D AS ERSTE KAPITEL, indem
ein Wunsch in
Erfüllung geht, inNoahs Arche keinPlatz für Ratten ist, vom
Menschen nur Müllbleibt, ein Schiff oft seinenNamen wechselt, die
Saurier aussterben, ein alter Bekannter auftritt, eine Postkarte
einlädt, nach Polen zu reisen, der aufrechte Gang geübt wird und
mächtig Stricknadeln klappern.
Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir,
hoffte ich doch auf Reizwörter für ein Gedicht, das von der
Erziehung des Menschen geschlechts handelt. Eigentlich wollte ich
über die See, meine baltische Pfütze schreiben; aber das Tier
gewann. Mein Wunsch wurde erfüllt. Unterm Christbaum überraschte
die Ratte mich. Nicht etwa zur Seite gerückt, nein, von
Tannenzweigen überdacht, dem tiefhängenden Baumschmuck zugeordnet,
anstelle der Krippe mit dem bekannten Personal, hatte, mehr lang
als breit, ein Drahtkäfig Platz gefunden, dessen Gitterstä be
weißlackiert sind und dessen Innenraum mit einem hölzer nen
Häuschen, der Saugflasche und dem Futternapf möbliert ist. Wie
selbstverständlich nahm das Geschenk seinen Ort ein, als gäbe es
keinen Vorbehalt, als sei diese Bescherung natürlich: die Ratte
unterm Weihnachtsbaum.
Nur mäßige Neugierde, sobald Papier knisterte. Huschig raschelte
sie im Streu aus gelockten Hobelspänen. Wie sie nach kurzem Sprung
auf ihrem Haus kauerte, spiegelte eine gülden glänzende Kugel das
Spiel der Witterhaare. Von Anbeginn war erstaunlich, wie nackt ihr
Schwanz lang und daß sie fünffingrig ist wie der Mensch.
Ein sauberes Tier. Hier und dort: nur wenige Rattenköttel
kleinfingernagellang. Jener nach altem Rezept hergestellte
Heiligabendgeruch, zu dem Kerzenwachs, Tannenduft, ein wenig
Verlegenheit und Honigkuchen beitrugen, übertönte die Ausdünstung
des geschenkten Jungtieres, das einem Schlangenzüchter abgekauft
wurde, der, in Gießen ansässig, Ratten als Schlangenfraß
züchtet.
Gewiß überraschten auch andere Gaben: Nützliches, Über flüssiges
links rechts beigeordnet. Es fällt ja immer schwerer zu schenken.
Wo ist noch übriger Platz? Oh, dieses Elend, nicht mehr zu wissen,
was wünschen. Alles ist in Erfüllung gegangen. Was fehlt, sagen
wir, ist der Mangel, als wollten wir den uns zum Wunsch machen. Und
schenken weiterhin ohne Erbarmen. Niemand weiß mehr, was wann von
wem wohlwollend über ihn kam. Satt und bedürftig hieß mein Zustand,
als ich mir, nach Wünschen befragt, auf Weihnachten eine Ratte
wünschte.
Natürlich wurde gespottet. Fragen blieben nicht aus: In deinem
Alter? Muß das sein? Nur weil die Mode sind jetzt? Warum keine
Krähe? Oder wie letztes Jahr: mundgeblasene Gläser? Nagut,
gewünscht ist gewünscht.
Eine weibliche sollte es sein. Doch bitte keine weiße mit roten
Augen, keine Laborratte bitte, wie sie bei Schering und
BayerLeverkusen in Gebrauch sind.
Aber wird die graubraune Wanderratte, vulgär Kanalratte genannt,
auf Lager und käuflich sein?
In Tierhandlungen werden gewöhnlich nur Nager geführt, denen kein
Ruf anhängt, die nicht sprichwörtlich sind, über die nichts
Schlimmes geschrieben steht.
Erst kurz vor dem Vierten Advent soll Nachricht aus Gießen gekommen
sein. Der Sohn einer Tierhändlerin mit üblichem Angebot, der
ohnehin über Itzehoe in Richtung Norden zu seiner Verlobten fuhr,
war gefällig und brachte ein Exemplar wie gewünscht; der Käfig
konnte getrost der eines Goldhamsters sein.
Dabei hatte ich meinen Wunsch annähernd vergessen, als mich am
Heiligen Abend die weibliche Ratte in ihrem Käfig überraschte. Ich
sprach sie an, töricht. Später lagen geschenkte Schallplatten auf.
Ein Rasierpinsel wurde belacht. Bücher genug, darunter eines über
die Insel Usedom. Die Kinder zufrieden. Nüsseknacken,
Geschenkpapier falten. Scharlachrote und zinkgrüne Bänder, deren
Enden gezwirbelt sein müssen, wollten zur Wiederverwendung nur
nichts wegwerfen! aufgewickelt verwahrt werden.
Gefütterte Hausschuhe. Und das noch und das. Und ein Geschenk, das
ich für meine Liebste, die mich mit der Ratte beschenkte, in
Seidenpapier gerollt hatte: auf handkolorierter Landkarte liegt der
pommerschen Küste vorgelagert, Vineta, die versunkene Stadt. Trotz
Stockflecken und seitlichem Riß: ein schöner Stich.
Niederbrennende Kerzen, der geballte Familienverband, die schwer
erträgliche Stimmung, das Festessen. Tags darauf nannten erste
Besucher die Ratte süß.
Meine Weihnachtsratte. Wie anders soll ich sie nennen. Mit ihren
rosa Zehen, die feingegliedert den Nußkern, die Mandel oder
gepreßtes Spezialfutter halten. Anfangs ängstlich auf meine
Fingerkuppen bedacht, beginne ich sie zu verwöhnen: mit Rosinen,
Käsebröcklein, dem Gelben vom Ei.
Sie mir danebengesetzt. Ihre Witterhaare nehmen mich wahr. Sie
spielt mit meinen Ängsten, die ihr handlich sind. Also rede ich
gegenan. Vorerst noch Pläne, in denen Ratten ausgespart bleiben,
als könnte zukünftig irgendwas ohne sie sich ereignen, als dürfte,
sobald die See kleine Wellen wagt, der Wald an den Menschen stirbt
oder womöglich ein Männlein bucklicht sich auf die Reise macht, die
Rättin abwesend sein.
Neuerdings träumt sie mir: Schulkram, des Fleisches Ungenügen, was
alles der Schlaf unterschiebt, in welche Geschehnisse ich hellwach
vermengt werde; meine Tagträume, meine Nachtträume sind ihr
abgestecktes Revier. Keine Wirrnis, der sie nicht nacktschwänzig
Gestalt gäbe. Überall hat sie Duftmarken gesetzt. Was ich
vorschiebe schranktiefe Lügen und Doppelböden -, sie frißt sich
durch. Ihr Nagen ohne Unterlaß, ihr Besserwissen. Nicht mehr ich
rede, sie spricht auf mich ein.
Schluß! sagt sie. Euch gab es mal. Gewesen seid ihr, erinnert als
Wahn. Nie wieder werdet ihr Daten setzen. Alle Perspektiven
gelöscht. Ausgeschissen habt ihr. Und zwar restlos. Wurde auch
Zeit!
In Zukunft nur Ratten noch. Anfangs wenige, weil ja fast alles
Leben ein Ende fand, doch schon vermehrt sich die Rättin erzählend,
indem sie von unserem Ausgang berichtet. Mal fistelt sie bedauernd,
als wolle sie jüngste Würfe lehren, uns nachzutrauern, mal höhnt
ihr Rattenwelsch, als wirke Haß auf unsereins nach: Weg seid ihr,
weg!
Doch ich halte gegen: Nein, Rättin, nein! Immer noch sind wir
zahlreich. Pünktlich geben Nachrichten von unseren Taten Bericht.
Wir tüfteln Pläne aus, die Erfolg versprechen. Zumindest
mittelfristig sind wir noch da. Selbst jenes bucklichte Männlein,
das abermals dreinreden will, sagte noch kürzlich, als ich treppab
in den Keller wollte, um nach den Winteräpfeln zu sehen: Mag sein,
daß es zu Ende geht mit den Menschen, doch letztlich bestimmen wir,
wann Ladenschluß ist. Rattengeschichten! Wie viele sie weiß. Nicht
nur in wärmeren Zonen, sogar in den Iglus der Eskimos soll es sie
geben. Mit den Verbannten gelang es Ratten, Sibirien zu besiedeln.
Polarforschern gesellig, haben Schiffsratten die Arktis und
Antarktis entdeckt. Keine Einöde war ihnen unwirtlich genug. Hinter
Karawanen zogen sie durch die Wüste Gobi. Frommen Pilgern im
Gefolge waren sie nach Mekka und Jerusalem unterwegs. Mit den
wandernden Völkern des Menschengeschlechts sah man dicht bei dicht
Ratten wandern. Sie sind mit den Goten ans Schwarze Meer, mit
Alexander gen Indien, mit Hannibal über die Alpen, anhänglich den
Wandalen nach Rom gezogen. Hinter Napoleons Heerhaufen nach Moskau
hin und zurück. Auch mit Mose und dem Volk Israel liefen trockenen
Fußes Ratten durchs Rote Meer, um in der Wüste Zin vom himmlischen
Manna zu kosten; es gab von Anbeginn Abfall genug. So viel weiß
meine Rättin. Sie ruft, daß es hallt: Am Anfang war das Verbot!
Denn als der Menschen Gott polterte: Ich will eine Sintflut mit
Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin
ein lebendiger Odem ist, durften wir ausdrücklich nicht an Bord.
Für uns kein Zutritt, als Noah seine Arche zum Zoo machte, obgleich
sein immerfort strafender Gott, vor dem er Gnade gefunden hatte,
von oben herab deutlich geworden war: Aus allerley reinem Vieh nimm
zu dir je sieben und sieben, das Menlin und sein Frewlin. Von dem
unreinen Vieh aber je ein Par, das Menlin und sein Frewlin, denn
wil ich regnen lassen auff Erden vierzig tag und vierzig nacht und
vertilgen von dem Erdboden alles, was das Wesen hat, das ich
gemacht habe. Mich reuet mein tun.
Und Noah tat, was sein Gott ihm befohlen, und nahm von den Vögeln
nach ihrer Art, von dem Vieh nach seiner Art und von allerley
Gewürm auff erden nach seiner Art; nur von unsereins Wesen wollte
er kein Paar, nicht Ratz und Rättlin, in seinen Kasten nehmen. Rein
oder unrein, wir waren ihm weder noch. So früh war das Vorurteil
eingefleischt. Von Anbeginn Haß und der Wunsch, vertilgt zu sehen,
was würgt und Brechreiz macht. Dem Menschen eingeborener Ekel vor
unserer Art hinderte Noah, nach seines strengen Gottes Wort zu
handeln. Er verneinte uns, strich uns aus seiner Liste, die alles
nannte, was Atem hat.
Küchenschaben und Kreuzspinnen, den sich krümmenden Wurm, die Laus
sogar und die warzige Kröte, schillernde Schmeißfliegen nahm er,
ein Paar, an Bord seiner Arche, uns aber nicht. Wir sollten
draufgehen wie der verderbten Menschheit zahlreicher Rest, von dem
der Allmächtige, dieser immerfort rachsüchtige und den eigenen
Pfusch verfluchende Gott, abschließend gesagt hatte: Des Menschen
Bosheit war gros auff Erden und ihrer Hertzen Tichten und Trachten
war böse imer dar.
Worauf er Regen machte, der vierzig Tage und Nächte fiel, bis alles
mit Wasser bedeckt war, das einzig die Arche und deren Inhalt trug.
Als aber die Wasser fielen und erste Bergspitzen aus der Flut
tauchten, kam nach dem Raben, der ausgesetzt wurde, die Taube
zurück, von der es hieß: Sie kam zu ihm umb die Vesperzeit und
sihe, ein Oelblatt hatte sie abgebrochen und trugs in ihrem Munde.
Doch nicht nur mit Grünzeug, mit verblüffender Botschaft auch flog
die Taube Noah zu: Sie habe, wo sonst nichts mehr kreuche und
fleuche, Rattenköttel, frische Rattenköttel gesehen.
Da lachte der seiner Stümperei überdrüssige Gott, weil Noahs
Ungehorsam an unsrer Zählebigkeit zunichte geworden war. Er sagte
wie immer von oben herab: Fortan sollen Ratz und Rättlin auff Erden
des Menschen gesell und zuträger aller verheißenen Plage
seyn...
Er sagte noch mehr voraus, was nicht geschrieben steht, trug uns
die Pest auf und schwindelte sich, nach Art des Allmächtigen,
weitere Allmacht zusammen. Er persönlich habe uns der Sintflut
enthoben. Auf seiner Gotteshand sei von unreiner Art ein Paar
sicher gewesen. Auf göttlicher Hand habe Noahs ausgesetzte Taube
frische Rattenköttel gesehen. Seiner Pranke verdanke sich unser
zahlreiches Fortleben, denn auf Gottes Handteller hätten wir Junge,
neun Stück, geworfen, worauf sich der Wurf, während das Gewesser
hundert und fuffzig tage auff Erden stund, zu einem Rattenvölkchen
ausgewachsen habe; so geräumig sei des allmächtigen Gottes Hand.
Verstockt schwieg Noah nach dieser Rede und dachte, wie von Jugend
an gewohnt, Böses bei sich. Doch als die Arche breit und platt auf
dem Gebirge Ararat Grund gefunden hatte, war das wüste Gelände
ringsum schon eingenommen von uns; denn nicht in Gottes Hand, wohl
aber in unterirdischen Gängen, die wir mit Alttieren gepfropft und
in Nistkammern zu rettenden Luftblasen gemacht hatten, waren wir,
das zählebige Rattengeschlecht, der Sintflut entkommen. Wir,
langschwänzig! Wir, mit dem ahnenden Witterhaar! Wir, mit dem
nachwachsenden Zahn! Wir, des Menschen enggefügte Fußnoten, sein
auswuchernder Kommentar. Wir, unverwüstlich!
Bald bewohnten wir Noahs Kasten. Keine Vorkehr half: seine Speise
war unsere auch. Schneller, als sich die Menschen um Noah und sein
erwähltes Getier vermehren konnten, wurden wir zahlreich. Uns wurde
das Menschengeschlecht nicht mehr los.
Da sagte Noah, indem er Demut vor seinem Gott heuchelte und sich
gleichwohl an dessen Stelle setzte: Verstockt war mein Hertz, daß
ich des Herrn Wort außer acht ließ. Doch nach des Allmächtigen
Wille überlebte auff erden mit uns die ratt. Sie soll verflucht
seyn, in unserem Schatten zu wühlen, wo abfall liegt.
Das ging in Erfüllung, sagte die Rättin, von der mir träumt. Wo der
Mensch war, an jedem Ort, den er verließ, blieb Müll. Selbst auf
der Suche nach letzter Wahrheit und seinem Gott auf den Fersen,
machte er Müll. An seinem Müll, der Schicht auf Schicht lagerte,
war er, sobald man ihm nachgrub, jederzeit zu erkennen; denn
langlebiger als der Mensch ist sein Abfall. Einzig Müll hat ihn
überdauert!
Wie nackt ihr Schwanz mal so und mal so liegt. Ach, wie hat sie
sich ausgewachsen, meine niedliche Weihnachtsratte. Unruhig auf und
ab, dann wieder starr, bis auf die zitternden Witterhaare, hält sie
alle Träume besetzt. Mal plappert sie leichthin, als müsse auf
Rattenwelsch, in dem viel Tratsch zischelt, die Welt samt Kleinkram
verplaudert werden, dann wieder fistelt sie belehrend, indem sie
mich in die Schule nimmt, mir rattig geschichtsläufige Lektionen
erteilt; schließlich spricht sie endgültig, als habe sie Luthers
Bibel, die Großen und Kleinen Propheten, die Sprüche Salomonis,
Jeremiä Klagelieder, wie nebenbei die Apokryphen, den Singsang der
Männer im Feuerofen, die Psalmen alle und Siegel nach Siegel des
Johannes Offenbarung gefressen.
Wahrlich, ihr seid nicht mehr! höre ich sie verkünden. Wie einst
der tote Christus vom Weltgebäude herab, spricht weithallend die
Rättin vom Müllgebirge: Nichts spräche von euch, gäbe es uns nicht.
Was vom Menschengeschlecht geblieben, zählen wir zum Gedächtnis
auf. Vom Müll befallen, breiten sich Ebenen, strändelang Müll,
Täler, in denen der Müll sich staut. Synthetische Masse wandert in
Flocken, Tuben, die ihren Ketchup vergaßen, verrotten nicht.
Schuhe, weder aus Leder noch Stroh, laufen selbsttätig mit dem
Sand, sammeln sich in vermüllten Kuhlen, wo schon des Seglers
Handschuh und drolliges Badegetier warten. All das redet von euch
ohne Unterlaß. Ihr und eure Geschichten in Klarsichtfolie
verschweißt, in Frischhaltebeuteln versiegelt, in Kunstharz
gegossen, in Chips und Klips ihr: das gewesene
Menschengeschlecht.
Was sonst noch geblieben ist: auf euren Pisten rollt, scheppert
Schrott. Kein Papier uns zum Fraß, doch zerschlissene Planen um
Pfeiler, um Stahlträger gewickelt. Geronnener Schaum. Als sei in
ihm Leben, bibbert in Fladen Gelee. Überall rotten Horden leerer
Kanister. Aus Kassetten befreit sind Filmbänder unterwegs: Die
Caine war ihr Schicksal, Doktor Schiwago, Donald Duck, High Noon
und Goldrausch... Was euch vergnüglich oder zu Tränen rührend in
beweglichen Bildern das Leben gewesen ist.
Ach, eure Autohalden, in denen sich wohnen ließ früher. Container
und sonstige Stapelware. Kisten, die ihr Safe und Tresor nanntet,
stehen sperroffen: jedes Geheimnis ausgekotzt. Alles wissen wir,
alles! Und was ihr in suppenden Fässern gelagert, vergessen oder
falsch abgebucht habt, wir finden sie, eure tausend mal tausend
Giftdeponien: Plätze, die wir begrenzen, indem wir warnend uns
warnend, denn nur noch wir sind Duftmarken setzen.
Zugegeben: selbst euer Müll ist beachtlich! Und oft staunt
unsereins, wenn Stürme mit dem strahlenden Staub sperrige
Bauelemente von weither über die Hügel ins flache Land tragen.
Seht, es segelt ein Glasfiberdach! So erinnern wir den verstiegenen
Menschen: immer höher hinaus, immer steiler erdacht... Seht, wie
zerknautscht sein Fortschritt zu Fall kam! Und ich sah, was mir
träumte, sah Gelee bibbern und Filmbänder unterwegs, sah rollenden
Schrott und Folien von Stürmen bewegt, sah Gift aus Fässern suppen;
und ich sah sie, die vom Müllberg herab verkündete, daß der Mensch
nicht mehr sei. Das, rief sie, ist euer Nachlaß!
Nein, Rättin, nein! schrie ich. Noch gibt es uns tätig. Zukünftig
sind Termine gesetzt, vom Finanzamt, beim Zahnarzt zum Beispiel. Es
sind die Ferienflüge vorausgebucht. Morgen ist Mittwoch und
übermorgen ... Auch steht mir ein bucklicht Männlein im Weg, das
sagt: Es müsse dies noch und das niedergeschrieben werden, damit
unser Ende, sollte es kommen, vorbedacht sich ereigne.
Meine See, die sich nach Osten
und nördlich verläuft, wo Haparanda liegt.
Die baltische Pfütze.
Was von der windigen Insel Gotland außerdem ausging. Wie die Algen
dem Hering die Luft nahmen
und der Makrele, dem Hornfisch auch.
Es könnte, was ich erzählen will,
weil ich durch Wörter das Ende aufschieben möchte, mit Quallen
beginnen, die mehr, immer mehr, unabsehbar mehr werden,
bis die See, meine See
eine einzige Qualle.
Oder ich lasse die Bilderbuchhelden,
den russischen Admiral, den Schweden, Dönitz, wen noch aufkreuzen,
bis Strandgut
genug bleibt Planken und Bordbücher,
aufgelistet Proviant -
und alle Untergänge abgefeiert sind.
Als am Palmsonntag aber Feuer vom Himmel auf die Stadt Lübeck und ihre Kirchen fiel, brannte vom Backsteingemäuer die innere Tünche; hoch ins Gerüst soll nun Malskat, der Maler, abermals steigen, damit uns die Gotik nicht ausgeht.
Oder es spricht, weil ich nicht lassen kann von
der Schönheit, die Organistin aus Greifswald mit ihrem R, das zum
Uferkiesel gerollt wurde. Sie hat, genau gezählt,
elf Pfaffen überlebt und immer
den Cantus firmus gehalten.
Jetzt heißt sie, wie Witzlavs Tochter hieß.
Jetzt sagt Damroka nicht,
was der Butt ihr gesagt.
Jetzt lacht sie von der Orgelbank
ihren elf Pfaffen nach: der erste, son Mucker, der kam aus
Sachsen...
Ich lade euch ein: denn hundertundsieben Jahre
wird Anna Koljaiczek aus Bissau bei Viereck, das liegt bei
Matarnia.
Ihren Geburtstag zu feiern mit Sülze, Pilzen und Kuchen kommen alle
gereist, denn weit
zweigt das kaschubische Kraut.
Die aus Übersee: von Chicago her reisen sie an.
Die Australier nehmen den längsten Weg. Wem es im Westen besser
geht, der kommt, es jenen zu zeigen,
die in Ramkau, Kartuzy, Kokoschken geblieben, um wieviel besser in
deutscher Mark.
Fünf von der Leninwerft sind eine Delegation.
Schwarzröcke bringen den Segen der Kirche. Nicht nur die staatliche
Post,
Polen als Staat ist vertreten. Mit Chauffeur und Geschenken kommt
unser Herr Matzerath auch.
Aber das Ende! Wann kommt das Ende? Vineta! Wo
liegt Vineta?
Seetüchtig kreuzen sie auf; denn zwischendurch werden Frauen
tätig.
Allenfalls Flaschenpost,
die ihren Kurs ahnen läßt.
Da ist keine Hoffnung mehr.
Denn mit den Wäldern,
soll hier geschrieben stehen,
sterben die Märchen aus.
Abgeschnitten Krawatten kurz unterm Knoten. Endlich, das Nichts
hinter sich, treten die Männer zurück.
Doch als die See den Frauen Vineta zeigte, war
es zu spät. Damroka verging
und Anna Koljaiczek sagte: Nu isses aus. Ach, was soll werden, wenn
nichts mehr wird! Da träumte die Rättin mir und ich schrieb: Die
Neue Ilsebill geht als Ratte an Land.
Als im Oktober neunundneunzig die »Dora«, ein
stählerner Ewer mit Holzboden, dem Schiffsbauer Gustav Junge in
Auftrag gegeben und im März des Jahres 1900 auf der Wewelsflether
Werft zu Wasser gelassen wurde, ahnte der Schiffseigner Richard
Nickels nicht, was alles seinem für die Hamburger
Graskellerschleuse bemessenen Alsterewer geschehen sollte, zumal
das neue Jahrhundert, laut angekündigt und klotzig, mit prallen
Taschen ans Licht trat, als wollte es sich die Welt
kaufen.
Knappe achtzehn Meter war das Schiff lang und viersiebzig breit.
Die Tonnage der »Dora« belief sich auf achtunddreißigkommafünf
Bruttoregistertonnen, ihre Tragfähigkeit betrug siebzig Tonnen, war
aber mit fünfundsechzig angegeben. Ein Lastschiff, für Getreide und
Schlachtvieh, für Bauholz und Ziegelsteine gut.
Der Schiffer Nickels war nicht nur auf der Elbe, der Stör und der
Oste mit Fracht unterwegs, sondern befuhr auch deutsche und
dänische Häfen bis nach Jütland hoch und nach Pommern hin. Bei
gutem Wind lief sein Lastewer vier Knoten.
1912 wurde die »Dora« an den Schiffer Johann Heinrich Jungclaus
verkauft, der den Ewer ohne Schaden über den Ersten Weltkrieg
brachte und ihm im Jahr vierundzwanzig, zur Zeit der Rentenmark,
einen 18-PS-Glühkopfmotor einbauen ließ. Krautsand und nicht mehr
Wewelsfleth stand nun als Heimathafen am Heck geschrieben: mit
weißen Buchstaben auf schwarzem Anstrich. Das änderte sich, als
Jungclaus seinen Lastewer dem Schiffer Paul Zenz aus Cammin an der
Dievenow verkaufte, einer Kleinstadt in Pommern, die heute Kamién
heißt.
Dort fiel die »Dora« auf. Abfällig nannten die pommerschen
Küstenschiffer das Plattbodenschiff, wenn es durch den Greifswalder
Bodden geschippert wurde, einen Dwarsdriewer. Noch immer
Getreidelasten, Winterkohl, Schlachtvieh als Last, aber auch
Bauholz, Ziegelsteine, Dachpfannen, Zement; es wurde ja bis in den
Zweiten Weltkrieg hinein viel gebaut: Kasernen, Barackenlager. Doch
hieß der Eigner der »Dora« jetzt Otto Stöhwase, und am Heck stand
Wollin als Heimathafen geschrieben; so heißt eine Stadt und Insel,
die mit der Insel Usedom vor der pommerschen Küste liegt. Als vom
Januar bis zum Mai des Jahres fünfundvierzig große und kleine
Schiffe, mit Zivilisten und Soldaten überladen, die Ostsee
befuhren, doch nicht alle Schiffe die Häfen der Städte Lübeck,
Kiel, Kopenhagen, den rettenden Westen erreichten, holte auch die
»Dora«, kurz bevor die zweite sowjetische Armee zur Ostsee
durchstieß, Flüchtlinge aus Danzig-Westpreußen, um sie nach
Stralsund zu bringen. Das war, als die »Gustloff« sank. Das war,
als in der Neustädter Bucht die »Cap Arcona« ausbrannte. Das war,
als überall und selbst an Schwedens neutraler Küste ungezählt viele
Leichen antrieben; alle noch Lebenden glaubten, davongekommen zu
sein, und nannten deshalb das Ende, als sei zuvor nichts geschehn,
die Stunde Null.
Ein Jahrzehnt später wurde, während überall Frieden bewaffnet
herrschte, der immer noch unverändert lange und breite Ewer mit
einem 36-PS-Brons-Dieselmotor ausgerüstet und vom neuen Eigner, der
Firma Koldewitz auf Rügen, nicht mehr »Dora« sondern »Ilsebill«
genannt; wohl in Anspielung auf ein plattdeutsches Märchen, dessen
Wortlaut aufgezeichnet worden war, als überall in Deutschland, also
auch auf der Insel Rügen, Märchen gesammelt wurden.
Benannt nach des Fischers Frau, die sich vom sprechenden Butt mehr,
immer mehr, am Ende wie Gott zu sein wünscht, diente die »Ilsebill«
noch lange als Lastschiff im Bodden, in der Peenemündung und im
Achterwasser, bis man sie gegen Ende der sechziger Jahre, während
immer noch Frieden bewaffnet herrschte, abwracken und im Hafen von
Warthe auf Usedom als Molenfundament versenken wollte. Der
stählerne Rumpf, dessen Heck zuletzt die Stadt Wolgast als
Heimathafen ausgab, sollte geflutet werden.
Das geschah nicht, denn im reichen Westen, dem der verlorene Krieg
Glück gebracht hatte, fand sich eine Käuferin, die von Greifswald
herkam, über Umwege nach Lübeck gezogen war, doch weiter auf
vorpommerschen Trödel fixiert blieb, der mochte von Rügen, von
Usedom stammen oder, wie der stählerne Besanewer mit Holzboden,
nach dorthin verschlagen sein; eigentlich hatte sie eines der
selten gewordenen Zeesboote gesucht.
Am Ende langwieriger Verhandlungen bekam die Käuferin, die, ihrem
Herkommen gemäß, beharrlich blieb, den Zuschlag, weil die Deutsche
Demokratische Republik, als letzter Schiffseigner, nach hartem
Westgeld begehrlich war; die Überführung des Lastewers kam teurer
als dessen Kauf. Lange lag die »Dora« als »Ilsebill« in Travemünde.
Schwarz der Rumpf und der Hauptmast, blau-weiß das Steuerhaus und
die restlichen Aufbauten. An langen Wochenenden und während
Urlaubswochen putzte, besserte, pinselte die neue Eignerin, die
ich, weil sie mir lieb ist, Damroka nennen will, an ihrem Schiff,
bis sie, obgleich von Beruf Organistin und von Jugend an mit Händen
und Füßen für Gott und Bach tätig, Ende der siebziger Jahre zum
Bootsführerschein ihr Patent für Küstenfahrt machte. Sie ließ die
Orgel samt Kirche und Pfaffen hinter sich, entzog sich der
musikalischen Fron und soll fortan die Kapitänin Damroka genannt
werden, auch wenn sie ihr Schiff mehr bewohnte als ausfuhr,
nachdenklich auf Deck rumstand, wie verwachsen mit ihrem stets
halbvollen Kaffeepott.
Erst Anfang der achtziger Jahre faßte Damroka einen Plan, der, nach
Probefahrten in der Lübecker Bucht und nach Dänemark rüber, ab Ende
Mai dieses Jahres, das nach chinesischem Kalender das Jahr der
Ratte ist, umgesetzt werden soll. Ein im Jahr 1900 gebauter
Besanewer, der mehrmals seinen Eigner und Heimathafen gewechselt,
seinen Besanmast verloren, doch nach letztem Umbau einen starken
Dieselmotor gewonnen hat, ein Schiff, das nunmehr, als müsse es ein
Programm verkörpern, auf den Namen »Die Neue Ilsebill« hört und
bald mit Frauen bemannt sein wird, wurde im Hafen von Travemünde
vom Lastewer zum Forschungsschiff umgerüstet. Im Vorschiff ist der
enge Schlafraum für die weibliche Mannschaft mit einer Bretterwand
abgeschlagen. Zum Schrank ausgebaut, bietet die Bugspitze Raum für
Seesäcke, Bücher, Strickzeug und Erste-Hilfe-Kram. Im Mittelschiff
soll der Frachtraum mit langem Arbeitstisch künftig der Forschung
dienen. Überm Maschinenraum mit dem neuen 180-PS-Motor ist das
Steuerhaus, eine Holzlaube mit Fenstern in jede Richtung, zum Heck
hin um eine Kleinküche erweitert worden: mehr Verschlag als
Kombüse.
Mit fünf Frauen überbelegt: eng und nur mäßig wohnlich ist es an
Bord. Alles zweckbestimmt: der Forschungstisch muß auch Eßtisch
sein. »Die Neue Ilsebill« soll bundesdeutsche, dänische,
schwedische und falls die Genehmigung eintrifft Küstengewässer der
DDR befahren. Der Auftrag ist vorgeschrieben: Punktuell muß die
Quallendichte der westlichen Ostsee vermessen werden, denn die
Verquallung des baltischen Meeres nimmt nicht nur statistisch zu.
Der Bädertourismus leidet. Überdies schädigen Ohrenquallen, die von
Plankton und Heringslarven leben, das Fischereiwesen. Das Institut
für Meereskunde, mit Sitz in Kiel, hat deshalb Forschungsaufträge
vergeben. Natürlich sind, wie immer, die Mittel knapp. Natürlich
soll nicht die Ursache der Verquallung erforscht werden, einzig die
Fluktuation der Bestände. Natürlich weiß man schon jetzt, daß die
Meßdaten schlimm sein werden. Das sagen die Frauen an Bord des
Schiffes, die alle lachlustig, spottsüchtig, spitzzüngig und
notfalls giftig ätzend sein können; angegraut sind sie die Jüngsten
nicht mehr. Schon bei der Ausfahrt backbord die Mole, besetzt mit
winkenden Touristen teilt die Bugsee überreichen Quallenbestand,
der sich hinterm Heck verquirlt wieder schließt.
Für diese Reise haben sich die fünf Frauen, wie ich sie wünsche,
anlernen lassen. Sie können Knoten schlagen und dichtholen. Das
Belegen einer Klampe, das Aufschießen einer Leine geht ihnen von
der Hand. Sie können die Betonnung des Fahrwassers lesen, mehr oder
weniger gut. Seemännisch nehmen sie Kurs. Die Kapitänin Damroka hat
ihr Patent hinter Glas rahmen lassen und ins Steuerhaus gehängt.
Kein Bildchen sonst, das Schmuck bedeuten könnte, dafür ein neues
AtlasEcholot zum alten Kompaß und ein Wetterempfänger. Zwar ist
bekannt, daß die Ostsee von Algen verkrautet, durch Tangbärte
vergreist, von Quallen übersättigt, obendrein quecksilbrig,
bleihaltig, was noch alles ist, aber erforscht muß werden, wo sie
mehr oder weniger, wo sie noch nicht, wo sie besonders verkrautet,
vergreist, übersättigt ist, ungeachtet aller Schadstoffe, die
anderenorts bilanziert sind. Deshalb wurde das Forschungsschiff mit
Meßinstrumenten ausgerüstet, von denen eines »Meßhai« heißt und
scherzhaft »Quallenzähler« genannt wird. Außerdem sollen die
Vorkommen von Plankton und Heringslarven, was alles sonst noch die
Qualle frißt, gemessen, gewogen, bestimmt werden. Eine der Frauen
ist als Meeresforscherin ausgebildet. Sie kennt alle Zahlen
verjährter Messungen und die Biomasse der westlichen Ostsee bis
hinters Komma genau. Auf diesem Papier wird sie fortan die
Meereskundlerin genannt werden.
Bei schwachem Nordwest nimmt der Forschungsewer Kurs. Ruhig wie die
See und ihrer Kenntnisse sicher, gehen die Frauen seemännischer
Arbeit nach. Langsam, weil ich das so will, gewöhnen sie sich
daran, einander nach ihrer Funktion zu nennen und »He,
Maschinistin!« oder »Wo steckt die Meereskundlerin?« zu rufen. Nur
die älteste der Frauen wird von mir, obgleich sie die Küche
besorgt, nicht Smutje, sondern die Alte genannt.
Noch muß der Meßhai nicht ausgefahren werden. Zeit bleibt für
Geschichten. In Dreimeilendistanz zu den Seebädern der
holsteinischen Küste erzählt die Kapitänin der Steuermännin aus
Vorzeiten, als sie siebzehn Jahre lang ihrer Kirchgemeinde treu
gewesen war und elf Pfaffen, einen nach dem anderen, überlebt hat.
Zum Beispiel hat sie dem ersten »Das war son Mucker, der kam aus
Sachsen« die immer zu lange Predigt mit dem Choral »Es ist genug«
gekürzt. Weil aber die Steuermännin nur inwendig lächelt und ihrem
Wesen nach bitter bleibt, verknappt Damroka diese Geschichte und
läßt den ersten ihrer elf Pfaffen, nach plötzlichem Sturz von der
Orgelempore, ableben: »Da waren es nur noch zehn...«
Nein, sagt die Rättin, von der mir träumt, solche Vertällchens
haben wir satt. Das war einmal und war einmal. Was schwarz auf weiß
alles geschrieben steht. Klugscheißerei und Kirchenlatein.
Unsereins ist fett davon, hat sich durchgefressen bis zur
Gelehrsamkeit. Diese stockfleckigen Pergamente, gelederten
Folianten, mit Zetteln gespickten Gesamtausgaben und oberschlauen
Enzyklopädien. Von d'Alembert bis Diderot, es ist uns alles
bekannt: die heilige Aufklärung und der Erkenntnisekel danach. Jede
Ausscheidung menschlicher Vernunft.
Noch früher, zu Augustinus´ Zeiten schon, waren wir überfressen.
Von Sankt Gallen bis Uppsala: keines Klosters Bibliothek, die uns
nicht wissender machte. Was immer das Wort Leseratte gemeint haben
mag, wir sind belesen, uns haben in Hungerzeiten Zitate gemästet,
wir kennen durchweg die schöne und die sachliche Literatur, uns
sättigten Vorsokratiker und Sophisten. Scholastiker satt! Ihre
Schachtelsätze, die wir kürzten und kürzten, waren uns allzeit
bekömmlich. Fußnoten, welch köstliches Zubrot! Von Anbeginn
aufgeklärt, waren uns Abhandlungen und Traktate, Exkurse und Thesen
neunmalklug kurzweilig.
Ach, euer Denkschweiß und Tintenfluß! Wieviel Papier wurde
geschwärzt, die Erziehung des Menschengeschlechts zu fördern!
Streitschriften und Manifeste. Wörter geheckt und Silben gestochen.
Versfuß gezählt und Sinn ausgelegt. So viel Besserwissen. Nichts
war den Menschen zweifelsfrei. Jedem Wort sieben dagegengesetzt.
Ihr Streit, ob die Erde rund und Brot wirklich des Herrn Leib sei,
von allen Kanzeln herab. Besonders liebten wir ihren theologischen
Hader. Man konnte die Bibel ja in der Tat so oder so
lesen.
Und es erzählte die Rättin, die nichts von Damroka und ihren
Pfaffen hören wollte, was ihr aus glaubenseifrigen Zeiten, vor und
nach Luther, erinnerlich war: Mönchsgezänk und Theologenzwist. Und
immer ging es um das wahre Wort. Natürlich war bald und schon
wieder von Noah die Rede; sie schob mir die Arche dreistöckig, wie
Gott sie gefordert hatte, in meinen Traum.
Ja! rief sie, er hätte uns aufnehmen müssen in seinen Kasten aus
Tannenholz. Im ersten Buch Moses stand nichts geschrieben von:
Ratten raus! Es durfte sogar die Schlange, von der gedruckt zu
lesen stand, sie sei verflucht fur allem Vieh und fur allen Thieren
auff dem felde, als Paar Schlange und Schlänglin in den hölzernen
Kasten. Warum wir nicht? Beschiß war das! Wir legten Einspruch ein,
immer wieder.
Worauf ich auf traumgerecht fließenden Bildern ansehen mußte, wie
Noah sieben Paare vom reinen Vieh, je ein Paar vom unreinen Getier
über eine Rampe in die mehrstöckige Arche führen ließ. Wie ein
Zirkusdirektor genoß er seine Menagerie. Keine Art fehlte. Alles
stampfte, trabte, hüpfte, tippelte, huschte, kroch, flatterte,
schlich, ringelte sich hinein, der Regenwurm und seine Würmin nicht
vergessen. Paarweise nahmen Zuflucht; Kamel und Elefant, Tiger und
Gazelle, der Storch und die Eule, die Ameise und die Schnecke. Und
paarweis nach Hunden und Katzen, Füchsen und Bären die Vielzahl der
Nager: Siebenschläfer und Mäuse, jadoch, die Wald-, Feld-,
Wüstenund Springmäuse. Doch immer, wenn sich Ratz und Rättlin
einreihen wollten, um gleichfalls Zuflucht zu suchen, hieß es:
Raus! Weg hier! Verboten! Das rief nicht Noah. Der führte stumm und
verkniffen unterm Kastentor seine Strichliste: Tontafeln, in die er
Zeichen kerbte. Das riefen seine Söhne Sem, Ham und Japheth, drei
massige Kerle, denen später, laut Weisung von oben, aufgetragen
wurde: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde. Die
schrien: Haut endlich ab! Oder: Für Ratten Zutritt verboten! Die
machten wahr ihres Vaters Wort. Jämmerlich war anzusehen, wie das
biblische Rattenpaar aus dem Zottelfell langwolliger Schafe, unterm
tiefhängenden Bauch des Flußpferdes mit Stöcken aufgestöbert, von
der Rampe geprügelt wurde. Von Affen und Schweinen verspottet,
gaben sie schließlich auf.
Und hätte nicht, sagte die Rättin, während die Arche sich zusehends
füllte, Gottes Hand uns aufgehoben, nein, noch sicherer: hätten wir
uns nicht eingegraben, unsere Tiefgänge gepfropft und die
Nistkammern zu rettenden Luftblasen gemacht es gäbe uns heute
nicht. Nennenswert wäre niemand zur Stelle, dem es gelingen könnte,
das Menschengeschlecht zu überleben.
Wir waren immer schon da. Auf jeden Fall gab es uns gegen Ende der
Kreidezeit, als vom Menschen noch keine Idee spukte. Das war, als
hier und anderswo Dinosaurier und ähnliche Monstren die
Schachtelund Farnwälder kahlfraßen. Dumme Kaltblüter, die
lächerlich große Eier legten, aus denen neue Monstren ungestalt
schlüpften und sich gigantisch auswuchsen, bis wir diese
Übertreibungen der Natur satt hatten und kleiner als heutzutage,
etwa der Galapagos-Ratte vergleichbar ihre Rieseneier knackten.
Blöd und erstarrt in nächtlicher Kälte standen die Saurier hilflos
da, keiner Gegenwehr fähig. Sie, Launen der oft mißgelaunten Natur,
mußten aus vergleichsweise winzigen, beim Schöpfungsakt
halbvergessenen Köpfen ansehen, wie wir, Warmblüter von Anbeginn,
wir, die ersten Säuger lebendig geworfener Aufzucht, wir, mit dem
immerfort nachwachsenden Zahn, wir, die beweglichen Ratten, ihren
Rieseneiern Löcher nagten, so hart und dick die Schalen dichthalten
wollten. Gerade gelegt, noch nicht angebrütet, mußte ihr Eiersegen
sich Loch nach Loch gefallen lassen, auf daß er auslief und uns
lustig und satt machte. Arme Dinosaurier! höhnte die Rättin und
zeigte ihre immerfort nachwachsenden Nagezähne. Sie zählte auf: den
Brachiosaurus und den Diplodocus, zwei Monstren, die bis zu achtzig
Tonnen wogen, schuppige Sauropoden und gepanzerte Theropoden, zu
denen der Tyrannosaurus, ein Raubmonster von fünfzehn Metern Länge,
gehörte, vogelfüßige Saurier und den gehörnten Torosaurus; Untiere,
die sich mir alle traumwirklich zeigten. Dazu noch Lurche und
Flugechsen.
Mein Gott, rief ich, ein Scheusal schlimmer als das andere! Die
Rättin sagte: Es hatte bald ein Ende mit ihnen. Nach Verlust ihrer
Rieseneier, zukünftiger Babymonstren beraubt, schleppten sich die
Dinosaurier in die Sümpfe, um klaglos und äußerlich unbeschadet zu
versacken. Deshalb hat der Mensch später, in seiner rastlos
schürfenden Neugierde, ihre Gerippe so ordentlich beieinander
gefunden, worauf er weiträumige Museen baute. Knochen an Knochen
gefügt, wurden die Saurier ausgestellt, ein jegliches Exemplar
einen Saal füllend. Zwar fand man auch sehenswerte Rieseneier,
deren Schale unsere Zähne gezeichnet hatten, doch niemand, kein
Forscher der ausgehenden Kreidezeit, kein Hohepriester der
Evolutionslehre wollte unsere Leistung bestätigen. Aus bisher
ungeklärten Gründen, hieß es, starben die Dinosaurier aus.
Vielschichtige Verschalung der Eier, plötzlicher Klimasturz und
sintflutartige Unwetter wurden als Ursachen für das Aussterben der
Monstren vermutet; uns, dem Rattengeschlecht, wollte niemand
Verdienste zusprechen.
So klagte die Rättin, von der mir träumt, nachdem sie mehrmals und
bißwütig das Knacken der Rieseneier demonstriert hatte. Ohne uns
gäbe es immer noch diese Mißgestalten! rief sie. Wir haben Platz
geschaffen für neues, nicht mehr monströses Leben. Dank unseres
nagenden Fleißes konnte sich weiteres Säugegetier warmblütig
entwickeln, darunter Frühformen späterer Haustiere. Nicht nur
Hunde, Pferde, Schweine, auch der Mensch ließ sich auf unsereins,
die ersten Säuger, zurückführen; was er uns übel gedankt hat seit
Noahs Zeiten, als Ratz und Rättlin in seinen Kasten nicht
durften...
Es gilt, jemanden zu begrüßen. Ein Mensch, der
sich als alter Bekannter vorstellt, behauptet, es gäbe ihn immer
noch. Er will wieder da sein. Gut, soll er.
Unser Herr Matzerath hat allerlei und bald auch seinen sechzigsten
Geburtstag hinter sich. Selbst wenn wir den Prozeß und die
Verwahrung in einer Anstalt, zudem das Unwägbare der Schuld außer
acht lassen, hat sich nach seiner Entlassung viel Mühsal auf Oskars
Buckel gehäuft: dieses Auf und Ab bei langsam wachsendem Wohlstand.
So viel Aufmerksamkeit seine frühen Jahre fanden, sein Altern
vollzog sich unbeachtet und lehrte ihn, Verluste wie Kleingewinne
zu buchen. Bei gleichbleibend familiärem Gezänk immer ging es um
Maria, besonders aber um seinen Sohn Kurt — hat ihn die Summe
verstrichener Jahre zum gewöhnlichen Steuerzahler und freien
Unternehmer gemacht: merklich gealtert. So geriet er in
Vergessenheit, obgleich wir ahnten, es muß ihn noch geben: irgendwo
lebt er in sich zurückgezogen. Man müßte ihn anrufen »Hallo,
Oskar!« -, und schon wäre er da: redselig; denn nichts spricht für
seinen Tod.
Ich jedenfalls habe unseren Herr Matzerath nicht ableben lassen,
doch fiel mir zu ihm nichts Sonderliches mehr ein. Seit seinem
dreißigsten Geburtstag gab es keine Nachricht von ihm. Er
verweigerte sich. Oder war ich es, der ihn gesperrt hatte? Erst
kürzlich, als ich ohne weitere Absicht treppab in den Keller zu den
runzelnden Winteräpfeln wollte und in Gedanken allenfalls meiner
Weihnachtsratte anhing, trafen wir uns wie auf höherer Ebene: er
stand da und stand nicht da, er gab vor zu sein und warf einen
Schatten plötzlich. Er wollte beachtet, gefragt werden. Und schon
beachte ich ihn: Was macht ihn so plötzlich wieder bemerkenswert?
Ist abermals die Zeit für ihn reif?
Seitdem der hundertundsiebte Geburtstag seiner Großmutter Anna
Koljaiczek im Kalender vermerkt steht, wird vorerst halblaut nach
unserem Herrn Matzerath gefragt. Eine einladende Postkarte hat ihn
gefunden. Er soll zu den Gästen gehören, sobald auf Kaschubisch die
Feier beginnt. Nicht mehr nach Bissau, dessen Äcker zu Flugpisten
betoniert wurden, nach Matern, einem Dorf, das nahbei liegt, wird
er gerufen. Ob er Lust hat, zu reisen? Soll er Maria, das Kurtchen
bitten, ihn zu begleiten? Könnte es sein, daß der Gedanke an
Rückkehr unseren Oskar ängstigt?
Und wie steht es um seine Gesundheit? Wie kleidet das bucklicht
Männlein sich heutzutage? Soll, darf man ihn
wiederbeleben?
Als ich mich vorsichtig versicherte, hatte die Rättin, von der mir
träumt, nichts einzuwenden gegen die Auferstehung unseres Herrn
Matzerath. Wahrend sie noch allen Müll berief, der von uns zeugen
wird, sagte sie beiläufig: Weniger maßlos als vormals, bescheidener
wird er auftreten. Er ahnt, was sich so trostlos bestätigt
hat...
Also rufe ich »Hallo, Oskar!« -, und schon ist er da. Mit seiner
Vorortvilla und dem dicken Mercedes. Samt Firma und Zweigstellen,
Überschüssen und Rücklagen, Außenständen und Verlustabschreibungen,
samt seinen ausgeklügelten Vorfinanzierungsplänen. Mit ihm ist
seine quengelnde Restfamilie zur Stelle und jene Filmproduktion,
die, dank rechtzeitigem Einstieg ins Videogeschäft, stetig ihren
Marktanteil steigert. Nach einer anrüchigen, inzwischen
eingestellten Pornoreihe ist es vor allem sein didaktisches
Programm, das verdienstvoll genannt wird und dessen sattes
Kassettenangebot wie Schulspeisung immer mehr Schüler füttert. Samt
eingeborenem Medientick und seiner Lust an Vorgriffen und
Rückblenden ist er da. Ich muß ihn nur ködern, ihm Brocken
hinwerfen, dann wird er unser Herr Matzerath sein.
»Was, Oskar, halten Sie vom Waldsterben übrigens? Wie schätzen Sie
die Gefahr drohender Verquallung für die westliche Ostsee ein? Wo,
genau lokalisiert, vermuten Sie die versunkene Stadt Vineta? Sind
Sie schon mal in Hameln gewesen? Meinen etwa auch Sie, daß es
demnächst zu Ende geht?« Nicht der sterbende Wald, nicht zu viele
Quallen machen ihn munter, meine Frage, was er vom Malskat-Prozeß
halte »Sie erinnern sich, Oskar, das war in den fünfziger Jahren«
-, läßt ihn zappelig und hoffentlich bald beredt werden.
Er sammelt Stücke aus dieser Zeit. Nicht nur die damals modernen
Nierentische. Sein weißer Plattenspieler, auf dessen Teller er
behutsam den Hit »The Great Pretender« legt, ist ein Gerät der auf
Formschönheit bedachten Firma Braun und wurde, als Malskats Prozeß
lief, Schneewittchensarg genannt; Farbgebung und Plexiglasdeckel
erlaubten diesen Vergleich.
Da ich mich in seiner Vorstadtvilla befinde, zeigt er mir deren
Kellerräume, die alle, bis auf einen, der neugierig macht, weil er
verschlossen bleibt, mit Stücken aus den Jahren des Neubeginns
vollgestellt sind. Ein größerer Raum dient privaten
Filmvorführungen. Auf runden Blechbüchsen lese ich Titel »Sissi«,
»Der Förster vom Silberwald«, »Die Sünderin« und ahne, daß unser
Herr Matzerath noch immer vom Jahrzehnt der Trugbilder gefangen
ist, wenngleich ihn seine VideoProduktion als jemanden ausweist,
der auf Zukunft setzt. »Es stimmt«, sagt er, »im Grunde haben die
fünfziger Jahre nicht aufgehört. Noch immer zehren wir vom damals
fundierten Schwindel. Dieser solide Betrug! Was danach kam, war
gewinnträchtiger Zeitvertreib.«
Stolz zeigt er mir einen Messerschmitt-Kabinenroller, der, auf ein
Podest gestellt, einen kleineren Kellerraum beherrscht. Wie neu
sieht er aus und lädt zwei Personen zum Platznehmen hintereinander
ein. An cremefarben tapezierten Wänden hängen, zu Gruppen geordnet,
gerahmte Fotos, die unseren Herrn Matzerath als Hintersassen des
Kabinenrollers zeigen. Offenbar sitzt er erhöht, denn der grämlich
blickende Mann am Steuer wirkt gleichgroß. Ein Foto zeigt beide
stehend vor dem Roller: nun deutlich verschieden hoch
gewachsen.
»Aber das ist doch!« rufe ich. »Na klar doch! Ich erkenne ihn
wieder, trotz seiner Fahrerkappe...«
Unser Herr Matzerath lächelt zwergwüchsig. Nein, er lacht inwendig,
denn sein Buckel hüpft. »Richtig!« ruft er. »Das ist Bruno. Vormals
mein Pfleger, aber auch Freund in schweren Zeiten. Eine treue
Seele. Als ich ihn nach meiner Entlassung bat, mir auch außerhalb
der Heilund Pflegeanstalt beiseitezustehen und mit mir die
neugewonnene Beweglichkeit zu nutzen, machte er sogleich seinen
Führerschein. Ein ausgezeichneter Fahrer, wenn auch eigensinnig.
Doch was rede ich, Sie kennen ihn ja.«
Nun erzählt unser Herr Matzerath, wie er und Bruno Münsterberg im
Jahr fünfundfünfzig »ganz von vorne angefangen haben«. Nach dem
Messerschmitt-Kabinenroller sei es bald ein Borgward, dann aber
doch ein Mercedes 190 SL gewesen, den sein Chauffeur immer noch
fahre, mittlerweile ein seltenes Stück. Falls er nach Polen reise,
wogegen einiges spreche, werde er sich diesem unverwüstlichen
Zeugnis deutscher Wertarbeit anvertrauen. Übrigens sei damals, zu
Kabinenrollerzeiten, jener Prozeß zu Ende gegangen, der nach dem
Maler Malskat benannt wurde.
Doch wie er noch am Urteilsspruch nörgelt und Malskat als eine ihm
verwandte Seele begreift, sogar vom »Großen Malskat« spricht,
vergeht mir mit seinem Museum unser Herr Matzerath...
Während ich in einem Rollstuhl angeschnallt
saß, schrie ich, als wäre im Traum ein Lautsprecher greifbar
gewesen: Wir sind da! Alle immer noch da! Ich laß mir nichts
einreden!
Doch sie fistelte unbeirrt, anfangs unverständliches Rattenwelsch
Do minscher gripsch Ultemosch! -, um dann deutlich zu werden: Gut,
daß sie weg sind! Haben alles versaut. Mußten sich immer kopfoben
was ausdenken. Hatten, selbst wenn Überfluß sie ersticken wollte,
nicht genug, nie genug. Erfanden sich notfalls den Mangel.
Hungernde Vielfraße! Dumme Bescheidwisser! Immer mit sich entzweit.
Ängstlich im Bett, suchten sie draußen Gefahr. Überdrüssig der
Alten, verdarben sie ihre Kinder. Sich Sklaven haltende Sklaven.
Fromme Heuchler! Ausbeuter! Ohne Natur. Grausam deshalb. Nagelten
ihres Gottes einzigen Sohn. Segneten ihre Waffen. Gut, daß sie weg
sind! Nein, schrie ich aus meinem Rollstuhl, nein! Ich bin da. Wir
alle sind da. Putzmunter sind wir und voller neuer Ideen. Alles
soll besser, jadoch, menschlicher werden. Ich muß nur den Traum,
diese Wirrnis abstellen, dann sind wir wieder, dann geht es weiter
bergauf und voran, dann werde ich, sobald die Zeitung und gleich
nach dem Frühstück...
Aber mein Lautsprecher unterlag ihrer Fistelstimme: Gut, daß sie
nicht mehr denken, nichts sich ausdenken und nichts mehr planen,
entwerfen, sich nie mehr Ziele stecken, nie wieder ich kann ich
will ich werde sagen und nie wieder darüber hinaus wollen können.
Diese Narren mit ihrer Vernunft und ihren zu großen Köpfen, mit
ihrer Logik, die aufging, bis zum Schluß aufging.
Was halfen mir mein Nein, mein Ich bin, Ich bin immer noch; ihre
Stimme hielt den Oberton, siegte: Weg sind sie, weg! Gut so. Sie
fehlen nicht. Diese Humanen haben gedacht, es werde die Sonne
zögern, aufund unterzugehen nach ihrem Verdampfen, Saftlassen oder
Verglühen, nach dem Krepieren einer mißratenen Sorte, nach dem Aus
für die Gattung Mensch. Das alles hat nicht den Mond, hat kein
Gestirn gejuckt. Nicht einmal Ebbe und Flut wollten den Atem
anhalten, wenn auch die Meere hier und da kochten oder sich neue
Ufer suchten. Stille seitdem. Mit ihnen ist ihr Lärm vergangen. Und
die Zeit geht, als sei sie nie gezählt und in Kalender gesperrt
worden.
Nein! schrie ich, falsch! und verlangte Richtigstellung, sofort: Es
ist jetzt, schätze ich, halb sechs in der Frühe. Kurz nach sieben
werde ich mit Hilfe des Weckers aufwachen, diesen verdammt
gemütlichen Rollstuhl, in dem ich wie angeschnallt sitze, verlassen
und meinen Tag, Mittwoch, es ist ein Mittwoch! gleich nach dem
Frühstück, nein, nach dem Zähneputzen, vor Tee, Roggenbrot, Wurst,
Käse, dem Ei und bevor mir die Zeitung dazwischenquatscht, mit
unbefleckten Vorsätzen beginnen...
Es war ihr aber nichts auszureden, vielmehr nahm sie an Zahl zu.
Mehrere Würfe fistelten und überfüllten das Bild. Wieder ihr
Rattenwelsch: Futsch midde Minscher. Stubbich Geschemmele nuch! Was
heißen sollte: Nur noch Staubregen und gut, daß sie keinen Schatten
mehr werfen.
Einzig ihr Müll, der strahlt, und ihr Gift, das aus Fässern suppt.
Niemand wüßte von ihnen, gäbe es uns nicht, fistelten die
Rattenwürfe und Wurfeswürfe. Jetzt, da sie weg sind, läßt sich
ihrer freundlich, sogar mit Nachsicht gedenken. Als ich mich nur
noch an meinen Rollstuhl hielt, sprach wieder die Rättin allein:
Ja, wir bewunderten ihren aufrechten Gang, diese Haltung an sich,
ihr Kunststück über die Zeiten hinweg. Jahrhundertelang unterm
Joch, auf dem Weg zum Schafott, lebenslänglich durch Korridore, von
Vorzimmer zu Vorzimmer abgewiesen: immer gingen sie aufrecht bis
gebeugt, krochen nur selten auf allen vieren. Bewundernswerte
Zweibeiner: auf dem Weg zur Arbeit, in die Verbannung,
schnurstracks in den Tod, auf dem Vormarsch rauh singend, stumm auf
dem Rückzug. Wir erinnern des Menschen Haltung, ob er die Pyramiden
Stein auf Stein setzte, die Chinesische Mauer fügte, Kanäle durch
fiebriges Sumpfland zog, sich vor Verdun oder Stalingrad auf immer
kleinere Zahl brachte. Sie blieben standhaft, wo sie Stellung
bezogen hatten; und standrechtlich wurde erschossen, wer ohne
Befehl nach hinten entwichen war. Oft sagten wir uns: In welche
Irre sie gehen werden, auszeichnen wird sie ihr aufrechter Gang.
Sonderbare Wege und Umwege; aber sie gingen sie Schritt nach
Schritt. Und ihre Prozessionen, Aufmärsche, Paraden, ihre Tänze und
Wettläufe! Schaut, lehrten wir unsere Würfe: Das ist der Mensch.
Das zeichnet ihn aus. Das macht ihn schön. Hungrig beim stundenlang
Schlangestehen, ja, selbst gekrümmt, geschunden von seinesgleichen
oder unter erdachter Last, die er Gewissen nennt, vom Fluch seines
rächenden Gottes beschwert, unter dem lastenden Kreuz. Schaut diese
dem Leid immer anders bunt gewidmeten Bilder! All das steht er
durch. Aufrecht geht er nach Stürzen weiter, als wolle der Mensch
uns, die wir ihm immer nahe gewesen sind, Beispiel sein oder
werden.
Nicht mehr mit Zischlauten und auf Rattenwelsch, ohne daß Zoirres
aus ihr sprach, sanft redete die Rättin auf mich im Rollstuhl ein,
der, ortlos schwebend, mehr und mehr dem Gestühl einer Raumkapsel
glich. Sie sagte Freund zu mir, später auch Freundchen. Siehe,
Freund: Schon üben wir den aufrechten Gang. Wir strecken uns und
wittern gen Himmel. Und doch wird Zeit vergehen, bis wir der
menschlichen Haltung mächtig sein werden.
Da sah ich einzelne Ratten, sah Würfe, sah Rattenvölker den
aufrechten Gang üben. Zuerst in einem Niemandsland, das ohne Baum
und Strauch wüst war, dann kam mir ihr Exerziergelände vertraut,
plötzlich bekannt vor. Zuerst sah ich, wie sich auf Plätzen, dann
auf Straßen, die zwischen schöngegiebelten Häusern auf
Kirchenportale zuliefen, Ratten als Zweibeiner übten. Endlich tat
sich das hochgewölbte Innere einer gotischen Hallenkirche auf. Zu
Füßen aufstrebender Säulen standen sie, wennzwar für Sekunden nur,
um sich, nach kurzem Abfall, abermals aufzurichten. Ich sah
Rattenvölker gedrängt auf den Steinplattenböden des Mittelschiffes
bis zum Altarraum, sah sie in Nebenschiffen bis vor die Stufen der
Seitenaltäre drängen. Das war nicht Lübecks Marienkirche, nicht
sonstige Backsteingotik der Ostseeküste, das war, kein Zweifel, die
Danziger Hauptkirche Sankt Marien, die auf polnisch Ko[ciól
Naj[witszej Panny Marii heißt, in der sich die Rattenvölker die
neue Haltung einübten.
Gut, rief ich, wie gut! Es steht ja noch alles an seinem Platz.
Jeder Stein auf dem anderen. Kein Giebel fehlt, kein Türmchen
gestrichen. Wie soll denn Schluß sein, Rättin, wenn Sankt Marien,
die alte Backsteinglucke, immer noch, was weiß ich,
brütet!?
Mir war, als lächelte die Rättin. Nun ja, Freundchen. So sieht es
aus, wie im Bilderbuch, alles getreulich noch da. Das hat Gründe.
Es war auf Ultimo für die Stadt Danzig oder GdaDsk, wie immer du
deinen Ort nennen willst, etwas Besonderes vorgesehen: etwas, das
wegrafft und zugleich erhält, etwas, das nur Lebendiges nimmt, dem
toten Gegenstand aber Respekt erweist. Sieh nur: kein Giebel
gestürzt, kein Turmhelm geköpft. Erstaunlich noch immer, wie jedes
Gewölbe auf seinen Schlußstein zueilt. Kreuzblumen und Rosetten,
dauernde Schönheit! Alles außer den Menschen blieb heil. Wie
tröstlich, daß nicht nur Müll von euch zeugt...
Ertappte mich beim Vernichten von
Knabbergebäck: Salzstangen, in Gläser gestellt,
aufgefächert zum Zugreifen.
Anfangs biß ich einzelne Stangen
immer schneller und kürzer auf den Wert Null, dann rottete ich in
Bündeln aus.
Dieser salzige Brei!
Mit vollem Mund schrie ich nach mehr. Die Gastgeber hatten
vorrätig.
Später, im Traum, suchte ich Rat,
weil, hinter Salzstangen her, ich immer noch bissig auf Vernichtung
aus war.
Das ist deine Wut, die Ersatz, bei Tage und nachts Ersatz sucht, sagte die Rättin, von der mir träumt.
Aber wen, sagte ich, will ich wirklich einzeln
oder gebündelt
bis zum Wert Null vernichten?
Zuallererst dich, sagte die Rättin. Es fand die Selbstvernichtung anfangs privat nur statt.
Sie stricken auf See. Sie stricken bei halber
Fahrt und vor Anker liegend. Ihr Stricken hat einen Überbau. Der
ist nicht zu übersehen, weil, wenn sie stricken, mehr geschieht,
als sich in Maschen glatt kraus auszählen ließe: zum Beispiel, wie
einig sie in der Sache sind, wenngleich jede jeder die Krätze
wünscht. Eigentlich sollten die fünf Frauen an Bord des Schiffes
»Die Neue Ilsebill« zwölf Frauen sein. So viele hatten sich für die
Forschungsreise auf dem ehemaligen Lastewer angemeldet; und eine
gleich übertrieben hohe Zahl versammelte ich anfangs im Kopf. Da
aber in Luxemburg ein fünftägiger Kongreß und auf der Insel
Stromboli ein dreiwöchiges Seminar mit Gelegenheit für gemeinsames
Stricken stattfand, verminderte sich meine zu hoch angesetzte Zahl;
es gingen die Anmeldungen für die »Ilsebill« auf neun, dann auf
sieben zurück, weil zwei Frauen mit ihrer Strickarbeit dringlich
schnell in den Schwarzwald mußten und schließlich zwei weitere samt
Wolle und Nadeln in die Region Unterelbe gerufen wurden; denn
überall
und nicht nur in meinem Kopf waren streitbare Frauen gefragt, die
in Luxemburg gegen Dioxin in der Muttermilch kämpften, auf der
Insel Stromboli das rabiate Leerfischen des Mittelmeeres beklagten,
im Schwarzwald das Waldsterben thematisierten und an beiden Ufern
der Unterelbe die Ballung von Atomkraftwerken anprangerten.
Redegewandt und niemals um Gutachten und Gegengutachten verlegen,
stritten sie kenntnisreich und wurden sogar von Männern als
vorbildlich gepriesen. Niemand konnte ihre Fakten widerlegen. Sie
hatten immer das letzte Wort. Und dennoch war ihr in Wörtern
erfolgreicher Kampf vergeblich; denn die Wälder hörten nicht auf zu
sterben, weiterhin sickerte Gift, niemand wußte wohin mit dem Müll,
und dem Mittelmeer wurden mit zu engen Netzen die letzten Fische
abgefangen.
Es sah aus, als werde einzig das Stricken der Frauen zu Faden
schlagen. Da wurde in Rauten oder verschachtelt was fertig,
Kleidsames kam in Gitterzöpfen oder durch Maschenverkreuzung
zustande. Mehr noch: anfangs belächelt und als weibliche Schrulle
kommentiert, wurde das Stricken auf Kongressen und während
Protestveranstaltungen von den männlichen, aber auch von weiblichen
Gegnern der streitbar strickenden Frauen als Quelle wachsender
Kraft erkannt. Nicht etwa, daß sich die Frauen ihre Argumente aus
den Wollfäden ihrer doppelt vernoppten Perlmuster zogen; ihr
Gegenwissen lag in Aktenordnern und statistischen Auflistungen
neben dem Knäuelkörbchen bereit. Es war der Vorgang, die
unaufhörliche, strenge und doch sanft anmutende Zucht des
Fadenschlagens, das tonlose Auszählen der Maschenzahl, über dem
hell das Argument der Strickerin auf Wiederholung bestand, es war
die Unerbittlichkeit des Strickens, die zwar den Gegner nicht
überzeugte, aber beeindruckte und auf Dauer zermürbt hätte, wäre
nur Zeit wie Wolle vorrätig gewesen.
Doch auch für sich und unter sich, ohne Gegner als Gegenüber,
strickten die Frauen, als wollten sie den Faden nie abreißen
lassen; weshalb in meinem Kopf und tatsächlich jene restlichen
Fünf, die mit dem Forschungsschiff »Die Neue Ilsebill« die
westliche Ostsee befahren und deren Quallenbestände messen wollen,
ihr Strickzeug und genügend Wolle vorrätig an Bord haben: gefärbte,
ungefärbte, gebleichte. Einzig die älteste der fünf Frauen, ein
zähes Leichtgewicht, dem die bald fünfundsiebzig Jahre währende
Mühe und Arbeit nicht oder nur in Momenten plötzlich einbrechender
Düsternis anzusehen sind, schiffte sich ohne Nadeln und Wolle ein.
Ganz und gar ist die Alte gegen die, wie sie sagt, dämliche
Strickerei. Nicht einmal häkeln kann sie. Das würde sie fusselig
machen oder mürbe im Kopf. Doch ist sie den anderen Frauen, die von
ihren Strickmustern nicht lassen wollen, beim Waschen, Bakken,
Putzen und Kochen voraus, weshalb sie die Kombüse übernommen hat:
»Hört zu, ihr Weiber. Ich mach euch den Smutje, doch bleibt mir mit
dem Strickzeug vom Leib.« Die anderen vier seefahrenden Frauen
lassen jedoch selbst bei steifer Brise nicht von ihren Wollknäueln
und Klappernadeln. Sobald die Kapitänin die Steuermännin ablöst, um
gegen Regenböen, die von Nordwest kommen, das Ruder in beide Hände
zu nehmen, greift die Steuermännin zu reiner Schafswolle und
strickt an einem einfarbigen, in sich gemusterten Pullover, der so
weiträumig ist, daß er nach einem schrankbreiten Mann verlangt, von
dem aber nie die Rede ist oder nur dunkel andeutend, als müsse dem
Kerl eine Zwangsjacke verpaßt werden.
Läßt die Kapitänin, die ich von Herzen Damroka nenne, vom Ruder ab,
worauf die Steuermännin beidhändig, bei nun abflauendem westlichen
Wind, den Kurs hält, beginnt sie sogleich eine aus Wollresten bunte
Decke, deren verschieden gemusterte Flicken sie sorgfältig
abkettet, um ein Quadrat zu vergrößern, ohne dabei Kompaß und
Barometer aus dem Auge zu lassen. Oder sie vernäht die
abwechslungsreichen Flicken, deren Muster spiralig, gerippt, von
Fallmaschenreihen gezeichnet oder wie Panzer geschuppt
sind.
Wenn sich die Maschinistin nicht in den engen Maschinenraum des
Motorewers zwängen muß, um den Diesel zu warten, kann man gewiß
sein, daß auch ihre Strickarbeit, ein ponchoähnliches Ungetüm,
wächst; sie ist ein Arbeitsviech und hat sich ihr Leben lang
abgerackert. Das wird ihr nachgesagt: Immer für andere, nie für
sich.
So auch die Meereskundlerin. Wenn sie nicht mittschiffs auf langem
Tisch und in gläsernen Wannen Ohrenquallen wiegt oder ausmißt,
strickt sie, aus Gewohnheit fleißig, zwei glatt, zwei kraus: viele
Kindersächelchen für ihre Enkel, darunter niedliche Strampelhosen,
deren Muster Tannenzapfen oder Sanduhr heißen. Über schmale Finger,
die soeben noch geschickt mit den Velarlappen der Quallen umgingen,
gleitet, rosa oder hellblau gefärbt, der feingesponnene Faden. Man
hat in Travemünde nicht nur für Proviant gesorgt und genügend
Diesel getankt, sondern auch Wollvorräte angelegt, die bis Stege,
so heißt die Hauptstadt der dänischen Insel Møn, reichen
sollen.
Doch noch liegt der Hafen von Stege fern. Lärmig tuckernd
das ist der luftgekühlte Deutz-Diesel läuft »Die Neue Isebill« in
die Neustädter Bucht ein. Auch wenn sie den Meßhai nicht zum
Quallenhol aushängen, wird den Frauen dort eine Zeitlang das
Stricken vergehen.
Nein, Rättin! Ich nehme Wolle und Nadeln ernst
und lache nicht, wenn der Faden reißt, eine Masche fällt oder
aufgeribbelt werden muß, was zu locker gestrickt wurde.
Immer schon hatte ich dieses Geklapper im Ohr. Von Kindheit an bis
zum gegenwärtigen Pullover haben mich Frauen mit Selbstgestricktem
warmgehalten in Liebe. Zu jeder Zeit war etwas mit schlichtem oder
versetztem Muster in Arbeit für mich.
Wenn meine Weihnachtsratte nicht, dann solltest du, Rättin, mir
glauben: Nie werde ich die überall, rund um den Erdball
strickenden, aus Not und Gefälligkeit, auch aus Zorn und Trauer
strickenden Frauen verspotten. Ich höre sie gegen die rinnende
Zeit, gegen das drohende Nichts, gegen den Anfang vom Ende, gegen
jedes Verhängnis aus Trotz oder bitter begriffener Ohnmacht mit
ihren Nadeln klappern. Wehe, wenn dieses Geräusch plötzlicher
Stille wiche! Aus nur dummer Männerdistanz bewundere ich, wie sie
überm Strickzeug gebeugt bleiben.
Jetzt, Rättin, seitdem sich in Wäldern und Flüssen, auf flachem, im
bergigen Land, in Manifesten und Gebeten, auf Transparenten und im
Kleingedruckten sogar, in unseren leerspekulierten Köpfen
abzeichnet, daß uns der Faden ausgehen könnte, jetzt, seitdem das
Ende von Tag zu Tag nur vertagt wird, sind Frauen strickend die
letzte Gegenkraft, während die Männer nur alles zerreden und nichts
fertigbringen, das den frierenden Menschen wärmen könnte und seien
es Pulswärmer nur.
DAS Z
WEITEKAPITEL,indemMeistefälscher
benannt und Ratten Mode werden, der Schlußbestritten wird,
Hänselund Greteldavonlaufen, imDritten Programm über Hamelnwas
läuft, jemand nicht weiß, ob er reisen soll,das Schiff
amUnglücksortankert, es hinterherKlopse gibt, Menschenblöcke
brennen und Rattenvölker allerorts denVerkehr sperren.
»Wir stellen Zukunft her!« sagt mit dem Mund
des Rufers, der sein Echo kennt, unser Herr Matzerath zu seinen
leitenden Herren, wenn in den Produktionsstätten Filme rar werden,
die mediengerechten Biß beweisen; doch sobald ich ihm Stoffe aus
meinem Fundus, etwa das Waldsterben als letztes Märchen vorschlage,
oder die Verquallung der Ostsee als hergestellte Zukunft gefilmt
sehen möchte, winkt er ab: »Zuviel Endzeitkulisse! Dieses
gottväterliche Schlußstrichziehen! Dieser apokalyptische
Kassensturz! Dieser ewige letzte Tango!« Hingegen will er, nach
seinen Worten freudig, den Fall Malskat aufgreifen, falls ich
Material genug über die fünfziger Jahre beibringen könne; als lasse
sich durch Rückgriffe Zukunft herstellen.
So wächst sich unser Gespräch für ihn zum Entwurf der Ära
Adenauer-Malskat-Ulbricht aus. »Drei Meisterfälscher!« ruft er.
»Wenn es Ihnen gelingt, meine, zugegeben, noch nackte These zu
kleiden, wird sie filmisch einleuchtend sein.« Zwar versuche ich,
unserem Herrn Matzerath sein gesamtdeutsches »Fälschertriumvirat«
auszureden, verspreche ihm aber dennoch, dem Fall Malskat
nachzugehen. Schließlich gelingt es mir, seine Neugierde auf ein
Projekt zu lenken, dessen legendäres Unterfutter so reich an
Zufluchten ist, daß es ihn eigentlich ködern müßte.
Sein Hin und Her zwischen Gummibäumen. Jetzt zaudert er vor der
Schultafel an der Stirnwand seiner Chefetage. Kaum ist das
bucklichte Männlein hinterm Schreibtisch zur Ruhe gekommen, sage
ich: »Sie sollten aufhorchen, lieber Oskar. In Hameln an der Weser
wird gegenwärtig ein Fest vorbereitet. Dort soll nach siebenhundert
Jahren jenes Rattenfängers gedacht werden, der während Zeiten
großer Wirrnis und fiebriger Ekstase man sah Zeichen am Himmel und
ahnte das Ende kommen tausend und mehr Ratten in den Fluß gelockt
hat, auf daß alle ersoffen. Nach anderer Legende soll er außerdem
Kinder auf Nimmerwiedersehn entführt haben. Sich widersprechender
Stoff genug. Wäre der Umstand nicht günstig, den Wahn des Jahres
1284 mit heutigen Ängsten, das Flagellantenwesen des Mittelalters
mit gegenwärtigen Massenaufläufen mediengerecht zu verquicken?
Angebote genug gibt das Rattenfängerjahr her. Zum Beispiel die
Flöte. Diese schrille Süße. Flirrender Silberstaub. Triller, wie
Perlen gereiht. Lange vor Ihrer Zeit verführte bereits ein
Musikinstrument. Sollten nicht Sie, Oskar, dem schon immer das
Medium Botschaft war, zugreifen, einfach zugreifen?!«
Unser Herr Matzerath schweigt und vergeht mir. Anderes redet drein.
Dieses Zischeln, Plaudern und fistelnde Eswareinmal, als sei schon
alles vorbei, als gäbe es uns im Rückblick nur noch, als müsse uns
nachgerufen werden, spöttisch und pietätvoll zugleich das ist nicht
mehr unser bucklicht Männlein, das ist sie, die Rättin, von der mir
träumt...
Gegen Schluß wurden wir Mode. Junge Leute, die
gerne in Gruppen auftraten und sich von sonstigen jungen Leuten
durch Haartracht und Kleidung, Gestik und Sprache unterschieden,
nannten sich Punks und wurden Punks oder Punker genannt. Zwar waren
sie in der Minderheit, aber in einigen Stadtteilen dennoch
bestimmend. Selber verschreckt, erschreckten sie andere.
Eisenketten und schepperndes Blech war ihnen Schmuck. Sie stellten
sich als lebenden Schrott zur Schau: verworfen, ins Abseits
gekehrter Müll.
Wohl deshalb, weil sie dem Dreck zugeordnet wurden, kauften die
Punks sich junge Laborratten, die sie durch regelmäßige Fütterung
gewöhnten. Sie trugen sie zärtlich auf der Schulter, im offenen
Hemd oder in ihre Frisuren gebettet. Keinen Schritt ohne das
erwählte Getier, den Ekel überall hin verschleppt: auf
verkehrsreiche Plätze, an satten Schaufensterangeboten vorbei,
durch Parkanlagen und über Liegewiesen, vor Kirchenportale und
Bankportale, als wären sie eins gewesen mit ihren Ratten.
Doch nicht nur die weißen mit roten Augen waren beliebt. Bald kamen
grauhaarig wir, die als Schlangenfutter gezüchteten Wanderratten in
den Tierhandel. Wir waren gefragt und kurz vor Schluß bei Kindern
und Jugendlichen begehrter als die bis dahin gehätschelten,
verwöhnten und oft überfütterten Goldhamster und Meerschweinchen.
Als sich nach den Punks auch Kinder aus gutem Hause Ratten als
Streicheltiere hielten und sich unsereins, zum erstenmal während
langer Humangeschichte, die betuchte Klasse öffnete, fanden auch
ältere Leute an uns Gefallen. Was als Mode begann, wurde erklärtes
Bedürfnis. Es soll sich ein Herr, Mitte fünfzig, sogar auf
Weihnachten eine Ratte gewünscht haben.
Endlich waren wir anerkannt. Indem man uns ans Licht trug, uns, die
lichtscheuen Kanalratten, dem Gullygeruch enthob, wortwörtlich
unsere Intelligenz entdeckte, sich mit uns sehen und fotografieren
ließ, unsereins als dem Menschengeschlecht beigeselltes Getier
akzeptierte, wurden wir Ratten öffentlich. Triumph! Nachträglich
aufgenommen in Noahs Arche. Zugegeben: ein wenig geschmeichelt
fühlten wir uns. Hoffnung kam auf: es könnte der Mensch ihn
rettender Einsichten fähig werden.
Anfangs wollten sie witzig sein und nannten uns öffentliche Ratten.
Als jedoch die Punkmode um sich griff, als Angestellte, Beamte
sogar ihre Ratte ins Büro, ins Finanzamt mitnahmen, als wir mit
jungen Christen am Gottesdienst der einen, der anderen Konfession
teilnehmen durften und in Rathäuser und Hörsäle, in Konferenzräume
und Chefetagen, schließlich von Rekruten aller Waffengattungen in
militärische Sperrbezirke getragen wurden, hörten wir erste
Proteste; es kam zu parlamentarischen Anfragen. Nach kontroverser
Debatte sollte das öffentliche Zurschautragen von Ratten durch
Gesetz verboten werden. Begründend hieß es: Die Veröffentlichung
von Ratten, insbesondere von Wanderratten, gefährdet die
Sicherheit, widerspricht dem hygienischen Vorsorgebedürfnis und
verletzt das gesunde Volksempfinden.
Einfach lachhaft und abgeschmackt! Es fand sich auch keine
Mehrheit, die bereit gewesen wäre, dieses Gesetz zu verabschieden.
Frech trugen einige Parlamentarier unsereins ins Hohe Haus sogar.
Sogenannte Rattenanhörungen wurden veranstaltet. Man stellte
Fragen, die zu Noahs Zeiten hätten gestellt werden sollen, als uns,
Ratz und Rättlin, der Einlaß in die rettende Arche verweigert
wurde.
Was hat uns die Ratte gegenwärtig zu sagen? lautete eine verspätete
Frage. Will uns die Ratte helfen in unserer Not? Ist uns die Ratte
näher, als wir seit Menschengedenken wahrhaben wollen?
So sehr die neue Aufmerksamkeit schmeichelte und uns versuchte, des
Menschen eingefleischten Haß gering zu achten, waren wir dennoch
erstaunt der plötzlichen Zuneigung wegen. Es verwunderte uns, wie
scheu und heftig zugleich die jungen Leute mit uns intim waren,
besonders die dem Müll zugeordneten Punks. Ob sie uns am Hals, nahe
der pulsenden Ader trugen oder uns ihren mageren Leib boten:
Erschreckend, wieviel Sanftmut erst jetzt, im Umgang mit uns, ins
Spiel kam, wieviel gestaute, nun überflüssige Zärtlichkeit. Diese
Hingabe! Wir durften ihre Wirbelsäulen rauf runter, in ihre
Achselhöhlen uns betten. Wie unser Fell sie kicherig machte. Wie
sie die kühle Glätte unserer Schwänze als zartes Fingern empfanden.
Und was sie mit zitternden, schwarzgeschminkten Lippen flüsterten,
kaum hörbar hauchten, als wären unsere Ohren ihnen gut gewesen zur
Beichte: So viel stammelnde Wut und Bitternis, so viel Angst vor
Gewinn und Verlust, vor dem Tod, den sie suchten, vor dem Leben,
nach dem sie gierten. Ihr Barmen nach Liebe. Ihr: Sag doch was,
Ratte! Was sollen wir, Ratte! Hilf uns doch, Ratte! Ach, wie sie
uns in den Ohren lagen.
In alles mischten sich Ängste: nicht nur in ihre Schattenquartiere,
auch in ihr buntgepinseltes Glück. Deshalb schlugen ihre Farben so
grell ins Auge. Immerverschreckte Kinder, die einander die Blässe
des Todes anschminkten, sich mit Leichengrün ahnungsvoll
zeichneten. Selbst ihr Gelb, ihr Orange waren auf Schimmel und
Verwesung gestimmt. Ihr Blau hoffte das Ende herbei. Kalkigem Grund
trugen sie rote Schreie auf. Ins Violett malten sie fahles Gewürm.
Den Rücken lang, die Brust, den Hals hoch, bis übers Gesicht waren
die einen schwarzweiß vergittert, die anderen wie von Geißelhieben
verletzt. Sie wollten sich blutig sehen. Und jede Farbe nahm ihr
sorgsam frisiertes Haar an. Ach, ihre feierlich inszenierten
Totentänze auf bankrottem Fabrikgelände: vom Mittelalter
zurückgeholt, als wären die Flagellanten in sie gefahren. Und
wieviel Haß sie gegen alles, was Mensch war, kehrten. Immer
angriffig auf dem Sprung und gehetzt zugleich. Mit Ketten rasselten
sie, wie mit der Galeere vertraut. Sie wollten vertiert sein. Ohne
von uns genug zu wissen, wollten sie sein wie wir. Wo sie als Paar
gingen, waren sie Ratte und Rättin. Nannten einander auch so,
zärtlich und fordernd. Schnitten sich Kappen zurecht, die unsere
Kopfform zum Muster hatten und hielten sich Masken vor, die unseren
Ausdruck ins Dämonische steigerten. Sie hingen sich ärschlings
nackte Langschwänze an und zogen von überall her, zu Fuß und
motorisiert, in eine bestimmte Richtung, als hätten alle Wege
dorthin geführt, als wäre ihr Heil nur dort zu finden
gewesen.
Jadoch! In Scharen. War nicht zu verfehlen der verrufene Ort. Es
lag ein Magnet dort, der ihnen Sammlung befahl. Kurzum: sie wollten
einander treffen und jene Stadt überfüllen, die zu unserer Legende
gehört. Dort wollten sie sich ein Fest geben. Wie sie lärmen und
uns zur Schau tragen, wie sie die Bürger erschrecken, sich tierisch
geben wollten.
Es kam nicht dazu. Man hätte sie ohnehin weggeräumt. Es standen ja
überall bis zum Schluß Ordnungskräfte bereit. Ach, Ratten wollten
sie sein und blieben doch arme, am Ende verlassene, ja, auch von
uns verlassene Punks. Sie sind uns gut gewesen, wie kein Mensch
zuvor. Von Geburt an verlorene Kinder, einzig uns Ratten waren sie
lieb, sagte die Rättin, von der mir träumt. Hätten wir Zuflucht
gewußt, wir hätten sie mit uns genommen am Ende...
Was heißt hier Schluß, Ratte! Ist ja nichts
fertig. Kein Loch gestopft, kein Rätsel gelöst. Nie zuvor soviel
Fäden, die nicht verknüpft. Überall Stückwerk und Stümperei. Und
Stümper, die feixend das Sagen haben. Jede Zeitung schreit, alles
Gerede verschweigt es. Nicht einmal halbwegs sind wir, eher
zurückgefallen.
Da kannst du nicht Schluß, basta, das reicht sagen. Wäre ja
Fahnenflucht das. Einfach davon. Und zwar mitten im Satz. Ohne das
Allernotwendigste und bevor nicht dies noch und das. Zum Beispiel
die Renten gesichert, der Müll versorgt. Denn wenn wir die
Stahlkrise nicht und anderes nicht in den Griff: den Butterberg
abgetragen und Kabel überall hin verlegt, endlich das Volk gezählt
und die Ausländerfrage vom Tisch. Durchhalten dann, bis die Zinsen
gesenkt und der Aufschwung, auf den wir alle, ohne den nix, denn
vorher war ja kein Silberstreif und weg das Gelbe vom Ei.
Nein, Ratte, nein! Ist nichts mit Schluß. Zumal jetzt die
Großmächte zum Gespräch endlich, damit rechtzeitig Entschlüsse,
nämlich die richtigen, denn das hat mittlerweile jeder kapiert, daß
nur Maßnahmen beiderseits gleichzeitig ausgewogen, damit wir
berechenbar, wenn auch in letzter Minute. Und da redest du, Ratte,
von Schnitt, ausblenden, Saft weg, Sense, Kassensturz, Amen, war
einmal, ist nicht mehr, Vorhang und Weltenende, Ultimo sozusagen?
Dabei ist uns aufgetragen und sind wir verpflichtet, wenn schon für
uns nicht, dann doch für unsere Kinder, damit wir nicht eines Tages
beschämt und ohne, ich meine die großen Ziele, etwa die Erziehung
des Menschengeschlechts oder der gröbste Hunger muß weg und der
Müllberg muß weg, zumindest aus Sichtweite, bis endlich
flankierende Maßnahmen und wieder paar Fische in Elbe und Rhein.
Und richtig! Abrüsten wollten wir auch noch, bevor es zu spät
ist.
Doch du sagst Schluß. Als wären wir fertig. Als hätten wir
ausgeschissen schon längst. Als bliebe nicht dies noch und das zu
tun. Und zwar bald, nein, sofort. Denn soviel hat mittlerweile
jeder begriffen oder halbwegs kapiert, daß außer dem Frieden und
bißchen Gerechtigkeit mehr, endlich der Wald, nicht nur der
deutsche, der Wald überhaupt, wenn er schon nicht mehr zu retten
ist, gefilmt werden muß immerhin. Und zwar in allen Stimmungen und
in Farbe zu jeder Jahreszeit, damit er als Dokument erhalten und
nicht aus unserem Gedächtnis und dem unserer Kinder. Denn ohne
Wald, Ratte, sind wir arm dran. Weshalb wir schon deshalb und weil
wir uns schuldig sind das, uns fragen müssen, was uns der Wald,
nicht nur der deutsche, aber das sagte ich schon, bedeutet, nein,
sagt, damit wir später, zumindest im Film mit unseren Kindern,
solange noch Zeit ist ein wenig.
Und zwar, bevor du, Ratte, Schluß Schnitt Sense sagst. Wann Schluß
ist, bestimmen immer noch wir. Wir sind am Drücker. Wir hüten das
Knöpfchen. Wir werden schließlich das alles vor unseren
Kindeskindern, wie auch die Müllund Ausländerfrage, zuletzt den
Hunger, zumindest den gröbsten, den Butterberg auch zu verantworten
haben.
Weil der Wald
an den Menschen stirbt, fliehen die Märchen,
weiß die Spindel nicht,
wen sie stechen soll,
wissen des Mädchens Hände, die der Vater ihm abgehackt, keinen
einzigen Baum zu fassen, bleibt der dritte Wunsch ungesagt.
Nichts gehört mehr dem König Drosselbart. Es können die Kinder sich nicht mehr verlaufen. Keine Zahl Sieben bedeutet mehr als sieben genau.
Weil an den Menschen der Wald starb, gehen die Märchen zufuß in die Städte und böse aus.
Ich kenne die Strecke. Von Lauterbach, wo
dazumal im Lied ein Strumpf verlorenging, führt »Die deutsche
Märchenstraße« durch einst dichten Mischwald.
Es könnten auch andere Straßen durch Schneisen in den Pfälzer Wald,
hoch hinauf in den Schwarzwald, tief in den Bayrischen Wald, ins
Fichtelgebirge oder in den Solling, den Spessart hinein, in
Waldgebiete führen, die hier auf den zweiten Blick erst, dort
überdeutlich von den bekannten, landauf landab geleugneten
bewiesenen Schäden befallen sind. Nadelbräune, Paniktriebe, lichte
Baumkronen, Naßkerne werden gemeldet, dürre Äste fallen, von
kahlen, abgestorbenen Stämmen löst sich die Rinde. Deshalb steht
anfangs die Frage: Wie lange noch kann jene Straße, die von
Lauterbach kommt, so anheimelnd »Die deutsche Märchenstraße«
heißen?
Und deshalb lasse ich die Wagenkolonne des Kanzlers, der mit seinen
Ministern und Experten unterwegs ist, nicht im Schwarzwald oder
Fichtelgebirge, sondern beispielhaft hier ihren Weg nehmen: hinter
Blaulicht, von Polizeischutz flankiert. Mit verhängten Fenstern
fahren schwarze Limousinen durch sterbenden Wald. Wir erkennen am
Stander das Kanzlerauto. Wir nehmen an, daß der Kanzler im
Wageninneren, während er durch sterbenden Wald fährt,
Expertengutachten, Gegengutachten, Schadstoffstatistiken und
Mortalitätsmuster der Weißtanne liest, weil er als Kanzler fleißig
und allseits gut informiert sein muß. Oder aber: er sucht vor
großem Auftritt Entspannung, löst Kreuzworträtsel, weiß richtig den
Namen Hölderlin einzurücken und erfreut sich seiner waageund
senkrechten Allgemeinbildung.
Weder noch. Das Wageninnere der Kanzlerlimousine ist von gedämpfter
Familienstimmung gesättigt. Des öffentlichen Bildes und der von mir
erdachten Handlung wegen begleiten die Gattin, der Sohn, die
Tochter den Kanzler.
Wie soll er beschaffen sein? Leicht austauschbar, ist er dennoch
von uns vertrauter Machart: bieder und von trauriger Gestalt.
Augenblicklich ißt er, nein, schiebt er einen Keil Buttercremetorte
in sich hinein, was seiner Gattin, die sich adrett hält,
mißfällt.
Weil die Tochter des Kanzlers den Fenstervorhang zur Seite gerafft
hat, sehen wir im Vorbeifahren einen holzgeschnitzten Wegweiser,
auf dem zwischen geschnitzten Zwergen in erhabener Fraktur »Die
deutsche Märchenstraße« zu lesen steht. (Hier sollte zu Filmbeginn,
falls der sterbende Wald mit unseres Herrn Matzerath
Produktionshilfe zum Film wird, die Autokolonne langsam, im
Schrittempo fahren.)
Auf einem Waldparkplatz, den tote Bäume einfassen, werden der
Kanzler und seine Begleitung erwartet. In Eile trifft man letzte
Vorbereitungen, denn das Polizeivorauskommando kündigt bereits über
Sprechfunk die Wagenkolonne an. An einem Stahlrohrgerüst ziehen
Waldarbeiter, die nach Vorschrift Schutzhelme tragen, unter
Anleitung eines Försters baumhohe Kulissen hoch, die mit gesundem
Wald bemalt sind, etwa im Stil des Malers Moritz von Schwind:
knorrige Eichen, dunkle Tannen, lichter Buchenbestand, der in
unwegsamen Urwald übergeht. Es fehlen nicht Farn und Niederholz.
Auf hoher Leiter, die ein Spezialfahrzeug auszufahren verstand,
malt ein Maler zusätzlich Singvögel Buchfinken, das Rotkehlchen,
etliche Singdrosseln, die Nachtigall rasch und wie gegen Stücklohn
in die gemalten Baumkronen. Der Förster ruft: »Macht fertig, Leute!
Gleich kommt der Kanzler!« Dann sagt er mehr für sich: »Es ist zum
Heulen.«
Ruckzuck räumen die Waldarbeiter die Szene. Das
Polizeivorauskommando verteilt sich und sichert das Gelände. Hinter
den Kulissen schaltet ein Tonmeister ein Tonbandgerät ein. Wir
hören reichgemischt Vogelstimmen, unter ihnen die frischgemalten
Buchfinken, Rotkehlchen, Singdrosseln, aber auch einen Pirol und
mehrere Waldtauben. Während das Spezialfahrzeug abfährt, wird mit
der Leiter der Maler eingezogen, so daß der letzte Vogel im
gemalten Wald, der unermüdlich rufend ein Kuckuck hätte werden
sollen, fragmentarisch bleibt. Nun macht der Förster ein
Begrüßgesicht. Denn hinter Blaulicht fährt die Wagenkolonne des
Kanzlers vor. An den Fenstern der Limousinen werden Vorhänge zur
Seite geschoben. Staunen über so viel Natur. Der Kanzler nebst
Gattin, die Tochter, der Sohn steigen aus, desgleichen Minister und
Experten. Sogleich sind Presse und Fernsehen zur Stelle. Als gelte
es, eine Botschaft aufzuzeichnen, nehmen die Medien wahr, daß der
Kanzler mehrmals tief einund ausatmet. Gleiches tut sein
Gefolge.
Kaum in der Öffentlichkeit, stöpseln sich der Sohn des Kanzlers,
dreizehn Jahre alt, die Tochter des Kanzlers, zwölf Jahre alt, je
einen Walkman in die Ohren. Den Blick nach innen gestülpt, wirken
die Kinder abwesend, was die Kanzlergattin stört. Doch ihre
Ermahnung »So hört ihr ja nicht die Vögel im Walde!« wird, wie das
hinter Kulissen laufende Tonband, mißachtet. (Die Kanzlerkinder
sind nach meiner Vorstellung ein wenig dicklich geraten; doch
könnten sie auch mager bis spillerig sein, falls unser Herr
Matzerath diesen Typ wünscht. Eine dem Försterrock nachempfundene
Kleidung eint die Familie: Loden, Bundhosen, Schnürstiefel,
Hirschhornknöpfe.) Während sich seitab ein Männerchor und
kostümierte Darsteller vor die gemalte Waldkulisse schieben,
versammeln sich die Minister und Experten zwanglos um den Kanzler;
unter ihnen der für Wald, Flüsse, Seen und Luft zuständige Minister
Jacob Grimm, dem als Staatssekretär sein Bruder Wilhelm zur Seite
steht.
Es gefällt uns, der Handlung und der volkstümlichen Bezüge wegen
diese historische Anleihe zu machen und den nach gegenwärtiger Mode
gekleideten Jacob Grimm zu seinem Bruder sagen zu lassen: »Da hat
der Maler Schwind wieder mal gute Arbeit geleistet.« Worauf wir
Wilhelm Grimm traurig lächeln sehen. Beide Brüder verstehen es,
ihrem Bemühen, dem zeitlos tapferen »dennoch« so anhaltend Ausdruck
zu geben, als gefalle ihnen ihr wiederholtes Scheitern. Zwei
aufrechte Männer, die notfalls bereit sind, den Hut zu nehmen; und
dennoch zwei Märchenonkel, die das Zwinkern gelernt haben: sie
wissen seit altersher, wie es hinter den Kulissen aussieht, mucken
aber nicht auf, denn immerfort wollen sie Schlimmeres
verhüten.
Seitab suchen Polizisten den Sängerchor nach Waffen ab. Harmlos
befunden, versammeln sich die Sänger auf einem Podest. Vom
Chorleiter gestisch gedämpft oder zu größerer Lautstärke ermuntert,
singen die Sänger das Lied: »Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben...« Der Kanzler ist versucht,
mitzusingen.
Nachdem auch sie sicherheitsdienstlich behandelt sind, treten
jetzt, auf ein Zeichen der Brüder Grimm, die wir fortan die
Grimmbrüder nennen, alle Kostümträger als Märchendarsteller auf.
Sie sind gediegen geschmackvoll nach altdeutscher Art gekleidet.
Schneewittchen gesittet zwischen den Sieben Zwergen. Neben
Dornröschen mit Spindel der wachküssende Prinz. Unter der
Langhaarperücke, das kann nur Rapunzel sein. Hänsel und Gretel
verbeugen sich, knicksen und überreichen dem Kanzler und seiner
Gattin sinnreiche Geschenke: einen Tannensetzling, einen Korb
voller Eicheln und Buchekkern, ein altglänzendes Waldhorn. Offenen
und gespitzten Mundes singt der Männerchor »Hänsel und Gretel
verirrten sich im Wald...« Auch die Polizisten erfreuen sich an den
zuvor harmlos befundenen Chorsängern.
Genug der Darbietungen: Jetzt spricht, mehr den anwesenden Medien
als seinen Ministern zugewendet, der Kanzler, indem er geübt vom
Blatt liest. In Bildern beschwört er eine heile Welt, die von
Ungemach bedroht ist. »So werden wir abermals vom Schicksal
geprüft!« ruft er, als wäre das deutsche Volk von altersher auf
Schicksalsprüfungen abonniert. Da wir uns einen Film wünschen, der
sich als Stummfilm nur gelegentlich mit Untertiteln hilft, sieht
man den in der Kanzlerrede beschworenen Wald heil rauschen. In
Einblendungen tut sich der Waldesdom auf. Rehe äsen. Der Hirsch
schreckt auf. Aus allen Wipfeln fallen Zitate. Und wie gerufen
leert ein Knabe über einer auf Moos gebetteten Prinzessin des
Knaben Wunderhorn aus: Blüten, Libellen und Schmetterlinge... Weil
die herbeigeredete Stimmung sich nicht mehr steigern läßt und etwas
geschehen muß, springen nun, nach dem Schlußsatz des Kanzlers, »So
lebe fort, du deutscher Wald!«, der für den Stummfilm einen
beispielhaft knappen Untertitel hergibt, des Kanzlers Sohn und
Tochter ins Bild.
Dicklich oder spillerig, sie bewerfen den Vater mit den geschenkten
Eicheln und Bucheckern. Die Tochter zerbeult das altglänzende
Waldhorn. Der Sohn zerbricht den Tannensetzling, holt sich den
Walkman aus dem Ohr, springt aufs Podest und hält, indem er die
erschrockenen Minister und Experten, alle verschreckten
Märchendarsteller und Chorsänger, die wieder verunsicherten
Polizisten und Sicherheitsbeamten in Zivil, jeden mitschreibenden
Journalisten, die ungerührt draufhaltenden Kameramänner, alle und
auch die Grimmbrüder zum Publikum macht, eine Gegenrede.
»Du redest wieder mal Scheiße!« ruft er dem Kanzler als Vater zu
und beschwört Wirklichkeit. Man sieht Autohalden und Autoschlangen,
Fabrikschornsteine in Betrieb, heißhungrige Betonmischmaschinen. Es
wird abgeholzt, planiert, betoniert. Es fällt der berüchtigte saure
Regen. Während Baulöwen und Industriebosse an langen Tischen das
Sagen und bei Vieraugengesprächen genügend Tausenderscheine locker
in bar haben, stirbt der Wald. Er krepiert öffentlich. Zum Himmel
hoch abgetötet noch aufrechte Baumleichen. Folgerichtig entleert
der Knabe von vorhin über der schlafenden Prinzessin, die im nun
toten Wald schlummert, das andere Wunderhorn: Müll, Giftdosen,
Schrott. Als treibe es ihn, Autoabgase zu symbolisieren, furzt er
der Prinzessin ins sogleich runzelnde Gesicht: so bleihaltig ist
der Wind des Knaben.
Nach dem Schlußsatz und Untertitel des Sohnes »Das ist dein
deutscher Wald!« wird die Tochter des Kanzlers tätig: Mit einem
Messer, das sie während kurzer Nebenhandlung dem Förster gestohlen
hat, schneidet sie ritschratsch alle Seile durch, mit denen die
Waldkulissen hochgezogen und durch Knotenschlag gesichert sind. In
Zeitlupe fallen die Kulissen in sich zusammen. Kein gemaltes
Vöglein fliegt, sich rettend, davon. Kein Reh Hase Igel flüchtet.
Nicht nur das Stahlrohrgerüst, der tote Wald steht
unübersehbar.
Jetzt stellt die Tochter das Tonband mit den Vogelstimmen ab.
Stille. Dürres Geäst knackt, bricht. Mit dem Schwindel fliegen
Krähen auf. Angst geht um, unumschrieben: der Tod. Zwischen den
entsetzten Märchendarstellern retten sich Dornröschen und ihr
wachküssender Prinz in Gelächter. Für einen Untertitel passend,
sagt Wilhelm zu Jacob Grimm: »Mein Gott! So kommt die Wahrheit ans
Licht.«
Während ich die anhaltende Schrecksekunde nutze und mir die ins
späte zwanzigste Jahrhundert fortgeschriebenen Brüder Grimm als nur
gelegentlich wankende, so kluge wie sensible, heimlich jedoch an
mangelnder Radikalität leidende, kurzum: liberale Grimmbrüder
vorstelle, die beide nun die Hände ringen, rafft sich unser
Stummfilm zu neuer Handlung auf: Sohn und Tochter des Kanzlers
reißen den kostümierten Märchenfiguren Hänsel und Gretel die Mütze,
das Häubchen ab, werfen ihren Walkman weg, schneiden Vater und
Mutter und obendrein dem Fernsehen Grimassen und laufen aus freien
Stücken, der Grimmschen Märchenfassung spottend, als Hänsel und
Gretel in den Wald.
Die Gattin des Kanzlers ruft: »Hans! Margarete! Kommt bitte sofort
zurück!«
Die Medien sind beglückt. Journalisten diktieren ihren Geräten
knallharte Stichworte. Aus der Hüfte schießen Pressefotografen in
Salven Fluchtbilder. Schonungslos zeichnet das Fernsehen auf. Die
Flucht der Kanzlerkinder beginnt Geschichte zu machen. Der Kanzler
jedoch hindert die Polizisten, wie gelernt die Verfolgung der
Flüchtlinge aufzunehmen. Er ruft: »Zwei Aussteiger mehr!
Undankbare! Wir werden das zu verschmerzen wissen.« Er rettet sich
in eine Haltung, die er für würdevoll hält, kann aber nicht
verhindern, daß sein Gesicht von einem Grinsen heimgesucht wird,
das der Analyse bedürfte. Während man noch beide Abhauer und
Aussteiger undankbar fern zwischen toten Bäumen ahnt, könnte
Wilhelm leise zu Jacob Grimm sagen: »Du siehst, lieber Bruder, die
alten Märchen hören nicht auf.«
Um der anhaltenden Katastrophenstimmung zu begegnen, sammelt sich
hastig der Männerchor und singt, vom Chorleiter mitgerissen, ein
munteres Lied, das aber tonlos bleibt, wenngleich es »Im Grunewald,
im Grunewald ist Holzauktion« heißen könnte. Jetzt regnet es auch
noch sauer. Der Kanzler spürt ein Gelüst nach tröstender Süßigkeit.
Nichts sieht man mehr von den entlaufenen Kindern.
Meine Weihnachtsratte und ich hören im Dritten
Programm nicht nur, daß dieses Jahr nach chinesischer Rechnung als
Jahr der Ratte, des sammelndes Fleißes und der gesteigerten
Produktion im Kalender steht, es macht auch die Stadt an der Weser
in einer von Flötenstückchen gesäumten Kultursendung auf das
Jubiläum ihrer Legende aufmerksam. Die Rede eines böhmischen
Dichters, die Uraufführung eines Puppenspiels, wissenschaftliche
Vorträge zum Thema, der Verkauf der Rattenfänger-Sonderbriefmarke
mit Sonderstempel und Festumzüge sind vorgesehen, in denen der
heutigen Bürger Kinder in mittelalterlicher Tracht einem
stilgetreuen Rattenfänger folgen sollen. Außer der Ausstellung mit
Bildern einschlägiger Motive steht der Verkauf einer
Riesen-Rattenfängertorte vor dem Stiftsherrenhaus auf dem Programm.
Die städtische Fremdenwerbung frohlockt: Man erwartet ein Plus an
Touristen, solche sogar aus Übersee, die sich als texanischer
Rattenfänger-FanClub, als japanische »Children of Hameln«
angemeldet haben. Zwar fürchten die politischen Sprecher der Stadt
unliebsamen Zuzug man werde, falls aus den Großstädten sogenannte
Punks oder Punker mit ihrem Getier einfallen sollten, geeignete
Maßnahmen treffen -, doch ist man der runden Zahl wegen, die,
historisch verbrieft, auch kirchlicherseits angemessen gefeiert
werden soll, guter Dinge. Der Superintendent hat seine Teilnahme
zugesagt.
Das alles bietet der Kulturspiegel des Dritten Programms meiner
Weihnachtsratte und mir. Des Sprechers angenehme, in vielen
Sendungen voll ausgereifte Stimme, die, nie frei von ironischen
Nebentönen und kritischen Parenthesen, dennoch bis auf die Sekunde
genau Bescheid weiß, gescheit Bescheid weiß, mehr als wir über
Hameln und Hamelns Hinterund Abgründe weiß, diese mediengerechte
Stimme kommt aus einer Radiokiste, die rechts vom Gehäuse der
Weihnachtsratte auf meinem Werkzeuggestell Platz hat, während ich
links von der Rättin sitze, doch mit geschnürter Absicht schon
unterwegs nach Hameln bin.
Da wollen wir hin. Dort sollen der alten Lügengeschichte einige
Wurzeln gestochen werden. Das sind wir uns schuldig. Denn soviel
steht fest: vor siebenhundert Jahren und in den Jahrhunderten
danach war von Ratten und einem Rattenfänger auf keinem Papier die
Rede. Von einem Pfeifer nur wurde berichtet, der »am dage Joanis et
Pauli« an die hundertunddreißig Kinder aus der Stadt weg in einen
Berg hinein oder über alle Berge davongeführt haben soll, ohne daß
eines der Kinder zurückfand.
Sind sie durchs Ostentor gezogen? Spielt die Geiselnahme nach der
Schlacht bei Sedemünde in die Legende hinein? Waren es Veitstänzer,
die sich in alle Winde davontanzten? Kein Dokument gibt vom
Geschehen Bericht. Noch hundert Jahre später wird in der Chronik
der Stadtkirche, die alles, was Hameln betraf, jede Feuersbrunst,
jedes Hochwasser der Weser, der Schwarzen Pest Kommen und Gehen
erinnert, nichts über den Auszug der Hämelschen Kinder berichtet.
Eine faule Geschichte, die von Amts wegen verschwiegen wurde und
eher mit der Vertreibung der damals lästigen Flagellanten oder mit
der Abwerbung Hämelscher Jungbürger in östliche Siedlungsgebiete zu
schaffen gehabt haben wird als mit eines Pfeifers trickhafter
Kunst; zumal die Ratten und deren Fänger erst fünfhundert Jahre
nach dem Johannesund Paulustag der fragwürdigen Mär beigemischt
wurden. Worauf die Dichter nach Reimen suchten, Goethe
voran.
Später fanden die Grimmbrüder den Auszug der Hämelschen Kinder in
etlichen Sagen mit üblichen Rattenfängergeschichten vermengt. Und
weil beide Märchensammler alles niederschrieben, was auf der
Ofenbank, am Spinnrad und an warmen Augustabenden erzählt wurde,
lesen wir, daß ein auffallend gekleideter junger Mann gegen
versprochenen Lohn die Stadt Hameln rattenfrei machte, indem er die
Ratten mit besonderer Musik in die Weser lockte, wo sie ersoffen.
Weiter erfahren wir, daß der Pfeifer und Fänger, weil ihm der
Bürgermeister und die Ratsherren den Lohn verweigerten, die schon
in anderen Legenden gezählten Kinder aus der Stadt pfiff, auf daß
sie alle, hundertunddreißig an der Zahl, auf Nimmerwiedersehen im
Kalvarienberg verschwanden.
Eine moralische Geschichte, die außer Ratten wortbrüchige Bürger
bestraft und verführbare Kinder obendrein.
Nicht nur Kinder. Jeder, der leichtfertig handelt, schafsköpfig
hinterdreinläuft, vertrauensselig sich anvertraut, ohne Verstand
gläubig ist und jedem Versprechen Glauben schenkt, gilt als vom
Rattenfänger geködert, weshalb dieser schon früh politisch Figur
gemacht hat. In Flugschriften und Traktaten heißt es: Er hetzt die
Bauern auf, er macht die armen Leute begehrlich, er gibt den
Bürgern Unruhe ein, er stellt Fragen, auf die einzig der Teufel
Antwort weiß. Wer auf ihn hört, der zündelt auch, rumort im
Untergrund, erhebt sich, wird aufständisch und ist ein Revoluzzer
und Ketzer zugleich. So haben Rattenfänger, die sich mal nüchtern,
mal farbig trugen und jedesmal anders hießen, verlorene
Bauernhaufen und aufsässige Gewerke, Irrläufer und Abweichler, oft
radikale Minderheiten nur, schließlich ganze Völker ins Unglück
geführt; noch kürzlich das gutgläubige deutsche Volk, indem der
immer gleiche Rattenfänger nicht etwa was kaum verfangen hätte »Die
Ratten sind unser Unglück« rief, sondern den Juden jedes Unglück
zuschob, bis ziemlich jeder Deutsche zu wissen glaubte, woher das
Unglück gekommen sei, wer es mit sich gebracht und verbreitet habe,
wen man deshalb zusammenpfeifen und wie Ratten vertilgen
müsse.
So einfach ist das. So leicht läßt sich aus Legenden man muß sie
nur ordentlich klittern eine Moral ziehen, bis sie Früchte trägt:
ausgewachsene Verbrechen.
Ähnlich sieht das unser Herr Matzerath, der, gleich dem gehetzten
Getier, sein Leben lang Zuflucht suchte, selbst wenn ihm einfiel,
als Fänger zu posieren. Er sagt: »Wann immer von Ratten und deren
Ausrottung die Rede war, wurden andere, die augenfällig keine
waren, wie Ratten eliminiert.«
Er hat eine Adresse, schreibt Briefe und erhält
Post. Seit ihm vor zwei Jahren ein Gallenstein entfernt wurde,
nennt er sich gesund, klagt aber dennoch über Schwierigkeiten beim
Wasserlassen: Nach ermüdenden Sitzungen und im Verlauf streitbarer
Medienkongresse komme es zu schmerzhaftem Harnverhalt, vermutlich
reize Streß seine Prostata, dennoch scheue er das Schälmesser der
Urologen.
Er sammelt neuerdings Goldmünzen, trägt Seidenkrawatten, liebt
rubinbesetzte Krawattennadeln, nimmt nach dem Rasieren Kölnisch
Wasser und will am Abend nach Uralt-Lavendel duften, wohl um an
seine arme Mama erinnert zu sein, die diesen lange haftenden Duft
an sich hatte. Bis auf den gepflegt gewellten Haarkranz, der
silbergrau schimmernd über den Kragen fällt, ist er kahlköpfig. Wie
poliert glänzt seine zu jeder Jahreszeit gebräunte Glatze. Man ist
versucht, sie zu streicheln; und es soll Frauen geben, die dieser
Versuchung erliegen zählebige Gerüchte, denen er nie
widerspricht.
Zwar sieht man ihn selten in Gesellschaft, doch sobald er einlädt,
stellt sich das bucklichte Männlein zwischen ausgesucht
hochgewachsene Damen und Herren, als müsse noch immer zu knappes
Körpermaß betont werden. Deshalb sind seine Angestellten, vom
Management bis in die Produktion, alle über einsachtzig groß. Diese
Marotte ist in der Filmwirtschaft bekannt, wird aber nicht mehr
belächelt, zumal Marktanteile deutlich machen, wer wen überragt.
Seinen Kalender verplant er vorbeugend: Wütige Arbeitsphasen, die
ausschließlich der Videofilmproduktion gelten, wechseln mit Phasen
der Ruhe in abgeschiedener Lage; nicht nur seiner empfindsamen
Prostata wegen sucht er Kurorte auf: Marienbad, BadenBaden, Lucca
und Bad Schinznach in der Schweiz. Oft zitiert wird sein
Lieblingssatz: »Zukunft haben einzig die Ratten, und unsere
Videokassetten natürlich.«
Während er kurt und abseits vom Kurprogramm, denkt er sich aus, was
sein Kopf hergibt: immer noch vielstöckige Thesen und deren
Gegenteil. Mal will er Geschehen, das vor uns liegt, als
hergestellte Zukunft filmen, damit sie, sobald sie gegenwärtig
wird, als Film schon vorhanden ist; dann wieder verlangt es ihn,
gefilmt zu sehen, was alles geschah, bevor es das Medium Film gab,
zum Beispiel die Einschiffung in Noahs Arche. Nach streng geführter
Strichliste soll alles, was kreucht und fleucht, paarweise ins Bild
kommen: der Warzeneber, die Warzensau, Gans und Ganter, Hengst und
Stute, und immer wieder das eine, besondere Paar, das nicht in die
Arche darf und unverzagt dennoch versucht, sich zwischen die
zugelassenen Nager zu schmuggeln. In Pausen, die er sich selten
einräumt, wird ihm seine Kindheit gewichtig, der er sich alternd
wieder zu nähern wünscht: der Sturz von der Kellertreppe, Besuche
beim Arzt, zu viele Krankenschwestern... Doch Aufzeichnungen über
sein Herkommen oder Bekenntnisse gar macht er keine mehr, so innig
ihn die Damen seiner Wahl darum bitten. »Das ist alles gegessen!«
sagt er. »Wir leben heute und zwar tagtäglich zum letzten
Mal.«
Schon jetzt freut er sich auf den diesjährigen September, weiß aber
noch nicht, wie sein sechzigster Geburtstag begangen werden soll:
Will er still für sich sein einzig von Fotos umgeben oder zwischen
hochbeinigen Gästen?
Doch zuvor soll Anna Koljaiczek, seine Großmutter, gefeiert werden:
mit erlesenen Geschenken und einer Überraschung, die er sich in Bad
Schinznach ausgedacht und gleich nach der Kur in Produktion gegeben
hat.
Auf seinem übermäßig geräumigen Schreibtisch, der immer leer zu
sein hat, liegt einzig jene einladende Postkarte, die
stellvertretend der Pfarrer der Kirchengemeinde Matarnia, das
früher Matern hieß, geschrieben hat: »... gebe ich mir die Ehre,
mein Enkelkind, Herrn Oskar Matzerath, zu meinem 107. Geburtstag
einzuladen.«
Diesen Satz liest er immer wieder, weiß aber nicht, ob er reisen
soll. Einerseits fürchtet er sich vorm Zurück, andererseits denkt
er sich Geschenke aus und erzählt überall vom bevorstehenden Fest.
Da es ihm Freude bereitet, wenn ihn jedermann »unser Herr
Matzerath« nennt, hört er nicht weg, sobald in seiner Umgebung
geflüstert wird: »Stellen Sie sich vor: unser Herr Matzerath fährt
womöglich nach Polen. Wissen Sie schon, daß unser Herr Matzerath
eine Polenreise plant?«
Noch zögert er. Jemand, der bewußt sein Wachstum einstellte, dann
doch wenige Zentimeter wuchs, betreibt sein altes Spielchen: soll
ich, soll ich nicht.
Hinzu kommt, daß Bruno, der sonst als Chauffeur klaglos zu jeder
Reise bereitsteht, diesmal Sorgen äußert und Gründe sucht, die
Reise wenn nicht zu verhindern, dann zu verschieben. Er beruft sich
auf Ärzte, die abgeraten haben. Er nennt die politische Lage in
Polen unsicher. Er warnt vor militärrechtlicher Willkür. Ohne
handfeste Gründe zu nennen, deutet er an, daß unser Herr Matzerath
in Polen gegenwärtig unerwünscht ist.
Noch ist kein Visum beantragt. Dennoch kauft Oskar Seidenkrawatten
und kleidet sich sportlich großkariert ein. Er lehnt ab,
gegebenenfalls zu fliegen oder gar mit der Bahn zu reisen. »Wenn
schon«, sagt er, »dann kehre ich im Mercedes heim.« Vorsorglich
wird seine Münzsammlung angereichert, obgleich oder weil der
Goldpreis, bei steigendem Dollarkurs, fällt. Als könnten ihn
Umstände zwingen, uns für längere Zeit verlassen zu müssen, hat er
für jedermann Ratschläge im Hut. Mir wird geraten, einzig dem Fall
Malskat nachzugehen. Auf meine Bitte, endlich auch andere Projekte
zu bedenken, antwortet er in Eile: Ȇber den Wald und Hameln reden
wir später!« und läßt mich stehen mit meinen zuvielen Geschichten,
die alle gleichzeitig aus ihren Anfängen drängen.
Bevor der Motorewer »Die Neue Ilsebill« die
flache Insel Fehmarn hinter sich läßt und Kurs hält auf Møns steile
Kreideküste, nehmen die Frauen an Bord des Forschungsschiffes nach
vorgefaßtem Plan der Lübecker Bucht Meßproben ab. Weil genügend
Daten über die Kieler Förde vorliegen, wird hier die
Vertikalwanderung von Plankton erforscht. Mit sechs Netzen kommt
der Meßhai zum Einsatz. Bei einer Holdauer von fünf Minuten und
einer Wassertiefe, die längs der Meßstrecke zwischen achtzehn und
dreiundzwanzig Metern schwankt, kann, neben dem Vertikalhol, aus
fünf Tiefenstufen gleichzeitig geholt werden.
Während die Steuermännin den stufigen Quallenzähler ausfährt,
bearbeiten die Meereskundlerin und die Maschinistin Ohrenquallen,
deren Durchmesser mehr als vier Zentimeter beträgt. Die Qualle wird
auf Höhe der Velarlappen gemessen. Kleinere Quallen heißen Ephyren,
die größeren Medusen. Bei der Volumenbestimmung müssen die Medusen
kurz abgetropft und dann als Masse in formalingefüllte
Standzylinder getaucht werden. Natürlich wird bei der Messung die
dadurch bedingte Schrumpfung berücksichtigt. Bei allen
Größengruppen nimmt der Quallendurchmesser nach zwei Tage
anhaltender Fixierung um etwa vier Prozent ab. Das alles und noch
mehrzum Beispiel das Vergleichswiegen von Heringslarven und Medusen
hat die Meereskundlerin während ihres spät begonnenen Studiums
gelernt. Sie weiß, wie die Maschinistin, die eigentlich in einem
Transportunternehmen tätig ist, und die Steuermännin, die ein
Anwaltsbüro leitet, beim Zählen, Messen und Wägen der Medusen und
Ephyren fachkundig anzulernen sind. Geduldig demonstriert sie
angewandte Meereskunde. Nie wurde nüchterner über Medusen
gesprochen.
Zuerst fischten die Frauen mit ihrem Spezialgerät zwei Meilen vom
Timmendorfer Strand entfernt, dann vor Scharbeutz und Haffkrug,
jetzt nehmen sie in der Neustädter Bucht bis vor Pelzerhaken der
Ostsee Meßproben ab. Weiter nördlich verringert sich die
Quallendichte. Doch wird vor der Küste Ostholsteins plötzlich die
Meereskunde und deren Anwendung um eine Dimension erweitert, indem
die Steuermännin zur Kapitänin sagt: »Hier etwa haben wir Anfang
der siebziger Jahre den Butt gefangen. Zufällig. Mit ner
Nagelschere. Hat der das Maul aufgerissen! Lauter Hoffnungen und
wunderhübsche Versprechungen. Wurde nichts draus. Alles nur
Quallen, die schrumpfen, sobald du sie anguckst.«
Als rufe sie ihn wirklich, ruft die Steuermännin über die glatte
See: »He, Butt! Du hast uns angeschissen. Nichts hat sich geändert.
Immer noch sind die Herren am Drücker. Sie, nur sie haben das
Sagen, wenn es auch immer schneller bergab geht. Und wir haben
damals gedacht: jetzt kommt sie, die Frauensache, die kluge
Herrschaft der Weiber. War ne Fehlanzeige. Oder fällt dir auch dazu
was Schlaues noch ein? Na, sag was, Butt, sag was, du
Großmaul!«
Zwar bleibt die See sprachlos, doch lockt der Ausbruch der
Steuermännin, dieses lange nicht mehr lautgewordene Geschrei nach
dem sprechenden Plattfisch, die Meereskundlerin und die
Maschinistin aus dem ehemaligen Lastraum des Motorewers, wo sie den
letzten Quallenhol vermessen haben. Kaum an Deck, ruft die
Maschinistin: »Hör bloß mit dem Mist von gestern auf!«
Die Meereskundlerin sagt: »Und hör auf zu jammern. Uns kommt kein
Mann an Bord. Reicht Dir das nicht?«
Aus der Kombüse ruft die Alte: »Butt oder nicht Butt, hier war
schon immer was los! Laßt uns hier ankern.«
Während die Kapitänin den Motor drosselt, abstellt, dann folgsam
beide Anker wirft, als habe von nun an die Alte das Kommando, zieht
die Meereskundlerin ihre Klarsichthandschuhe ab. Sie wirft das
Wegwerfzeug über Bord und weist nacheinander in Richtung
Pelzerhaken, Neustadt, Scharbeutz: »Da lagen sie, drei Schiffe. Ich
trug Zöpfchen mit Propellerschleifen und war gerade zwölf, als die
>Thielbeck<, die >Cap Arcona< und die
>Deutschland< hier ankerten. Uns hatte man von Berlin
wegevakuiert. Zweimal ausgebombt waren wir. Das war im April
fünfundvierzig, kurz vor Schluß. Die Schiffe lagen da jeden Morgen,
wenn ich zur Schule ging. Die sahen aus wie gemalt. Und am
Küchentisch hab ich sie auch gemalt. Mit Buntstiften, alle drei.
Die Erwachsenen sagten: Da sind Kazettler drauf. Als mich meine
Mutter am dritten Mai nochmal in die Stadt schickte, weil es in
Neustadt Zucker auf Marken gab, sah ich vom Strand aus, daß mit den
Schiffen was los war. Die qualmten. Die wurden angegriffen. Heute
weiß man ja mehr: die Kazettler kamen aus Neuengamme und paar
Hundert aus Stutthof. Und angegriffen wurden die Schiffe von
britischen Typhoons. Die waren mit Raketen bestückt. Vom Strand aus
sah das putzig aus, wie ne Übung. Jedenfalls brannte die >Cap
Arcona< und kenterte später. Die >Deutschland<, auf der
keine Kazettler waren, wurde versenkt. Die >Thielbeck<, auf
der Häftlinge Bettlaken als Weiße Fahnen gehißt hatten, kenterte
brennend und wurde auf Grund gesetzt. Natürlich sah man vom Strand
aus nicht, was in den Schiffsbäuchen passierte. Kann man sich auch
kaum vorstellen. Auch wenn ich später noch lange mit Buntstiften
brennende Schiffe gezeichnet habe, oh Gott! Jedenfalls waren vor
dem Angriff an die neuntausend Häftlinge an Bord der >Arcona<
und >Thielbeck<. Von denen sind täglich gut dreihundert
verhungert. Und etwa fünftausendsiebenhundert Kazettler das waren
Polen, Ukrainer, Deutsche, und Juden natürlich verbrannten,
ertranken oder wurden, wenn sie schwimmend ans Ufer kamen, am
Strand einfach abgeknallt. Von SS-Männern und Marinekommandos. Das
hab ich gesehn, als ich zwölf war. Stand da mit meinen Zöpfen und
guckte. Standen auch viele Erwachsene aus Neustadt da und guckten
zu, wie die Kazettler, kaum aus dem Wasser, bibbernd noch
abgeknallt wurden. Die wollen natürlich nichts gesehen, nichts
gehört haben, bis heute. Und auch in England redet kein Schwein
davon. War ein Unglücksfall, fertig. Zwei Jahre lang trieben
Leichen an und störten den Badebetrieb. War ja gleich darauf
Frieden. Und auch die Wracks lagen noch lange in Sicht, bis man sie
abschleppte zum Verschrotten.«
Während die Meereskundlerin weiß, wie der Gauleiter von Hamburg und
die Kapitäne der Schiffe hießen, blicken die Frauen über die See,
der nichts anzumerken ist. Bei Windstille regnet es leicht, wie oft
in diesem verregneten Sommer. Aus der Kombüse sagt die Alte: »Na
klar, sowas paßt nicht in die Geschichte. Ne dumme Panne. Das
stört. Sowas vergißt man. Schwamm drüber! sagte man früher. Essen
wir nun? Klopse gibt es mit Röstzwiebeln zu Stampfkartoffeln und
Gurkensalat.«
Weil es nichts mehr zu sagen gibt, holt die Kapitänin beide Anker
ein und ruft den Kurs aus: offene See. Wie gut, daß der Motor
folgsam anspringt. Neben der Steuermännin hält sich Damroka an
ihrem Kaffeepott fest. »Bloß weg hier!« sagt sie, mehr nicht, hat
aber das eigentliche Ziel der Reise, das nur sie kennt, im Blick;
und auch ich wünsche, daß die Frauen ablassen von der Vergangenheit
und einzig wieder auf Ohrenquallen fixiert sind.
Zum Essen wird mittschiffs der Tisch geräumt, auf dem zuvor
Tabellen mit Meßdaten lagen. Alle müssen die Klopse, die Köchin
loben. Gerede über das Wetter und den verregneten Sommer. Wie gut,
daß nichts nachhallt. Zu Klopsen mit Stampfkartoffeln trinken die
Frauen aus Flaschen Bier. Sobald sie gegessen hat, holt die
Kapitänin die Steuermännin vom Ruder.
Später erst, nachdem ihnen die flache Insel Fehmarn vergangen ist,
sammeln sich alle an Deck und bringen ihr Strickzeug mit. Kurzatmig
wirft die See kleine Wellen. Leichte Brise. Anderswo geht Regen in
Schleiern nieder. Ab und zu kommt die Sonne durch. Kaum zeichnet
sich backbord mit der dänischen Insel Lolland flache Küste ab,
durchfährt die »Ilsebill« mal dicht, mal dünn besiedelte
Quallenfelder. Hier werden keine Daten gesammelt. Der Meßhai darf
ruhen. Achteinhalb Knoten Fahrt macht der Ewer.
Doch plötzlich nur weil aus südöstlicher Richtung weißleibig ein
Fährschiff aufkommt kein Gerede mehr über dies und das. Ich kann
nicht verhindern, daß die Meereskundlerin zu stricken aufhört und
wieder von den KZ-Schiffen zu sprechen beginnt. Weil die
Maschinistin mehr und Genaues wissen will»Wieso hat man die
Häftlinge auf die Schiffe? Und warum haben die Engländer nicht?« -,
lasse ich die Alte überm Abwasch aus der Kombüse rufen: »Jadochja!
Hungernde, brennende, dann schwimmende, gleich darauf abgeknallte
Menschen. Und Menschen, die andere Menschen hungern, verbrennen,
absaufen ließen und zusahen, wie die wenigen Menschen, die an Land
kamen, von Menschen glattweg abgeknallt wurden. Immer nur Menschen
und was Menschen mit Menschen taten. Und die Ratten? Wer spricht
von verbrannten, ersoffenen Ratten? Wetten, daß jede Menge Ratten
an Bord waren, einige tausend bestimmt...«
Da sagte die Rättin, von der mir träumt, ohne daß sie ins Bild kam
und das Schiff verdrängen konnte: Irrtum, kleiner Irrtum. Zwar sind
wir den Menschen immer nahe gewesen, doch ihren Untergängen wichen
wir aus. Wir wußten vorher, was kommt. Uns hielt es nicht auf
Schiffen, die anrüchig waren. Bei aller Liebe zum
Menschengeschlecht, mit ihm verbrennen oder ersaufen wollten wir
nicht.
Das war kein Rollstuhl, von dem mir träumt. Es
war eine Raumkapsel, in der ich angeschnallt saß und meiner
Umlaufbahn folgen mußte. Ich, ohne Begriff von all dem
Weltraumklimbim; ich, unbelastet vom Spezialwissen, das
hochqualifiziert nach den Sternen greift und alle Galaxien
namentlich anzusprechen versteht; ich, frei, von Sprachkenntnissen,
die nicht nur leichthin plaudernden Astronauten, sondern auch
Schulkindern mittlerweile geläufig sind; ich altmodischer Narr, dem
selbst das Telefonieren ein unbegreifliches Wunder geblieben ist,
saß fest in einer Raumkapsel und rief: Erde! Antworten
Erde!
Doch mein Monitor zeigte einzig die Rättin. Nur sie gab Antwort,
war gesprächig. Verzweifelt mochte ich schreien: Wir sind noch! Es
gibt uns! Wir geben nicht auf! sie blieb ungerührt und sprach von
vergangenen Zeiten: wehmütig und geduldig, als wollte sie mich
bemuttern.
Freund, sagte die Rättin, hör zu. Erde hast du gerufen, hier
spricht die Erde. Antworten Erde! hieß dein Wunsch, hier antwortet
dir die Erde: Wir gruben uns ein, ahnten wir doch. Während die
Menschen, als hätten sie anders nicht können, wieder einmal, doch
diesmal endgültig verrückt spielten und absolut über sich
hinauswollten, gruben wir uns tief ein. Reden wir nicht vom
Instinkt; überliefertes Wissen, unser seit Noahs Zeiten für solche
Fälle gewitztes Gedächtnis empfahl uns den Untergrund, das
Überleben in Luftblasen dank Pfropfensystem. Die oft gedankenlos
geplapperte Menschenweisheit
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff kam nicht von ungefähr.
Seit jener Weisung, die uns den Zutritt in Noahs Kasten aus
Tannenholz — Drey hundert eilen sey die lenge, funffzig eilen die
weite und dreissig eilen die höhe strikt verboten hatte, waren uns
Schiffe besonders verdächtig. Sooft wir von Ratten hörten, die,
nach menschlichem Urteil, feige ein Schiff verlassen hatten, so
prompt wurde uns wenig später der Untergang des verlassenen
Schiffes bestätigt.
Es stimmt, rief die Rättin. Dieser Satz hat unseren Ruf gefestigt.
Doch als es zum Schluß um das Schiff Erde ging, bot sich kein
Planet zum Umsteigen an. Deshalb suchten wir unterhalb der
menschlichen Bunkersysteme, Hochund Tiefbauten unterwühlend,
Zuflucht. Auch legten wir Vorräte an, was während der Humanzeit nur
die bengalische Reisratte tat. Obgleich ich in meiner Raumkapsel
immer wieder versuchte, den Monitor zu freundlichen Bildern zu
bewegen, führte die Rättin mich durch Grabensysteme, deren Laufund
Verbundgänge zu Nestkammern, als Schleusen dienenden Engpässen und
in geräumige Taschen führten, die wie Silos mit Korn und Kernen
gefüllt waren. Labyrinthisch verzweigt öffnete sich eine Welt
untertage.
Ich wollte ans Licht und Schönes träumen: Damroka! Sie sagte:
Andere Ausflucht blieb nicht.
Ich fluchte auf unseren Herrn Matzerath: Er soll Ja sagen und
meinen Film über den sterbenden Wald produzieren. Sie nahm mir den
Ton weg und fistelte: Die allgemeine Stimmung des
Menschengeschlechts, seine überbetonte, durch nichts begründete
Hoffnung auf Frieden, diese von Hoffnung lebende, sich selbst
verzehrende Hoffnung, dieses geschäftige Hoffnungmachen bei
gleichzeitigem Leerlauf des menschlichen Getriebes, ihre trostlose
Hofferei alarmierte uns.
Sie stellten sich mit Sachzwängen zu. Als wäre ihnen Zeit endlos
gegeben, vertagten sie sich. Ihre Staatsmänner mochten das komisch
finden, jedenfalls grinsten sie bis zum Schluß. Ach, ihr Gerede!
Wenn das Humane zuvor zu weittragenden, wenngleich oft wunderlichen
Ideen fähig gewesen war, plapperte es gegen Ultimo nur noch
abgelegte Ideen nach, uralte Schrullen darunter: Weltraumschiffe,
gebaut und bevölkert nach dem Archeund Ausleseprinzip.
Offensichtlich, der Mensch gab sich auf. Er, dessen Kopf sich all
das ausgedacht hatte; er, dessen Gedanken bis dahin Gestalt
angenommen hatten; er, bisher stolz auf seinen Kopf und dessen
Siege über Finsternis und Aberglaube, Dunkelmänner und Hexenwahn;
er, dessen Geist zahllose Bücher gewichtig gemacht hatte er wollte
fortan auf seinen Kopf verzichten und nur noch Gefühlen folgen,
obgleich im Humanen mehr noch als der Instinkt das Gefühl
unterentwickelt war.
Kurzum, sagte die Rättin, von der mir träumt: Immer mehr Menschen
setzten auf ein Leben ohne Vernunft. Wie Seher und Hohepriester
redeten Dichter daher. Jedes ungelöste Problem nannten sie Mythos.
Schließlich wandelten sich sogar die seit Jahren üblichen, anfangs
mit Wörtern und Beweisen noch klugen Friedenskundgebungen zu
religiösen Aufläufen. Leider liefen auch unsere Punks mit, die wir
liebgewonnen, die uns liebgewonnen hatten. Unser Rattengedächtnis
erinnerte mittelalterliche Flagellantenzüge, die angstgetrieben das
christliche Abendland heimgesucht, geißelwütige Exzesse, Pogrome
ausgelöst und vor nichts haltgemacht hatten, weil damals die Pest
umging, Menschengeißel genannt. Worauf Schuldige gesucht und
gefunden wurden: wir und die Juden sollen die Seuche eingeschleppt
und verbreitet haben. Von Venedig oder Genua aus. Alte Geschichten,
gewiß; und doch immerneue ...
Jedenfalls sahen wir das Flagellantentum gegen Schluß der
Humangeschichte abermals aufleben, wenngleich nicht gegen Juden und
uns gerichtet. Vielmehr kam es nach Umzügen und Aufläufen zu
vereinzelten, dann kollektiven Selbstverbrennungen: Erstmals in
Amsterdam, dann in Stuttgart, darauf gleichzeitig in Dresden,
Stockholm und Zürich, schließlich tagtäglich in europäischen
Großund Kleinstädten, in Fußballstadien und Messehallen, auf
Kirchentagen und Campingplätzen; worauf diese Mode wenn man so
sagen darf in anderen Erdteilen Zulauf fand: zuerst in Atlanta und
Washington, dann in Tokio und Kyoto, natürlich in Hiroshima. Am
Ende, als kollektive Selbstverbrennungen sogar aus
unterentwickelten Ländern gemeldet wurden, blieb auch die
Sowjetunion nicht gefeit: Von Kiew sprang das heillose und nichts
klärende Feuer auf Moskau und Leningrad über. Wo immer Vernunft
aussetzte es sollten noch Rom und Tschenstochau erwähnt werden -,
der Vorgang blieb sich gleich: Junge Menschen gruppierten sich zum
enggefügten Block. Und in der Mitte solch eines betenden,
singenden, den Frieden in jedes Gebet, in jede Liedzeile zwingenden
Menschenblocks vorm Kölner Domportal sollen es über fünfhundert
gewesen sein wurde dann, nach plötzlichem Schweigen, der Mahnblitz
gezündet; viele offen reihum gereichte Kanister Benzin stellten ihn
her. Davon gab es genug bis zum Schluß.
Ach das Humane! Oh, dieses Menschengeschlecht! Selbst im Zustand
verzweifelter Wirrnis hatten sie alles gut organisiert. Ordner
fügten die zum Selbstopfer bereiten Blöcke. Der versammelten
Kopfzahl entsprechend, standen Ambulanzwagen bereit. Auffallend
viele Mütter mit Kleinkindern unter den Opfern. Lehrer mit ihren
Schülern. Priester und Pfarrer mit Katecheten und Konfirmanden.
Großbetriebe verloren in Neckarsulm und Wolfsburg ihre Lehrlinge
samt Ausbildern. In etlichen Garnisonsstädten haben Rekruten den
Mahnblitz während der Vereidigung gezündet. Im späteren Verlauf
dieser vorweggenommenen Selbstvernichtung gaben die Presse, der
Rundfunk und das Fernsehen die täglichen Verlustzahlen
vernünftigerweise nicht mehr bekannt.
Und ich sah, was die Rättin aufgezählt hatte, sah Mahnblitze vor
jäh erhellten Stadtkulissen, sah Säuglinge mit Müttern, Schüler mit
Lehrern, Jungchristen samt Kaplänen, Lehrlinge um ihre Meister
geschart und Rekruten beim Fahneneid in Flammen aufgehen. Ich
schrie und blieb doch gefangen in meiner Raumkapsel. Aufhören!
Aufwachen! schrie ich. Ich bat, winselte, sagte zärtlich Rättlein,
Weihnachtsratte zu ihr. Unsinnige Vorschläge fielen mir ein: hätte
nicht, wäre nicht möglicherweise... Sie aber gab aus vergangener
Zeit sachlich Bericht.
Gewiß hätte und wäre es besser gewesen... Und anfangs versuchte man
auch, den umsichgreifenden Wahn einzudämmen und die Blöcke
gewaltsam zu sprengen. Als aber in Brüssel, Nürnberg und Prag
einzelne Polizisten, dann geschlossene Hundertschaften überliefen,
um, wie man sagte, der mahnenden Selbstaufopferung teilhaftig zu
werden, wurden die Ordnungskräfte fortan zurückgehalten. Tatenlos
sah man den Mahnblitzen zu. In städtischen Ballungsgebieten
gehörten sie zum Alltag, wie in entlegenen Regionen der Hunger
alltäglich war. Vor diesem Hintergrund aus Qualm, Gestank und wie
ein namhafter Publizist schrieb zunehmender Geneigtheit zum Tode
fiel es den Staatsmännern leicht, ihrer Geschäftigkeit den Anschein
von Vernunft zu geben, so daß sich besorgte ältere Menschen einer
gegenläufigen Bewegung, die unter dem Motto: Den Frieden aufrüsten!
mäßigen Zulauf fand, zeitweilig anschlossen. Natürlich forderten
die Mahnblitze bei Zusammenstößen beider Gruppierungen entsprechend
mehr Opfer.
Mir war, als lächelte die Rättin in ihrem Grabensystem. Vielleicht
lächelte sie auch nicht, und nur mir, in meiner Raumkapsel, kam das
alles irrsinnig komisch, zum Kaputtlachen komisch vor. Das brüllte
ich auch: Mach keine Witze, Rättin! Hör auf, dich über uns lustig
zu machen. Ihr habt leicht lachen in euren Rattenlöchern.
Stimmt, Freundchen, sagte die Rättin, dennoch solltest du hören,
was uns dazu brachte unterzutauchen: Gegen Schluß der
Humangeschichte hatte sich das Menschengeschlecht eine Sprache
eingeübt, die beruhigend ausglich, schonungsvoll nichts beim Namen
nannte und selbst dann noch vernünftig klang, wenn sie Blödsinn als
Erkenntnis ausgab. Erstaunlich, wie es den Macheffels, ihren
Politikern gelang, die Wörter geschmeidig und sich gefügig zu
machen. Sie sagten: Mit dem Schrecken wächst unsere Sicherheit.
Oder: Der Fortschritt hat seinen Preis. Oder: Die technische
Entwicklung läßt sich nicht aufhalten. Oder: Wir wollen doch nicht
in die Steinzeit zurück. Und diese Täuschersprache wurde
hingenommen. So lebte man mit dem Schrecken, lief Geschäften oder
Vergnügungen nach, bedauerte die Opfer der Mahnblitze, nannte sie
übersensibel und deshalb unfähig, die Widersprüche der Zeit
auszuhalten, ging, nach kurzem Kopfschütteln, zur Tagesordnung über
— die war aufreibend genug — und sagte zwar nicht ausdrücklich:
Nach uns die Sintflut, lebte aber doch so bequem wie möglich mit
der Gewißheit, daß das Humane und sein seit Noahs Zeiten
wiederholter Versuch, dem Menschengeschlecht ein weniger
mörderisches Verhalten einzuüben, gescheitert war. Als allerletzte
Weltanschauung fand der Finalismus Zuspruch und Anhänger. Leichthin
sagte man zu Freunden und Bekannten: Kommt doch mal wieder vorbei,
bevor es zu spät ist. Man grüßte sich: Schön, dich noch einmal zu
sehn. Beim Abschiednehmen geriet die Redensart Auf Wiedersehen
außer Gebrauch. Und den Kindern sagte man liebevoll, aber auch
nachdenklich: Eigentlich hätte es euch, unsere kleinen Lieblinge,
nicht mehr geben dürfen. Das Bilanzziehen begann. Bei familiären
Feiern und offiziellen Anlässen, sogar bei Brückeneinweihungen
wurde Endzeitliches zitiert. Kein Wunder, daß wir Ratten uns
eingruben.
Ich widersprach nicht mehr. Meine Raumkapsel wurde mir immer
wohnlicher. Warum sollte ich weiterhin Erde! Antworten Erde! rufen?
Ich spielte mit mir unbegreiflichen Knöpfen, Schaltern und
sonstigen Instrumenten, kam auch zu ablenkenden Bildern, die
einander mutwillig löschten, vergnügte mich an den Albernheiten
dieser Einblendungen, glaubte gut zu träumen und hörte dennoch der
Rättin zu, schon einverstanden. Noch immer mit unserer Schlußphase
beschäftigt, sagte sie: Seit Rattengedenken den Menschen zugetan,
versuchten wir, sie zu warnen, bevor wir uns eingruben. Zu
Hunderttausendend verließen wir die weitläufigen Tunnelsysteme
ihrer Verkehrswege und unsere bevorzugte Heimstatt, die
Kanalisation. Wir räumten Müllund Schrotthalden, Schlachthöfe und
Hafenareale, die Versorgungsschächte der Hochhäuser und unsere
sonstigen Reviere. Am hellen Tag, wie gegen unsere Natur, liefen
wir über die Hauptstraßen aller europäischen Metropolen: Heerhaufen
flüchtiger Rattenvölker, eine nicht einzudämmende Rattenflut. Dann
steigerten wir unser Programm. Nicht einmal nur, mehrmals am Tag
über die Gorkistraße zum Roten Platz. In Washington liefen wir
dreimal ums Weiße Haus, in London sternförmig auf Trafalgar Square
zu. Zwei gegenläufige Rattenströme blockierten die Champs-Élysées.
So trugen wir dem Menschengeschlecht unsere Sorge zur Schau. Da das
Humane an Bilder glaubte, setzten wir uns erschreckend ins Bild.
Prachtstraßen und Avenuen rauf und runter. Jeder Rücken, die
Schwänze gestreckt. Wir wollten den Menschen bedeuten: Seht, wie
wir Angst haben! Auch uns ist bewußt, daß dieser Welt Dämmerung
bevorsteht. Wie ihr kennen wir einschlägige Bibelstellen. Unsere
von letzten Ängsten bewegte Flucht sagte: Hört auf, ihr Menschen,
euch zu Ende zu denken. Macht Schluß mit dem Schlußmachen.
Unübersehbar erfüllt sich der Sprüche Weisheit...
Ich tat erstaunt: Und? Das gab doch Panik, was? Ein einziger
Aufschrei oder? Als wollte ich nachholen, was die Menschheit
versäumt hatte: Wenn ich mir vorstelle, nachmittags, bei
Berufsverkehr. Und die Hausfrauen mit ihren Einkaufstaschen
...
Was die Rättin sagte, klang müde und noch im Rückblick enttäuscht:
Zwar hörten wir Schreie entsetzter Passanten, die unsere
demonstrierte Massenflucht vielleicht sogar richtig deuteten, zwar
brach in den Zentren der Städte sofort der Verkehr zusammen, zwar
waren alle Fensterfronten der Hauptstraßen von Gaffern besetzt,
doch sonst geschah nichts, außer daß man uns, wie wir bildkräftig
über die Seinebrücken, immer wieder am Buckingham Palace vorbei, um
Genfs hohes Wasserspiel flüchteten, aufwendig fürs Fernsehen
filmte. Schon machten Touristen Schnappschüsse. Da unsere
schnellfüßigen Demonstrationen oft Stunden anhielten, boten wir
Motive genug. Aber, rief ich, hat man denn nicht. Ich meine
Gegenmaßnahmen. Zumindest mit Wasserwerfern. Oder von Hubschraubern
aus. Oder ganz einfach...
Jaja, sagte die Rättin, natürlich fiel ihnen zu allererst Gift ein.
Doch nur in wenigen Großstädten wurde versucht, unser massiertes
Auftreten mit Vernichtungsmitteln zu bekämpfen, in Rom sogar mit
Flammenwerfern: sich rasch ausbreitende Großfeuer längs der Via
Veneto waren die Folge. Verluste an Menschenleben wogen unsere
Ausfälle auf. Wie dumm sie bis zum Schluß auf Gewalt gesetzt haben.
Einzig in Peking, Hongkong und Singapur, wo die chinesische
Spielart des Humanen vorherrschte, in Neu Delhi und Kalkutta, wo
wir schon immer, wenn nicht geheiligt, so doch geachtet waren,
wurden unsere bewegten Warnbilder als Appell begriffen; doch die
Zentralcomputer waren anderswo lokalisiert. Mir fiel nichts
Besseres ein, als Schade, wie schade! zu sagen. Dabei habt ihr euch
Mühe, verdammt viel Mühe gegeben. Kein Risiko, Rättin, habt ihr
gescheut.
Erst jetzt, sagte sie, nach so viel Vergeblichkeit begannen wir
Ratten uns einzugraben.
Das war falsch! rief ich. Oder zu früh. Jedenfalls hättet ihr
nochmal und nochmal...
Haben wir, tagelang...
Nein! rief ich. Aufgegeben habt ihr uns Menschen. Und zwar viel zu
früh...
Noch einmal, als wollte sie sich und mir vergebliche Mühe
bestätigen, sah ich auf dem Monitor meiner Raumkapsel in rascher
Bildfolge mit Ratten zärtliche Punks, viele hundert Punker mit
ihren Ratten in Richtung Hameln unterwegs, Mahnblitze in
Menschenblöcken gezündet, danach die kreisund gegenläufige
Rattenflut. Dann aber sah ich, wie sie sich eingruben. Keilen
gleich trieben sie Erdreich auf. Tausend und mehr Löcher spieen
Sand, Kies, Mergel. Anfangs ihre Schwänze noch übertage, dann wie
vom Boden verschluckt. Überall gleichzeitig. So viele endgültige
Bilder, Bildsalat schließlich, in den sich immer wieder, doch
tonlos und untertage nun, die Rättin mischte. Dann sah ich unseren
Herrn Matzerath, wie er zur Rede ansetzte, darauf des Kanzlers
Kinder als Hänsel und Gretel im toten Wald laufen, sogleich die
Rättin wieder, nein, meine Weihnachtsratte, die eingerollt schlief
oder harmlos tat, worauf der Maler Malskat für wundersam gotische
Bilder Farbe anrührte, bis plötzlich mit anderen Frauen strickend
Damroka die quallengesättigte See befuhr und die Ratte sich immer
tiefer und die Kinder im Wald, der leichenstarr... Erlösend, daß
unser Herr Matzerath endlich seinen Antrag vorzeigte, mit
Blockschrift säuberlich ausgefüllt: nach Polen will er, nach
Polen.
Wird auch Zeit, sagte ich mir beim Erwachen, denn zwischen Ramkau
und Matern beginnen die Kaschuben, das Fest vorzubereiten. Es soll
die Zahl hundertundsieben aus Blumen gebunden werden.
Am Ende, als es nichts mehr zu lachen gab,
retteten sich die Politiker in übereinstimmendes Grinsen.
Ohne Motiv, denn Komisches lag nicht vor, begannen sie, weltweit zu
feixen.
Einbrüche in beherrschte Gesichtszüge.
Kein verlegenes Lächeln.
Finales Grimassieren nur noch.
Man hielt das dennoch für Heiterkeit und fotografierte das Grinsen
und Feixen der übereinstimmenden Politiker. Fotos vom letzten
Gipfeltreffen waren Zeugnisse ansteckend guter Laune.
Sie werden schon Gründe haben, den Ernst entgleisen zu lassen,
sagte man sich.
Da bis zum Schluß getagt wurde, hielt sich Humor bis zum
Schluß.
D ASDRITTEKAPITEL, indem
sich Wunder
ereignen, Hänselund Gretelstädtisch seinwolen, unser Herr Matzerath
an der Vernunft zweifelt, fünf Hängematten belegt sind, das Dritte
Programm schweigen muß,inStege Ausverkauf und inPolen
Mangelherrschen, eine Filmschauspielerin geheiligtwidund Truthähne
Geschichte machen.
Meine Weihnachtsratte mag das nicht, wenn ich
dem Maler Malskat nachlaufe. Beunruhigt wittert sie, sobald ich
neben dem Käfig Prozeßberichte, Glossen ausbreite, etwa unter dem
Titel: »Ein ostpreußischer Eulenspiegel«. Es stört sie auf, wenn
ich Pressefotos von Malskat mit meiner Vorstellung von Malskat
vergleiche: Durch Jahrhunderte gewitzt sieht er aus und könnte zu
Schnabelschuhen, geschlitzten Hosen und Pluderärmeln anstelle
seiner verfilzten Wollmütze die zwiefach gezipfelte Schellenkappe
tragen.
Dazu läuft die Sendung Medienreport. Wir hören Neues vom
Videomarkt, den nicht nur unser Herr Matzerath zukunftsträchtig
nennt. Am Käfig meiner Weihnachtsratte vorbei finde ich mit
ausgestrecktem Arm den Drehknopf, der mitten im Satz das Dritte
Programm aus dem Raum nimmt; die Suche nach Malskat hinter
bedrucktem Papier duldet kein Nebengeräusch. Das muß meine Ratte
begreifen, so gerne sie Neues aus der Wissenschaft oder die
Wasserstandsmeldungen von Elbe und Saale hört.
Weder lustige noch böse Streiche. Kein schelliger Narr. Ich stelle
fest, daß Malskats Nase, deren Wurzel mit ungleichem Schwung seinen
Augenbrauen Ausdruck gibt, als sehe er immerfort Wunder, auf
Malskats Wandbildern zeichenhaft wiederkehrt, so daß sie im Dom zu
Schleswig wie in Lübecks Marienkirche engelhaften Jünglingen und
geheiligten Greisen zu Gesicht steht. Sie alle sehen mit
schmerzlich geweiteten Augen mehr, als in biblischen Zeiten zu
sehen war. Sie sind begabt, nicht nur kommendes Heil, sondern auch
bevorstehendes Grauen zu wittern, dank jenes Riechers, der schon
Anfang der fünfziger Jahre in einer Doktorarbeit vermerkt wurde,
die der Malskatschen Gotik aufsaß: »Außergewöhnlich sind die langen
Nasen der Figuren im Langschiff und Chor. Sie bekräftigen den
seherischen Blick der Heiligen. Es spricht aus ihnen eine gewisse
nordische Kühnheit, die auf anderen hochgotischen Wandbildern
vergeblich gesucht wird, ausgenommen im Dom zu Schleswig, wo der
Salvator Mundi und etliche Motive der Strebpfeilerausmalungen
anhand der Nasengestaltung vermuten lassen, daß die Werkstatt des
Lübecker Langschiffund Chormeisters auch hier tätig gewesen ist.«
Ich ahne, weshalb meine Weihnachtsratte unruhig wittert und sogar
Sonnenblumenkerne mißachtet, sobald ich mich über die vergilbten
Fünfziger hermache. Wie ohne Erinnerung, einzig von heute soll ich
sein und mich immerfort fragen, was morgen schon Schlimmes
geschehen könnte.
Gut, Rättlein, sage ich, das kommt noch, unser Konkurs. Doch bevor
ich Bilanz ziehe, soll herausgefunden werden, weshalb Malskats
Begabung, trotz schlechter Bezahlung fürwahr gotisch zu sein,
damals zeitgemäß war und einem Grundbedürfnis, der allgemeinen
Gestimmtheit zur Fälschung entsprach; wie Krähen im toten Wald,
einmal muß der Schwindel doch auffliegen, so hoch er noch immer im
Kurs steht. Ach, nicht kurzbeinig, gut zu Fuß schritten die Lügen
aus! Denn die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg taten in Deutschland
so, als wäre ihren Vorjahren ein böser Traum widerfahren, etwas
Unwirkliches, das man aussparen müsse, damit es nicht Alpträume
mache. Entlastende Träume waren gefragt. Ich erinnere mich: Ein
Heiler zog damals durchs Land, der wundertätige Stanniolkugeln
verkaufte, wirksam gegen allerlei Krankheit, worauf ihm das Volk
wie gelernt zulief. Zum Träumen auf Schaumgummi schön waren
Sitzgarnituren gegen Ratenzahlungen zu haben. In allen
Illustrierten heirateten fortgesetzt Prinzen Prinzessinnen.
Unentwegt sank bei Capri die rote Sonne ins Meer.
Auf Bildern, die später Tapete wurden, erwies sich alles durchlebte
Grauen als gegenstandslos. Die Politik jedoch, von der man genug
hatte, blieb durch höhere Gewalt alten Männern übertragen, denen
das geteilte Land mehr zufällig als hälftig zugeschnitten
war.
Und siehe, den Greisen gelang es, die besiegten Deutschen zu mit
den Siegern befreundeten Deutschen zu läutern, die sich, weil ihr
eingeborener Fleiß den Krieg wunderbarerweise überstanden hatte,
sogleich im einen, im anderen Siegerlager nützlich machten:
Ruckzuck war man wieder wer, wiederbewaffnet. Deshalb dankte das
Volk beiden Wohltätern, wenngleich es den Spitzbart, wie Ulbricht
genannt wurde, haßte und den alten Fuchs Adenauer zwar wählte, aber
nicht von Herzen so liebte, wie man als geeintes Volk während
zurückliegender Jahre seinen Hitler herzlich geliebt
hatte.
Gut fügte sich Malskat in diese Zeit. Seine Wandmalerei, die als
echt galt, wurde »das Wunder von Lübeck« genannt; denn wenn sich
ein Volk hartnäckig vom Unglück verfolgt sieht und
wie nebenbei anderen Völkern Unglück gebracht hat, dennoch mit so
vielen Heiligen gotischer Machart beschenkt wird, dürfte ihm Gottes
Gnade auch im profanen Bereich gewiß sein. Worauf sich weitere
Wunder tätigten, unter anderem das Wirtschaftswunder, dessen
Ausschüttungen schon Anfang der fünfziger Jahre spürbar waren: Die
in der Stadt Bonn, wie es hieß, provisorisch ansässige Regierung
blätterte hundertachtzigtausend Mark neues Geld auf den Tisch der
Lübecker Kirchenleitung, so daß immer mehr Heilige sichtbar wurden
und kein Fleiß ohne Preis der Maler Malskat seines Stundenlohnes
von fünfundneunzig Pfennigen sicher sein konnte.
Das aber und noch andere Mirakel jucken meine Weihnachtsratte
nicht. Der auf den Wundern von damals heute noch fußende Reichtum
ist ihr nichtig. Sie könnte Geschenkt! rufen und vorausblickend
sagen: Selbst der Schatten davon wird nicht bleiben. Aber sie
huscht nur unruhig in ihrer Sägespanstreu und nimmt keinen Anteil
an meinen Rückblenden. Was immer ihre schwarzpolierten Augen
fassen, Malskat spiegeln sie nie.
Erst als ich später im toten Wald Hänsel und Gretel laufen ließ und
sich die entlaufenen Kanzlerkinder nicht an mein Drehbuch halten
wollten, sondern, weil im Wald nichts los war, zu den Punks, bei
denen mehr los ist, überliefen, sagte meine Weihnachtsratte nunmehr
als Rättin: Die beiden sind gut. Von gestern ist denen kein Krümel
geblieben. Sieh nur, was sie bei sich tragen, mit wem sie zärtlich
sind, in wessen Ohren sie flüstern, wessen nackte Schwänze sie
kicherig machen und wen beide liebhaben, auf daß sie mit Haut und
Haaren geliebt werden, wem einzig Hänsel und Gretel zutraulich
sind... Und ich sah, daß des Kanzlers und seiner Gattin entlaufene
Kinder zwei Ratten an sich trugen. Die mochten einst weißhaarig und
Laborratten gewesen sein. Jetzt aber war die eine zinkgrün, die
andere violett gefärbt; wie Hänsels Irokesenhaartracht zinkgrün und
Gretels viele steif stehenden Zöpfe violett leuchteten. Es sah aus,
als wären die Kinder eins mit ihrem Getier.
Zwar versuchte ich, beide wieder in den toten Wald und ohne
tierische Zutat in den Ablauf meines Drehbuches zu schicken, aber
sie pfiffen auf dessen Moral. Mit ihren grellen Ratten wollten sie
grell nur noch Punker zwischen Punks sein. Immer mehr drängten ins
Bild, bis es randvoll war: ein Auflauf. Alle Punks hatten sich
eigensinnig und doch uniform mit Schrott behängt; nun auch Hänsel
und Gretel, so daß sie sich kaum von den anderen unterschieden.
Vorhängeschlösser und extra große Sicherheitsnadeln hielten ihren
Plunder zusammen. Ich zählte die Gruppe aus, und im Traum half mir
die Rättin beim Zählen. Hundertdreißig Punks und genau so viele
Ratten zählten wir.
Das muß ich, rief ich, unserem Herrn Matzerath erzählen, daß Hänsel
und Gretel, die auffallend den entlaufenen Kindern des Kanzlers und
seiner Gattin gleichen, nun stilechte Punks sind, die in
Berlin-Kreuzberg hausen und der Welt Grimassen schneiden, damit sie
an ihrem Zerrbild erschrickt. Ein verzweifelt lustiger Haufen ist
das. Denen kann man nicht mehr gut zureden. Die haben sich alle mit
ihren Ratten in eines der letzten besetzten Häuser verkrochen. Das
ist ein Hinterhaus mit vernagelten Fenstern.
Sieh nur, Rättin, rief ich: wie typisch, daß Gretel in der Gruppe
das Sagen hat und ihren Hänsel und die anderen machen läßt, was sie
will. Er sagt: Wenn die kommen mit ihrer Ramme, sind wir geliefert
glatt. Doch sie sagt: Wenn die uns räumen, verzischen wir uns nach
Hameln hoch und kriechen in den Berg, wie damals, als es so schlimm
war wie jetzt. Und Hänsel ruft: Guckt sie euch an, diese Normalos.
Die schnallen überhaupt nicht, wie tot sie sind!
Da sagte die Rättin, von der mir träumt: Die Kinder schrien, doch
niemand wollte hören. Deshalb sagten wir Rattenvölker vorsorglich:
Wir werden uns eingraben müssen. Schade um die Menschen. Besonders
schade um die mit uns zärtlichen Punks.
Plötzlich nimmt unser Herr Matzerath Interesse.
Gestern noch abweisend, ist er heute Hänsel und Gretel gewogen. Vor
der Breitwandschiefertafel zwischen den Gummibäumen sagt er:
»Abgesehen vom Wald gefällt mir ihre Geschichte. Man müßte sie
zuspitzen. Sollten wir uns zur Produktion entschließen, könnte der
Film etwa so beginnen: Während überall die Ratten aus ihren Löchern
kommen, um am hellichten Tag öffentlich zu werden, ziehen auch in
der geteilten Stadt Berlin alle beiderseits der Mauer getrennt
ansässigen Rattenvölker zur selben Stunde über die Hauptstraßen;
wenn sie drüben die Frankfurter Allee für geeignet halten, ist
ihnen hier der Kurfürstendamm, von der Gedächtniskirche bis hoch
nach Halensee, lang genug.
So bringen sie sich ins Bild. Sofort bricht in beiden Stadthälften
punktuell der Verkehr zusammen. Massenkarambolagen sind die Folge.
In ihren verkeilten Autos verschiedenen Typs erleben verschreckte
Insassen, wie ungezählt viele Ratten in beide Fahrtrichtungen über
alle zum Stillstand gezwungenen Autos hinwegeilen, ob Wartburg oder
Opel, Tatra oder Ford. Niemand, kein Passant oder Autofahrer
begreift den tieferen Sinn der unangekündigten Demonstration. Was
man im Ostteil der Stadt als dem Sozialismus abträglich empfindet
und deshalb wie eine Schande verschweigt, bekommt im Westen den
kurzlebigen Wert einer Sensation zugesprochen. Halblaut heißt es
hier wie dort: Die kommen von drüben.
Doch sobald Meldungen über den Ticker laufen und Rattenumzüge aus
aller Welt bestätigen in Moskau und Washington auch! und der
weltweite Zeitvergleich den Beweis bringt, daß das Rattengeschlecht
rund um die Erdkugel an drei Tagen nacheinander pünktlich seinen
Auftritt gehabt hat und zwar allerorts nachmittags um halbfünf -,
als daraufhin niemand mehr wagt, von Zufällen zu faseln und selbst
führende Politiker keine Worte finden, geeignet, ihre vom Ekel
geschüttelten Staatsvölker zu beschwichtigen und deshalb schweigen,
grinsend schweigen, erst als die Flut verebbt ist, liest man
Kommentare, die dem Sinn der weltweiten Rattenumzüge nahekommen;
wenngleich die aufklärende Absicht der Ratten unbedacht
bleibt.
Tierforscher sprechen vom hochentwickelten Warnsystem der
Nagetiere. Verhaltensforschern wird das Wort Paniksyndrom geläufig.
Theologen rufen die Christenheit auf, Gottes warnenden Hinweis,
kundgetan durch die niedrigste Kreatur, ernst zu nehmen und fortan
Kraft einzig im Glauben zu suchen. Ein unerklärliches Phänomen,
heißt es. Und im Feuilleton werden die Offenbarung Johannes,
Nostradamus, Kafka, Camus und die indischen Weden zitiert. Mehr
geschieht nicht. Einige Westberliner Zeitungen kommen wie üblich
zur Sache. Sie sprechen die Kreuzberger Punks schuldig: Die hätten
mit ihrem Rattenfimmel das Übel ausgelöst. Seitdem man Punks mit
Ratten rumlaufen sehe, sei dieses Viehzeug groß in Mode. Es komme
als Normalempfinden nicht mehr genügend Ekel auf. Jetzt müsse hart,
endlich hart durchgegriffen werden.
Nur einige von Kindern geschriebene Leserbriefe sprechen wahr: Ich
glaube, die Ratten haben Angst, weil die Menschen nicht genug Angst
haben. Ich nehme an, daß die Ratten, bevor alles zu Ende geht, von
uns Menschen Abschied nehmen wollen. Meine kleine Schwester, die
die Rattenumzüge im Fernsehen gesehen hat, sagt: Zuerst hat uns der
liebe Gott verlassen, und jetzt hauen auch noch die Ratten ab. Doch
dann wird wieder anderes wichtig: der sprunghaft steigende
Dollarkurs, Unruhen in Bangla Desh, ein Erdbeben in der Türkei und
sowjetische Weizenkäufe; von einer Rattenflut, liest es sich
rückblickend, hatte die Welt nur schlecht geträumt.«
So jedenfalls sieht es unser Herr Matzerath. Er springt auf und
steht kleinwüchsig vor der enormen Schultafel zwischen seinen
Gummibäumen. Mit Zahlen wirft er um sich und führt Beweis. In
rascher Schnittfolge und auf eingeblendeten Spielebenen will er von
Tokio nach Stockholm, von Sidney nach Montreal, von Ostnach
Westberlin springen und das Entsetzen der Passanten, die
dreinschlagenden Polizisten, den Einsatz von Wasserund
Flammenwerfern, Brände und Chaos, Panik in Soho und Plünderungen in
Rio, alles, was während der Rattenflut lief, in seine Videokassette
bringen.
Er sagt: »Und immer wieder sieht man in bedrückenden Szenen die
beiden Kinder mit ihren violett und zinkgrün gefärbten
Streicheltieren: wie sie flüchten, sich mit anderen Kindern
zusammenrotten, ein leeres Haus besetzen, brutal geräumt abermals
flüchten, von Polizisten und Spürhunden aufgespürt, verfolgt,
gehetzt werden, bis sie bei Ratten Unterschlupf finden und nach der
Rattenflut mit jenen verschwunden, man hofft, gerettet
sind.«
Nach einigem Sinnen, als rechne er jetzt schon die Marktchancen
dieser Kassette aus, sagt er: »Sie sollten sich panoramaweit und im
Detail ein nicht enden wollendes Strömen vorstellen, eine
feierliche Unerbittlichkeit, den Ernst, ja, die übermenschliche
Größe dieser letzten Demonstration für den Frieden.«
Nachdem wir uns ein Stündchen lang über die Möglichkeiten visueller
Aufklärung gestritten haben ich setze auf Kintopp; er behauptet,
nur die große Videoshow und das Heimkino hätten Zukunft -, sagt
unser Herr Matzerath plötzlich: »Vielleicht sollten wir das Ganze
in der Manier des Altmeisters filmischer Aufklärung, des großen
Walt Disney, produzieren. Der Mensch hat das Dokumentarische satt.
Soviel Wirklichkeit ermüdet. An Tatsachen glaubt ohnehin niemand
mehr. Nur noch Träume aus der Trickkiste bringen stimmige Fakten.
Machen wir uns nichts vor: Die Wahrheit heißt Donald Duck, und
Mickey Mouse ist ihr Prophet! Gewiß war der Einfall ganz hübsch,
Hänsel und Gretel als Punks laufen zu lassen; doch sollten wir
besser eine Superratte erfinden, witzig in fabelhaften Abläufen
zeichnen und als Anführerin, jadoch eine weibliche Ratte, sozusagen
Ihre Rättin an die Spitze aller Rattenumzüge setzen. In Rom und
Brüssel, in Moskau und Washington: sie superschlau vorneweg. Wir
könnten die Rättin in unserem Trickfilm ganz einfach Mary, nein,
Dorothea, ich hab's: Ilsebill nennen und medial zum Idol machen...«
Das alles wiederholt unser Herr Matzerath im Kreis seiner
Mitarbeiter anläßlich der wöchentlichen Programmplanung. Die
hochgewachsenen Herren und Damen nicken. Er läßt auf den
Schulschiefer mediengerechte Richtlinien schreiben. Die Produktion
will wissen, woran sie ist.
Aber die Rättin, von der mir träumt, sagte: Für aufklärende
Trickfilme und alles andere war es zu spät.
Sag ich ja: nichts.
In ihr Loch stolpern die Wörter. Nachträge nur noch.
Ein langes Gespräch über Erziehung, das abbrach, ohne zum Schluß zu
kommen.
Nach letzten Meldungen.
Wie gegen Ende verlautbart wurde und gleich darauf dementiert.
Zu guter Letzt versuchten einige Exemplare der
Gattung Mensch
von vorn zu beginnen.
Irgendwo soll gegen Saisonende preisgünstig Anlaß für Hoffnung gewesen sein.
Abschließend war von Gut und Böse, und daß es sowas nicht gebe, die Rede.
Als aber,
oder auch Gott
mit seinen ewigen Ausreden.
Überliefert ist der Beschluß, sich auf
demnächst
zu vertagen.
Wir dachten, das sei ein Witz, als uns
plötzlich
das Lachen verging.
Immerhin war danach niemand mehr hungrig
global.
Doch hätten zum Schluß viele Menschen gerne noch einmal
Mozart gehört.
Es sind winzige Inseln, deren Namen überall in
der Welt bekannt wurden, als man in sich wühlende Rauchpilze über
ihnen aufgehen ließ, wie es hieß: versuchsweise. Auf diesen
Inselchen haben auch wir uns erprobt. Deshalb darf man unser
Verhalten den Bikinireflex nennen. Wir wissen seitdem. Fortan
betraf unsere Ahnung nicht nur Schiffe, denen jene nur uns
sichtbare Aura des nahen Untergangs eignete, ahnten wir doch andere
Katastrophen gleichfalls voraus: Großfeuer, Sturmfluten, Erdbeben
und Dürrezeiten, so daß wir uns in der Lage sahen, gerade noch
rechtzeitig unsere Reviere zu verlegen. Kein Steppenbrand, dem wir
nicht klüglich davongelaufen wären. Zudem wußten wir immer, welche
Gattung, sie mochte sich noch so stark und im Saft stehend glauben,
demnächst aussterben würde. Bei den ungeschlachten Dinosauriern
haben wir, zugegeben, ein wenig nachgeholfen, um den Prozeß zu
verkürzen; den Menschen jedoch wären wir gerne länger gesellig
geblieben, so sehr uns ihr Haß auf alles Rattige zusetzte. Übrigens
waren ihnen nicht nur die Juden, die Japaner auch, Japse genannt,
rattengleich.
Nach den Vernichtungsschlägen auf Hiroshima und Nagasaki, die uns
überraschten, nahmen wir die neue Gefahr in unser Vorwissen auf.
Deshalb haben uns die Atomund Wasserstoffbombenversuche der
Amerikaner, Franzosen und Engländer, die einige Südseeinseln zum
Bodennullpunkt hatten, nicht unvorbereitet getroffen. Zwar konnten
dort unsere Völker nicht fliehen, wie sie gekommen waren: per
Schiff, aber das Erdreich bot sich als Zuflucht an. Sobald die
Humanbevölkerung der Inseln evakuiert war, legten wir tiefe und
verzweigte Fluchtbauten an, die sich nach dem Anti-Noah-Prinzip mit
Hilfe opferbereiter Altratten als Luftblasen verstopfen ließen.
Schon damals bedachten wir die Einlagerung von Vorräten;
Kokosnußfleisch und Erdnüsse. Dennoch überlebten nur wenige
Ratten.
Mir war, als mache sie eine Pause, um sich zu besinnen. Oder wollte
die Rättin der Opfer ihrer Art auf dem Bikini-Atoll und auf anderen
Versuchsinseln gedenken?
Nach einiger Zeit sofern man dem Traum mit der Elle Zeit beikommen
kann sagte sie betont sachlich: Als viele Jahre später auf den
betroffenen Inseln die Radioaktivität gemessen wurde, hielt man die
Meßwerte immer noch für zu hoch, um sie Eingeborenen, die Heimweh
nach ihrer Insel hatten, zumuten zu dürfen. Nichts könne dort
leben! hieß es, obgleich man uns vorgefunden hatte: gesund und
zahlreich wieder. Dennoch sagte unser Überleben den Menschen nicht
viel. Außer Zeitungsmeldungen in der Rubrik Vermischtes, die mehr
als Kuriosität denn als Nachricht Verbreitung fanden, keine weitere
Reaktion. Kein tiefes Erschrecken. Allenfalls ein erstauntes
Lächeln beim Frühstück hinterm Morgenblatt: Guck mal an. Die zähen
Biester. Die überleben alles. So war der Mensch beiderlei
Geschlechts. Wie er brüllte, wichtig tat oder, seiner Macht sicher,
schwieg. Sein Gerede von der Unsterblichkeit, dabei ahnte er, daß
allenfalls wir, die zähen Biester, das Zeug hatten, unsterblich zu
sein. Und als wir uns allerorts eingruben es ging diesmal ja nicht
um Inselchen nur-, wichen wir keiner Mühe aus. Die härtesten
Brocken gaben nach. Lag was quer, wir bissen uns durch. Unserem
Zahn hält nichts stand. Er ist der Ausdruck unserer Geduld. Wir
unterwühlten ihren Beton. In einigen Regionen boten sich
aufgelassene Bergwerke an. Die römischen Katakomben wurden
erweitert. Und in jener Stadt, die für dich, unseren Freund,
aufgespart in der Raumkapsel, von besonderem Interesse ist, nutzten
wir die Kasematten im Hagelsberg, der seit altersher, neben dem
Bischofsberg, die Stadt überragt. Es sind Endmoränen, die hier als
Hügel zur Ruhe kamen. Auf dem Hagelsberg soll Jagel, ein
pruzzischer Fürst und Gott, seinen Sitz gehabt haben. Schon die
Schweden trieben Stollen in diesen Berg. Die eigentlichen
Kasematten jedoch sind Zeugnisse der napoleonischen Zeit: solide
ausgemauerte Unterkünfte und Stallungen, die noch im Zwischenkrieg
als Munitionslager dienten. Dort immer schon heimisch, fiel es uns
leicht, tiefere Fluchtgänge und Nistkammern anzulegen. Doch nur ein
Teil unserer in GdaDsk und Umgebung ansässigen Völker suchte im
Hagelsberg Zuflucht, die Mehrheit grub sich mit Krallen und Zähnen
im kaschubischen Hinterland ein. Oben hatten wir vorläufig nichts
mehr zu suchen.
Ich will da nicht runter. Ich habe als Kind in den Kasematten
gespielt und Knöchlein, sogar einen Schädel, weiß nicht von wem,
gefunden. Soll sie doch! Soll sie sich eingraben zutiefst, und mit
ihr mögen alle Rattenvölker der Welt wie vom Boden verschluckt
sein; ich lege ein neues Blatt auf und will, daß es weitergeht.
Ringe ansetzen, Falten werfen, alt und taperig will ich werden,
zahnlos noch meiner Damroka böse Märchen erzählen: Es war einmal
vor langer langer Zeit...
Wenn dieser Stummfilm, der den Wald nicht
retten kann, dennoch »Der Wald« heißen soll, und wenn es gelingen
könnte, unseren Herrn Matzerath als Produzenten zu gewinnen, ihn,
der sich schon immer für Katastrophen erwärmen konnte und allzeit
schwarzsah, dann müßte ich ihn mit der weiteren Filmhandlung, was
alles im toten Wald und sonstwo geschehen soll, bekanntmachen und
ihm genaue Personenbeschreibungen vorlegen; denn Oskar, der mit
eigenwüchsigen Einzelheiten gern hinterm Berg hält, liebt das
Detail. Er könnte fragen: Wie sollen der Kanzler und seine Gattin
aussehen? Auf welche Weise sind deren Kinder, bevor sie zu Hänsel
und Gretel wurden, daneben geraten? Sind sie normale
Wohlstandsopfer? Sollen sie etwa immer noch Punks sein? Da unser
Herr Matzerath vor seiner Reise nach Polen Antwort erwartet, muß
ich mich festlegen. Auf keinen Fall soll sich das filmische
Aussehen des Kanzlers vom Kanzler gegenwärtiger Machart ableiten.
Doch sobald ich die Augen verkneife und mir einen Stummfilmkanzler
vorstelle, werden allzu leicht Versatzstücke handlich, mit denen
ein Baukastenkanzler erstellt werden könnte; damit er uns nicht zu
ähnlich mißlingt, müssen wir ihn labil machen.
Deshalb schlage ich einen Kanzler vor, der unsicher auftritt, nicht
weiß, wo er die Hände lassen soll, Angst hat, aus vorbereitetem
Text zu fallen, doch aus Gründen, die allenfalls mit den Gesetzen
der Schwerkraft zu deuten wären, im Amt bleibt. Wie man es
anstellt, man kommt um ihn nicht herum. Und seine Gattin?
Fortwährend sucht sie etwas im Handtäschchen. Ach, wären doch beide
wieder zu Hause, wo es wohnlich ist. Mit sich zufrieden könnten sie
leben, wäre er nur nicht Kanzler geworden, müßte sie nicht von früh
bis spät des Kanzlers Gattin sein.
Die armen Kinder. Wie sie sich langweilen. Wie sie mal hierhin, mal
dorthin gestellt werden, aber lieber woanders stehen, laufen,
rumlümmeln, verloren sein möchten. Es stinkt ihnen, wie man sieht.
Sie könnten kotzen, so ekelt sie das. Natürlich wären sie lieber
Punks und trügen gefärbte Ratten an sich. Aber das dürfen sie
nicht, weil unser Herr Matzerath neuerdings sagt: »Schließlich
sollen sie in den toten Wald laufen und nicht im städtischen
Dickicht herumirren.« Um ihn, der den Film produzieren soll,
endgültig zu gewinnen, werde ich des Kanzlers Kinder mit
Eigenschaften staffieren, die unseren Oskar an das Personal seiner
Kindheit erinnern. Hat nicht, genau besehen, des Kanzlers Tochter
eine gewisse Ähnlichkeit mit einem spillerigen Mädchen, das Ursula
Pokriefke hieß, Tulla, überall Tulla gerufen wurde und in der
Elsenstraße, im Mietshaus des Tischlermeisters Liebenau
wohnte?
Und erinnert uns nicht des Kanzlers Sohn, der stets finster und wie
vernagelt auf etwas blickt, das nicht da ist, an einen Knaben, der
Störtebeker genannt wurde und als Anführer einer Jugendbande die
Stadt Danzig und deren Hafengelände unsicher machte? Das war
während der Schlußphase des letzten Krieges. Störtebeker und seine
Stäuber waren weit über den Reichsgau Westpreußens hin in Verruf.
Und war es nicht so, daß der kleine Oskar, als er gerade voll
trüber Gedanken die Langfuhrer Herz-Jesu-Kirche verließ, dem
Anführer Störtebeker und dessen Bande begegnete?
Beide sind als des Kanzlers Kinder immerhin denkbar: sie, zu jeder
Tücke fähig, er, schroff abweisend, sie, frei von Angst, er, zu
großer Tat bereit, sie dreizehneinhalb, er fünfzehn Jahre alt, sie
und er, Kriegskinder damals, sind nun des anhaltenden Friedens
unreife Früchte; beide haben den Walkman, ganz andere Musik im
Ohr.
Auf dieses Paar angesprochen, erinnert sich unser Herr Matzerath an
die Halbwüchsigen seiner Jugendzeit. »Richtig«, sagt er, »die
kleine Pokriefke, ein Luder besonderer Art, wurde Tulla gerufen,
war aber auch unter dem Decknamen Lucie Rennwand bekannt. Die hätte
ich nicht zur Schwester haben mögen. Sie roch nach Tischlerleim und
war gegen Kriegsende Straßenbahnschaffnerin. Richtig! Die Linie
fünf. Fuhr vom Heeresanger bis rauf zur Weidengasse und zurück. Es
hieß: Sie soll mit der >Gustloff< von Danzig weg und
draufgegangen sein. Tulla Pokriefke, ein mir bis heute gewärtiger
Schrecken.«
Er schweigt und gibt das Bild eines älteren Herren ab, der sich
Gedankenflucht erlauben darf. Doch wie ich ihn fordere, ihm alle
Ausflüchte sperren will, ruft er: »Aber jadoch, natürlich! Der Chef
der Stäuberbande. Und ob ich mich erinnere. Wer hat denn damals
nicht von Störtebeker und seinen Taten gehört? Der arme Junge.
Immer den Kopf voller Flöhe. Man hat damals kurzen Prozeß gemacht.
Ob er den Schluß überlebte? Was mag aus ihm geworden sein? Er hatte
pädagogische Anlagen. Am Ende wird er einen Lehrer mehr abgegeben
haben.«
Doch wie ich unseren Herrn Matzerath um die Bestätigung meiner
Vorschläge bitte, wirkt er zerstreut und ein wenig müde; die
Rückschau in seine Kindheit hat ihn erschöpft. Er reibt die
umfassende Stirn, als müsse er besonders stechende Gedanken
wegmassieren. Dann strafft er sich plötzlich, ist wieder Boß,
entschlußfreudig. »Jaja«, sagt er, »die beiden sind als Hänsel und
Gretel geeignet. Mehr noch: sie sind es. Schon sehe ich, wie dieser
Störtebeker dem Kanzler die Waldfeier verpatzt. Ich sehe, wie
Tulla, das Luder, die Seile kappt, auf daß die gemalten
Waldkulissen in sich zusammenfallen. Machen Sie. Machen Sie voran!
Wir produzieren, sobald ich aus Polen zurück bin. Merkwürdig, daß
mir die beiden abermals aufstoßen müssen. Als Hänsel und Gretel
sehe ich sie laufen. Hand in Hand. Immer tiefer hinein in den toten
Wald...«
Im Vorschiff des Motorewers »Die Neue Ilsebill«
folgen Hängematten den Bewegungen des Schiffes, das unter
Diesellärm seinen Kurs nimmt. Wenn sie belegt sind, hängen sie zu
Köpfen, zu Füßen gestrafft an Haken; jetzt, tagsüber, während der
Ewer bei leichter See die Insel Møn ansteuert, schlingern sie
gelockert und frei für Wünsche: neue Schlafgäste,
Mattentausch.
Hätten sich nicht andere Frauen als diese in Travemünde einschiffen
können? Zum Beispiel alle, die abgesagt haben und lieber in Betten
schlafen wollen?
Ich ließ fünf übrig. Oder es blieben mir fünf. Meine und keine Wahl
traf ich und wollte oder durfte die Hängematten nur so und nicht
anders belegen; doch wechseln die Frauen oft ihre Lage. Jede
Freiwache wirft Pläne um. Immer liegen sie so, wie ich sie nicht
wünsche: Wo sich gestern im Ölzeug die Maschinistin legte, wacht
heute im Schlafanzug die Meereskundlerin auf; nicht die nackte, bis
auf ihre Wollsocken nackte Steuermännin, Damroka liegt im langen
Nachthemd in der äußersten Matte auf steuerbord; daß sich die Alte
im geblümten Hemdchen nach backbord verkrochen hat, dort bleiben
und wie sie sagt mit »keinem der Weiber« tauschen will, nehme ich
hin, obgleich ich sie lieber in der mittleren Matte
hätte.
So liegen sie dicht bei dicht, denn vier Meter siebzig nur ist von
Geburt an der Ewer breit. Einzig Damroka liegt mit dem Kopf in
Fahrtrichtung. Langgestreckt, fast auf dem Bauch: der schwere
Schlaf der Steuermännin. Es rührt mich, zu sehen, daß die
Meereskundlerin und die Alte seitlich gekauert, wie Embryos
schlafen: eine der beiden nuckelt. Unruhig wälzt sich in ihren
verschwitzten Plünnen die Maschinistin. Auf dem Rükken, gelöst: der
Schlaf der Kapitänin. Manchmal schnarcht sie, gleichlaut die
Steuermännin, doch mit Pfeiftönen versetzt. Das leise Wimmern der
Meereskundlerin: offenbar träumt sie sich kindlich. Im Schlaf
stöhnt die Maschinistin unter schwerer Last. Plötzlich Worte,
Gebrabbel, Schimpfen: das ist die Alte.
Mehr weiß ich von ihren Träumen nicht, so nah mir alle gewesen
sind. Wie gut, daß nur fünf Frauen an Bord kamen und nicht, wie
nach Anmeldung, zwölf. Das hätte in meinem Kopf und auch sonst
schlimmes Gedränge zur Folge gehabt. Und eigentlich wären drei
Frauen für die Bedienung des Schiffes genug, auch mir. Doch welche
wäre neben Damroka und der Meereskundlerin die Dritte gewesen?
Wahrscheinlich die Alte, die immer dabei war, beiseite stand,
hinterdrein maulte und alles aushielt.
Ich konnte mich nicht entscheiden. Eng ist es deshalb. Wie gut, daß
sieben Abmeldungen kamen: ich und das Schiff sind zu
klein.
Warum aber hätte nicht ich allein mit Damroka als ihr Bootsmann:
ich! ihr Schiffsjunge: ich! Ay ay, Sir, ich! auf Reise gehen
können? Sie hätte mich anlernen müssen: Knoten legen, Anker hieven,
Seezeichen lesen, den Diesel warten und mit dem Meßhai die Quallen,
die vielen Ohrenquallen, Medusen genannt...
Während der Motorewer sich Møn nähen: Gedanken im Abseits. Was
alles Platz findet in unbeschwerten Hängematten. Auf Deck ist
früher Morgen, doch selbst die Freiwachen wollen sich nicht legen,
so sehr ich die Steuermännin, mehr noch die Meereskundlerin dränge.
Alle haben ihre Schlafsäcke zum Auslüften nach oben genommen und
das Strickzeug natürlich. Ich belaste die Hängematten von backbord
nach steuerbord. Drei hängen durch. Ich ziehe sie nach, schlage die
Knoten kurz vor den Haken straffer. Zwei der Matten sind aus
farbloser Schnur geknüpft und mögen in Geschäften gekauft worden
sein, die Zubehör für Segler führen. Die restlichen Matten sind
farbig, eine rotweiß, die nächste verblichen blaugelb, die dritte
aus rotgefärbter Schnur geknüpft. Die farbigen Hängematten
schließen an den Rändern mit gemusterten Zierleisten, Fransen und
Troddeln ab. Sie sind lateinamerikanischer Herkunft.
Möchte jetzt wissen, was ich hier zu suchen habe. Scheu bin ich,
gehemmt und ängstlich, ertappt zu werden. Meine ergraute Besorgnis,
es könnten alle Lügengeschichten auffliegen, auf daß langweilig nur
noch Wahrheit herrscht.
Ihre Schritte auf Deck. Heute ist Waschtag. Sie hängen bunte und
weiße Wäsche an langer Leine zum Trocknen auf. Lustig mag sie bei
leichter Brise zwischen Vormast und Steuerhaus flattern. Sie singen
Lieder, die man beim Wäschehängen singt. Wo und wo noch mag Damroka
ihren Kaffeepott abgestellt haben? Hoffentlich regnet es
nicht.
Unter Deck einzig ich. Ich schnüffle in ihren restlichen Sieben
Sachen, die unter den Matten oder im Bugschrank in Seesäcken und
Koffern offen liegen. Alles schamlos befingern. Ich suche Briefe
aus früher, noch früherer Zeit Geständnisse und Beteuerungen und
finde keinen Zettel, der mich auswiese. Ich sehe rasch Fotos durch,
auf denen ich fehle. Andenken, Schmuck, Ketten aus geflochtenem
Silber, doch kein Stück darunter, das ich zum Geschenk gemacht
hätte. Alles fremd. Nichts wollte haften von mir. Sie haben mich
abgeschrieben: nicht seetüchtig genug. Was mich ausmacht, blieb an
Land. Nur jene vergilbte, an den Rändern gerissene Karte, die ich
unter Damrokas Wäsche in ihrem Seesack dreimal gefaltet finde,
kommt mir bekannt vor. Sie zeigt die pommersche Küste mit
vorgelagerten Inseln. »Mare Balticum, vulgo De Oost See« steht über
zwei maskierten Männern, die das Greifenwappen halten, teils antik,
teils gotisch geschrieben, Auf dem handkolorierten Stich, der halb
Land-, halb Seekarte sein will, hat ein Rotstift vor Usedom,
östlich der Peenemündung einen Kreis gezogen, dessen Eintragung den
Namen der versunkenen Stadt verrät. Nun sicher, wohin die Reise
geht, lege ich den Stich gefaltet an seinen Ort im Seesack zurück.
Oben haben sie ihre Wäsche gehißt. Oben stricken die Frauen auf
Teufelkommraus. Später schlingern die fünf Hängematten stärker,
weil der Wind auf Nordost dreht und die »Ilsebill« um die Südspitze
der Insel Falster neuen Kurs nimmt.
Ich weiß nicht, wann Damroka den Plan gefaßt hat. Jedenfalls noch
an Land und vor Monaten schon, denn frühzeitig ist das Befahren der
DDR-Küstengewässer beantragt worden. Als Forschungszweck wurde das
Quallenvermessen genannt. Doch erst auf Gotland werden beim
Hafenmeister von Visby gestempelte Papiere liegen. Dennoch ahnten
die anderen Frauen die Steuermännin voran schon früh, daß diese
Reise nicht nur den Ohrenquallen gilt. Sie und die Alte haben vom
Steuerhaus aus gesehen, wie Damroka eine gute Stunde lang auf dem
Vorschiff hockte und die See besprochen hat. Das war östlich
Fehmarn, als sie den letzten Quallenhol mit dem Meßhai hinter sich
hatten. Es hieß: »Sie hat mit dem Butt...« »Und gestern abend
wieder«, behauptet die Maschinistin. Das war, als sich backbord der
Grønsund öffnete, Møn voraus lag, die Wäsche längst trocken hing
und der Wind gegen Abend von Nordost auf Ost umsprang, dann
abflaute.
»Zwar hab ich den Butt nicht gesehen, aber hin und her geredet
haben die beiden. Und zwar plattdeutsch.« Das verstehe sie nicht,
sagt die Maschinistin und redet sich hinterdrein: »Leider.« Aber
die Anrufung: Buttje, immer wieder: Buttje! habe sie deutlich
gehört. Und lang und breit sei von einem Tief die Rede gewesen, das
heiße Vineta nach der versunkenen Stadt.
Jetzt wissen die Frauen, wohin die Reise außerdem geht. Auch wenn
die Meereskundlerin immer wieder sagt: »Das glaub ich nicht. Ihr
spinnt. Wir steuern Møns Klint und Stege an. Nie hätte ich hier
mitgemacht und mit euch schon gar nicht -, wenn so ein Quatsch auf
dem Programm gestanden hätte.«
Auch die Steuermännin will da nicht hin. »Davon war nie die Rede.
Das wäre gegen die Abmachung.« Und doch werden beide mitmachen,
wenn auch unter Protest. Das Wort Vineta bleibt hängen.
»Genau dahin«, das sagt die Alte, »werdet ihr hinwollen am Ende.
Bleibt doch nichts übrig.«
Nicht nur die Steuermännin ist müde. Die vielen Kämpfe zugunsten
der Frauensache, der immerwährende Streit, nicht nur mit dem
kaputten Geschlecht, mit ihresgleichen auch, erschöpfte den Willen,
inmitten einer tauben Gesellschaft gegen die Männermacht ein
Frauenreich zu errichten. Dieser Plan ist lange schon aufgegeben,
wenngleich sie alle, die Steuermännin voran, immer noch sagen: »Man
sollte, man müßte, man hätte von Anfang an radikal...«
Deshalb fliehen ihre Gedanken, während sie im Bogøwasser, später
vor Møns Klint der See Ohrenquallen und Heringslarven abfischen, in
ein versunkenes, unter den Wassern liegendes Reich. Das sei ihnen
versprochen. Das werde, habe der Butt gesagt, allen Frauen
offenstehen. Als er mit Damroka, der Kapitänin, auf plattdeutsch
gesprochen hat, soll es geheißen haben: »Nu, Wiebkes, sullt ji
tuunners gohn.«
In ihren fünf Hängematten mögen die Frauen vielfarbig von Vineta
träumen. Dicht bei dicht, wie sie liegen, wird ihnen, wenn sie nur
wollen, ihr Frauenreich greifbar. Nur leicht hebt und senkt sich
der Motorewer. Festgemacht liegt das Schiff im Hafen von Stege:
kurz vor der Brücke zur Innenstadt, am Anleger der Zuckerfabrik. Im
Hintergrund ein Berg Koks und blaßgrüne Silos. Faulig riecht das
Flachwasser. Zu viele Algen. Quallen zuhauf.
Alle fünf schlafen. »Auf Møn«, hat Damroka gesagt, »brauchen wir
keine Wache.« Sie liegen, wie ich es wünsche: Die Alte, die im
Schlaf brabbelt und schimpft, eingerollt in der Mitte, steuerbord
die Steuermännin mit offenem Mund, backbord Damroka auf ruhigem
Rücken, zwischen ihr und der Alten die Meereskundlerin: seitlich
gekauert, und zwischen der Alten und der Steuermännin wälzt sich
unruhig die Maschinistin.
Morgen wollen die Frauen einen Stadtbummel machen. In Stege ist
Ausverkauf. Die Vorräte müssen erneuert werden. Nicht nur die Wolle
ging zur Neige. Die Alte weiß noch nicht, ob sie mit
will.
Utopia Atlantis Vineta. Doch diese Stadt soll es wirklich als
wendische Siedlung gegeben haben. Die einen sagen, vor Usedoms
Küste versunken; doch polnische Archäologen graben und finden
Mauerreste, Scherben, arabische Münzen neuerdings auf Wollin.
Vineta hieß anfangs anders. Es sollen in dieser Stadt während
langer Zeit die Frauen das Sagen gehabt haben, bis eines Tages die
Männer mitreden wollten. Die alte Geschichte. Am Ende führten die
Herren das Wort. Gepraßt wurde und goldenes Spielzeug den Kindern
geschenkt. Worauf Vineta mit all seinem Reichtum unterging, auf daß
die versunkene Stadt eines Tages erlöst werde: von Frauen
natürlich, fünf an der Zahl, deren eine wendischen Ursprungs sei
und Damroka heiße.
Sie ist schläfrig tagsüber und rollt sich ein:
abgewendet meinen Geschichten. Doch hört sie gerne mit mir das
Dritte Programm. Es bietet: Am Morgen vorgelesen, Schulfunk für
alle, festliche Barockmusik, zwischendurch Nachrichten, den
Medienreport, später das Echo des Tages, dann wieder Barockmusik,
geistliche diesmal.
Erstaunlich ihr Interesse an Wasserständen. Hörenswert ist ihr, daß
der Stand der Elbe bei Dessau eins acht null unverändert geblieben,
bei Magdeburg auf eins sechs null plus eins gestiegen ist. Täglich
hört sie, wie hoch die Saale bei HalleTrotha steht, dann die
Peiltiefe von Geesthacht bis Fliegenberg. Doch ohne Interesse ist
meine Weihnachtsratte, wenn, was aktuell ist, gemeldet wird.
Überall laufen ungelöst Probleme herum. Einzig Krisen wird Wachstum
nachgesagt; und meine junge, ohne Schwanz etwa zeigefingerlange
Ratte wächst wie die Krisen, die, weil sie so dicht bei dicht
engliegen, miteinander verwachsen sind und bildlich gesprochen den
sogenannten Rattenkönig bilden.
Zum Beispiel werden im Medienreport die jüngsten Besorgnisse über
das Kabelfernsehen durch noch größere aufgewogen, die dem
Satellitenfernsehen hinterdreinhinken. Unser Herr Matzerath, der
auf großer Schiefertafel gern einen allumfassenden Medienverbund
entwirft, sagt dazu: »Glauben Sie mir, schon morgen schaffen wir
uns eine Wirklichkeit, die durch medialen Eingriff der Zukunft
alles Vage und Zufällige nimmt; was immer kommen wird, es läßt sich
vorproduzieren.«
Und wie, Ratte, steht es mit unserem Medienverbund? Nachts träumst
du mir ausgewachsen mit fettem Schwanz. Aber auch meine Tagträume
sind nicht rattenfrei. Es ist, als wolltest du überall, sogar dort,
wo ich meinte, hinterm Zaun und privat zu sein, Duftmarken setzen,
dein Revier abstecken, mir Ausflucht sperren.
Schweigen muß das Dritte Programm. Kein Schulfunk für alle:
Kernspaltung kinderleicht gemacht; vielmehr schreibe ich, seitdem
der Motorewer »Die Neue Ilsebill« im Hafen von Stege festliegt, auf
langer Liste nieder, was unser Herr Matzerath nach Polen mitnehmen
könnte, denn endlich hat er für sich und seinen Chauffeur
Visa-Anträge gestellt.
Außer den Geburtstagsgeschenken für seine Großmutter soll ein
Säckchen blauweißer Plastikzwerge zum Reisegepäck gehören. Die
vielen Schlümpfe werden die kleinen, immer wieder nachwachsenden
Kaschubenkinder erfreuen.
Außerdem weiß ich, wie Anna Koljaiczeks hundertundsiebter
Geburtstag vorbereitet wird. Zucker und Mehl in Tüten, denn viele
Streuselund Mohnkuchen sollen gebacken werden. Jetzt schon kocht
Schweinekopfsülze, bis sie verspricht, aus eigener Kraft zu
gelieren. Einmachgläser voller Pilze vom letzten Herbst werden
gezählt, darunter immer leicht sandige Grünlinge. Jemand bringt
Kümmel genug für den Krautsalat. Auf Wunsch von weither wird
Griebenschmalz ausgelassen. Aus Kaschemken und Kokoschken, von
überall kommen Eier zusammen. Die Sorge, daß auch genug
Pfingstrosen schnittreif sind. Mit Hilfe der Kirche werden
hundertsieben Kerzen vorrätig sein. Noch fehlt in Flaschen
Kartoffelschnaps. Zum Maler Malskat kann ich nur soviel sagen: Ich
werde, sobald es die Rättin erlaubt, von ihm Bericht geben. Wann
und wo er geboren wurde. In welche Lehre er ging. Wohin seine
Wanderjahre ihn führten. Was ihn auf hohem Gerüst so gotisch
träumen ließ. Weshalb man ihm in Lübeck, einer Stadt, die nicht nur
durch Marzipan berühmt wurde, den Prozeß gemacht hat.
Vielleicht sollte ich, solange Hänsel und Gretel immer noch durch
den toten Wald laufen, den Stadtbummel der Frauen nachtragen. Nur
zu viert sind sie auf Landgang. Die Alte sagt, sie müsse Rotkohl
vorkochen.
Da Stege auf Møn vor allem ein Einkaufszentrum ist, in dessen
Hauptstraße das ganze Jahr über »Udsalg« angezeigt bleibt, kaufen
die Frauen groß ein. In einem Selbstbedienungsladen, der »Irma«
heißt, packen sie drei Gitterwagen voll: Büchsen und Gläser, in
Folie verpacktes Obst und Gemüse, Fleisch eingeschweißt und
tiefgefroren, diverse Sorten Knäckebrot, Hüttenkäse, Remoulade,
Popcorn für die Meereskundlerin, dies und das noch, Spülmittel,
Klopapier, viel Flaschenbier und zwei Flaschen Aquavit für die
Alte. Petersilie und Schnittlauch sind frisch vorrätig.
Schwerbepackt müssen sie schleppen. Beim Bäcker gibt's Kringle, im
Fischhandel grüne Heringe, im Tabakladen Zeitungen und was jede so
raucht.
Beim zweiten Landgang kommt die Alte mit. Während die Maschinistin
Maschinenöl und Petroleum für die Lampen kauft, die Meereskundlerin
zur Post rennt und die Steuermännin, weil ja überall Ausverkauf
ist, nach Pullis wühlt, kauft Damroka in einem Wolladen, schräg
gegenüber Møns Banken, neue Vorräte Wolle ein. Die Alte kauft sich
ein Tütchen Lakritze.
Erst jetzt, Rättlein, nachdem alles in der Kombüse, im Vorschiff
und mittschiffs verpackt ist, hören wir wieder Drittes Programm.
Lautenmusik, der gewöhnlich Nachrichten folgen: mal hören, wer was
dementiert...
Mir träumte, ich hätte mich zur Ruhe gesetzt und meine Malven stünden hoch vor den Fenstern.
Freunde kamen vorbei und sagten über den Zaun: Wie gut, daß du dich endlich zur Ruhe gesetzt hast.
Und auch ich sagte in meiner Kürbislaube zu mir: endlich habe ich mich zur Ruhe gesetzt.
So, geruhsam betrachtet,
ist mir die Welt mein Grundstück groß.
Was mich juckt, darf nicht jucken, weil ich zur Ruhe gesetzt mich habe.
Alles hat seinen Platz, wird Erinnerung, staubt ein, ruht in sich.