehmen sie Einblick in
Meßunterlagen. Sie finden an Schautafeln und statistischen
Erhebungen Gefallen; doch wie sie von der Meereskundlerin
übereifrig auf den Medusengesang angesprochen werden, ergreift
immer bereites Mißtrauen die Grenzpolizisten. Schroff verneinen
sie: Ihnen komme kein Gesang zu Gehör. Die Quallenvorkommen seien
durchaus normal. Übrigens wisse jeder, jedenfalls in der DDR, daß
Quallen nicht singen können.
Dank deutlichem Anstoß gelingt es der Maschinistin, die
Meereskundlerin von einer Demonstration des Medusengesanges mit
Hilfe der Tonbänder abzuhalten. Damroka beschwichtigt dienstliches
Mißtrauen: »Sie wissen ja, meine Herren, wir Frauen hören manchmal
die Flöhe husten.«
Die Polizisten danken der Kapitänin mit Gelächter. Sogar ein
Männerwitz wird gewagt: »Können die Damen auch schwimmen?« Doch den
Fusel, den die Alte in halbvollen Wassergläsern anbietet, lehnen
sie mit gesamtdeutscher Redensart ab, Dienst habe Dienst, Schnaps
Schnaps zu bleiben. Sie wünschen »Gute Fahrt und ein ruhiges
Wochenende«.
Wie das Grenzboot ablegt, ruft einer der Polizisten von Bord zu
Bord: »Wir machen ne Erfolgsmeldung draus, Mädels: DDR-Quallen
können singen!« Als wollten die Medusen diesen Fortschritt
bestätigen, schwillt ihr Gesang an, während die Schiffe Abstand
nehmen.
Ich will nun behaupten, daß dieses den Grenzpolizisten unhörbare
Singen einzig den Frauen und ihrem Reiseziel gilt; denn wie sie mit
halber Fahrt südlichen Kurs auf die der Festlandküste vorgelagerte
Insel Usedom nehmen, gewinnt das Chorsingen der Medusen nicht nur
Volumen, sondern Ausdruck sogar, der sich steigert, als solle ein
Hosianna angestimmt werden. Es sind Jubelchöre, die »Die Neue
Ilsebill« begrüßen und den Kurs des Schiffes leiten, denn immer,
wenn sich der Bug nach Westen in Richtung Greifswalder Bodden
richtet oder allzu östlich die polnische Küste, die Insel Wollin
ansteuert, nimmt der Gesang ab, um auf strikt südlichem Kurs wieder
zu jubeln.
Damroka hat die vergilbte Karte, in der das Vinetatief
eingezeichnet ist, aus dem Seesack geholt und ausgebreitet. Östlich
der Insel Rüden, nördlich Peenemünde steht oberhalb der Markierung
der Name der versunkenen Stadt geschrieben. Damroka hört einzig auf
den wegweisenden Medusengesang, steuert entsprechenden Kurs und
sieht die Karte bestätigt. Spät am Abend ankern sie über der
bezeichneten Stelle. Doch weil die See eingedunkelt keinen Blick
mehr in die Tiefe erlaubt, müssen die Frauen den nächsten Morgen
abwarten, so gerne sie jetzt schon ihre Stadt bewohnen
möchten.
Auch unterm ausgesternten Nachthimmel will der Medusengesang nicht
abklingen. Es bleibt ein von sanftem Atem getragener Ton. Damroka
will ein Kyrie, später ein Agnus Dei hören. Die Meereskundlerin
hört Elektronisches, die Alte eine Wurlitzerorgel. Entweder der
Steuermännin oder der Maschinistin fallen als Vergleich
Sphärenklänge ein. Noch lange sitzen sie dicht bei dicht hinterm
Steuerhaus und hören, was sie hören wollen, bis sie Damrokas
Mahnung, »Wir sollten morgen gut ausgeschlafen sein«, folgen. Sie
finden in ihre Hängematten doch keinen Schlaf.
Morgen ist Sonntag. Ich weiß nicht, ob später noch einmal der Butt
gerufen wird. Und wenn ich es wüßte, hörte ich dennoch nicht, was
er zu sagen weiß.
Neinnein, Rättin! Noch jemand kommt ans Ziel. Dich will ich nicht
hören, rief ich, dich nicht! Es muß noch die andere Reise zu Ende
gehn.
Da sagte die Rättin, von der mir träumt: Ist ja gut, Freundchen.
Auch wenn das alles vergangen und ausgelebt ist, bleib nur bei
deiner Gegenwart und sage: Sie wälzen sich in den Hängematten, er
fährt im dicken Mercedes die Grunewaldska hoch auf das Olivaer Tor
zu, die Frauen werden morgen in aller Frühe, er wird noch heute,
sogleich...
Am Sonnabendnachmittag trifft unser Herr Matzerath mit Chauffeur in
GdaDsk ein, wo beide im Hotel Monopol, dem Hauptbahnhof gegenüber,
vorbestellte Zimmer beziehen. Nach kurzem Stadtbummel inmitten zu
vieler Touristen, die das Gesehene mit Sehenswürdigkeiten auf
Postkarten vergleichen, und nachdem er vom Stockturm aus durchs
Langgasser Tor in die Langgasse gefunden und dort, nach
Seitenblicken in Nebengassen, sein Danzig zwar gesehen, aber nicht
wiedererkannt hat, beschließt er, obgleich der Neptunsbrunnen und
das brakige Mottlauwasser anheimeln, noch heute, am Vorabend des
Geburtstages, in die Kaschubei zu fahren und sich einen kurzen
Umweg nur durch die Straßen seiner Kindheit im Vorort Langfuhr zu
erlauben; aber nicht zu beschwichtigende Unruhe treibt ihn
dergestalt überhastet in Richtung Großmutter oder ist es ihr Sog,
der zerrt, saugt, ihn zieht? -, daß Oskar nach nur flüchtigem
Augenschein im Labesweg und vorm gestreckten Ziegelbau der
Pestalozzi-Schule, alles Gesehene als verloren abtut und sich nicht
in die Herz-Jesu-Kirche, womöglich vor den Marienaltar stellen
will; vielmehr drängt er seinen Chauffeur, nun direkt, über
Hochstrieß und Brentau, den Weg nach Matern zu suchen, wo Anna
Koljaiczek, seit ihrer Vertreibung aus Bissau-Abbau, Wohnung in
einem niedrigen Häuschen gefunden hat.
Ein Garten gehört dazu mit Apfelbäumen und Sonnenblumen am Zaun.
Schon vor dem Haus stehen unterm Kastanienbaum Gäste zur Vorfeier
versammelt. Die niedrige Gute Stube, in der die Großmutter morgen
hundertundsieben Jahre alt sein wird, ist zu eng, alle zu fassen,
die von nahbei und weitweg gekommen sind.
Bruno ist beim Mercedes geblieben, der die Kaschubenkinder anzieht.
Da steht nun unser bucklicht Männlein zwischen den Woykes und
Bronskis, den Stommas und Kurbiellas, den weitgereisten Vikings,
Bruns und Colchics. In maßgeschneiderter Kluft deutet er
Verbeugungen an und mischt sich zwischen die Festgäste unterm
Kastanienbaum, die sich, wie er nun leibhaftig da ist, verwundern,
obgleich unseres Herrn Matzerath Legende allen bekannt und seinem
Mercedes vorausgelaufen zu sein scheint. Ein nicht nur familiäres
Lächeln empfängt ihn, als wolle man sagen: Wir wissen Bescheid.
Dennoch stellt er sich diesem und jenem Gast vor und findet in
Sigismund Stomma, jenem stattlichen Fahrradhändler, der mit Frau
und zwei halbwüchsigen Kindern von Gelsenkirchen her angereist ist,
einen Dolmetscher, der ihm alle kaschubischen Artigkeiten seiner
Verwandten in jenes Deutsch bringt, das im Ruhrgebiet gesprochen
wird. Mit Herrn und Frau Bruns, die von Hongkong her den Weg in die
Kaschubei fanden und dem Vorfest eine exotische Note geben,
plaudert unser Herr Matzerath recht flüssig auf englisch,
desgleichen mit den australischen Vikings und den Colchics vom
Michigansee, die ihn später, wie auch Kasimir Kurbiella aus Mombasa
am Indischen Ozean, in der überfüllten Guten Stube umarmen und
etwas zu lärmig begrüßen werden.
Doch noch steht er unterm Kastanienbaum und nennt Missis Bruns eine
Lady, auf daß bald alle von »Lady Bruns« sprechen, als sei sie von
chinesischem Adel.
Er futtert Mohnkuchen und schlägt ein Gläschen Kartoffelschnaps
nicht aus. Vor dem niedrigen Haus findet sich auf langem Tisch, was
die Kaschuben selbst in mageren Jahren zu bieten haben: saure Pilze
und hartgekochte Eier mit Schnittlauch übergrünt, gekümmelten
Krautsalat und Schüsseln voller Schweinekopfsülze, Radieschen,
Dillund Senfgurken, Streusel-, Mohn-, Quarkkuchen, in daumendicke
Stücke geschnittene Wurst, Grießund Vanillepudding. Dazu noch
Griebenschmalz, Apfelmus und hackfleischgefüllte Piroggen, die
jener Priester aus Matarnia unserem Herrn Matzerath anbietet, der
die vielen einladenden Postkarten geschrieben und in alle Welt
geschickt hat.
Der Schwarzrock stellt ihm weitere Verwandte vor, unter ihnen zwei
junge Männer mit zeitgemäßem Schnauzbart, die auf der Leninwerft
arbeiten und so auffallend blauäugig sind, daß Oskar nicht erstaunt
ist, mit Stephan Bronskis Söhnen zu sprechen. »Unverkennbar«, sagt
er, »euer lieber Großvater, mein Onkel Jan, der meiner armen Mama
so innig verbunden war, will mich anschauen, wie er mich oft, als
hätte er ein Geheimnis wahren und dennoch preisgeben wollen,
angeschaut hat.« Die Bronskisöhne müssen sich beugen, damit sie ihr
Onkel umarmen kann. Hingegen wirkt die Begrüßung mit dem Vater der
beiden Werftarbeiter, obgleich der Priester nicht dolmetsehen muß,
ein wenig steif. Mutmaßlich einander näher verwandt, als man sich
eingestehen möchte, sind beide Herren etwa gleich alt. »So sieht
man sich wieder«, sagt unser Herr Matzerath zu Stephan Bronski und
hält auf Distanz.
Die vielen Verwandten! Außer Herzlichkeiten teilt man einander
Krankheiten und deren Verlauf mit. Dann führt der Priester mit
wegweisender Geste und den Worten: »Doch nun wollen wir uns in die
Gute Stube wagen«, Oskar ins Haus, wo hinter engstehenden Gästen,
die hastig trinken und lachend immer wieder einander begrüßen,
seine Großmutter verborgen im Lehnstuhl am Fenster sitzt.
Seit einigen Stunden trägt sie am schwarzen Sonntagskleid ein
weißrotes Ordensband, das ihr zwei Herren aus Warschau im Namen der
Volksrepublik Polen überreicht und sogleich angesteckt haben. Einst
stattlich, hat das Alter sie schrumpfen lassen und zierlich
gemacht. Einem Winterapfel gleicht ihr Gesicht. Mit ihren Händen
verwachsen scheint der Rosenkranz zu sein, den sie, wenngleich
heiter dem Auftrieb der Gäste zugewendet, Perle nach Perle bewegt,
als seien Gebete immer noch überschüssig.
Ach, denke ich bei mir, wie bange wird unserem bucklichten Männlein
sein? Wie freudig oder ängstlich mag er dem Priester durch den
dichtgefügten Block der Gäste folgen? Ist es nicht so, daß das
Trinken, Lachen und Schulterschlagen aufhört, weil alle sehen
wollen, wie sich unser Herr Matzerath seiner Großmutter
nähert?
Blumengeschmückt ist der Lehnstuhl. Durchs Fenster schauen
Sonnenblumen, die nach dem kühlen und regnerischen Frühsommer nicht
besonders hoch stehen, aber doch leuchten und an Sonnenblumen
erinnern, die vor vielen Jahren viel höher an Großmutters
Gartenzaun standen.
Nur Mut, Oskar! rufe ich unserem Herrn Matzerath zu. Es stehen die
beiden Regierungsbeamten links und ein Prälat aus Oliva, als
Abgesandter des Bischofs, rechts vom blumengeschmückten Lehnstuhl.
Zwischen Staat und Kirche sitzt Anna Koljaiczek und trägt das
schwarze Sonntagskleid gewiß über weiteren Röcken. Nur Mut! Und
schon schiebt der Priester aus Matarnia das bucklicht Männlein in
die so lange ersehnte, aber vorweg auch bänglich bedachte Position.
Ich will ihm beistehen und schlage durch Zuruf Kniefall
vor.
Aber unser Herr Matzerath behält Haltung. Er beugt sich über die
den Rosenkranz bewegenden Hände, küßt die eine die andere Hand,
sagt in das Schweigen der dichtstehenden Gäste »Verehrte Frau
Großmutter« und stellt sich als Enkelsohn vor: »Ich bin, Sie
erinnern sich gewiß, Oskar, jadoch, der kleine Oskar, der
mittlerweile nun auch bald sechzig zählt...« Da Anna Koljaiczek nur
sprechen kann, wie sie immer gesprochen hat, tätschelt sie zuerst,
ohne vom Rosenkranz zu lassen, des kleinen Mannes Hand und sagt
dann immer wieder: »Hädd ech jewußt doch, daß kommen mechst,
Oskarchen, hädd ech jewußt doch...«
Dann sprechen beide von alten Zeiten. Was alles gewesen und nun
vergangen ist. Wie es immer schlimmer kam und nur manchmal ein
bißchen besser wurde. Was alles hätte sein sollen und doch ganz
anders schiefging. Wer schon tot ist und wer noch hier und da lebt.
Und wer seit wann auf welchem Friedhof liegt.
Ich bin sicher, daß beide zu Tränen kommen, sobald von Anna
Koljaiczeks Tochter, Herrn Matzeraths Mutter Agnes die Rede ist:
von Jan und Agnes und Alfred und Agnes und von Jan, Agnes und
Alfred. Doch weil die dichtstehenden Gäste wieder miteinander
beschäftigt sind und nicht aufhören wollen, sich lärmig zu
begrüßen, kann ich von diesem Gespräch nur wenige Sätze
aufzeichnen. Da ist viel »Waißte noch, Oskarchen« zu hören und
immer wieder: »Da mecht ech miä noch lang dran äinnern.«
Endlich und nachdem beiläufig nach Maria und Kurtchen gefragt
wurde, höre ich die Frage: »Warst och schon bai de Post ond hast
jeguckt, wo jewesen ist?«
Worauf unser Herr Matzerath seiner Großmutter verspricht: Er werde
am nächsten Morgen das mittlerweile historisch gewordene Gebäude am
Rähm, die Polnische Post aufsuchen und seines Onkels Jan
gedenken.
Dann nimmt er Abschied und will zeitig »am morgigen Ehrentag«
wieder da sein. »Darf ich, liebe verehrte Großmutter, wie damals,
Sie erinnern sich, als wir auf dem Güterbahnhof Abschied nahmen,
Babka, liebe Babka zu Ihnen sagen?« Den Buckel unter großkariertem
Jackett, so sehe ich unseren Herrn Matzerath im Gedränge
verschwinden. Jetzt ist er wieder zwischen den Bronskis und Woykes
erkennbar. Säuerlich riecht die Enge, als wäre die Gute Stube mit
Molke gewischt worden. Wiederholte Begrüßung mit den amerikanischen
Colchics. Kasimir Kurbiella lädt ihn mit erstem Satz nach Mombasa
ein. Überaus zierlich nimmt sich die Chinesin zwischen so vielen
Kaschuben aus. Endlich, nach zwei wasserklaren Kartoffelschnäpsen
und einer letzten Pirogge, sucht er den Weg zum Mercedes, in dem
Bruno unbewegt sitzt und als Chauffeur mit Mütze den Stern auf der
Kühlerhaube vor begehrlichem Zugriff bewacht.
Seine Schuhe, Größe fünfunddreißig, sind um die
Spitze und um die Hacke aus safrangelbem, um den Mittelfuß aus
weißem Leder. Meine Weihnachtsratte muß sich anhören, wie ich
unseren Herrn Matzerath ausputze: Er trägt eine goldgefaßte Brille
und zu viele Ringe an kurzen Fingern. Die rubinbesetzte
Krawattennadel gehört zu seiner Ausstattung. Wie zu kühleren
Jahreszeiten einen weichen Velour, trägt er den Sommer über
Strohhüte. In seinem Mercedes läßt sich ein Tischchen ausklappen,
auf dem er, sobald ihn längere Reisen ermüden, mit offenen Karten
gegen jemand und noch jemand Skat spielt; wie sich Oskar später
freuen wird, wenn er während der Rückfahrt zum Hotel Monopol ein
Herzhandspiel gegen Jan Bronski und seine arme Mama
gewinnt.
Selbst hier, bei seiner Großmutter zu Besuch, im Herzen der
Kaschubei, kann er nicht aufhören, die fünfziger Jahre umzugraben,
als wären in diesem Acker besondere Schätze verbuddelt worden. Es
ist der Prälat aus Oliva, ein wie gesalbt freundlicher, der
deutschen Sprache eher zurückhaltend mächtiger Herr, der sich die
Geschichte vom täuschend gotisch malenden Maler Malskat anhören
muß, geduldig und zum Zuhören bestellt; wie meine Weihnachtsratte
da ist, mich anzuhören.
Nachdem unser Herr Matzerath einem streitnahen Geplänkel unterm
Kastanienbaum ausgewichen ist es ging um die verbotene Gewerkschaft
Solidarno[ -, begleitet der Prälat das bucklichte Männlein mit der
rubinbesetzten Krawattennadel und den zweifarbigen Schühchen zum
Mercedes, dessen Blechschäden ins Auge fallen. Abendsonnenschein
auf dem blanken Schädel, den Strohhut vor der Brust, spricht Oskar
wie vor größerer Versammlung. Ich höre den Prälaten seufzen und
weiß nicht, ob er der Matzerathschen Theorien wegen seufzt oder ob
es das Wort »Solidarno[« ist, das nach dem Staat nun der Kirche
Sorgen bereitet. Seine katholische Geduld erinnert mich an die
Gelassenheit meiner Weihnachtsratte, die
ich bin sicher anstelle meiner Versuche, Oskar wieder in Gang zu
setzen, lieber das Dritte Programm, den Schulfunk für alle hört:
etwas über Fixsterne, Lichtgeschwindigkeit und fünftausend
Lichtjahre entfernte Galaxien...
In gleichbleibender Haltung, sie mit angelegten Ohrmuscheln und
immerfort spielenden Witterhaaren, die Augen wie Glasperlen blank,
er im Schwarzrock, hinter dickglasiger Brille und inwie auswendig
gesalbt, so hören die Weihnachtsratte und der Prälat aus Oliva mir
und Herrn Matzerath zu, wie wir beide vom Maler Malskat berichten.
Natürlich weiß der Prälat, daß der Mercedes mit dem beredten
Männlein sogleich abfährt, worauf die Kirche das letzte Wort haben
wird; wie meine Weihnachtsratte weiß, daß ich ihr zuhören muß,
sobald sie mir träumt.
Doch noch bin ich dran. Die Rättin muß warten. Dem Ende falls es zu
Ende gehen sollte, läuft die Posse voran...
Ab Winter neunundvierzig/fünfzig turnte er in
dreißig Meter Höhe alleine und erfinderisch zuerst im Langhaus,
dann im Hochchor der Lübecker Marienkirche, denn sein eleganter
immer Kontakte suchender Arbeitgeber kam selten so hoch nach oben.
Dietrich Fey gab sich unten, im Bauschutt, geschäftig. Er mußte
seinen Malskat abschirmen. Kein unbefugtes Auge durfte sehen, wie
das Wunder von Lübeck Gestalt gewann. Deshalb hatte er überall
warnende Schilder aufstellen lassen: »Achtung Absturzgefahr!«
»Vorsicht!« »Für Unbefugte kein Zutritt!«
Unbefugt, so hoch nach oben in Malskats Bereich zu steigen, waren
selbst Gerüstarbeiter und Maurer. Kam sachkundiger Besuch, darunter
inund ausländische Kunsthistoriker, die ab Anfang einundfünfzig
einzeln und in Gruppen anreisten, lösten Fey und seine Gehilfen mit
Zugleinen Klappergeräusche aus, die Malskat hoch oben zu warnen
hatten. Meist gelang es Fey, die Experten mit Kopien abzuspeisen,
die nebenbei für Informationszwecke und eine Wanderausstellung
entstanden waren; alle Duplikate von Malskats Hand.
Die Wanderausstellung wurde landesweit ein Erfolg, zumal der
Bundespräsident und der König von Schweden vor etlichen Schautafeln
anerkennend genickt hatten. In Zeitungen und Vorträgen wiederholte
sich die Neuprägung »lübischer Stil«. Als »Wiege der Gotik« kam die
Stadt zu Ehren. Von einer Werkstatt wurde gesprochen, die ab Ende
des dreizehnten Jahrhunderts unter Anleitung eines genialen
Dommeisters stilbildend gewirkt habe. Das Wunder von Lübeck fand
Glauben.
Kein Wunder, daß es dem Landeskonservator Dr. Hirschfeld, der als
erster Zweifel äußerte, nicht gelang, seine Kritteleien
aufrechtzuerhalten. Schließlich wurde er an sich selbst irre und
schrieb in seinem Buch von St. Marien zu Lübeck: »...Im Hochchor
und Langhaus Obergaden empfinden wir vor den Werken des Meisters
ganz unmittelbar jene gewaltige Zeugniskraft, die nur das Original
besitzt.«
Im Juni einundfünfzig zog noch einmal Gefahr auf, als sich
anläßlich einer Tagung westdeutscher Denkmalpfleger, die extra des
Wunders wegen nach Lübeck gekommen waren, etliche Herren in die
Marienkirche begaben und sich von Fey nicht abhalten ließen, hoch
ins Gerüst zu steigen. Bescheiden trat Malskat zur Seite. Fey
erklärte, wies nach, war mit Engelszungen beredt und konnte doch
nicht verhindern, daß die Professoren Scheper und Deckert Bedenken
äußerten und trotz aller Feyschen Redekunst mit restlichen Bedenken
aus dem Gerüst stiegen.
Als freilich tags darauf alle in Lübeck versammelten Denkmalpfleger
zusammentrafen, geschah abermals ein Wunder: Keine Anklage wurde
erhoben, vielmehr forderten die Kongreßteilnehmer die Regierung in
Bonn auf, weitere hundertfünfzigtausend DM in die Kasse der
Lübecker Kirchenleitung fließen zu lassen. Das freute den
Oberkirchenrat Göbel; aber auch Malskat, der seinen Stundenlohn
gesichert sah. Weitere Störungen waren kaum ernst zu nehmen. Als
eine Studentin die Thesen ihrer Doktorarbeit »Die Wandmalereien in
der Lübecker Marienkirche« an Ort und Stelle überprüfen wollte und
heimlich ins Gerüst stieg, wurde sie von Fey erwischt, der sanft
aber nachdrücklich auf die Gefahren ihrer Kletterei hinwies.
Obgleich sie leichte Gerüstschuhe trug und sich schwindelfrei
nannte, durfte sie nie wieder zu Malskat hoch. Dennoch stellte die
Studentin, nach nur flüchtigem Augenschein oben, unten angekommen
kritische Fragen. Anhand der Fotos und Kopien wies sie auf
romanische Elemente im Faltenwurf hin. Ihr Erstaunen über die
Leuchtkraft der Farben im Hochchor war mit Zweifeln untermischt. Es
hätte doch, sagte sie, in der Nacht auf Palmsonntag zweiundvierzig,
als Lübecks Marienkirche von innen nach außen brannte, das
Kupferblau im Obergaden wie auch im Chor oxidieren und einschwärzen
müssen.
Als Fey die Studentin abermals erwischte, wie sie zu Malskat hoch
wollte, um dort vom Kupferblau Farbproben zu nehmen, drohte er ihr
mit Kirchenverbot. So einsam wurde der erfindungsreiche Maler in
dreißig Metern Höhe gehalten. Wenig später gelang es Fräulein
Kolbe, so hieß die Studentin, ihr Mißtrauen zu überwinden: sie
begeisterte sich am Lübecker Wunder, wenngleich sie in ihrer
Doktorarbeit die Einmaligkeit der Wandmalerei im Hochchor immer
wieder unglaublich nannte. So sehr sie suchte: es ließ sich keine
Ähnlichkeit mit dem im norddeutschen Raum üblichen Knitterstil
beweisen. Sie blieb verblüfft wegen der romanischen Elemente
besonders im dritten Joch und kam zum Schluß: im Hochchor sei
insgesamt der Einfluß von Chartres und Le Mans zu spüren. Der
Chormeister zu Lübeck müsse Frankreich bereist, werde dort gelernt
haben.
Nun ließe sich viel über Malskats Vorleben und seine Bildungsreisen
gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts spekulieren; feststeht, daß
er hoch oben im Gerüst der Gegenwart enthoben war und eine Freiheit
gewann, die ihm beim Setzen der Konturen gotische Empfindungen
erlaubte, die seinen einundzwanzig Heiligen im Hochchor und mehr
als fünfzig Heiligen im Obergaden des Langhauses nach und nach zu
zwingendem Ausdruck verhalfen. Nichts wog die Zeit. Nur ein Sprung
und ein Moment inbrünstiger Rückbesinnung war ihm die Spanne von
siebenhundert Jahren.
Zu Recht haben die einerseits getäuschten, andererseits
scharfsinnigen Kunsthistoriker damals festgestellt, daß sich die
Wandmalereien in Schleswigs Dom wie Vorstudien zur Ausmalung der
Lübecker Marienkirche ansehen lassen. Trotz Kriegsund Soldatenzeit
war Malskat Malskat geblieben, gereifter vielleicht und noch
konsequenter rückbezogen; denn wenn ich jetzt sage, das Mittelalter
war seine Zeit, sehe ich ihn leibhaftig vor siebenhundert Jahren
hoch im Gerüst: die verfilzte Wollmütze über beide Ohren
gezogen.
Er wird nach dem Niedergang des Stauferreiches, während wirrer und
rechtloser Jahre, bis ins Greisenalter kurz vorm Auftritt der Pest
in vielen Kirchen und Heiliggeisthospitälern tätig gewesen sein;
überall hinterließ seine Werkstatt Spuren. Deshalb dürfen wir davon
ausgehen, daß auch die sechsundfünfzig Heiligen im
Langhaus-Obergaden der Marienkirche von ihm sind. Wenngleich
Jahrzehnte zwischen der frühen Secco-Malerei im Chor und der
späteren, in Rot, Blau, Grün Ockergelb und Schwarz gefertigten
Arbeit im Mittelschiff liegen, ist allen übers Menschenelend
hinwegblickenden Heiligen in ihrem Faltenwurf die Pinselführung des
Chormeisters abzulesen.
Und alles »alla prima«, aus freier Hand gemalt. Nur wenige
Anhaltspunkte gaben Musterbücher, die das Ikonografische betrafen.
Wenn im Prozeß später das Buch eines gewissen Bernath, »Die Malerei
des Mittelalters«, als Malskats Quelle erkannt wurde, bestätigt
dieser Hinweis nur die frühen romanischen byzantinischen, ja, auf
der rechten Stirnwand Süd des Chorpolygons sogar koptischen
Einflüsse. Was der Chorund Langhausmeister vor siebenhundert Jahren
gemalt hat, gelang Malskat später aufs neue. So überbrückte er
Jahrhunderte, so wurde durch ihn des letzten Krieges zerstörende
Wut zunichte, so triumphierte er über die Zeit.
Nun gut, ich kenne die Einwände der Herren Scheper und Grundmann:
hier soll der Christus der Sophienkirche in Konstantinopel, dort
eine thronende Maria aus dem Dom zu Triest anregend gewesen sein.
Glühproben der verschiedenen Farbpigmente, Schichtschnitte von
Mörtelteilen, chemische, mikroskopische Untersuchungen wurden
gemacht. Obendrein Malskats Geständnis: Die Drahtbürste! Der
Konturen und Farbflächen zerkratzende Scherben. Das gekonnte
Nachaltern. Der Puderbeutel!
Dazu ist zu sagen: Fey, sein Arbeitgeber verlangte von ihm dieses
Glaubwürdigmachen vergehender, spurengrabender Zeit. Nichts Neues,
das Alte wollte man wiederhaben, wenn auch ein wenig beschädigt.
Malskats Talent erlaubte diese Zugaben. Schließlich hat der spätere
Meister des Hochchors
-doch wohl des Langhauses auch in den Jahren vor der Währungsreform
Bilder nach Chagall und Picasso gemalt, die über Fey, der gleich
nach fünfundvierzig sein Arbeitgeber wurde, in den Kunsthandel
kamen. So hielt man sich über Wasser.
Aber mit dem neuen Geld, das die nichtsnutze Reichsmark über Nacht
ablöste, brach auch eine neue Zeit an; deren Anfänge verlangten als
Fundament eine solidere Fälschung. Und weil sich allgemein das
Fälschen und Verfälschen zu einer Lebensart mauserte, die recht
bald regierungsamtlich wurde, worauf die alten Zustände, als wäre
in ihrer Folge nichts Entsetzliches geschehen, als neue Zustände
ausgegeben wurden, entstanden in Deutschland zwei Staaten, die als
»falsche Fuffziger« so nennt unser Herr Matzerath alle Produkte aus
diesem entlegenen Jahrzehnt in den Handel kamen, in Umlauf blieben
und mittlerweile als echt gelten.
Was Malskat tat, war zeitgemäß. Hätte er geschwiegen, wäre ihm nie
der Prozeß gemacht worden. Er hätte den Schummel unter der Decke
lassen sollen, wie es die Staatsmänner taten; deren doppelte
Fälschung hatte Zukunft für sich. Bald machten sie alle Welt
glauben, es gehöre der eine, der andere Staat ins eine, ins andere
Siegerlager. So münzten sie einen verlorenen Krieg in einen
gewinnträchtigen Doppelsieg um: zwei falsche Fuffziger zwar, doch
klingende Münze.
Natürlich wäre die Fälschung mit Händen zu greifen gewesen, doch
sahen die Täuscher einander ohne Zwinkern als echt an, und auch den
mittlerweile verfeindeten Siegern war Zugewinn lieb. Selbst wenn
die Fälschung erkannt wurde, blieb man dem schönen Schein treu;
denn allzu armselig und schadhaft waren die Originale: zwei
Trümmerhaufen, nicht gewillt, einen einzigen zu bilden.
Deshalb sagt unser Herr Matzerath immer wieder: »Malskat lag
richtig. Er hätte sich zwischen Adenauer und Ulbricht auf gemalte
Säulenkapitelle stellen, keine byzantinischen und koptischen
Einflüsse scheuen und sich als Mittelstück dieser Dreieinigkeit
feiern sollen; etwa auf der rechten Stirnwand Süd, wo die drei
Eremiten, Mönche genannt, ihr Stelldichein hatten.«
Das ist zu spät leicht gesagt, denn als Lothar Malskat auf dreißig
Meter hohem Gerüst in Kälte und Zugluft stand, wo er aus freier
Hand die sieben Felder im Hochchor mit diversen Heiligen und im
Mitteljoch mit der Jungfrau samt Kind belebte und dabei unentwegt
seine Lieblingsmarke Juno rauchte, als Geld, unentwegt Geld von
Bonn nach Lübeck floß, betrug sein Stundenlohn fünfundneunzig
Pfennige neuer Währung, wie hätte er sich zwischen so hochkarätigen
Staatsmännern begreifen sollen.
Neinnein, Herr Matzerath! Sie mögen fern in der Kaschubei und
solange ihnen der Prälat aus Oliva Gehör schenkt, recht haben, was
den Schätzwert des Kanzlers von damals und des damaligen
Generalsekretärs betrifft; der Alte und der Spitzbart waren
waschechte Fälscher und mögen fortan »falsche Fuffziger genannt
werden, Malskat jedoch signierte seine Gotik, wenn auch
versteckt.
Die Zwiemacht aus Zwietracht.
Zwiefach die eine Lüge getischt.
Hier und da auf alte Zeitung
neue Tapeten geleimt.
Was gemeinsam lastet, hebt sich
als Zahlenspiel auf, ist von statistischem Wert; die Endsummen
abgerundet.
Hausputz im Doppelhaus.
Ein wenig Scham für besonderen Anlaß und schnell die
Straßenschilder vertauscht. Was ins Gedächtnis ragt, wird planiert.
Haltbar verpackt die Schuld
und als Erbe den Kindern vermacht.
Nur was ist, soll sein und nicht mehr, was war.
So trägt sich ins Handelsregister
doppelte Unschuld ein, denn selbst der Gegensatz taugt zum
Geschäft. Über die Grenze
spiegelt die Fälschung sich: täuschend vertuscht, echter als echt
und Überschüsse zuhauf. Für uns, sagt die Rättin, von der mir
träumt, war Deutschland nie zwiegeteilt,
sondern als Ganzes gefundenes Fressen.
Sicher, es lebt sich ganz gut seitdem. Die
posthumane Zeit bekommt uns: wir nehmen in jeder Beziehung zu.
Endlich menschenfrei belebt sich die Erde wieder: es kreucht und
fleucht. Die Meere atmen auf. Es ist, als wolle die Luft sich
verjüngen. Und überall findet sich vorrätig Zeit, unendlich viel
Zeit.
Und doch hätten wir das Humane gerne behutsamer schwinden sehen,
nicht Knall auf Fall. Schließlich hatten sich die Menschen mehrere
verzögerte, mittelbis langfristig programmierte Untergänge
offengehalten. Es war ja der menschliche Geist schon immer auf
vieles gleichzeitig aus. Zum Beispiel vollzog sich fortgeschritten,
doch nicht gründlich zu Ende gedacht, die Vergiftung der Elemente,
eine bis Ultemosch, wie wir den Schluß nannten, wachsende
Belastung, die sogar dem Rattengeschlecht übel anschlug, obgleich
unsereins auf Dauer jedes Gift bis zur Bekömmlichkeit umzuwerten
verstand. Dennoch witterten wir mit Sorge, was der Mensch Flüssen
und Meeren zusetzte, was alles er der Luft beizumengen bereit war,
wie tatenlos klagend er seine Wälder bergab sterben ließ. Als
Ratten, denen Leben und Überleben eins ist, konnten wir nur
vermuten, daß den Humanen das Leben nicht mehr schmeckte. Sie
hatten es satt. Es reichte ihnen. Sie gaben sich auf und taten nur
noch affig als ob. Über die Zukunft, ihre in früheren Zeiten so
phantastisch möblierte Zimmerflucht, machten sie Witze, hingegen
war ihnen das Nichts etwas, auf das zu starren sich lohnte. Jeder
Tat und sie blieben ja wie gewohnt tätig hing Sinnlosigkeit als
Geruch an, eine Ausdünstung übrigens, die unsereins
ekelte.
Und auch du, Freund, sagte die Rättin, warst fleißig beim
Abschiednehmen. Man konnte das nachlesen; und wir lasen ja
sprichwörtlich viel. Ach, was sich alles auf Endzeit reimte! Wie
wohltönend ihnen aller Tage Abend gewiß war. Mit letztem Ehrgeiz
wurde das große Finale als Wettkampf betrieben, komischer noch:
Hingerissen vom Ende, veräußerten sich viele Künstler so restlos,
als wäre ihnen, wie seit altersher, der Lorbeer immergrün,
Unsterblichkeit sicher gewesen. Mir war, als gedächte die Rättin
unser gerührt und mit Wehmut. Doch dann kam sie wieder zur Sache.
Hör zu: Eine weitere Spielart des Untergangs wurde vom
Menschengeschlecht als Übervölkerung ausgetragen. Besonders dort wo
sie arm waren, legten die Menschen Wert darauf, immer mehr zu
werden, als wollten sie Armut durch Kindersegen aufheben; ihr
letzter Papst war ein reisender Fürsprecher dieser Methode. So
wurde der Hungertod gottgefällig und schrieb sich nicht nur
statistisch fort. Sie fraßen einander das knappe Futter weg. Warum,
rief die Rättin, wurden die Menschen nicht satt, wenn es uns Ratten
doch reichte? Weil sich Überfluß hier aus Mangel anderswo speiste.
Weil sie, um Preise zu halten, Angebote verknappten. Weil ein
geringer Teil des Menschengeschlechts vom Hunger des Großteils
lebte. Sie aber sagten: Weil wir zu viele sind, wird
gehungert.
Lächerlich diese Rechnung. Futze Chissoresch! Ihre verfluchte
Mangelwirtschaft. Wie wir ohne Mühe satt wurden und dennoch
weltweit Milliarden zählten, hätte die annähernd gleichgroße
Humanpopulation zum Zeitpunkt des Großen Knalls durchaus gesättigt
sein können, es lag ja genug auf Lager. Mehr noch: gerne hätten wir
den humanen Wachstumsprognosen entsprochen und mit ihnen das Jahr
zweitausend als sechs, wenn nicht sieben Milliarden Ratten erlebt,
jegliche Gattung zufrieden und satt.
Nachdem sie meinen Traum mit statistischen Daten überfüllt hatte,
sagte die Rättin: Daraus ist leider nichts geworden. Der Entschluß
der Menschen, sich nicht zu Tode zu hungern, nicht von Giften
übersättigt zu krepieren, auch nicht hungrig und vergiftet, bei
immer knapperem Wasser, den langsamen Dursttod, vielmehr das
plötzliche Ende zu suchen, dieser selbstsüchtige und kindisch
ungeduldige Entschluß bereitet uns Ratten zuvor nicht ausreichend
bedachte Probleme: wir werden uns ändern müssen. Die posthumane
Zeit verlangt uns neues Verhalten ab. Uns mangelt ein Gegenüber.
Ohne das Menschengeschlecht und seine Ernten, Vorräte, Abfälle,
Ekelgefühle und Vertilgungssüchte sind wir Ratten zukünftig ganz
auf uns gestellt. Zugegeben: es fiel leicht, allzu leicht, in
seinem Schatten zu leben; nun fehlt uns der Mensch...
Da sie weiterhin jammerte, rief ich: Aber es gibt doch hier und
dort neutronisierte Städte. Mit Hilfe von Schonbomben haben wir
äußerlich heile Refugien geschaffen. Ein Kulturabkommen zu euren
Gunsten war vorletztes Menschenwerk. Ich bitte dich, Rättin: sind
wir nicht kürzlich noch durch menschenfreie Gassen gelaufen? Und
hatten wir beide nicht Freude an den zwar rußgeschwärzten, doch
schön gebliebenen Giebeln, Türmen, Torbögen, an Sehenswürdigkeiten,
anheimelnd vertraut? Vergeblicher Trost. Die Rättin, von der mir
träumt, wollte nicht aufhören mit dem Jammern. Nicht mehr in ihren
Fluchtbauten vergraben, nicht mehr in Danzigs Gassen sah ich sie
laufen, im Müll behaust fand ich sie. Hier erzählte sie mir aus
zerknautschtem Schrott heraus von plötzlichen, dem Rattengeschlecht
noch immer verderblichen Staubstürmen, dort wohnte sie in Schutz
gewährenden Plastikfolien, die, durch Winde bewegt, als immer
gefüllte Segel mit meiner Rättin wanderten. Immer wieder: der Große
Knall. Immer wieder: die Einsamkeit danach. Und immer wieder und
noch einmal: wie sehr den Ratten der Mensch fehle.
Aber ich bin doch da! rief ich. In meiner Raumkapsel: ich. Auf
meiner Umlaufbahn: ich. In deinen und meinen Träumen: ich, du und
ich!
Hast ja recht, Freundchen, lenkte sie ein. Wie tröstlich, daß
jemand da ist, der ich ich ich, immerzu ich sagt; schon verehren
wir dich ein wenig. In den städtischen Zufluchten und Revieren gibt
es Rattenvölker, die dich geradezu anbeten: Sobald sie auf Plätzen
oder in Kirchen den aufrechten Gang üben, meinen sie dich. Wir
ländlichen Rattenvölker hingegen haben außer dir noch jemand,
dessen immer noch atmende Reste anbetungswürdig sind. Ein
Bündelchen nur, aber belebt. Offenbar eine uralte Frau. Die blieb
in ihrem Lehnstuhl, als alle rausliefen und hopsgingen. Mühsam lebt
sie, von uns Ratten ernährt. Wir tun der Alten gut. Hat sie Durst,
tränken wir sie. Wie dich städtische Ratten anbeten, beten
Landratten sie an. Und sie, die Uralte brabbelt für uns: Wie es
früher gewesen ist. Was alles vergangen bleibt. Wer auf Besuch kam.
Was ihr Leid brachte, das bißchen Freude nahm und zu schmerzen
nicht aufhören wollte.
Aber das ist doch, rief ich. Rättin, ich bitte dich! Noch steht ihr
Geburtstag bevor. Erst morgen ist Sonntag. Sie will feiern,
gefeiert werden.
Jaja, sagte die Rättin. Aber nun will sie sterben und kann nicht.
Deshalb erzählt sie uns traurige und manchmal auch lustige
Geschichten von früher. Aus Vorkriegs-, Kriegsund
Zwischenkriegszeiten. Wie die Kaschuben mit Polen und Deutschen mal
leidlich, mal elend lebten. Und wie sie als junges Ding mit
Pferdchen und Wagen, dann, als der Fortschritt kam, mit der
Eisenbahn von Kokoschken auf städtische Wochenmärkte gefahren ist.
Und was alles ihre Kiepen füllte: Kartoffeln und Wruken, Gurken und
Himbeeren. Frische Eier, einen Gulden die Mandel, hat sie verkauft.
Und auf Martin zwei Gänse. Und jeden Herbst körbevoll Grünlinge und
Maronen, Pfifferlinge und Braunkappen, weil in den Wäldern der
Kaschubei die Pilze zuhauf standen
Bei aller Skepsis: Dieser Wald ist immer noch
heil. In unserem Film, der Grimms Wälder heißt, stehen hier
dunkelnd, dort licht Buchen, Tannen, Eichen, Eschen und Birken,
Ahorn und Ulmen sogar. Gebüsch öffnet, schließt sich. Getier im
Unterholz. Immer neues Grün, aber auch spätsommerliche,
frühherbstliche Farben. Die Vogelbeeren der Ebereschen. Aus Moosund
Nadelgründen schießen Kremplinge und Flaschenboviste, der Parasol.
Unter Eichen rufen Fliegenpilze nahstehende Steinpilze aus.
Schuppig der Habichtpilz. Aus Baumstümpfen wuchert in Horden der
Hallimasch. Und Blaubeeren, mit Kämmen zu ernten. Dann wieder säumt
Farn den Waldweg, auf dem die Märchengestalten, Rübezahl und die
Zwerge zu Fuß, die anderen im alten Ford mit Rumpelstilzchen am
Steuer, zum Tatort unterwegs sind.
Einer der Zwerge, ich glaube, der zweite, der auf dem Trittbrett
fährt, während die anderen eilig tippeln, ruft: »Halt!« Alle Sieben
breiten auf Moos zwischen Pilzen, die im Hexenkreis stehen, eine
handgezeichnete Waldkarte aus. Sie messen, vergleichen, streiten um
Daumensprünge, geben endlich die neue Richtung an: »Hier ist es,
hier!« Und hier finden sich auch die Hände des Mädchens ein, die
mit der Schaufel vorausgeflogen sind und nun tätig
werden.
Denn hier muß der Waldweg umgelegt, muß die alte Wegspur gelöscht
werden. Sogar Jorinde und Joringel, die außer traurigsein nichts
können, müssen schaufeln und hacken. Die Hexe befiehlt mehreren
Bäumen, sich zu entwurzeln und an bezeichneter Stelle neu Wurzeln
zu schlagen. Des Mädchens abgehauene Hände schaufeln ein Loch, in
das der dritte und vierte Zwerg einen Wegweiser setzen, der vorher
in ganz andere Richtung wies.
Der Froschkönig legt sich in einen Waldbach, wird zum Frosch und
leitet den Bach in ein neues, den alten Weg kreuzendes Bachbett,
worauf er wieder zum König wird, der seiner Dame, die untätig
leidet, die Stirn mit Quellwasser kühlt.
Auf allen vieren kriecht Rübezahl über den alten Weg. Wo immer sein
Bart die Wegspur berührt, treibt Moos, wächst Farn, schießen
Pilze.
Weil Rumpelstilzchen wieder mal aufstampft, muß ein Ameisenberg
sieben Sprünge weit umziehen und sich samt Eiersegen und Aufzucht
neu einrichten. (Nach Anweisung unseres Herrn Matzerath soll sich
das dumme Rotkäppchen in einen hohlen Baum hocken, dort Daumen
lutschen und den fleißigen Märchengestalten faul zugucken.) Jetzt
ist der falsche Waldweg täuschend echt und der richtige kaum mehr
zu ahnen. Worauf die Böse Stiefmutter Befehle erteilt: Rübezahl muß
Dornröschen gewaltsam vom Prinzen trennen. Der soeben noch
gutmütige Riese verfinstert sich. Er packt und hebt Dornröschen mit
einer Hand, ist nicht mehr Hausknecht, sondern herrischer Geist aus
dem Riesengebirge. Der erste, sechste und siebte Zwerg halten den
weinenden Prinzen. Mit der Spindel läuft der vierte Zwerg
schnellfüßig Rübezahl hinterdrein, der das bereits wieder
schlafende Dornröschen in Richtung Tatort entführt.
Von Schneewittchen will sich der Prinz nicht trösten lassen. Auch
von Rotkäppchen, das aus dem hohlen Baum springt, will er nichts
wissen. Die abgehauenen Hände des Mädchens streicheln den traurigen
Lockenkopf, dessen Kußmund verzweifelt Luftküsse verteilt. Wie von
Sinnen ist er. Erst Rapunzel gelingt es, mit langem Haar den
Prinzen von seinem Leid abzulenken.
»Den Spiegel bitte!« ruft die Böse Stiefmutter, worauf die
abgehauenen Hände den Zauberspiegel aus dem alten Ford holen und
auf einen Baumstumpf stellen. Sobald sich die Märchengestalten, mit
Hänsel und Gretel in der Mitte, vor dem Spiegel versammelt haben
und gruppiert sind, als wollte eine Großfamilie, weil Dienstag ist,
Dallas sehen, schaltet die Böse Stiefmutter ihr wundersames
Fernsehen ein. (Wie unser Herr Matzerath noch kürzlich sagte:
»Keines der allerneuesten Medien, das nicht im Märchen seinen
Ursprung hätte.«) Zuerst sieht man Rübezahl mit dem schlafenden
Dornröschen beladen durch toten Wald stapfen. Unermüdlich läuft mit
der Spindel der vierte Zwerg hinterdrein.
Dann sieht man Rotkäppchens Großmutter, die noch immer dem Wolf aus
Grimms Wörterbuch, Band eins, vorliest. Und jetzt kommt die
Wagenkolonne des Kanzlers mit Ministern und Experten ins Bild. Noch
ist sie, hinter Blaulicht und von Polizisten auf Motorrädern
flankiert, auf der Autobahn unterwegs.
Abermals schaltet die Böse Stiefmutter um: Der Zwerg mit der
Spindel folgt Rübezahl, der das schlafende Dornröschen in einer
Turmruine treppauf trägt, bis hoch zur Turmkammer, der das Dach
fehlt. Plötzlich kommen die abgehauenen Hände ins Bild. Sie putzen
die Turmkammer, während Rübezahl das Dornröschen behutsam an einen
Steintisch setzt; der Zwerg legt die Spindel in den Schoß der
schlafenden Schönen. Vor dem Zauberspiegel wird der Fleiß des
Mädchens ohne Hände gelobt. Der Prinz, der durch Rapunzels Haare
hindurch alles gesehen hat, jammert. Er will fort und sein
Dornröschen wie gewohnt wachküssen. Aber die Zwerge halten ihn, so
sehr er zappelt. Abermals verhängt ihn Rapunzel. Nachdem der
Zauberspiegel wiederum die Großmutter gezeigt hat, wie sie noch
immer dem Wolf vorliest, zeigt er jetzt des Kanzlers Wagenkolonne,
die in den heilen Wald einbiegt. Blaulicht voran, kommt sie näher
und näher. Auf ein Zeichen der Hexe verstecken sich alle
Märchengestalten. Den alten Ford schieben die Zwerge ins Gebüsch.
Einzig Hänsel und Gretel bleiben zurück, als seien sie ausgestoßen
und gottverlassen allein. So stellen sie sich wartend auf den neuen
falschen Weg.
Jetzt kommt aus der Tiefe des Waldes hinterm Blaulicht die
Wagenkolonne des Kanzlers. Hänsel und Gretel winken und rufen:
»Hier, Papa! Hier sind wir, hier!« Sie laufen rufend den falschen
Weg lang. Der Kanzler und Papa folgt ihnen in Richtung Tatort, bis
der soeben noch heile Wald immer kränklicher, sumpfiger, unwegsam
wird. Über Sprechfunkgeräte hört man Piepen, Pfeiftöne,
Befehlsdurchsagen: »Kanzlerkinder verfolgen!« »Ausschwärmen,
einkreisen!«
Die schwarzen Automobile bleiben stecken, müssen von allen Insassen
verlassen werden und versinken, eins nach dem anderen, in
blubberndem Morast, schließlich auch das Automobil des Kanzlers,
dessen Mercedesstern bis zum Schluß glänzt.
Ungeordnet irren der Kanzler und seine Experten und Minister, unter
ihnen die Grimmbrüder durch toten Wald. Mit entsicherten
Maschinenpistolen sind Polizisten bemüht, die ihnen aufgetragene
Sicherheit aufrechtzuerhalten. Unter der Last ihrer Apparate
stöhnen die Leute vom Fernsehen, filmen aber gleichwohl das
Durcheinander.
Der Kanzler ruft: »Kinder, wo seid ihr? Wo seid ihr denn,
Kinder?«
Die Experten streiten über die Richtung. Die Polizisten erschrecken
sich gegenseitig. Die Grimmbrüder helfen einander aus dem Morast.
Der Kanzler ruft. Das Fernsehen hält drauf. Sieben Raben in toten
Bäumen. Hänsel und Gretel locken den hilflosen Haufen immer tiefer
in den abgestorbenen Wald. Sie rufen: »Hier gehts lang, Papa,
hier!«
Auf Vorschlag unseres Herrn Matzerath, der immer auf
Nebenhandlungen bedacht ist, finden die Grimmbrüder nun in der
Einöde ein langes goldenes Haar. Wenige Schritte weiter glänzt
abermals ein Haar gülden. Und so fort. Indem sie den Goldhaaren
folgen, sehen die Grimmbrüder schließlich, wer sie ins Abseits
gelockt hat: zwischen toten Bäumen Rapunzel. Wunderschön anzusehn
spielt sie mit ihrem Langhaar und lockt den Minister für
mittelfristige Waldschäden und seinen Staatssekretär in eine
bestimmte Richtung.
Andere Märchengestalten erscheinen, verschwinden zwischen Bäumen;
die Sieben Zwerge tragen Schneewittchen im Sarg; Rumpelstilzchen
springt, tanzt und ruft: »Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich
Rumpelstilzchen heiß« ; Rotkäppchen ist mit dem Henkelkorb
unterwegs.
Immer mehr Märchengestalten kommen und vergehen:Wehmütig Jorinde
und Joringel, das arme Mädchen mit den abgehauenen Händen, den
Frosch auf schöner Stirn schreitet eine Dame vorbei, und immer
wieder sieht man die Hexe lachen. Und was noch alles im Buch der
Hausmärchen vorkommt. Wie willenlos folgen die Grimmbrüder ihren
Gestalten, bis aus totem Wald wieder Märchenwald wird. Und wie sich
der Märchenwald zur Lichtung öffnet, steht, inmitten der Lichtung,
in Stein gehauen ein Denkmal, das die Grimmbrüder Schulter an
Schulter abbildet. (Hier nun möchte unser Herr Matzerath eine
Gruppe von Professoren versammelt sehen, die alle Märchenexperten
und Hintersinnforscher sind. Sie sollen die soziologischen,
linguistischen und psychologischen Dimensionen der Grimmschen
Hausmärchen ausleuchten und die Grimmbrüder in ein längeres
Fachgespräch ziehen. Ich bin dagegen.)
Fraglos und nur staunend sollen sich Jacob und Wilhelm Grimm als
Grimmbrüder in Stein gehauen sehen, indes sich nach und nach alle
Märchengestalten um sie versammeln. Schneewittchen erhebt sich
lächelnd im gläsernen Sarg. Rapunzel steht in ihr Haar gekleidet.
Das Mädchen ohne Hände versteckt seine Armstümpfe hinterm Rücken.
Ein wenig verlegen knöpft sich die Hexe über ihren enormen Titten
zu. Alle, alle zeigen sich, nur Rübezahl fehlt.
Abseits steht er und weint, weil er als Berggeist in Grimms Märchen
nicht vorkommt. (Dennoch halte ich unseres Herrn Matzerath
Vorschlag, den armen Rübezahl nach seinem Märchendichter Musäus
rufen zu lassen, für zu ausgedacht. Einleuchtender wäre es, wenn
Wilhelm Grimm zartfühlig Rübezahls Not erkennen, den ungeschlachten
Riesen suchen, finden und in den Kreis der Grimmschen
Märchengestalten aufnehmen würde.) Wilhelms Untertitel heißt: »Auch
Rübezahl soll fortan zu uns gehören.«
»Jaja«, sagt Rumpelstilzchen, »so sehen wir uns wieder, meine
Herren.«
Wilhelm Grimm sagt: »Schau, lieber Bruder, alle haben sich um uns
versammelt.«
Jacob Grimm sagt: »Nicht alle sind da, lieber Bruder. Hänsel und
Gretel fehlen. Und schau um dich: es fehlt uns
Dornröschen.«
Während die drei Aufpasserzwerge den Prinzen, der plappern will,
zurückhalten, stellt die Böse Stiefmutter, die den Grimmbrüdern
zugeknöpft streng begegnet, ihren Zauberspiegel zu Füßen des
steingehauenen Denkmals auf und schaltet das Aktionsprogramm
ein.
Am Tatort sitzt das schlafende Dornröschen mit der Spindel im Schoß
am Steintisch des Turmzimmers. Die abgehauenen Hände achten darauf,
daß die Spindel nicht vom Schoß fällt. Um den Turm versammeln sich
der Kanzler und sein Gefolge. Rasch küßt der Zwerg, der die Spindel
getragen hat, nach Art des Prinzen Dornröschen wach. Dann läuft er
treppab und mit Hänsel und Gretel, die hinter der Turmruine
versteckt gewartet haben, schnellfüßig davon. Die abgehauenen Hände
und die Sieben Raben folgen ihnen. Gretel ruft laufend:
»Hoffentlich klappt es!«
Um den Turm beginnt wieder der Streit der Experten. Die Polizisten
bilden einen sichernden Kreis um den Kanzler und seine restlichen
Minister. Erschöpft läßt sich der Kanzler von einem Referenten aus
der Provianttasche ein großes Stück Buttercremetorte geben. »Ach«,
ruft er, »wie schwer wird mir das Regieren gemacht!« Dann beißt er
zu, kaut und sieht traurig kauend, Dornröschen in der
Turmkammerruine sitzen. Es klappert mit den Augendeckeln, will
sogleich wieder einschlafen. Da ruft der Kanzler mit halbvollem
Mund: »Hast du vielleicht meine lieben Kinder gesehen?«
Dornröschen erschrickt und sticht sich mit der Spindel in den
Finger, bis Blut kommt.
Und nun erstarren alle zugleich: der Kanzler mit dem Tortenstück in
der Hand, die streitenden Minister und Experten, die Polizisten mit
ihren in Anschlag gebrachten Maschinenpistolen, die immer
drehbereiten Fernsehmänner und auf Stichworte lauernden
Journalisten. Und während sie noch streitend aufeinander deuten,
mit den Maschinenpistolen den Feind suchen, Notizen kritzeln, die
Fernsehkamera surren lassen und Torte mampfen, sinken alle mit
Dornröschen in tiefen Schlaf. Sogleich beginnt aus der Ödnis
zwischen den toten Bäumen eine Dornenhecke zu wachsen, die immer
höher schießt, dichter wird, undurchdringlicher, als treibe sie
Stacheldraht, bis die erstarrte Gesellschaft zu Füßen der
Turmruine, in der Dornröschen schläft, verschwunden, bis die
Regierung mit allem Drum und Dran nicht mehr da ist.
Im Zauberspiegel auf dem Denkmalsockel sehen die Märchengestalten
und die Grimmbrüder den Erfolg ihrer Aktion. Es herrscht Freude.
Sogar den Grimmbrüdern will diese Spielweise von Entmachtung
gefallen.
Und freudig werden Hänsel und Gretel, der vierte Zwerg und die
abgehauenen Hände begrüßt. Die Hexe gratuliert ihnen:
»Großartig habt ihr das gemacht,
Kinder!«
Alle klatschen Beifall, auch die abgehauenen Hände. Nur die
Grimmbrüder sehen wir verstört, weil sie die vermißten
Kanzlerkinder hier wiedersehen: aufgehoben als Hänsel und Gretel.
Zwar begrüßt Wilhelm Grimm die beiden freundlich mit dem
Untertitel: »Und wir haben befürchtet, der Russe habe die
Kanzlerkinder entführt«, doch Jacob Grimm ist voller Bedenken:
»Ach, eure armen Eltern! Außerdem gibt es keine Regierung mehr.
Unordnung wird herrschen. Chaos droht!« Da löst sich der
wachküssende Prinz aus Rapunzels Haar und bietet den Grimmbrüdern
seine Dienste an: »Soll ich Dornröschen wieder wachküssen? Ich kann
das!«
Er will fortlaufen, aber sogleich hängen die drei Aufpasserzwerge
an ihm. Ganz und gar Berggeist, Köhler und Wilder Mann, ohrfeigt
Rübezahl den Prinzen. Hänsel ruft: »Es wird hiergeblieben!« (Und
bevor er nach Polen abreiste, sagte unser Herr Matzerath noch, an
dieser Stelle müsse des Froschkönigs Dame dem weinenden Prinzen
ihre geplagte Stirn zum Kuß anbieten; aber ich meine, es würde
diese Nebenhandlung vom weiteren Geschehen nur ablenken.)
Ohne Umstände wollen alle Märchengestalten den Grimmbrüdern nun
ihre Pension, das Knusperhäuschen zeigen, wohin mittlerweile viele
Lastschnecken, eine der anderen folgend, alle Bände des Grimmschen
Wörterbuchs geliefert haben; die letzte trägt den Band
zweiunddreißig: von Zobel bis Zypressenzweig...
Immer noch liest die Großmutter aus dem Märchen
dem Bösen Wolf aus dem Märchen
aus dem Wörterbuch vor.
Sein Wolfsbauch, den ein Reißverschluß öffnet
und schließt, ist voller Wörter
aus alter Zeit: Wehmutter, Wehrmut, Wehleid...
Jetzt findet die Großmutter in Grimms Wörterbuch, von dem mittlerweile alle Bände aufliegen, den Namen der Stadt Vineta, in der die Vineter wohnten,
bis die See über die Stadt kam. Da heult der Wolf und will aus dem Mund der Großmutter mehr hören, als über Vineta geschrieben steht.
Läuten, Geläut, Glockengeläut, sagt die
Großmutter zum Wolf aus dem Märchen, hört man
bei Windstille über der glatten See.