D AS ERSTE KAPITEL, indem ein Wunsch in
Erfüllung geht, inNoahs Arche keinPlatz für Ratten ist, vom Menschen nur Müllbleibt, ein Schiff oft seinenNamen wechselt, die Saurier aussterben, ein alter Bekannter auftritt, eine Postkarte einlädt, nach Polen zu reisen, der aufrechte Gang geübt wird und mächtig Stricknadeln klappern.


Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir, hoffte ich doch auf Reizwörter für ein Gedicht, das von der Erziehung des Menschen geschlechts handelt. Eigentlich wollte ich über die See, meine baltische Pfütze schreiben; aber das Tier gewann. Mein Wunsch wurde erfüllt. Unterm Christbaum überraschte die Ratte mich. Nicht etwa zur Seite gerückt, nein, von Tannenzweigen überdacht, dem tiefhängenden Baumschmuck zugeordnet, anstelle der Krippe mit dem bekannten Personal, hatte, mehr lang als breit, ein Drahtkäfig Platz gefunden, dessen Gitterstä be weißlackiert sind und dessen Innenraum mit einem hölzer nen Häuschen, der Saugflasche und dem Futternapf möbliert ist. Wie selbstverständlich nahm das Geschenk seinen Ort ein, als gäbe es keinen Vorbehalt, als sei diese Bescherung natürlich: die Ratte unterm Weihnachtsbaum.
Nur mäßige Neugierde, sobald Papier knisterte. Huschig raschelte sie im Streu aus gelockten Hobelspänen. Wie sie nach kurzem Sprung auf ihrem Haus kauerte, spiegelte eine gülden glänzende Kugel das Spiel der Witterhaare. Von Anbeginn war erstaunlich, wie nackt ihr Schwanz lang und daß sie fünffingrig ist wie der Mensch.
Ein sauberes Tier. Hier und dort: nur wenige Rattenköttel kleinfingernagellang. Jener nach altem Rezept hergestellte Heiligabendgeruch, zu dem Kerzenwachs, Tannenduft, ein wenig Verlegenheit und Honigkuchen beitrugen, übertönte die Ausdünstung des geschenkten Jungtieres, das einem Schlangenzüchter abgekauft wurde, der, in Gießen ansässig, Ratten als Schlangenfraß züchtet.
Gewiß überraschten auch andere Gaben: Nützliches, Über flüssiges links rechts beigeordnet. Es fällt ja immer schwerer zu schenken. Wo ist noch übriger Platz? Oh, dieses Elend, nicht mehr zu wissen, was wünschen. Alles ist in Erfüllung gegangen. Was fehlt, sagen wir, ist der Mangel, als wollten wir den uns zum Wunsch machen. Und schenken weiterhin ohne Erbarmen. Niemand weiß mehr, was wann von wem wohlwollend über ihn kam. Satt und bedürftig hieß mein Zustand, als ich mir, nach Wünschen befragt, auf Weihnachten eine Ratte wünschte.
Natürlich wurde gespottet. Fragen blieben nicht aus: In deinem Alter? Muß das sein? Nur weil die Mode sind jetzt? Warum keine Krähe? Oder wie letztes Jahr: mundgeblasene Gläser? Nagut, gewünscht ist gewünscht.
Eine weibliche sollte es sein. Doch bitte keine weiße mit roten Augen, keine Laborratte bitte, wie sie bei Schering und BayerLeverkusen in Gebrauch sind.
Aber wird die graubraune Wanderratte, vulgär Kanalratte genannt, auf Lager und käuflich sein?
In Tierhandlungen werden gewöhnlich nur Nager geführt, denen kein Ruf anhängt, die nicht sprichwörtlich sind, über die nichts Schlimmes geschrieben steht.
Erst kurz vor dem Vierten Advent soll Nachricht aus Gießen gekommen sein. Der Sohn einer Tierhändlerin mit üblichem Angebot, der ohnehin über Itzehoe in Richtung Norden zu seiner Verlobten fuhr, war gefällig und brachte ein Exemplar wie gewünscht; der Käfig konnte getrost der eines Goldhamsters sein.
Dabei hatte ich meinen Wunsch annähernd vergessen, als mich am Heiligen Abend die weibliche Ratte in ihrem Käfig überraschte. Ich sprach sie an, töricht. Später lagen geschenkte Schallplatten auf. Ein Rasierpinsel wurde belacht. Bücher genug, darunter eines über die Insel Usedom. Die Kinder zufrieden. Nüsseknacken, Geschenkpapier falten. Scharlachrote und zinkgrüne Bänder, deren Enden gezwirbelt sein müssen, wollten zur Wiederverwendung nur nichts wegwerfen! aufgewickelt verwahrt werden.
Gefütterte Hausschuhe. Und das noch und das. Und ein Geschenk, das ich für meine Liebste, die mich mit der Ratte beschenkte, in Seidenpapier gerollt hatte: auf handkolorierter Landkarte liegt der pommerschen Küste vorgelagert, Vineta, die versunkene Stadt. Trotz Stockflecken und seitlichem Riß: ein schöner Stich.
Niederbrennende Kerzen, der geballte Familienverband, die schwer erträgliche Stimmung, das Festessen. Tags darauf nannten erste Besucher die Ratte süß.
Meine Weihnachtsratte. Wie anders soll ich sie nennen. Mit ihren rosa Zehen, die feingegliedert den Nußkern, die Mandel oder gepreßtes Spezialfutter halten. Anfangs ängstlich auf meine Fingerkuppen bedacht, beginne ich sie zu verwöhnen: mit Rosinen, Käsebröcklein, dem Gelben vom Ei.
Sie mir danebengesetzt. Ihre Witterhaare nehmen mich wahr. Sie spielt mit meinen Ängsten, die ihr handlich sind. Also rede ich gegenan. Vorerst noch Pläne, in denen Ratten ausgespart bleiben, als könnte zukünftig irgendwas ohne sie sich ereignen, als dürfte, sobald die See kleine Wellen wagt, der Wald an den Menschen stirbt oder womöglich ein Männlein bucklicht sich auf die Reise macht, die Rättin abwesend sein.
Neuerdings träumt sie mir: Schulkram, des Fleisches Ungenügen, was alles der Schlaf unterschiebt, in welche Geschehnisse ich hellwach vermengt werde; meine Tagträume, meine Nachtträume sind ihr abgestecktes Revier. Keine Wirrnis, der sie nicht nacktschwänzig Gestalt gäbe. Überall hat sie Duftmarken gesetzt. Was ich vorschiebe schranktiefe Lügen und Doppelböden -, sie frißt sich durch. Ihr Nagen ohne Unterlaß, ihr Besserwissen. Nicht mehr ich rede, sie spricht auf mich ein.
Schluß! sagt sie. Euch gab es mal. Gewesen seid ihr, erinnert als Wahn. Nie wieder werdet ihr Daten setzen. Alle Perspektiven gelöscht. Ausgeschissen habt ihr. Und zwar restlos. Wurde auch Zeit!
In Zukunft nur Ratten noch. Anfangs wenige, weil ja fast alles Leben ein Ende fand, doch schon vermehrt sich die Rättin erzählend, indem sie von unserem Ausgang berichtet. Mal fistelt sie bedauernd, als wolle sie jüngste Würfe lehren, uns nachzutrauern, mal höhnt ihr Rattenwelsch, als wirke Haß auf unsereins nach: Weg seid ihr, weg!
Doch ich halte gegen: Nein, Rättin, nein! Immer noch sind wir zahlreich. Pünktlich geben Nachrichten von unseren Taten Bericht. Wir tüfteln Pläne aus, die Erfolg versprechen. Zumindest mittelfristig sind wir noch da. Selbst jenes bucklichte Männlein, das abermals dreinreden will, sagte noch kürzlich, als ich treppab in den Keller wollte, um nach den Winteräpfeln zu sehen: Mag sein, daß es zu Ende geht mit den Menschen, doch letztlich bestimmen wir, wann Ladenschluß ist. Rattengeschichten! Wie viele sie weiß. Nicht nur in wärmeren Zonen, sogar in den Iglus der Eskimos soll es sie geben. Mit den Verbannten gelang es Ratten, Sibirien zu besiedeln. Polarforschern gesellig, haben Schiffsratten die Arktis und Antarktis entdeckt. Keine Einöde war ihnen unwirtlich genug. Hinter Karawanen zogen sie durch die Wüste Gobi. Frommen Pilgern im Gefolge waren sie nach Mekka und Jerusalem unterwegs. Mit den wandernden Völkern des Menschengeschlechts sah man dicht bei dicht Ratten wandern. Sie sind mit den Goten ans Schwarze Meer, mit Alexander gen Indien, mit Hannibal über die Alpen, anhänglich den Wandalen nach Rom gezogen. Hinter Napoleons Heerhaufen nach Moskau hin und zurück. Auch mit Mose und dem Volk Israel liefen trockenen Fußes Ratten durchs Rote Meer, um in der Wüste Zin vom himmlischen Manna zu kosten; es gab von Anbeginn Abfall genug. So viel weiß meine Rättin. Sie ruft, daß es hallt: Am Anfang war das Verbot! Denn als der Menschen Gott polterte: Ich will eine Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin ein lebendiger Odem ist, durften wir ausdrücklich nicht an Bord. Für uns kein Zutritt, als Noah seine Arche zum Zoo machte, obgleich sein immerfort strafender Gott, vor dem er Gnade gefunden hatte, von oben herab deutlich geworden war: Aus allerley reinem Vieh nimm zu dir je sieben und sieben, das Menlin und sein Frewlin. Von dem unreinen Vieh aber je ein Par, das Menlin und sein Frewlin, denn wil ich regnen lassen auff Erden vierzig tag und vierzig nacht und vertilgen von dem Erdboden alles, was das Wesen hat, das ich gemacht habe. Mich reuet mein tun.
Und Noah tat, was sein Gott ihm befohlen, und nahm von den Vögeln nach ihrer Art, von dem Vieh nach seiner Art und von allerley Gewürm auff erden nach seiner Art; nur von unsereins Wesen wollte er kein Paar, nicht Ratz und Rättlin, in seinen Kasten nehmen. Rein oder unrein, wir waren ihm weder noch. So früh war das Vorurteil eingefleischt. Von Anbeginn Haß und der Wunsch, vertilgt zu sehen, was würgt und Brechreiz macht. Dem Menschen eingeborener Ekel vor unserer Art hinderte Noah, nach seines strengen Gottes Wort zu handeln. Er verneinte uns, strich uns aus seiner Liste, die alles nannte, was Atem hat.
Küchenschaben und Kreuzspinnen, den sich krümmenden Wurm, die Laus sogar und die warzige Kröte, schillernde Schmeißfliegen nahm er, ein Paar, an Bord seiner Arche, uns aber nicht. Wir sollten draufgehen wie der verderbten Menschheit zahlreicher Rest, von dem der Allmächtige, dieser immerfort rachsüchtige und den eigenen Pfusch verfluchende Gott, abschließend gesagt hatte: Des Menschen Bosheit war gros auff Erden und ihrer Hertzen Tichten und Trachten war böse imer dar.
Worauf er Regen machte, der vierzig Tage und Nächte fiel, bis alles mit Wasser bedeckt war, das einzig die Arche und deren Inhalt trug. Als aber die Wasser fielen und erste Bergspitzen aus der Flut tauchten, kam nach dem Raben, der ausgesetzt wurde, die Taube zurück, von der es hieß: Sie kam zu ihm umb die Vesperzeit und sihe, ein Oelblatt hatte sie abgebrochen und trugs in ihrem Munde. Doch nicht nur mit Grünzeug, mit verblüffender Botschaft auch flog die Taube Noah zu: Sie habe, wo sonst nichts mehr kreuche und fleuche, Rattenköttel, frische Rattenköttel gesehen.
Da lachte der seiner Stümperei überdrüssige Gott, weil Noahs Ungehorsam an unsrer Zählebigkeit zunichte geworden war. Er sagte wie immer von oben herab: Fortan sollen Ratz und Rättlin auff Erden des Menschen gesell und zuträger aller verheißenen Plage seyn...
Er sagte noch mehr voraus, was nicht geschrieben steht, trug uns die Pest auf und schwindelte sich, nach Art des Allmächtigen, weitere Allmacht zusammen. Er persönlich habe uns der Sintflut enthoben. Auf seiner Gotteshand sei von unreiner Art ein Paar sicher gewesen. Auf göttlicher Hand habe Noahs ausgesetzte Taube frische Rattenköttel gesehen. Seiner Pranke verdanke sich unser zahlreiches Fortleben, denn auf Gottes Handteller hätten wir Junge, neun Stück, geworfen, worauf sich der Wurf, während das Gewesser hundert und fuffzig tage auff Erden stund, zu einem Rattenvölkchen ausgewachsen habe; so geräumig sei des allmächtigen Gottes Hand. Verstockt schwieg Noah nach dieser Rede und dachte, wie von Jugend an gewohnt, Böses bei sich. Doch als die Arche breit und platt auf dem Gebirge Ararat Grund gefunden hatte, war das wüste Gelände ringsum schon eingenommen von uns; denn nicht in Gottes Hand, wohl aber in unterirdischen Gängen, die wir mit Alttieren gepfropft und in Nistkammern zu rettenden Luftblasen gemacht hatten, waren wir, das zählebige Rattengeschlecht, der Sintflut entkommen. Wir, langschwänzig! Wir, mit dem ahnenden Witterhaar! Wir, mit dem nachwachsenden Zahn! Wir, des Menschen enggefügte Fußnoten, sein auswuchernder Kommentar. Wir, unverwüstlich!
Bald bewohnten wir Noahs Kasten. Keine Vorkehr half: seine Speise war unsere auch. Schneller, als sich die Menschen um Noah und sein erwähltes Getier vermehren konnten, wurden wir zahlreich. Uns wurde das Menschengeschlecht nicht mehr los.
Da sagte Noah, indem er Demut vor seinem Gott heuchelte und sich gleichwohl an dessen Stelle setzte: Verstockt war mein Hertz, daß ich des Herrn Wort außer acht ließ. Doch nach des Allmächtigen Wille überlebte auff erden mit uns die ratt. Sie soll verflucht seyn, in unserem Schatten zu wühlen, wo abfall liegt.
Das ging in Erfüllung, sagte die Rättin, von der mir träumt. Wo der Mensch war, an jedem Ort, den er verließ, blieb Müll. Selbst auf der Suche nach letzter Wahrheit und seinem Gott auf den Fersen, machte er Müll. An seinem Müll, der Schicht auf Schicht lagerte, war er, sobald man ihm nachgrub, jederzeit zu erkennen; denn langlebiger als der Mensch ist sein Abfall. Einzig Müll hat ihn überdauert!
Wie nackt ihr Schwanz mal so und mal so liegt. Ach, wie hat sie sich ausgewachsen, meine niedliche Weihnachtsratte. Unruhig auf und ab, dann wieder starr, bis auf die zitternden Witterhaare, hält sie alle Träume besetzt. Mal plappert sie leichthin, als müsse auf Rattenwelsch, in dem viel Tratsch zischelt, die Welt samt Kleinkram verplaudert werden, dann wieder fistelt sie belehrend, indem sie mich in die Schule nimmt, mir rattig geschichtsläufige Lektionen erteilt; schließlich spricht sie endgültig, als habe sie Luthers Bibel, die Großen und Kleinen Propheten, die Sprüche Salomonis, Jeremiä Klagelieder, wie nebenbei die Apokryphen, den Singsang der Männer im Feuerofen, die Psalmen alle und Siegel nach Siegel des Johannes Offenbarung gefressen.
Wahrlich, ihr seid nicht mehr! höre ich sie verkünden. Wie einst der tote Christus vom Weltgebäude herab, spricht weithallend die Rättin vom Müllgebirge: Nichts spräche von euch, gäbe es uns nicht. Was vom Menschengeschlecht geblieben, zählen wir zum Gedächtnis auf. Vom Müll befallen, breiten sich Ebenen, strändelang Müll, Täler, in denen der Müll sich staut. Synthetische Masse wandert in Flocken, Tuben, die ihren Ketchup vergaßen, verrotten nicht. Schuhe, weder aus Leder noch Stroh, laufen selbsttätig mit dem Sand, sammeln sich in vermüllten Kuhlen, wo schon des Seglers Handschuh und drolliges Badegetier warten. All das redet von euch ohne Unterlaß. Ihr und eure Geschichten in Klarsichtfolie verschweißt, in Frischhaltebeuteln versiegelt, in Kunstharz gegossen, in Chips und Klips ihr: das gewesene Menschengeschlecht.
Was sonst noch geblieben ist: auf euren Pisten rollt, scheppert Schrott. Kein Papier uns zum Fraß, doch zerschlissene Planen um Pfeiler, um Stahlträger gewickelt. Geronnener Schaum. Als sei in ihm Leben, bibbert in Fladen Gelee. Überall rotten Horden leerer Kanister. Aus Kassetten befreit sind Filmbänder unterwegs: Die Caine war ihr Schicksal, Doktor Schiwago, Donald Duck, High Noon und Goldrausch... Was euch vergnüglich oder zu Tränen rührend in beweglichen Bildern das Leben gewesen ist.
Ach, eure Autohalden, in denen sich wohnen ließ früher. Container und sonstige Stapelware. Kisten, die ihr Safe und Tresor nanntet, stehen sperroffen: jedes Geheimnis ausgekotzt. Alles wissen wir, alles! Und was ihr in suppenden Fässern gelagert, vergessen oder falsch abgebucht habt, wir finden sie, eure tausend mal tausend Giftdeponien: Plätze, die wir begrenzen, indem wir warnend uns warnend, denn nur noch wir sind Duftmarken setzen.
Zugegeben: selbst euer Müll ist beachtlich! Und oft staunt unsereins, wenn Stürme mit dem strahlenden Staub sperrige Bauelemente von weither über die Hügel ins flache Land tragen. Seht, es segelt ein Glasfiberdach! So erinnern wir den verstiegenen Menschen: immer höher hinaus, immer steiler erdacht... Seht, wie zerknautscht sein Fortschritt zu Fall kam! Und ich sah, was mir träumte, sah Gelee bibbern und Filmbänder unterwegs, sah rollenden Schrott und Folien von Stürmen bewegt, sah Gift aus Fässern suppen; und ich sah sie, die vom Müllberg herab verkündete, daß der Mensch nicht mehr sei. Das, rief sie, ist euer Nachlaß!
Nein, Rättin, nein! schrie ich. Noch gibt es uns tätig. Zukünftig sind Termine gesetzt, vom Finanzamt, beim Zahnarzt zum Beispiel. Es sind die Ferienflüge vorausgebucht. Morgen ist Mittwoch und übermorgen ... Auch steht mir ein bucklicht Männlein im Weg, das sagt: Es müsse dies noch und das niedergeschrieben werden, damit unser Ende, sollte es kommen, vorbedacht sich ereigne.

Meine See, die sich nach Osten
und nördlich verläuft, wo Haparanda liegt.
Die baltische Pfütze.
Was von der windigen Insel Gotland außerdem ausging. Wie die Algen dem Hering die Luft nahmen
und der Makrele, dem Hornfisch auch.

Es könnte, was ich erzählen will,
weil ich durch Wörter das Ende aufschieben möchte, mit Quallen beginnen, die mehr, immer mehr, unabsehbar mehr werden,
bis die See, meine See
eine einzige Qualle.

Oder ich lasse die Bilderbuchhelden,
den russischen Admiral, den Schweden, Dönitz, wen noch aufkreuzen, bis Strandgut
genug bleibt Planken und Bordbücher,
aufgelistet Proviant -
und alle Untergänge abgefeiert sind.

Als am Palmsonntag aber Feuer vom Himmel auf die Stadt Lübeck und ihre Kirchen fiel, brannte vom Backsteingemäuer die innere Tünche; hoch ins Gerüst soll nun Malskat, der Maler, abermals steigen, damit uns die Gotik nicht ausgeht.

Oder es spricht, weil ich nicht lassen kann von der Schönheit, die Organistin aus Greifswald mit ihrem R, das zum Uferkiesel gerollt wurde. Sie hat, genau gezählt,
elf Pfaffen überlebt und immer
den Cantus firmus gehalten.

Jetzt heißt sie, wie Witzlavs Tochter hieß. Jetzt sagt Damroka nicht,
was der Butt ihr gesagt.
Jetzt lacht sie von der Orgelbank
ihren elf Pfaffen nach: der erste, son Mucker, der kam aus Sachsen...

Ich lade euch ein: denn hundertundsieben Jahre wird Anna Koljaiczek aus Bissau bei Viereck, das liegt bei Matarnia.
Ihren Geburtstag zu feiern mit Sülze, Pilzen und Kuchen kommen alle gereist, denn weit
zweigt das kaschubische Kraut.

Die aus Übersee: von Chicago her reisen sie an. Die Australier nehmen den längsten Weg. Wem es im Westen besser geht, der kommt, es jenen zu zeigen,
die in Ramkau, Kartuzy, Kokoschken geblieben, um wieviel besser in deutscher Mark.

Fünf von der Leninwerft sind eine Delegation. Schwarzröcke bringen den Segen der Kirche. Nicht nur die staatliche Post,
Polen als Staat ist vertreten. Mit Chauffeur und Geschenken kommt unser Herr Matzerath auch.

Aber das Ende! Wann kommt das Ende? Vineta! Wo liegt Vineta?
Seetüchtig kreuzen sie auf; denn zwischendurch werden Frauen tätig.
Allenfalls Flaschenpost,
die ihren Kurs ahnen läßt.

Da ist keine Hoffnung mehr.
Denn mit den Wäldern,
soll hier geschrieben stehen,
sterben die Märchen aus.
Abgeschnitten Krawatten kurz unterm Knoten. Endlich, das Nichts hinter sich, treten die Männer zurück.

Doch als die See den Frauen Vineta zeigte, war es zu spät. Damroka verging
und Anna Koljaiczek sagte: Nu isses aus. Ach, was soll werden, wenn nichts mehr wird! Da träumte die Rättin mir und ich schrieb: Die Neue Ilsebill geht als Ratte an Land.

Als im Oktober neunundneunzig die »Dora«, ein stählerner Ewer mit Holzboden, dem Schiffsbauer Gustav Junge in Auftrag gegeben und im März des Jahres 1900 auf der Wewelsflether Werft zu Wasser gelassen wurde, ahnte der Schiffseigner Richard Nickels nicht, was alles seinem für die Hamburger Graskellerschleuse bemessenen Alsterewer geschehen sollte, zumal das neue Jahrhundert, laut angekündigt und klotzig, mit prallen Taschen ans Licht trat, als wollte es sich die Welt kaufen.
Knappe achtzehn Meter war das Schiff lang und viersiebzig breit. Die Tonnage der »Dora« belief sich auf achtunddreißigkommafünf Bruttoregistertonnen, ihre Tragfähigkeit betrug siebzig Tonnen, war aber mit fünfundsechzig angegeben. Ein Lastschiff, für Getreide und Schlachtvieh, für Bauholz und Ziegelsteine gut.
Der Schiffer Nickels war nicht nur auf der Elbe, der Stör und der Oste mit Fracht unterwegs, sondern befuhr auch deutsche und dänische Häfen bis nach Jütland hoch und nach Pommern hin. Bei gutem Wind lief sein Lastewer vier Knoten.
1912 wurde die »Dora« an den Schiffer Johann Heinrich Jungclaus verkauft, der den Ewer ohne Schaden über den Ersten Weltkrieg brachte und ihm im Jahr vierundzwanzig, zur Zeit der Rentenmark, einen 18-PS-Glühkopfmotor einbauen ließ. Krautsand und nicht mehr Wewelsfleth stand nun als Heimathafen am Heck geschrieben: mit weißen Buchstaben auf schwarzem Anstrich. Das änderte sich, als Jungclaus seinen Lastewer dem Schiffer Paul Zenz aus Cammin an der Dievenow verkaufte, einer Kleinstadt in Pommern, die heute Kamién heißt.
Dort fiel die »Dora« auf. Abfällig nannten die pommerschen Küstenschiffer das Plattbodenschiff, wenn es durch den Greifswalder Bodden geschippert wurde, einen Dwarsdriewer. Noch immer Getreidelasten, Winterkohl, Schlachtvieh als Last, aber auch Bauholz, Ziegelsteine, Dachpfannen, Zement; es wurde ja bis in den Zweiten Weltkrieg hinein viel gebaut: Kasernen, Barackenlager. Doch hieß der Eigner der »Dora« jetzt Otto Stöhwase, und am Heck stand Wollin als Heimathafen geschrieben; so heißt eine Stadt und Insel, die mit der Insel Usedom vor der pommerschen Küste liegt. Als vom Januar bis zum Mai des Jahres fünfundvierzig große und kleine Schiffe, mit Zivilisten und Soldaten überladen, die Ostsee befuhren, doch nicht alle Schiffe die Häfen der Städte Lübeck, Kiel, Kopenhagen, den rettenden Westen erreichten, holte auch die »Dora«, kurz bevor die zweite sowjetische Armee zur Ostsee durchstieß, Flüchtlinge aus Danzig-Westpreußen, um sie nach Stralsund zu bringen. Das war, als die »Gustloff« sank. Das war, als in der Neustädter Bucht die »Cap Arcona« ausbrannte. Das war, als überall und selbst an Schwedens neutraler Küste ungezählt viele Leichen antrieben; alle noch Lebenden glaubten, davongekommen zu sein, und nannten deshalb das Ende, als sei zuvor nichts geschehn, die Stunde Null.
Ein Jahrzehnt später wurde, während überall Frieden bewaffnet herrschte, der immer noch unverändert lange und breite Ewer mit einem 36-PS-Brons-Dieselmotor ausgerüstet und vom neuen Eigner, der Firma Koldewitz auf Rügen, nicht mehr »Dora« sondern »Ilsebill« genannt; wohl in Anspielung auf ein plattdeutsches Märchen, dessen Wortlaut aufgezeichnet worden war, als überall in Deutschland, also auch auf der Insel Rügen, Märchen gesammelt wurden.
Benannt nach des Fischers Frau, die sich vom sprechenden Butt mehr, immer mehr, am Ende wie Gott zu sein wünscht, diente die »Ilsebill« noch lange als Lastschiff im Bodden, in der Peenemündung und im Achterwasser, bis man sie gegen Ende der sechziger Jahre, während immer noch Frieden bewaffnet herrschte, abwracken und im Hafen von Warthe auf Usedom als Molenfundament versenken wollte. Der stählerne Rumpf, dessen Heck zuletzt die Stadt Wolgast als Heimathafen ausgab, sollte geflutet werden.
Das geschah nicht, denn im reichen Westen, dem der verlorene Krieg Glück gebracht hatte, fand sich eine Käuferin, die von Greifswald herkam, über Umwege nach Lübeck gezogen war, doch weiter auf vorpommerschen Trödel fixiert blieb, der mochte von Rügen, von Usedom stammen oder, wie der stählerne Besanewer mit Holzboden, nach dorthin verschlagen sein; eigentlich hatte sie eines der selten gewordenen Zeesboote gesucht.
Am Ende langwieriger Verhandlungen bekam die Käuferin, die, ihrem Herkommen gemäß, beharrlich blieb, den Zuschlag, weil die Deutsche Demokratische Republik, als letzter Schiffseigner, nach hartem Westgeld begehrlich war; die Überführung des Lastewers kam teurer als dessen Kauf. Lange lag die »Dora« als »Ilsebill« in Travemünde. Schwarz der Rumpf und der Hauptmast, blau-weiß das Steuerhaus und die restlichen Aufbauten. An langen Wochenenden und während Urlaubswochen putzte, besserte, pinselte die neue Eignerin, die ich, weil sie mir lieb ist, Damroka nennen will, an ihrem Schiff, bis sie, obgleich von Beruf Organistin und von Jugend an mit Händen und Füßen für Gott und Bach tätig, Ende der siebziger Jahre zum Bootsführerschein ihr Patent für Küstenfahrt machte. Sie ließ die Orgel samt Kirche und Pfaffen hinter sich, entzog sich der musikalischen Fron und soll fortan die Kapitänin Damroka genannt werden, auch wenn sie ihr Schiff mehr bewohnte als ausfuhr, nachdenklich auf Deck rumstand, wie verwachsen mit ihrem stets halbvollen Kaffeepott.
Erst Anfang der achtziger Jahre faßte Damroka einen Plan, der, nach Probefahrten in der Lübecker Bucht und nach Dänemark rüber, ab Ende Mai dieses Jahres, das nach chinesischem Kalender das Jahr der Ratte ist, umgesetzt werden soll. Ein im Jahr 1900 gebauter Besanewer, der mehrmals seinen Eigner und Heimathafen gewechselt, seinen Besanmast verloren, doch nach letztem Umbau einen starken Dieselmotor gewonnen hat, ein Schiff, das nunmehr, als müsse es ein Programm verkörpern, auf den Namen »Die Neue Ilsebill« hört und bald mit Frauen bemannt sein wird, wurde im Hafen von Travemünde vom Lastewer zum Forschungsschiff umgerüstet. Im Vorschiff ist der enge Schlafraum für die weibliche Mannschaft mit einer Bretterwand abgeschlagen. Zum Schrank ausgebaut, bietet die Bugspitze Raum für Seesäcke, Bücher, Strickzeug und Erste-Hilfe-Kram. Im Mittelschiff soll der Frachtraum mit langem Arbeitstisch künftig der Forschung dienen. Überm Maschinenraum mit dem neuen 180-PS-Motor ist das Steuerhaus, eine Holzlaube mit Fenstern in jede Richtung, zum Heck hin um eine Kleinküche erweitert worden: mehr Verschlag als Kombüse.
Mit fünf Frauen überbelegt: eng und nur mäßig wohnlich ist es an Bord. Alles zweckbestimmt: der Forschungstisch muß auch Eßtisch sein. »Die Neue Ilsebill« soll bundesdeutsche, dänische, schwedische und falls die Genehmigung eintrifft Küstengewässer der DDR befahren. Der Auftrag ist vorgeschrieben: Punktuell muß die Quallendichte der westlichen Ostsee vermessen werden, denn die Verquallung des baltischen Meeres nimmt nicht nur statistisch zu. Der Bädertourismus leidet. Überdies schädigen Ohrenquallen, die von Plankton und Heringslarven leben, das Fischereiwesen. Das Institut für Meereskunde, mit Sitz in Kiel, hat deshalb Forschungsaufträge vergeben. Natürlich sind, wie immer, die Mittel knapp. Natürlich soll nicht die Ursache der Verquallung erforscht werden, einzig die Fluktuation der Bestände. Natürlich weiß man schon jetzt, daß die Meßdaten schlimm sein werden. Das sagen die Frauen an Bord des Schiffes, die alle lachlustig, spottsüchtig, spitzzüngig und notfalls giftig ätzend sein können; angegraut sind sie die Jüngsten nicht mehr. Schon bei der Ausfahrt backbord die Mole, besetzt mit winkenden Touristen teilt die Bugsee überreichen Quallenbestand, der sich hinterm Heck verquirlt wieder schließt.
Für diese Reise haben sich die fünf Frauen, wie ich sie wünsche, anlernen lassen. Sie können Knoten schlagen und dichtholen. Das Belegen einer Klampe, das Aufschießen einer Leine geht ihnen von der Hand. Sie können die Betonnung des Fahrwassers lesen, mehr oder weniger gut. Seemännisch nehmen sie Kurs. Die Kapitänin Damroka hat ihr Patent hinter Glas rahmen lassen und ins Steuerhaus gehängt. Kein Bildchen sonst, das Schmuck bedeuten könnte, dafür ein neues AtlasEcholot zum alten Kompaß und ein Wetterempfänger. Zwar ist bekannt, daß die Ostsee von Algen verkrautet, durch Tangbärte vergreist, von Quallen übersättigt, obendrein quecksilbrig, bleihaltig, was noch alles ist, aber erforscht muß werden, wo sie mehr oder weniger, wo sie noch nicht, wo sie besonders verkrautet, vergreist, übersättigt ist, ungeachtet aller Schadstoffe, die anderenorts bilanziert sind. Deshalb wurde das Forschungsschiff mit Meßinstrumenten ausgerüstet, von denen eines »Meßhai« heißt und scherzhaft »Quallenzähler« genannt wird. Außerdem sollen die Vorkommen von Plankton und Heringslarven, was alles sonst noch die Qualle frißt, gemessen, gewogen, bestimmt werden. Eine der Frauen ist als Meeresforscherin ausgebildet. Sie kennt alle Zahlen verjährter Messungen und die Biomasse der westlichen Ostsee bis hinters Komma genau. Auf diesem Papier wird sie fortan die Meereskundlerin genannt werden.
Bei schwachem Nordwest nimmt der Forschungsewer Kurs. Ruhig wie die See und ihrer Kenntnisse sicher, gehen die Frauen seemännischer Arbeit nach. Langsam, weil ich das so will, gewöhnen sie sich daran, einander nach ihrer Funktion zu nennen und »He, Maschinistin!« oder »Wo steckt die Meereskundlerin?« zu rufen. Nur die älteste der Frauen wird von mir, obgleich sie die Küche besorgt, nicht Smutje, sondern die Alte genannt.
Noch muß der Meßhai nicht ausgefahren werden. Zeit bleibt für Geschichten. In Dreimeilendistanz zu den Seebädern der holsteinischen Küste erzählt die Kapitänin der Steuermännin aus Vorzeiten, als sie siebzehn Jahre lang ihrer Kirchgemeinde treu gewesen war und elf Pfaffen, einen nach dem anderen, überlebt hat. Zum Beispiel hat sie dem ersten »Das war son Mucker, der kam aus Sachsen« die immer zu lange Predigt mit dem Choral »Es ist genug« gekürzt. Weil aber die Steuermännin nur inwendig lächelt und ihrem Wesen nach bitter bleibt, verknappt Damroka diese Geschichte und läßt den ersten ihrer elf Pfaffen, nach plötzlichem Sturz von der Orgelempore, ableben: »Da waren es nur noch zehn...«
Nein, sagt die Rättin, von der mir träumt, solche Vertällchens haben wir satt. Das war einmal und war einmal. Was schwarz auf weiß alles geschrieben steht. Klugscheißerei und Kirchenlatein. Unsereins ist fett davon, hat sich durchgefressen bis zur Gelehrsamkeit. Diese stockfleckigen Pergamente, gelederten Folianten, mit Zetteln gespickten Gesamtausgaben und oberschlauen Enzyklopädien. Von d'Alembert bis Diderot, es ist uns alles bekannt: die heilige Aufklärung und der Erkenntnisekel danach. Jede Ausscheidung menschlicher Vernunft.
Noch früher, zu Augustinus´ Zeiten schon, waren wir überfressen. Von Sankt Gallen bis Uppsala: keines Klosters Bibliothek, die uns nicht wissender machte. Was immer das Wort Leseratte gemeint haben mag, wir sind belesen, uns haben in Hungerzeiten Zitate gemästet, wir kennen durchweg die schöne und die sachliche Literatur, uns sättigten Vorsokratiker und Sophisten. Scholastiker satt! Ihre Schachtelsätze, die wir kürzten und kürzten, waren uns allzeit bekömmlich. Fußnoten, welch köstliches Zubrot! Von Anbeginn aufgeklärt, waren uns Abhandlungen und Traktate, Exkurse und Thesen neunmalklug kurzweilig.
Ach, euer Denkschweiß und Tintenfluß! Wieviel Papier wurde geschwärzt, die Erziehung des Menschengeschlechts zu fördern! Streitschriften und Manifeste. Wörter geheckt und Silben gestochen. Versfuß gezählt und Sinn ausgelegt. So viel Besserwissen. Nichts war den Menschen zweifelsfrei. Jedem Wort sieben dagegengesetzt. Ihr Streit, ob die Erde rund und Brot wirklich des Herrn Leib sei, von allen Kanzeln herab. Besonders liebten wir ihren theologischen Hader. Man konnte die Bibel ja in der Tat so oder so lesen.
Und es erzählte die Rättin, die nichts von Damroka und ihren Pfaffen hören wollte, was ihr aus glaubenseifrigen Zeiten, vor und nach Luther, erinnerlich war: Mönchsgezänk und Theologenzwist. Und immer ging es um das wahre Wort. Natürlich war bald und schon wieder von Noah die Rede; sie schob mir die Arche dreistöckig, wie Gott sie gefordert hatte, in meinen Traum.
Ja! rief sie, er hätte uns aufnehmen müssen in seinen Kasten aus Tannenholz. Im ersten Buch Moses stand nichts geschrieben von: Ratten raus! Es durfte sogar die Schlange, von der gedruckt zu lesen stand, sie sei verflucht fur allem Vieh und fur allen Thieren auff dem felde, als Paar Schlange und Schlänglin in den hölzernen Kasten. Warum wir nicht? Beschiß war das! Wir legten Einspruch ein, immer wieder.
Worauf ich auf traumgerecht fließenden Bildern ansehen mußte, wie Noah sieben Paare vom reinen Vieh, je ein Paar vom unreinen Getier über eine Rampe in die mehrstöckige Arche führen ließ. Wie ein Zirkusdirektor genoß er seine Menagerie. Keine Art fehlte. Alles stampfte, trabte, hüpfte, tippelte, huschte, kroch, flatterte, schlich, ringelte sich hinein, der Regenwurm und seine Würmin nicht vergessen. Paarweise nahmen Zuflucht; Kamel und Elefant, Tiger und Gazelle, der Storch und die Eule, die Ameise und die Schnecke. Und paarweis nach Hunden und Katzen, Füchsen und Bären die Vielzahl der Nager: Siebenschläfer und Mäuse, jadoch, die Wald-, Feld-, Wüstenund Springmäuse. Doch immer, wenn sich Ratz und Rättlin einreihen wollten, um gleichfalls Zuflucht zu suchen, hieß es: Raus! Weg hier! Verboten! Das rief nicht Noah. Der führte stumm und verkniffen unterm Kastentor seine Strichliste: Tontafeln, in die er Zeichen kerbte. Das riefen seine Söhne Sem, Ham und Japheth, drei massige Kerle, denen später, laut Weisung von oben, aufgetragen wurde: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde. Die schrien: Haut endlich ab! Oder: Für Ratten Zutritt verboten! Die machten wahr ihres Vaters Wort. Jämmerlich war anzusehen, wie das biblische Rattenpaar aus dem Zottelfell langwolliger Schafe, unterm tiefhängenden Bauch des Flußpferdes mit Stöcken aufgestöbert, von der Rampe geprügelt wurde. Von Affen und Schweinen verspottet, gaben sie schließlich auf.
Und hätte nicht, sagte die Rättin, während die Arche sich zusehends füllte, Gottes Hand uns aufgehoben, nein, noch sicherer: hätten wir uns nicht eingegraben, unsere Tiefgänge gepfropft und die Nistkammern zu rettenden Luftblasen gemacht es gäbe uns heute nicht. Nennenswert wäre niemand zur Stelle, dem es gelingen könnte, das Menschengeschlecht zu überleben.
Wir waren immer schon da. Auf jeden Fall gab es uns gegen Ende der Kreidezeit, als vom Menschen noch keine Idee spukte. Das war, als hier und anderswo Dinosaurier und ähnliche Monstren die Schachtelund Farnwälder kahlfraßen. Dumme Kaltblüter, die lächerlich große Eier legten, aus denen neue Monstren ungestalt schlüpften und sich gigantisch auswuchsen, bis wir diese Übertreibungen der Natur satt hatten und kleiner als heutzutage, etwa der Galapagos-Ratte vergleichbar ihre Rieseneier knackten. Blöd und erstarrt in nächtlicher Kälte standen die Saurier hilflos da, keiner Gegenwehr fähig. Sie, Launen der oft mißgelaunten Natur, mußten aus vergleichsweise winzigen, beim Schöpfungsakt halbvergessenen Köpfen ansehen, wie wir, Warmblüter von Anbeginn, wir, die ersten Säuger lebendig geworfener Aufzucht, wir, mit dem immerfort nachwachsenden Zahn, wir, die beweglichen Ratten, ihren Rieseneiern Löcher nagten, so hart und dick die Schalen dichthalten wollten. Gerade gelegt, noch nicht angebrütet, mußte ihr Eiersegen sich Loch nach Loch gefallen lassen, auf daß er auslief und uns lustig und satt machte. Arme Dinosaurier! höhnte die Rättin und zeigte ihre immerfort nachwachsenden Nagezähne. Sie zählte auf: den Brachiosaurus und den Diplodocus, zwei Monstren, die bis zu achtzig Tonnen wogen, schuppige Sauropoden und gepanzerte Theropoden, zu denen der Tyrannosaurus, ein Raubmonster von fünfzehn Metern Länge, gehörte, vogelfüßige Saurier und den gehörnten Torosaurus; Untiere, die sich mir alle traumwirklich zeigten. Dazu noch Lurche und Flugechsen.
Mein Gott, rief ich, ein Scheusal schlimmer als das andere! Die Rättin sagte: Es hatte bald ein Ende mit ihnen. Nach Verlust ihrer Rieseneier, zukünftiger Babymonstren beraubt, schleppten sich die Dinosaurier in die Sümpfe, um klaglos und äußerlich unbeschadet zu versacken. Deshalb hat der Mensch später, in seiner rastlos schürfenden Neugierde, ihre Gerippe so ordentlich beieinander gefunden, worauf er weiträumige Museen baute. Knochen an Knochen gefügt, wurden die Saurier ausgestellt, ein jegliches Exemplar einen Saal füllend. Zwar fand man auch sehenswerte Rieseneier, deren Schale unsere Zähne gezeichnet hatten, doch niemand, kein Forscher der ausgehenden Kreidezeit, kein Hohepriester der Evolutionslehre wollte unsere Leistung bestätigen. Aus bisher ungeklärten Gründen, hieß es, starben die Dinosaurier aus. Vielschichtige Verschalung der Eier, plötzlicher Klimasturz und sintflutartige Unwetter wurden als Ursachen für das Aussterben der Monstren vermutet; uns, dem Rattengeschlecht, wollte niemand Verdienste zusprechen.
So klagte die Rättin, von der mir träumt, nachdem sie mehrmals und bißwütig das Knacken der Rieseneier demonstriert hatte. Ohne uns gäbe es immer noch diese Mißgestalten! rief sie. Wir haben Platz geschaffen für neues, nicht mehr monströses Leben. Dank unseres nagenden Fleißes konnte sich weiteres Säugegetier warmblütig entwickeln, darunter Frühformen späterer Haustiere. Nicht nur Hunde, Pferde, Schweine, auch der Mensch ließ sich auf unsereins, die ersten Säuger, zurückführen; was er uns übel gedankt hat seit Noahs Zeiten, als Ratz und Rättlin in seinen Kasten nicht durften...

Es gilt, jemanden zu begrüßen. Ein Mensch, der sich als alter Bekannter vorstellt, behauptet, es gäbe ihn immer noch. Er will wieder da sein. Gut, soll er.
Unser Herr Matzerath hat allerlei und bald auch seinen sechzigsten Geburtstag hinter sich. Selbst wenn wir den Prozeß und die Verwahrung in einer Anstalt, zudem das Unwägbare der Schuld außer acht lassen, hat sich nach seiner Entlassung viel Mühsal auf Oskars Buckel gehäuft: dieses Auf und Ab bei langsam wachsendem Wohlstand. So viel Aufmerksamkeit seine frühen Jahre fanden, sein Altern vollzog sich unbeachtet und lehrte ihn, Verluste wie Kleingewinne zu buchen. Bei gleichbleibend familiärem Gezänk immer ging es um Maria, besonders aber um seinen Sohn Kurt — hat ihn die Summe verstrichener Jahre zum gewöhnlichen Steuerzahler und freien Unternehmer gemacht: merklich gealtert. So geriet er in Vergessenheit, obgleich wir ahnten, es muß ihn noch geben: irgendwo lebt er in sich zurückgezogen. Man müßte ihn anrufen »Hallo, Oskar!« -, und schon wäre er da: redselig; denn nichts spricht für seinen Tod.
Ich jedenfalls habe unseren Herr Matzerath nicht ableben lassen, doch fiel mir zu ihm nichts Sonderliches mehr ein. Seit seinem dreißigsten Geburtstag gab es keine Nachricht von ihm. Er verweigerte sich. Oder war ich es, der ihn gesperrt hatte? Erst kürzlich, als ich ohne weitere Absicht treppab in den Keller zu den runzelnden Winteräpfeln wollte und in Gedanken allenfalls meiner Weihnachtsratte anhing, trafen wir uns wie auf höherer Ebene: er stand da und stand nicht da, er gab vor zu sein und warf einen Schatten plötzlich. Er wollte beachtet, gefragt werden. Und schon beachte ich ihn: Was macht ihn so plötzlich wieder bemerkenswert? Ist abermals die Zeit für ihn reif?
Seitdem der hundertundsiebte Geburtstag seiner Großmutter Anna Koljaiczek im Kalender vermerkt steht, wird vorerst halblaut nach unserem Herrn Matzerath gefragt. Eine einladende Postkarte hat ihn gefunden. Er soll zu den Gästen gehören, sobald auf Kaschubisch die Feier beginnt. Nicht mehr nach Bissau, dessen Äcker zu Flugpisten betoniert wurden, nach Matern, einem Dorf, das nahbei liegt, wird er gerufen. Ob er Lust hat, zu reisen? Soll er Maria, das Kurtchen bitten, ihn zu begleiten? Könnte es sein, daß der Gedanke an Rückkehr unseren Oskar ängstigt?
Und wie steht es um seine Gesundheit? Wie kleidet das bucklicht Männlein sich heutzutage? Soll, darf man ihn wiederbeleben?
Als ich mich vorsichtig versicherte, hatte die Rättin, von der mir träumt, nichts einzuwenden gegen die Auferstehung unseres Herrn Matzerath. Wahrend sie noch allen Müll berief, der von uns zeugen wird, sagte sie beiläufig: Weniger maßlos als vormals, bescheidener wird er auftreten. Er ahnt, was sich so trostlos bestätigt hat...
Also rufe ich »Hallo, Oskar!« -, und schon ist er da. Mit seiner Vorortvilla und dem dicken Mercedes. Samt Firma und Zweigstellen, Überschüssen und Rücklagen, Außenständen und Verlustabschreibungen, samt seinen ausgeklügelten Vorfinanzierungsplänen. Mit ihm ist seine quengelnde Restfamilie zur Stelle und jene Filmproduktion, die, dank rechtzeitigem Einstieg ins Videogeschäft, stetig ihren Marktanteil steigert. Nach einer anrüchigen, inzwischen eingestellten Pornoreihe ist es vor allem sein didaktisches Programm, das verdienstvoll genannt wird und dessen sattes Kassettenangebot wie Schulspeisung immer mehr Schüler füttert. Samt eingeborenem Medientick und seiner Lust an Vorgriffen und Rückblenden ist er da. Ich muß ihn nur ködern, ihm Brocken hinwerfen, dann wird er unser Herr Matzerath sein.
»Was, Oskar, halten Sie vom Waldsterben übrigens? Wie schätzen Sie die Gefahr drohender Verquallung für die westliche Ostsee ein? Wo, genau lokalisiert, vermuten Sie die versunkene Stadt Vineta? Sind Sie schon mal in Hameln gewesen? Meinen etwa auch Sie, daß es demnächst zu Ende geht?« Nicht der sterbende Wald, nicht zu viele Quallen machen ihn munter, meine Frage, was er vom Malskat-Prozeß halte »Sie erinnern sich, Oskar, das war in den fünfziger Jahren« -, läßt ihn zappelig und hoffentlich bald beredt werden.
Er sammelt Stücke aus dieser Zeit. Nicht nur die damals modernen Nierentische. Sein weißer Plattenspieler, auf dessen Teller er behutsam den Hit »The Great Pretender« legt, ist ein Gerät der auf Formschönheit bedachten Firma Braun und wurde, als Malskats Prozeß lief, Schneewittchensarg genannt; Farbgebung und Plexiglasdeckel erlaubten diesen Vergleich.
Da ich mich in seiner Vorstadtvilla befinde, zeigt er mir deren Kellerräume, die alle, bis auf einen, der neugierig macht, weil er verschlossen bleibt, mit Stücken aus den Jahren des Neubeginns vollgestellt sind. Ein größerer Raum dient privaten Filmvorführungen. Auf runden Blechbüchsen lese ich Titel »Sissi«, »Der Förster vom Silberwald«, »Die Sünderin« und ahne, daß unser Herr Matzerath noch immer vom Jahrzehnt der Trugbilder gefangen ist, wenngleich ihn seine VideoProduktion als jemanden ausweist, der auf Zukunft setzt. »Es stimmt«, sagt er, »im Grunde haben die fünfziger Jahre nicht aufgehört. Noch immer zehren wir vom damals fundierten Schwindel. Dieser solide Betrug! Was danach kam, war gewinnträchtiger Zeitvertreib.«
Stolz zeigt er mir einen Messerschmitt-Kabinenroller, der, auf ein Podest gestellt, einen kleineren Kellerraum beherrscht. Wie neu sieht er aus und lädt zwei Personen zum Platznehmen hintereinander ein. An cremefarben tapezierten Wänden hängen, zu Gruppen geordnet, gerahmte Fotos, die unseren Herrn Matzerath als Hintersassen des Kabinenrollers zeigen. Offenbar sitzt er erhöht, denn der grämlich blickende Mann am Steuer wirkt gleichgroß. Ein Foto zeigt beide stehend vor dem Roller: nun deutlich verschieden hoch gewachsen.
»Aber das ist doch!« rufe ich. »Na klar doch! Ich erkenne ihn wieder, trotz seiner Fahrerkappe...«
Unser Herr Matzerath lächelt zwergwüchsig. Nein, er lacht inwendig, denn sein Buckel hüpft. »Richtig!« ruft er. »Das ist Bruno. Vormals mein Pfleger, aber auch Freund in schweren Zeiten. Eine treue Seele. Als ich ihn nach meiner Entlassung bat, mir auch außerhalb der Heilund Pflegeanstalt beiseitezustehen und mit mir die neugewonnene Beweglichkeit zu nutzen, machte er sogleich seinen Führerschein. Ein ausgezeichneter Fahrer, wenn auch eigensinnig. Doch was rede ich, Sie kennen ihn ja.«
Nun erzählt unser Herr Matzerath, wie er und Bruno Münsterberg im Jahr fünfundfünfzig »ganz von vorne angefangen haben«. Nach dem Messerschmitt-Kabinenroller sei es bald ein Borgward, dann aber doch ein Mercedes 190 SL gewesen, den sein Chauffeur immer noch fahre, mittlerweile ein seltenes Stück. Falls er nach Polen reise, wogegen einiges spreche, werde er sich diesem unverwüstlichen Zeugnis deutscher Wertarbeit anvertrauen. Übrigens sei damals, zu Kabinenrollerzeiten, jener Prozeß zu Ende gegangen, der nach dem Maler Malskat benannt wurde.
Doch wie er noch am Urteilsspruch nörgelt und Malskat als eine ihm verwandte Seele begreift, sogar vom »Großen Malskat« spricht, vergeht mir mit seinem Museum unser Herr Matzerath...

Während ich in einem Rollstuhl angeschnallt saß, schrie ich, als wäre im Traum ein Lautsprecher greifbar gewesen: Wir sind da! Alle immer noch da! Ich laß mir nichts einreden!
Doch sie fistelte unbeirrt, anfangs unverständliches Rattenwelsch Do minscher gripsch Ultemosch! -, um dann deutlich zu werden: Gut, daß sie weg sind! Haben alles versaut. Mußten sich immer kopfoben was ausdenken. Hatten, selbst wenn Überfluß sie ersticken wollte, nicht genug, nie genug. Erfanden sich notfalls den Mangel. Hungernde Vielfraße! Dumme Bescheidwisser! Immer mit sich entzweit. Ängstlich im Bett, suchten sie draußen Gefahr. Überdrüssig der Alten, verdarben sie ihre Kinder. Sich Sklaven haltende Sklaven. Fromme Heuchler! Ausbeuter! Ohne Natur. Grausam deshalb. Nagelten ihres Gottes einzigen Sohn. Segneten ihre Waffen. Gut, daß sie weg sind! Nein, schrie ich aus meinem Rollstuhl, nein! Ich bin da. Wir alle sind da. Putzmunter sind wir und voller neuer Ideen. Alles soll besser, jadoch, menschlicher werden. Ich muß nur den Traum, diese Wirrnis abstellen, dann sind wir wieder, dann geht es weiter bergauf und voran, dann werde ich, sobald die Zeitung und gleich nach dem Frühstück...
Aber mein Lautsprecher unterlag ihrer Fistelstimme: Gut, daß sie nicht mehr denken, nichts sich ausdenken und nichts mehr planen, entwerfen, sich nie mehr Ziele stecken, nie wieder ich kann ich will ich werde sagen und nie wieder darüber hinaus wollen können. Diese Narren mit ihrer Vernunft und ihren zu großen Köpfen, mit ihrer Logik, die aufging, bis zum Schluß aufging.
Was halfen mir mein Nein, mein Ich bin, Ich bin immer noch; ihre Stimme hielt den Oberton, siegte: Weg sind sie, weg! Gut so. Sie fehlen nicht. Diese Humanen haben gedacht, es werde die Sonne zögern, aufund unterzugehen nach ihrem Verdampfen, Saftlassen oder Verglühen, nach dem Krepieren einer mißratenen Sorte, nach dem Aus für die Gattung Mensch. Das alles hat nicht den Mond, hat kein Gestirn gejuckt. Nicht einmal Ebbe und Flut wollten den Atem anhalten, wenn auch die Meere hier und da kochten oder sich neue Ufer suchten. Stille seitdem. Mit ihnen ist ihr Lärm vergangen. Und die Zeit geht, als sei sie nie gezählt und in Kalender gesperrt worden.
Nein! schrie ich, falsch! und verlangte Richtigstellung, sofort: Es ist jetzt, schätze ich, halb sechs in der Frühe. Kurz nach sieben werde ich mit Hilfe des Weckers aufwachen, diesen verdammt gemütlichen Rollstuhl, in dem ich wie angeschnallt sitze, verlassen und meinen Tag, Mittwoch, es ist ein Mittwoch! gleich nach dem Frühstück, nein, nach dem Zähneputzen, vor Tee, Roggenbrot, Wurst, Käse, dem Ei und bevor mir die Zeitung dazwischenquatscht, mit unbefleckten Vorsätzen beginnen...
Es war ihr aber nichts auszureden, vielmehr nahm sie an Zahl zu. Mehrere Würfe fistelten und überfüllten das Bild. Wieder ihr Rattenwelsch: Futsch midde Minscher. Stubbich Geschemmele nuch! Was heißen sollte: Nur noch Staubregen und gut, daß sie keinen Schatten mehr werfen.
Einzig ihr Müll, der strahlt, und ihr Gift, das aus Fässern suppt. Niemand wüßte von ihnen, gäbe es uns nicht, fistelten die Rattenwürfe und Wurfeswürfe. Jetzt, da sie weg sind, läßt sich ihrer freundlich, sogar mit Nachsicht gedenken. Als ich mich nur noch an meinen Rollstuhl hielt, sprach wieder die Rättin allein: Ja, wir bewunderten ihren aufrechten Gang, diese Haltung an sich, ihr Kunststück über die Zeiten hinweg. Jahrhundertelang unterm Joch, auf dem Weg zum Schafott, lebenslänglich durch Korridore, von Vorzimmer zu Vorzimmer abgewiesen: immer gingen sie aufrecht bis gebeugt, krochen nur selten auf allen vieren. Bewundernswerte Zweibeiner: auf dem Weg zur Arbeit, in die Verbannung, schnurstracks in den Tod, auf dem Vormarsch rauh singend, stumm auf dem Rückzug. Wir erinnern des Menschen Haltung, ob er die Pyramiden Stein auf Stein setzte, die Chinesische Mauer fügte, Kanäle durch fiebriges Sumpfland zog, sich vor Verdun oder Stalingrad auf immer kleinere Zahl brachte. Sie blieben standhaft, wo sie Stellung bezogen hatten; und standrechtlich wurde erschossen, wer ohne Befehl nach hinten entwichen war. Oft sagten wir uns: In welche Irre sie gehen werden, auszeichnen wird sie ihr aufrechter Gang. Sonderbare Wege und Umwege; aber sie gingen sie Schritt nach Schritt. Und ihre Prozessionen, Aufmärsche, Paraden, ihre Tänze und Wettläufe! Schaut, lehrten wir unsere Würfe: Das ist der Mensch. Das zeichnet ihn aus. Das macht ihn schön. Hungrig beim stundenlang Schlangestehen, ja, selbst gekrümmt, geschunden von seinesgleichen oder unter erdachter Last, die er Gewissen nennt, vom Fluch seines rächenden Gottes beschwert, unter dem lastenden Kreuz. Schaut diese dem Leid immer anders bunt gewidmeten Bilder! All das steht er durch. Aufrecht geht er nach Stürzen weiter, als wolle der Mensch uns, die wir ihm immer nahe gewesen sind, Beispiel sein oder werden.
Nicht mehr mit Zischlauten und auf Rattenwelsch, ohne daß Zoirres aus ihr sprach, sanft redete die Rättin auf mich im Rollstuhl ein, der, ortlos schwebend, mehr und mehr dem Gestühl einer Raumkapsel glich. Sie sagte Freund zu mir, später auch Freundchen. Siehe, Freund: Schon üben wir den aufrechten Gang. Wir strecken uns und wittern gen Himmel. Und doch wird Zeit vergehen, bis wir der menschlichen Haltung mächtig sein werden.
Da sah ich einzelne Ratten, sah Würfe, sah Rattenvölker den aufrechten Gang üben. Zuerst in einem Niemandsland, das ohne Baum und Strauch wüst war, dann kam mir ihr Exerziergelände vertraut, plötzlich bekannt vor. Zuerst sah ich, wie sich auf Plätzen, dann auf Straßen, die zwischen schöngegiebelten Häusern auf Kirchenportale zuliefen, Ratten als Zweibeiner übten. Endlich tat sich das hochgewölbte Innere einer gotischen Hallenkirche auf. Zu Füßen aufstrebender Säulen standen sie, wennzwar für Sekunden nur, um sich, nach kurzem Abfall, abermals aufzurichten. Ich sah Rattenvölker gedrängt auf den Steinplattenböden des Mittelschiffes bis zum Altarraum, sah sie in Nebenschiffen bis vor die Stufen der Seitenaltäre drängen. Das war nicht Lübecks Marienkirche, nicht sonstige Backsteingotik der Ostseeküste, das war, kein Zweifel, die Danziger Hauptkirche Sankt Marien, die auf polnisch Ko[ciól Naj[witszej Panny Marii heißt, in der sich die Rattenvölker die neue Haltung einübten.
Gut, rief ich, wie gut! Es steht ja noch alles an seinem Platz. Jeder Stein auf dem anderen. Kein Giebel fehlt, kein Türmchen gestrichen. Wie soll denn Schluß sein, Rättin, wenn Sankt Marien, die alte Backsteinglucke, immer noch, was weiß ich, brütet!?
Mir war, als lächelte die Rättin. Nun ja, Freundchen. So sieht es aus, wie im Bilderbuch, alles getreulich noch da. Das hat Gründe. Es war auf Ultimo für die Stadt Danzig oder GdaDsk, wie immer du deinen Ort nennen willst, etwas Besonderes vorgesehen: etwas, das wegrafft und zugleich erhält, etwas, das nur Lebendiges nimmt, dem toten Gegenstand aber Respekt erweist. Sieh nur: kein Giebel gestürzt, kein Turmhelm geköpft. Erstaunlich noch immer, wie jedes Gewölbe auf seinen Schlußstein zueilt. Kreuzblumen und Rosetten, dauernde Schönheit! Alles außer den Menschen blieb heil. Wie tröstlich, daß nicht nur Müll von euch zeugt...

Ertappte mich beim Vernichten von Knabbergebäck: Salzstangen, in Gläser gestellt,
aufgefächert zum Zugreifen.

Anfangs biß ich einzelne Stangen
immer schneller und kürzer auf den Wert Null, dann rottete ich in Bündeln aus.

Dieser salzige Brei!
Mit vollem Mund schrie ich nach mehr. Die Gastgeber hatten vorrätig.

Später, im Traum, suchte ich Rat,
weil, hinter Salzstangen her, ich immer noch bissig auf Vernichtung aus war.

Das ist deine Wut, die Ersatz, bei Tage und nachts Ersatz sucht, sagte die Rättin, von der mir träumt.

Aber wen, sagte ich, will ich wirklich einzeln oder gebündelt
bis zum Wert Null vernichten?

Zuallererst dich, sagte die Rättin. Es fand die Selbstvernichtung anfangs privat nur statt.

Sie stricken auf See. Sie stricken bei halber Fahrt und vor Anker liegend. Ihr Stricken hat einen Überbau. Der ist nicht zu übersehen, weil, wenn sie stricken, mehr geschieht, als sich in Maschen glatt kraus auszählen ließe: zum Beispiel, wie einig sie in der Sache sind, wenngleich jede jeder die Krätze wünscht. Eigentlich sollten die fünf Frauen an Bord des Schiffes »Die Neue Ilsebill« zwölf Frauen sein. So viele hatten sich für die Forschungsreise auf dem ehemaligen Lastewer angemeldet; und eine gleich übertrieben hohe Zahl versammelte ich anfangs im Kopf. Da aber in Luxemburg ein fünftägiger Kongreß und auf der Insel Stromboli ein dreiwöchiges Seminar mit Gelegenheit für gemeinsames Stricken stattfand, verminderte sich meine zu hoch angesetzte Zahl; es gingen die Anmeldungen für die »Ilsebill« auf neun, dann auf sieben zurück, weil zwei Frauen mit ihrer Strickarbeit dringlich schnell in den Schwarzwald mußten und schließlich zwei weitere samt Wolle und Nadeln in die Region Unterelbe gerufen wurden; denn überall
und nicht nur in meinem Kopf waren streitbare Frauen gefragt, die in Luxemburg gegen Dioxin in der Muttermilch kämpften, auf der Insel Stromboli das rabiate Leerfischen des Mittelmeeres beklagten, im Schwarzwald das Waldsterben thematisierten und an beiden Ufern der Unterelbe die Ballung von Atomkraftwerken anprangerten. Redegewandt und niemals um Gutachten und Gegengutachten verlegen, stritten sie kenntnisreich und wurden sogar von Männern als vorbildlich gepriesen. Niemand konnte ihre Fakten widerlegen. Sie hatten immer das letzte Wort. Und dennoch war ihr in Wörtern erfolgreicher Kampf vergeblich; denn die Wälder hörten nicht auf zu sterben, weiterhin sickerte Gift, niemand wußte wohin mit dem Müll, und dem Mittelmeer wurden mit zu engen Netzen die letzten Fische abgefangen.
Es sah aus, als werde einzig das Stricken der Frauen zu Faden schlagen. Da wurde in Rauten oder verschachtelt was fertig, Kleidsames kam in Gitterzöpfen oder durch Maschenverkreuzung zustande. Mehr noch: anfangs belächelt und als weibliche Schrulle kommentiert, wurde das Stricken auf Kongressen und während Protestveranstaltungen von den männlichen, aber auch von weiblichen Gegnern der streitbar strickenden Frauen als Quelle wachsender Kraft erkannt. Nicht etwa, daß sich die Frauen ihre Argumente aus den Wollfäden ihrer doppelt vernoppten Perlmuster zogen; ihr Gegenwissen lag in Aktenordnern und statistischen Auflistungen neben dem Knäuelkörbchen bereit. Es war der Vorgang, die unaufhörliche, strenge und doch sanft anmutende Zucht des Fadenschlagens, das tonlose Auszählen der Maschenzahl, über dem hell das Argument der Strickerin auf Wiederholung bestand, es war die Unerbittlichkeit des Strickens, die zwar den Gegner nicht überzeugte, aber beeindruckte und auf Dauer zermürbt hätte, wäre nur Zeit wie Wolle vorrätig gewesen.
Doch auch für sich und unter sich, ohne Gegner als Gegenüber, strickten die Frauen, als wollten sie den Faden nie abreißen lassen; weshalb in meinem Kopf und tatsächlich jene restlichen Fünf, die mit dem Forschungsschiff »Die Neue Ilsebill« die westliche Ostsee befahren und deren Quallenbestände messen wollen, ihr Strickzeug und genügend Wolle vorrätig an Bord haben: gefärbte, ungefärbte, gebleichte. Einzig die älteste der fünf Frauen, ein zähes Leichtgewicht, dem die bald fünfundsiebzig Jahre währende Mühe und Arbeit nicht oder nur in Momenten plötzlich einbrechender Düsternis anzusehen sind, schiffte sich ohne Nadeln und Wolle ein. Ganz und gar ist die Alte gegen die, wie sie sagt, dämliche Strickerei. Nicht einmal häkeln kann sie. Das würde sie fusselig machen oder mürbe im Kopf. Doch ist sie den anderen Frauen, die von ihren Strickmustern nicht lassen wollen, beim Waschen, Bakken, Putzen und Kochen voraus, weshalb sie die Kombüse übernommen hat: »Hört zu, ihr Weiber. Ich mach euch den Smutje, doch bleibt mir mit dem Strickzeug vom Leib.« Die anderen vier seefahrenden Frauen lassen jedoch selbst bei steifer Brise nicht von ihren Wollknäueln und Klappernadeln. Sobald die Kapitänin die Steuermännin ablöst, um gegen Regenböen, die von Nordwest kommen, das Ruder in beide Hände zu nehmen, greift die Steuermännin zu reiner Schafswolle und strickt an einem einfarbigen, in sich gemusterten Pullover, der so weiträumig ist, daß er nach einem schrankbreiten Mann verlangt, von dem aber nie die Rede ist oder nur dunkel andeutend, als müsse dem Kerl eine Zwangsjacke verpaßt werden.
Läßt die Kapitänin, die ich von Herzen Damroka nenne, vom Ruder ab, worauf die Steuermännin beidhändig, bei nun abflauendem westlichen Wind, den Kurs hält, beginnt sie sogleich eine aus Wollresten bunte Decke, deren verschieden gemusterte Flicken sie sorgfältig abkettet, um ein Quadrat zu vergrößern, ohne dabei Kompaß und Barometer aus dem Auge zu lassen. Oder sie vernäht die abwechslungsreichen Flicken, deren Muster spiralig, gerippt, von Fallmaschenreihen gezeichnet oder wie Panzer geschuppt sind.
Wenn sich die Maschinistin nicht in den engen Maschinenraum des Motorewers zwängen muß, um den Diesel zu warten, kann man gewiß sein, daß auch ihre Strickarbeit, ein ponchoähnliches Ungetüm, wächst; sie ist ein Arbeitsviech und hat sich ihr Leben lang abgerackert. Das wird ihr nachgesagt: Immer für andere, nie für sich.
So auch die Meereskundlerin. Wenn sie nicht mittschiffs auf langem Tisch und in gläsernen Wannen Ohrenquallen wiegt oder ausmißt, strickt sie, aus Gewohnheit fleißig, zwei glatt, zwei kraus: viele Kindersächelchen für ihre Enkel, darunter niedliche Strampelhosen, deren Muster Tannenzapfen oder Sanduhr heißen. Über schmale Finger, die soeben noch geschickt mit den Velarlappen der Quallen umgingen, gleitet, rosa oder hellblau gefärbt, der feingesponnene Faden. Man hat in Travemünde nicht nur für Proviant gesorgt und genügend Diesel getankt, sondern auch Wollvorräte angelegt, die bis Stege, so heißt die Hauptstadt der dänischen Insel Møn, reichen sollen.
Doch noch liegt der Hafen von Stege fern. Lärmig tuckernd
das ist der luftgekühlte Deutz-Diesel läuft »Die Neue Isebill« in die Neustädter Bucht ein. Auch wenn sie den Meßhai nicht zum Quallenhol aushängen, wird den Frauen dort eine Zeitlang das Stricken vergehen.

Nein, Rättin! Ich nehme Wolle und Nadeln ernst und lache nicht, wenn der Faden reißt, eine Masche fällt oder aufgeribbelt werden muß, was zu locker gestrickt wurde.
Immer schon hatte ich dieses Geklapper im Ohr. Von Kindheit an bis zum gegenwärtigen Pullover haben mich Frauen mit Selbstgestricktem warmgehalten in Liebe. Zu jeder Zeit war etwas mit schlichtem oder versetztem Muster in Arbeit für mich.
Wenn meine Weihnachtsratte nicht, dann solltest du, Rättin, mir glauben: Nie werde ich die überall, rund um den Erdball strickenden, aus Not und Gefälligkeit, auch aus Zorn und Trauer strickenden Frauen verspotten. Ich höre sie gegen die rinnende Zeit, gegen das drohende Nichts, gegen den Anfang vom Ende, gegen jedes Verhängnis aus Trotz oder bitter begriffener Ohnmacht mit ihren Nadeln klappern. Wehe, wenn dieses Geräusch plötzlicher Stille wiche! Aus nur dummer Männerdistanz bewundere ich, wie sie überm Strickzeug gebeugt bleiben.
Jetzt, Rättin, seitdem sich in Wäldern und Flüssen, auf flachem, im bergigen Land, in Manifesten und Gebeten, auf Transparenten und im Kleingedruckten sogar, in unseren leerspekulierten Köpfen abzeichnet, daß uns der Faden ausgehen könnte, jetzt, seitdem das Ende von Tag zu Tag nur vertagt wird, sind Frauen strickend die letzte Gegenkraft, während die Männer nur alles zerreden und nichts fertigbringen, das den frierenden Menschen wärmen könnte und seien es Pulswärmer nur.

DAS Z WEITEKAPITEL,indemMeistefälscher
benannt und Ratten Mode werden, der Schlußbestritten wird, Hänselund Greteldavonlaufen, imDritten Programm über Hamelnwas läuft, jemand nicht weiß, ob er reisen soll,das Schiff amUnglücksortankert, es hinterherKlopse gibt, Menschenblöcke brennen und Rattenvölker allerorts denVerkehr sperren.

»Wir stellen Zukunft her!« sagt mit dem Mund des Rufers, der sein Echo kennt, unser Herr Matzerath zu seinen leitenden Herren, wenn in den Produktionsstätten Filme rar werden, die mediengerechten Biß beweisen; doch sobald ich ihm Stoffe aus meinem Fundus, etwa das Waldsterben als letztes Märchen vorschlage, oder die Verquallung der Ostsee als hergestellte Zukunft gefilmt sehen möchte, winkt er ab: »Zuviel Endzeitkulisse! Dieses gottväterliche Schlußstrichziehen! Dieser apokalyptische Kassensturz! Dieser ewige letzte Tango!« Hingegen will er, nach seinen Worten freudig, den Fall Malskat aufgreifen, falls ich Material genug über die fünfziger Jahre beibringen könne; als lasse sich durch Rückgriffe Zukunft herstellen.
So wächst sich unser Gespräch für ihn zum Entwurf der Ära Adenauer-Malskat-Ulbricht aus. »Drei Meisterfälscher!« ruft er. »Wenn es Ihnen gelingt, meine, zugegeben, noch nackte These zu kleiden, wird sie filmisch einleuchtend sein.« Zwar versuche ich, unserem Herrn Matzerath sein gesamtdeutsches »Fälschertriumvirat« auszureden, verspreche ihm aber dennoch, dem Fall Malskat nachzugehen. Schließlich gelingt es mir, seine Neugierde auf ein Projekt zu lenken, dessen legendäres Unterfutter so reich an Zufluchten ist, daß es ihn eigentlich ködern müßte.
Sein Hin und Her zwischen Gummibäumen. Jetzt zaudert er vor der Schultafel an der Stirnwand seiner Chefetage. Kaum ist das bucklichte Männlein hinterm Schreibtisch zur Ruhe gekommen, sage ich: »Sie sollten aufhorchen, lieber Oskar. In Hameln an der Weser wird gegenwärtig ein Fest vorbereitet. Dort soll nach siebenhundert Jahren jenes Rattenfängers gedacht werden, der während Zeiten großer Wirrnis und fiebriger Ekstase man sah Zeichen am Himmel und ahnte das Ende kommen tausend und mehr Ratten in den Fluß gelockt hat, auf daß alle ersoffen. Nach anderer Legende soll er außerdem Kinder auf Nimmerwiedersehn entführt haben. Sich widersprechender Stoff genug. Wäre der Umstand nicht günstig, den Wahn des Jahres 1284 mit heutigen Ängsten, das Flagellantenwesen des Mittelalters mit gegenwärtigen Massenaufläufen mediengerecht zu verquicken? Angebote genug gibt das Rattenfängerjahr her. Zum Beispiel die Flöte. Diese schrille Süße. Flirrender Silberstaub. Triller, wie Perlen gereiht. Lange vor Ihrer Zeit verführte bereits ein Musikinstrument. Sollten nicht Sie, Oskar, dem schon immer das Medium Botschaft war, zugreifen, einfach zugreifen?!«
Unser Herr Matzerath schweigt und vergeht mir. Anderes redet drein. Dieses Zischeln, Plaudern und fistelnde Eswareinmal, als sei schon alles vorbei, als gäbe es uns im Rückblick nur noch, als müsse uns nachgerufen werden, spöttisch und pietätvoll zugleich das ist nicht mehr unser bucklicht Männlein, das ist sie, die Rättin, von der mir träumt...

Gegen Schluß wurden wir Mode. Junge Leute, die gerne in Gruppen auftraten und sich von sonstigen jungen Leuten durch Haartracht und Kleidung, Gestik und Sprache unterschieden, nannten sich Punks und wurden Punks oder Punker genannt. Zwar waren sie in der Minderheit, aber in einigen Stadtteilen dennoch bestimmend. Selber verschreckt, erschreckten sie andere. Eisenketten und schepperndes Blech war ihnen Schmuck. Sie stellten sich als lebenden Schrott zur Schau: verworfen, ins Abseits gekehrter Müll.
Wohl deshalb, weil sie dem Dreck zugeordnet wurden, kauften die Punks sich junge Laborratten, die sie durch regelmäßige Fütterung gewöhnten. Sie trugen sie zärtlich auf der Schulter, im offenen Hemd oder in ihre Frisuren gebettet. Keinen Schritt ohne das erwählte Getier, den Ekel überall hin verschleppt: auf verkehrsreiche Plätze, an satten Schaufensterangeboten vorbei, durch Parkanlagen und über Liegewiesen, vor Kirchenportale und Bankportale, als wären sie eins gewesen mit ihren Ratten.
Doch nicht nur die weißen mit roten Augen waren beliebt. Bald kamen grauhaarig wir, die als Schlangenfutter gezüchteten Wanderratten in den Tierhandel. Wir waren gefragt und kurz vor Schluß bei Kindern und Jugendlichen begehrter als die bis dahin gehätschelten, verwöhnten und oft überfütterten Goldhamster und Meerschweinchen. Als sich nach den Punks auch Kinder aus gutem Hause Ratten als Streicheltiere hielten und sich unsereins, zum erstenmal während langer Humangeschichte, die betuchte Klasse öffnete, fanden auch ältere Leute an uns Gefallen. Was als Mode begann, wurde erklärtes Bedürfnis. Es soll sich ein Herr, Mitte fünfzig, sogar auf Weihnachten eine Ratte gewünscht haben.
Endlich waren wir anerkannt. Indem man uns ans Licht trug, uns, die lichtscheuen Kanalratten, dem Gullygeruch enthob, wortwörtlich unsere Intelligenz entdeckte, sich mit uns sehen und fotografieren ließ, unsereins als dem Menschengeschlecht beigeselltes Getier akzeptierte, wurden wir Ratten öffentlich. Triumph! Nachträglich aufgenommen in Noahs Arche. Zugegeben: ein wenig geschmeichelt fühlten wir uns. Hoffnung kam auf: es könnte der Mensch ihn rettender Einsichten fähig werden.
Anfangs wollten sie witzig sein und nannten uns öffentliche Ratten. Als jedoch die Punkmode um sich griff, als Angestellte, Beamte sogar ihre Ratte ins Büro, ins Finanzamt mitnahmen, als wir mit jungen Christen am Gottesdienst der einen, der anderen Konfession teilnehmen durften und in Rathäuser und Hörsäle, in Konferenzräume und Chefetagen, schließlich von Rekruten aller Waffengattungen in militärische Sperrbezirke getragen wurden, hörten wir erste Proteste; es kam zu parlamentarischen Anfragen. Nach kontroverser Debatte sollte das öffentliche Zurschautragen von Ratten durch Gesetz verboten werden. Begründend hieß es: Die Veröffentlichung von Ratten, insbesondere von Wanderratten, gefährdet die Sicherheit, widerspricht dem hygienischen Vorsorgebedürfnis und verletzt das gesunde Volksempfinden.
Einfach lachhaft und abgeschmackt! Es fand sich auch keine Mehrheit, die bereit gewesen wäre, dieses Gesetz zu verabschieden. Frech trugen einige Parlamentarier unsereins ins Hohe Haus sogar. Sogenannte Rattenanhörungen wurden veranstaltet. Man stellte Fragen, die zu Noahs Zeiten hätten gestellt werden sollen, als uns, Ratz und Rättlin, der Einlaß in die rettende Arche verweigert wurde.
Was hat uns die Ratte gegenwärtig zu sagen? lautete eine verspätete Frage. Will uns die Ratte helfen in unserer Not? Ist uns die Ratte näher, als wir seit Menschengedenken wahrhaben wollen?
So sehr die neue Aufmerksamkeit schmeichelte und uns versuchte, des Menschen eingefleischten Haß gering zu achten, waren wir dennoch erstaunt der plötzlichen Zuneigung wegen. Es verwunderte uns, wie scheu und heftig zugleich die jungen Leute mit uns intim waren, besonders die dem Müll zugeordneten Punks. Ob sie uns am Hals, nahe der pulsenden Ader trugen oder uns ihren mageren Leib boten: Erschreckend, wieviel Sanftmut erst jetzt, im Umgang mit uns, ins Spiel kam, wieviel gestaute, nun überflüssige Zärtlichkeit. Diese Hingabe! Wir durften ihre Wirbelsäulen rauf runter, in ihre Achselhöhlen uns betten. Wie unser Fell sie kicherig machte. Wie sie die kühle Glätte unserer Schwänze als zartes Fingern empfanden. Und was sie mit zitternden, schwarzgeschminkten Lippen flüsterten, kaum hörbar hauchten, als wären unsere Ohren ihnen gut gewesen zur Beichte: So viel stammelnde Wut und Bitternis, so viel Angst vor Gewinn und Verlust, vor dem Tod, den sie suchten, vor dem Leben, nach dem sie gierten. Ihr Barmen nach Liebe. Ihr: Sag doch was, Ratte! Was sollen wir, Ratte! Hilf uns doch, Ratte! Ach, wie sie uns in den Ohren lagen.
In alles mischten sich Ängste: nicht nur in ihre Schattenquartiere, auch in ihr buntgepinseltes Glück. Deshalb schlugen ihre Farben so grell ins Auge. Immerverschreckte Kinder, die einander die Blässe des Todes anschminkten, sich mit Leichengrün ahnungsvoll zeichneten. Selbst ihr Gelb, ihr Orange waren auf Schimmel und Verwesung gestimmt. Ihr Blau hoffte das Ende herbei. Kalkigem Grund trugen sie rote Schreie auf. Ins Violett malten sie fahles Gewürm. Den Rücken lang, die Brust, den Hals hoch, bis übers Gesicht waren die einen schwarzweiß vergittert, die anderen wie von Geißelhieben verletzt. Sie wollten sich blutig sehen. Und jede Farbe nahm ihr sorgsam frisiertes Haar an. Ach, ihre feierlich inszenierten Totentänze auf bankrottem Fabrikgelände: vom Mittelalter zurückgeholt, als wären die Flagellanten in sie gefahren. Und wieviel Haß sie gegen alles, was Mensch war, kehrten. Immer angriffig auf dem Sprung und gehetzt zugleich. Mit Ketten rasselten sie, wie mit der Galeere vertraut. Sie wollten vertiert sein. Ohne von uns genug zu wissen, wollten sie sein wie wir. Wo sie als Paar gingen, waren sie Ratte und Rättin. Nannten einander auch so, zärtlich und fordernd. Schnitten sich Kappen zurecht, die unsere Kopfform zum Muster hatten und hielten sich Masken vor, die unseren Ausdruck ins Dämonische steigerten. Sie hingen sich ärschlings nackte Langschwänze an und zogen von überall her, zu Fuß und motorisiert, in eine bestimmte Richtung, als hätten alle Wege dorthin geführt, als wäre ihr Heil nur dort zu finden gewesen.
Jadoch! In Scharen. War nicht zu verfehlen der verrufene Ort. Es lag ein Magnet dort, der ihnen Sammlung befahl. Kurzum: sie wollten einander treffen und jene Stadt überfüllen, die zu unserer Legende gehört. Dort wollten sie sich ein Fest geben. Wie sie lärmen und uns zur Schau tragen, wie sie die Bürger erschrecken, sich tierisch geben wollten.
Es kam nicht dazu. Man hätte sie ohnehin weggeräumt. Es standen ja überall bis zum Schluß Ordnungskräfte bereit. Ach, Ratten wollten sie sein und blieben doch arme, am Ende verlassene, ja, auch von uns verlassene Punks. Sie sind uns gut gewesen, wie kein Mensch zuvor. Von Geburt an verlorene Kinder, einzig uns Ratten waren sie lieb, sagte die Rättin, von der mir träumt. Hätten wir Zuflucht gewußt, wir hätten sie mit uns genommen am Ende...

Was heißt hier Schluß, Ratte! Ist ja nichts fertig. Kein Loch gestopft, kein Rätsel gelöst. Nie zuvor soviel Fäden, die nicht verknüpft. Überall Stückwerk und Stümperei. Und Stümper, die feixend das Sagen haben. Jede Zeitung schreit, alles Gerede verschweigt es. Nicht einmal halbwegs sind wir, eher zurückgefallen.
Da kannst du nicht Schluß, basta, das reicht sagen. Wäre ja Fahnenflucht das. Einfach davon. Und zwar mitten im Satz. Ohne das Allernotwendigste und bevor nicht dies noch und das. Zum Beispiel die Renten gesichert, der Müll versorgt. Denn wenn wir die Stahlkrise nicht und anderes nicht in den Griff: den Butterberg abgetragen und Kabel überall hin verlegt, endlich das Volk gezählt und die Ausländerfrage vom Tisch. Durchhalten dann, bis die Zinsen gesenkt und der Aufschwung, auf den wir alle, ohne den nix, denn vorher war ja kein Silberstreif und weg das Gelbe vom Ei.
Nein, Ratte, nein! Ist nichts mit Schluß. Zumal jetzt die Großmächte zum Gespräch endlich, damit rechtzeitig Entschlüsse, nämlich die richtigen, denn das hat mittlerweile jeder kapiert, daß nur Maßnahmen beiderseits gleichzeitig ausgewogen, damit wir berechenbar, wenn auch in letzter Minute. Und da redest du, Ratte, von Schnitt, ausblenden, Saft weg, Sense, Kassensturz, Amen, war einmal, ist nicht mehr, Vorhang und Weltenende, Ultimo sozusagen? Dabei ist uns aufgetragen und sind wir verpflichtet, wenn schon für uns nicht, dann doch für unsere Kinder, damit wir nicht eines Tages beschämt und ohne, ich meine die großen Ziele, etwa die Erziehung des Menschengeschlechts oder der gröbste Hunger muß weg und der Müllberg muß weg, zumindest aus Sichtweite, bis endlich flankierende Maßnahmen und wieder paar Fische in Elbe und Rhein. Und richtig! Abrüsten wollten wir auch noch, bevor es zu spät ist.
Doch du sagst Schluß. Als wären wir fertig. Als hätten wir ausgeschissen schon längst. Als bliebe nicht dies noch und das zu tun. Und zwar bald, nein, sofort. Denn soviel hat mittlerweile jeder begriffen oder halbwegs kapiert, daß außer dem Frieden und bißchen Gerechtigkeit mehr, endlich der Wald, nicht nur der deutsche, der Wald überhaupt, wenn er schon nicht mehr zu retten ist, gefilmt werden muß immerhin. Und zwar in allen Stimmungen und in Farbe zu jeder Jahreszeit, damit er als Dokument erhalten und nicht aus unserem Gedächtnis und dem unserer Kinder. Denn ohne Wald, Ratte, sind wir arm dran. Weshalb wir schon deshalb und weil wir uns schuldig sind das, uns fragen müssen, was uns der Wald, nicht nur der deutsche, aber das sagte ich schon, bedeutet, nein, sagt, damit wir später, zumindest im Film mit unseren Kindern, solange noch Zeit ist ein wenig.
Und zwar, bevor du, Ratte, Schluß Schnitt Sense sagst. Wann Schluß ist, bestimmen immer noch wir. Wir sind am Drücker. Wir hüten das Knöpfchen. Wir werden schließlich das alles vor unseren Kindeskindern, wie auch die Müllund Ausländerfrage, zuletzt den Hunger, zumindest den gröbsten, den Butterberg auch zu verantworten haben.

Weil der Wald
an den Menschen stirbt, fliehen die Märchen,
weiß die Spindel nicht,
wen sie stechen soll,
wissen des Mädchens Hände, die der Vater ihm abgehackt, keinen einzigen Baum zu fassen, bleibt der dritte Wunsch ungesagt.

Nichts gehört mehr dem König Drosselbart. Es können die Kinder sich nicht mehr verlaufen. Keine Zahl Sieben bedeutet mehr als sieben genau.

Weil an den Menschen der Wald starb, gehen die Märchen zufuß in die Städte und böse aus.

Ich kenne die Strecke. Von Lauterbach, wo dazumal im Lied ein Strumpf verlorenging, führt »Die deutsche Märchenstraße« durch einst dichten Mischwald.
Es könnten auch andere Straßen durch Schneisen in den Pfälzer Wald, hoch hinauf in den Schwarzwald, tief in den Bayrischen Wald, ins Fichtelgebirge oder in den Solling, den Spessart hinein, in Waldgebiete führen, die hier auf den zweiten Blick erst, dort überdeutlich von den bekannten, landauf landab geleugneten bewiesenen Schäden befallen sind. Nadelbräune, Paniktriebe, lichte Baumkronen, Naßkerne werden gemeldet, dürre Äste fallen, von kahlen, abgestorbenen Stämmen löst sich die Rinde. Deshalb steht anfangs die Frage: Wie lange noch kann jene Straße, die von Lauterbach kommt, so anheimelnd »Die deutsche Märchenstraße« heißen?
Und deshalb lasse ich die Wagenkolonne des Kanzlers, der mit seinen Ministern und Experten unterwegs ist, nicht im Schwarzwald oder Fichtelgebirge, sondern beispielhaft hier ihren Weg nehmen: hinter Blaulicht, von Polizeischutz flankiert. Mit verhängten Fenstern fahren schwarze Limousinen durch sterbenden Wald. Wir erkennen am Stander das Kanzlerauto. Wir nehmen an, daß der Kanzler im Wageninneren, während er durch sterbenden Wald fährt, Expertengutachten, Gegengutachten, Schadstoffstatistiken und Mortalitätsmuster der Weißtanne liest, weil er als Kanzler fleißig und allseits gut informiert sein muß. Oder aber: er sucht vor großem Auftritt Entspannung, löst Kreuzworträtsel, weiß richtig den Namen Hölderlin einzurücken und erfreut sich seiner waageund senkrechten Allgemeinbildung.
Weder noch. Das Wageninnere der Kanzlerlimousine ist von gedämpfter Familienstimmung gesättigt. Des öffentlichen Bildes und der von mir erdachten Handlung wegen begleiten die Gattin, der Sohn, die Tochter den Kanzler.
Wie soll er beschaffen sein? Leicht austauschbar, ist er dennoch von uns vertrauter Machart: bieder und von trauriger Gestalt. Augenblicklich ißt er, nein, schiebt er einen Keil Buttercremetorte in sich hinein, was seiner Gattin, die sich adrett hält, mißfällt.
Weil die Tochter des Kanzlers den Fenstervorhang zur Seite gerafft hat, sehen wir im Vorbeifahren einen holzgeschnitzten Wegweiser, auf dem zwischen geschnitzten Zwergen in erhabener Fraktur »Die deutsche Märchenstraße« zu lesen steht. (Hier sollte zu Filmbeginn, falls der sterbende Wald mit unseres Herrn Matzerath Produktionshilfe zum Film wird, die Autokolonne langsam, im Schrittempo fahren.)
Auf einem Waldparkplatz, den tote Bäume einfassen, werden der Kanzler und seine Begleitung erwartet. In Eile trifft man letzte Vorbereitungen, denn das Polizeivorauskommando kündigt bereits über Sprechfunk die Wagenkolonne an. An einem Stahlrohrgerüst ziehen Waldarbeiter, die nach Vorschrift Schutzhelme tragen, unter Anleitung eines Försters baumhohe Kulissen hoch, die mit gesundem Wald bemalt sind, etwa im Stil des Malers Moritz von Schwind: knorrige Eichen, dunkle Tannen, lichter Buchenbestand, der in unwegsamen Urwald übergeht. Es fehlen nicht Farn und Niederholz. Auf hoher Leiter, die ein Spezialfahrzeug auszufahren verstand, malt ein Maler zusätzlich Singvögel Buchfinken, das Rotkehlchen, etliche Singdrosseln, die Nachtigall rasch und wie gegen Stücklohn in die gemalten Baumkronen. Der Förster ruft: »Macht fertig, Leute! Gleich kommt der Kanzler!« Dann sagt er mehr für sich: »Es ist zum Heulen.«
Ruckzuck räumen die Waldarbeiter die Szene. Das Polizeivorauskommando verteilt sich und sichert das Gelände. Hinter den Kulissen schaltet ein Tonmeister ein Tonbandgerät ein. Wir hören reichgemischt Vogelstimmen, unter ihnen die frischgemalten Buchfinken, Rotkehlchen, Singdrosseln, aber auch einen Pirol und mehrere Waldtauben. Während das Spezialfahrzeug abfährt, wird mit der Leiter der Maler eingezogen, so daß der letzte Vogel im gemalten Wald, der unermüdlich rufend ein Kuckuck hätte werden sollen, fragmentarisch bleibt. Nun macht der Förster ein Begrüßgesicht. Denn hinter Blaulicht fährt die Wagenkolonne des Kanzlers vor. An den Fenstern der Limousinen werden Vorhänge zur Seite geschoben. Staunen über so viel Natur. Der Kanzler nebst Gattin, die Tochter, der Sohn steigen aus, desgleichen Minister und Experten. Sogleich sind Presse und Fernsehen zur Stelle. Als gelte es, eine Botschaft aufzuzeichnen, nehmen die Medien wahr, daß der Kanzler mehrmals tief einund ausatmet. Gleiches tut sein Gefolge.
Kaum in der Öffentlichkeit, stöpseln sich der Sohn des Kanzlers, dreizehn Jahre alt, die Tochter des Kanzlers, zwölf Jahre alt, je einen Walkman in die Ohren. Den Blick nach innen gestülpt, wirken die Kinder abwesend, was die Kanzlergattin stört. Doch ihre Ermahnung »So hört ihr ja nicht die Vögel im Walde!« wird, wie das hinter Kulissen laufende Tonband, mißachtet. (Die Kanzlerkinder sind nach meiner Vorstellung ein wenig dicklich geraten; doch könnten sie auch mager bis spillerig sein, falls unser Herr Matzerath diesen Typ wünscht. Eine dem Försterrock nachempfundene Kleidung eint die Familie: Loden, Bundhosen, Schnürstiefel, Hirschhornknöpfe.) Während sich seitab ein Männerchor und kostümierte Darsteller vor die gemalte Waldkulisse schieben, versammeln sich die Minister und Experten zwanglos um den Kanzler; unter ihnen der für Wald, Flüsse, Seen und Luft zuständige Minister Jacob Grimm, dem als Staatssekretär sein Bruder Wilhelm zur Seite steht.
Es gefällt uns, der Handlung und der volkstümlichen Bezüge wegen diese historische Anleihe zu machen und den nach gegenwärtiger Mode gekleideten Jacob Grimm zu seinem Bruder sagen zu lassen: »Da hat der Maler Schwind wieder mal gute Arbeit geleistet.« Worauf wir Wilhelm Grimm traurig lächeln sehen. Beide Brüder verstehen es, ihrem Bemühen, dem zeitlos tapferen »dennoch« so anhaltend Ausdruck zu geben, als gefalle ihnen ihr wiederholtes Scheitern. Zwei aufrechte Männer, die notfalls bereit sind, den Hut zu nehmen; und dennoch zwei Märchenonkel, die das Zwinkern gelernt haben: sie wissen seit altersher, wie es hinter den Kulissen aussieht, mucken aber nicht auf, denn immerfort wollen sie Schlimmeres verhüten.
Seitab suchen Polizisten den Sängerchor nach Waffen ab. Harmlos befunden, versammeln sich die Sänger auf einem Podest. Vom Chorleiter gestisch gedämpft oder zu größerer Lautstärke ermuntert, singen die Sänger das Lied: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben...« Der Kanzler ist versucht, mitzusingen.
Nachdem auch sie sicherheitsdienstlich behandelt sind, treten jetzt, auf ein Zeichen der Brüder Grimm, die wir fortan die Grimmbrüder nennen, alle Kostümträger als Märchendarsteller auf. Sie sind gediegen geschmackvoll nach altdeutscher Art gekleidet. Schneewittchen gesittet zwischen den Sieben Zwergen. Neben Dornröschen mit Spindel der wachküssende Prinz. Unter der Langhaarperücke, das kann nur Rapunzel sein. Hänsel und Gretel verbeugen sich, knicksen und überreichen dem Kanzler und seiner Gattin sinnreiche Geschenke: einen Tannensetzling, einen Korb voller Eicheln und Buchekkern, ein altglänzendes Waldhorn. Offenen und gespitzten Mundes singt der Männerchor »Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald...« Auch die Polizisten erfreuen sich an den zuvor harmlos befundenen Chorsängern.
Genug der Darbietungen: Jetzt spricht, mehr den anwesenden Medien als seinen Ministern zugewendet, der Kanzler, indem er geübt vom Blatt liest. In Bildern beschwört er eine heile Welt, die von Ungemach bedroht ist. »So werden wir abermals vom Schicksal geprüft!« ruft er, als wäre das deutsche Volk von altersher auf Schicksalsprüfungen abonniert. Da wir uns einen Film wünschen, der sich als Stummfilm nur gelegentlich mit Untertiteln hilft, sieht man den in der Kanzlerrede beschworenen Wald heil rauschen. In Einblendungen tut sich der Waldesdom auf. Rehe äsen. Der Hirsch schreckt auf. Aus allen Wipfeln fallen Zitate. Und wie gerufen leert ein Knabe über einer auf Moos gebetteten Prinzessin des Knaben Wunderhorn aus: Blüten, Libellen und Schmetterlinge... Weil die herbeigeredete Stimmung sich nicht mehr steigern läßt und etwas geschehen muß, springen nun, nach dem Schlußsatz des Kanzlers, »So lebe fort, du deutscher Wald!«, der für den Stummfilm einen beispielhaft knappen Untertitel hergibt, des Kanzlers Sohn und Tochter ins Bild.
Dicklich oder spillerig, sie bewerfen den Vater mit den geschenkten Eicheln und Bucheckern. Die Tochter zerbeult das altglänzende Waldhorn. Der Sohn zerbricht den Tannensetzling, holt sich den Walkman aus dem Ohr, springt aufs Podest und hält, indem er die erschrockenen Minister und Experten, alle verschreckten Märchendarsteller und Chorsänger, die wieder verunsicherten Polizisten und Sicherheitsbeamten in Zivil, jeden mitschreibenden Journalisten, die ungerührt draufhaltenden Kameramänner, alle und auch die Grimmbrüder zum Publikum macht, eine Gegenrede.
»Du redest wieder mal Scheiße!« ruft er dem Kanzler als Vater zu und beschwört Wirklichkeit. Man sieht Autohalden und Autoschlangen, Fabrikschornsteine in Betrieb, heißhungrige Betonmischmaschinen. Es wird abgeholzt, planiert, betoniert. Es fällt der berüchtigte saure Regen. Während Baulöwen und Industriebosse an langen Tischen das Sagen und bei Vieraugengesprächen genügend Tausenderscheine locker in bar haben, stirbt der Wald. Er krepiert öffentlich. Zum Himmel hoch abgetötet noch aufrechte Baumleichen. Folgerichtig entleert der Knabe von vorhin über der schlafenden Prinzessin, die im nun toten Wald schlummert, das andere Wunderhorn: Müll, Giftdosen, Schrott. Als treibe es ihn, Autoabgase zu symbolisieren, furzt er der Prinzessin ins sogleich runzelnde Gesicht: so bleihaltig ist der Wind des Knaben.
Nach dem Schlußsatz und Untertitel des Sohnes »Das ist dein deutscher Wald!« wird die Tochter des Kanzlers tätig: Mit einem Messer, das sie während kurzer Nebenhandlung dem Förster gestohlen hat, schneidet sie ritschratsch alle Seile durch, mit denen die Waldkulissen hochgezogen und durch Knotenschlag gesichert sind. In Zeitlupe fallen die Kulissen in sich zusammen. Kein gemaltes Vöglein fliegt, sich rettend, davon. Kein Reh Hase Igel flüchtet. Nicht nur das Stahlrohrgerüst, der tote Wald steht unübersehbar.
Jetzt stellt die Tochter das Tonband mit den Vogelstimmen ab. Stille. Dürres Geäst knackt, bricht. Mit dem Schwindel fliegen Krähen auf. Angst geht um, unumschrieben: der Tod. Zwischen den entsetzten Märchendarstellern retten sich Dornröschen und ihr wachküssender Prinz in Gelächter. Für einen Untertitel passend, sagt Wilhelm zu Jacob Grimm: »Mein Gott! So kommt die Wahrheit ans Licht.«
Während ich die anhaltende Schrecksekunde nutze und mir die ins späte zwanzigste Jahrhundert fortgeschriebenen Brüder Grimm als nur gelegentlich wankende, so kluge wie sensible, heimlich jedoch an mangelnder Radikalität leidende, kurzum: liberale Grimmbrüder vorstelle, die beide nun die Hände ringen, rafft sich unser Stummfilm zu neuer Handlung auf: Sohn und Tochter des Kanzlers reißen den kostümierten Märchenfiguren Hänsel und Gretel die Mütze, das Häubchen ab, werfen ihren Walkman weg, schneiden Vater und Mutter und obendrein dem Fernsehen Grimassen und laufen aus freien Stücken, der Grimmschen Märchenfassung spottend, als Hänsel und Gretel in den Wald.
Die Gattin des Kanzlers ruft: »Hans! Margarete! Kommt bitte sofort zurück!«
Die Medien sind beglückt. Journalisten diktieren ihren Geräten knallharte Stichworte. Aus der Hüfte schießen Pressefotografen in Salven Fluchtbilder. Schonungslos zeichnet das Fernsehen auf. Die Flucht der Kanzlerkinder beginnt Geschichte zu machen. Der Kanzler jedoch hindert die Polizisten, wie gelernt die Verfolgung der Flüchtlinge aufzunehmen. Er ruft: »Zwei Aussteiger mehr! Undankbare! Wir werden das zu verschmerzen wissen.« Er rettet sich in eine Haltung, die er für würdevoll hält, kann aber nicht verhindern, daß sein Gesicht von einem Grinsen heimgesucht wird, das der Analyse bedürfte. Während man noch beide Abhauer und Aussteiger undankbar fern zwischen toten Bäumen ahnt, könnte Wilhelm leise zu Jacob Grimm sagen: »Du siehst, lieber Bruder, die alten Märchen hören nicht auf.«
Um der anhaltenden Katastrophenstimmung zu begegnen, sammelt sich hastig der Männerchor und singt, vom Chorleiter mitgerissen, ein munteres Lied, das aber tonlos bleibt, wenngleich es »Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion« heißen könnte. Jetzt regnet es auch noch sauer. Der Kanzler spürt ein Gelüst nach tröstender Süßigkeit. Nichts sieht man mehr von den entlaufenen Kindern.

Meine Weihnachtsratte und ich hören im Dritten Programm nicht nur, daß dieses Jahr nach chinesischer Rechnung als Jahr der Ratte, des sammelndes Fleißes und der gesteigerten Produktion im Kalender steht, es macht auch die Stadt an der Weser in einer von Flötenstückchen gesäumten Kultursendung auf das Jubiläum ihrer Legende aufmerksam. Die Rede eines böhmischen Dichters, die Uraufführung eines Puppenspiels, wissenschaftliche Vorträge zum Thema, der Verkauf der Rattenfänger-Sonderbriefmarke mit Sonderstempel und Festumzüge sind vorgesehen, in denen der heutigen Bürger Kinder in mittelalterlicher Tracht einem stilgetreuen Rattenfänger folgen sollen. Außer der Ausstellung mit Bildern einschlägiger Motive steht der Verkauf einer Riesen-Rattenfängertorte vor dem Stiftsherrenhaus auf dem Programm. Die städtische Fremdenwerbung frohlockt: Man erwartet ein Plus an Touristen, solche sogar aus Übersee, die sich als texanischer Rattenfänger-FanClub, als japanische »Children of Hameln« angemeldet haben. Zwar fürchten die politischen Sprecher der Stadt unliebsamen Zuzug man werde, falls aus den Großstädten sogenannte Punks oder Punker mit ihrem Getier einfallen sollten, geeignete Maßnahmen treffen -, doch ist man der runden Zahl wegen, die, historisch verbrieft, auch kirchlicherseits angemessen gefeiert werden soll, guter Dinge. Der Superintendent hat seine Teilnahme zugesagt.
Das alles bietet der Kulturspiegel des Dritten Programms meiner Weihnachtsratte und mir. Des Sprechers angenehme, in vielen Sendungen voll ausgereifte Stimme, die, nie frei von ironischen Nebentönen und kritischen Parenthesen, dennoch bis auf die Sekunde genau Bescheid weiß, gescheit Bescheid weiß, mehr als wir über Hameln und Hamelns Hinterund Abgründe weiß, diese mediengerechte Stimme kommt aus einer Radiokiste, die rechts vom Gehäuse der Weihnachtsratte auf meinem Werkzeuggestell Platz hat, während ich links von der Rättin sitze, doch mit geschnürter Absicht schon unterwegs nach Hameln bin.
Da wollen wir hin. Dort sollen der alten Lügengeschichte einige Wurzeln gestochen werden. Das sind wir uns schuldig. Denn soviel steht fest: vor siebenhundert Jahren und in den Jahrhunderten danach war von Ratten und einem Rattenfänger auf keinem Papier die Rede. Von einem Pfeifer nur wurde berichtet, der »am dage Joanis et Pauli« an die hundertunddreißig Kinder aus der Stadt weg in einen Berg hinein oder über alle Berge davongeführt haben soll, ohne daß eines der Kinder zurückfand.
Sind sie durchs Ostentor gezogen? Spielt die Geiselnahme nach der Schlacht bei Sedemünde in die Legende hinein? Waren es Veitstänzer, die sich in alle Winde davontanzten? Kein Dokument gibt vom Geschehen Bericht. Noch hundert Jahre später wird in der Chronik der Stadtkirche, die alles, was Hameln betraf, jede Feuersbrunst, jedes Hochwasser der Weser, der Schwarzen Pest Kommen und Gehen erinnert, nichts über den Auszug der Hämelschen Kinder berichtet. Eine faule Geschichte, die von Amts wegen verschwiegen wurde und eher mit der Vertreibung der damals lästigen Flagellanten oder mit der Abwerbung Hämelscher Jungbürger in östliche Siedlungsgebiete zu schaffen gehabt haben wird als mit eines Pfeifers trickhafter Kunst; zumal die Ratten und deren Fänger erst fünfhundert Jahre nach dem Johannesund Paulustag der fragwürdigen Mär beigemischt wurden. Worauf die Dichter nach Reimen suchten, Goethe voran.
Später fanden die Grimmbrüder den Auszug der Hämelschen Kinder in etlichen Sagen mit üblichen Rattenfängergeschichten vermengt. Und weil beide Märchensammler alles niederschrieben, was auf der Ofenbank, am Spinnrad und an warmen Augustabenden erzählt wurde, lesen wir, daß ein auffallend gekleideter junger Mann gegen versprochenen Lohn die Stadt Hameln rattenfrei machte, indem er die Ratten mit besonderer Musik in die Weser lockte, wo sie ersoffen. Weiter erfahren wir, daß der Pfeifer und Fänger, weil ihm der Bürgermeister und die Ratsherren den Lohn verweigerten, die schon in anderen Legenden gezählten Kinder aus der Stadt pfiff, auf daß sie alle, hundertunddreißig an der Zahl, auf Nimmerwiedersehen im Kalvarienberg verschwanden.
Eine moralische Geschichte, die außer Ratten wortbrüchige Bürger bestraft und verführbare Kinder obendrein.
Nicht nur Kinder. Jeder, der leichtfertig handelt, schafsköpfig hinterdreinläuft, vertrauensselig sich anvertraut, ohne Verstand gläubig ist und jedem Versprechen Glauben schenkt, gilt als vom Rattenfänger geködert, weshalb dieser schon früh politisch Figur gemacht hat. In Flugschriften und Traktaten heißt es: Er hetzt die Bauern auf, er macht die armen Leute begehrlich, er gibt den Bürgern Unruhe ein, er stellt Fragen, auf die einzig der Teufel Antwort weiß. Wer auf ihn hört, der zündelt auch, rumort im Untergrund, erhebt sich, wird aufständisch und ist ein Revoluzzer und Ketzer zugleich. So haben Rattenfänger, die sich mal nüchtern, mal farbig trugen und jedesmal anders hießen, verlorene Bauernhaufen und aufsässige Gewerke, Irrläufer und Abweichler, oft radikale Minderheiten nur, schließlich ganze Völker ins Unglück geführt; noch kürzlich das gutgläubige deutsche Volk, indem der immer gleiche Rattenfänger nicht etwa was kaum verfangen hätte »Die Ratten sind unser Unglück« rief, sondern den Juden jedes Unglück zuschob, bis ziemlich jeder Deutsche zu wissen glaubte, woher das Unglück gekommen sei, wer es mit sich gebracht und verbreitet habe, wen man deshalb zusammenpfeifen und wie Ratten vertilgen müsse.
So einfach ist das. So leicht läßt sich aus Legenden man muß sie nur ordentlich klittern eine Moral ziehen, bis sie Früchte trägt: ausgewachsene Verbrechen.
Ähnlich sieht das unser Herr Matzerath, der, gleich dem gehetzten Getier, sein Leben lang Zuflucht suchte, selbst wenn ihm einfiel, als Fänger zu posieren. Er sagt: »Wann immer von Ratten und deren Ausrottung die Rede war, wurden andere, die augenfällig keine waren, wie Ratten eliminiert.«

Er hat eine Adresse, schreibt Briefe und erhält Post. Seit ihm vor zwei Jahren ein Gallenstein entfernt wurde, nennt er sich gesund, klagt aber dennoch über Schwierigkeiten beim Wasserlassen: Nach ermüdenden Sitzungen und im Verlauf streitbarer Medienkongresse komme es zu schmerzhaftem Harnverhalt, vermutlich reize Streß seine Prostata, dennoch scheue er das Schälmesser der Urologen.
Er sammelt neuerdings Goldmünzen, trägt Seidenkrawatten, liebt rubinbesetzte Krawattennadeln, nimmt nach dem Rasieren Kölnisch Wasser und will am Abend nach Uralt-Lavendel duften, wohl um an seine arme Mama erinnert zu sein, die diesen lange haftenden Duft an sich hatte. Bis auf den gepflegt gewellten Haarkranz, der silbergrau schimmernd über den Kragen fällt, ist er kahlköpfig. Wie poliert glänzt seine zu jeder Jahreszeit gebräunte Glatze. Man ist versucht, sie zu streicheln; und es soll Frauen geben, die dieser Versuchung erliegen zählebige Gerüchte, denen er nie widerspricht.
Zwar sieht man ihn selten in Gesellschaft, doch sobald er einlädt, stellt sich das bucklichte Männlein zwischen ausgesucht hochgewachsene Damen und Herren, als müsse noch immer zu knappes Körpermaß betont werden. Deshalb sind seine Angestellten, vom Management bis in die Produktion, alle über einsachtzig groß. Diese Marotte ist in der Filmwirtschaft bekannt, wird aber nicht mehr belächelt, zumal Marktanteile deutlich machen, wer wen überragt. Seinen Kalender verplant er vorbeugend: Wütige Arbeitsphasen, die ausschließlich der Videofilmproduktion gelten, wechseln mit Phasen der Ruhe in abgeschiedener Lage; nicht nur seiner empfindsamen Prostata wegen sucht er Kurorte auf: Marienbad, BadenBaden, Lucca und Bad Schinznach in der Schweiz. Oft zitiert wird sein Lieblingssatz: »Zukunft haben einzig die Ratten, und unsere Videokassetten natürlich.«
Während er kurt und abseits vom Kurprogramm, denkt er sich aus, was sein Kopf hergibt: immer noch vielstöckige Thesen und deren Gegenteil. Mal will er Geschehen, das vor uns liegt, als hergestellte Zukunft filmen, damit sie, sobald sie gegenwärtig wird, als Film schon vorhanden ist; dann wieder verlangt es ihn, gefilmt zu sehen, was alles geschah, bevor es das Medium Film gab, zum Beispiel die Einschiffung in Noahs Arche. Nach streng geführter Strichliste soll alles, was kreucht und fleucht, paarweise ins Bild kommen: der Warzeneber, die Warzensau, Gans und Ganter, Hengst und Stute, und immer wieder das eine, besondere Paar, das nicht in die Arche darf und unverzagt dennoch versucht, sich zwischen die zugelassenen Nager zu schmuggeln. In Pausen, die er sich selten einräumt, wird ihm seine Kindheit gewichtig, der er sich alternd wieder zu nähern wünscht: der Sturz von der Kellertreppe, Besuche beim Arzt, zu viele Krankenschwestern... Doch Aufzeichnungen über sein Herkommen oder Bekenntnisse gar macht er keine mehr, so innig ihn die Damen seiner Wahl darum bitten. »Das ist alles gegessen!« sagt er. »Wir leben heute und zwar tagtäglich zum letzten Mal.«
Schon jetzt freut er sich auf den diesjährigen September, weiß aber noch nicht, wie sein sechzigster Geburtstag begangen werden soll: Will er still für sich sein einzig von Fotos umgeben oder zwischen hochbeinigen Gästen?
Doch zuvor soll Anna Koljaiczek, seine Großmutter, gefeiert werden: mit erlesenen Geschenken und einer Überraschung, die er sich in Bad Schinznach ausgedacht und gleich nach der Kur in Produktion gegeben hat.
Auf seinem übermäßig geräumigen Schreibtisch, der immer leer zu sein hat, liegt einzig jene einladende Postkarte, die stellvertretend der Pfarrer der Kirchengemeinde Matarnia, das früher Matern hieß, geschrieben hat: »... gebe ich mir die Ehre, mein Enkelkind, Herrn Oskar Matzerath, zu meinem 107. Geburtstag einzuladen.«
Diesen Satz liest er immer wieder, weiß aber nicht, ob er reisen soll. Einerseits fürchtet er sich vorm Zurück, andererseits denkt er sich Geschenke aus und erzählt überall vom bevorstehenden Fest. Da es ihm Freude bereitet, wenn ihn jedermann »unser Herr Matzerath« nennt, hört er nicht weg, sobald in seiner Umgebung geflüstert wird: »Stellen Sie sich vor: unser Herr Matzerath fährt womöglich nach Polen. Wissen Sie schon, daß unser Herr Matzerath eine Polenreise plant?«
Noch zögert er. Jemand, der bewußt sein Wachstum einstellte, dann doch wenige Zentimeter wuchs, betreibt sein altes Spielchen: soll ich, soll ich nicht.
Hinzu kommt, daß Bruno, der sonst als Chauffeur klaglos zu jeder Reise bereitsteht, diesmal Sorgen äußert und Gründe sucht, die Reise wenn nicht zu verhindern, dann zu verschieben. Er beruft sich auf Ärzte, die abgeraten haben. Er nennt die politische Lage in Polen unsicher. Er warnt vor militärrechtlicher Willkür. Ohne handfeste Gründe zu nennen, deutet er an, daß unser Herr Matzerath in Polen gegenwärtig unerwünscht ist.
Noch ist kein Visum beantragt. Dennoch kauft Oskar Seidenkrawatten und kleidet sich sportlich großkariert ein. Er lehnt ab, gegebenenfalls zu fliegen oder gar mit der Bahn zu reisen. »Wenn schon«, sagt er, »dann kehre ich im Mercedes heim.« Vorsorglich wird seine Münzsammlung angereichert, obgleich oder weil der Goldpreis, bei steigendem Dollarkurs, fällt. Als könnten ihn Umstände zwingen, uns für längere Zeit verlassen zu müssen, hat er für jedermann Ratschläge im Hut. Mir wird geraten, einzig dem Fall Malskat nachzugehen. Auf meine Bitte, endlich auch andere Projekte zu bedenken, antwortet er in Eile: »Über den Wald und Hameln reden wir später!« und läßt mich stehen mit meinen zuvielen Geschichten, die alle gleichzeitig aus ihren Anfängen drängen.

Bevor der Motorewer »Die Neue Ilsebill« die flache Insel Fehmarn hinter sich läßt und Kurs hält auf Møns steile Kreideküste, nehmen die Frauen an Bord des Forschungsschiffes nach vorgefaßtem Plan der Lübecker Bucht Meßproben ab. Weil genügend Daten über die Kieler Förde vorliegen, wird hier die Vertikalwanderung von Plankton erforscht. Mit sechs Netzen kommt der Meßhai zum Einsatz. Bei einer Holdauer von fünf Minuten und einer Wassertiefe, die längs der Meßstrecke zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Metern schwankt, kann, neben dem Vertikalhol, aus fünf Tiefenstufen gleichzeitig geholt werden.
Während die Steuermännin den stufigen Quallenzähler ausfährt, bearbeiten die Meereskundlerin und die Maschinistin Ohrenquallen, deren Durchmesser mehr als vier Zentimeter beträgt. Die Qualle wird auf Höhe der Velarlappen gemessen. Kleinere Quallen heißen Ephyren, die größeren Medusen. Bei der Volumenbestimmung müssen die Medusen kurz abgetropft und dann als Masse in formalingefüllte Standzylinder getaucht werden. Natürlich wird bei der Messung die dadurch bedingte Schrumpfung berücksichtigt. Bei allen Größengruppen nimmt der Quallendurchmesser nach zwei Tage anhaltender Fixierung um etwa vier Prozent ab. Das alles und noch mehrzum Beispiel das Vergleichswiegen von Heringslarven und Medusen hat die Meereskundlerin während ihres spät begonnenen Studiums gelernt. Sie weiß, wie die Maschinistin, die eigentlich in einem Transportunternehmen tätig ist, und die Steuermännin, die ein Anwaltsbüro leitet, beim Zählen, Messen und Wägen der Medusen und Ephyren fachkundig anzulernen sind. Geduldig demonstriert sie angewandte Meereskunde. Nie wurde nüchterner über Medusen gesprochen.
Zuerst fischten die Frauen mit ihrem Spezialgerät zwei Meilen vom Timmendorfer Strand entfernt, dann vor Scharbeutz und Haffkrug, jetzt nehmen sie in der Neustädter Bucht bis vor Pelzerhaken der Ostsee Meßproben ab. Weiter nördlich verringert sich die Quallendichte. Doch wird vor der Küste Ostholsteins plötzlich die Meereskunde und deren Anwendung um eine Dimension erweitert, indem die Steuermännin zur Kapitänin sagt: »Hier etwa haben wir Anfang der siebziger Jahre den Butt gefangen. Zufällig. Mit ner Nagelschere. Hat der das Maul aufgerissen! Lauter Hoffnungen und wunderhübsche Versprechungen. Wurde nichts draus. Alles nur Quallen, die schrumpfen, sobald du sie anguckst.«
Als rufe sie ihn wirklich, ruft die Steuermännin über die glatte See: »He, Butt! Du hast uns angeschissen. Nichts hat sich geändert. Immer noch sind die Herren am Drücker. Sie, nur sie haben das Sagen, wenn es auch immer schneller bergab geht. Und wir haben damals gedacht: jetzt kommt sie, die Frauensache, die kluge Herrschaft der Weiber. War ne Fehlanzeige. Oder fällt dir auch dazu was Schlaues noch ein? Na, sag was, Butt, sag was, du Großmaul!«
Zwar bleibt die See sprachlos, doch lockt der Ausbruch der Steuermännin, dieses lange nicht mehr lautgewordene Geschrei nach dem sprechenden Plattfisch, die Meereskundlerin und die Maschinistin aus dem ehemaligen Lastraum des Motorewers, wo sie den letzten Quallenhol vermessen haben. Kaum an Deck, ruft die Maschinistin: »Hör bloß mit dem Mist von gestern auf!«
Die Meereskundlerin sagt: »Und hör auf zu jammern. Uns kommt kein Mann an Bord. Reicht Dir das nicht?«
Aus der Kombüse ruft die Alte: »Butt oder nicht Butt, hier war schon immer was los! Laßt uns hier ankern.«
Während die Kapitänin den Motor drosselt, abstellt, dann folgsam beide Anker wirft, als habe von nun an die Alte das Kommando, zieht die Meereskundlerin ihre Klarsichthandschuhe ab. Sie wirft das Wegwerfzeug über Bord und weist nacheinander in Richtung Pelzerhaken, Neustadt, Scharbeutz: »Da lagen sie, drei Schiffe. Ich trug Zöpfchen mit Propellerschleifen und war gerade zwölf, als die >Thielbeck<, die >Cap Arcona< und die >Deutschland< hier ankerten. Uns hatte man von Berlin wegevakuiert. Zweimal ausgebombt waren wir. Das war im April fünfundvierzig, kurz vor Schluß. Die Schiffe lagen da jeden Morgen, wenn ich zur Schule ging. Die sahen aus wie gemalt. Und am Küchentisch hab ich sie auch gemalt. Mit Buntstiften, alle drei. Die Erwachsenen sagten: Da sind Kazettler drauf. Als mich meine Mutter am dritten Mai nochmal in die Stadt schickte, weil es in Neustadt Zucker auf Marken gab, sah ich vom Strand aus, daß mit den Schiffen was los war. Die qualmten. Die wurden angegriffen. Heute weiß man ja mehr: die Kazettler kamen aus Neuengamme und paar Hundert aus Stutthof. Und angegriffen wurden die Schiffe von britischen Typhoons. Die waren mit Raketen bestückt. Vom Strand aus sah das putzig aus, wie ne Übung. Jedenfalls brannte die >Cap Arcona< und kenterte später. Die >Deutschland<, auf der keine Kazettler waren, wurde versenkt. Die >Thielbeck<, auf der Häftlinge Bettlaken als Weiße Fahnen gehißt hatten, kenterte brennend und wurde auf Grund gesetzt. Natürlich sah man vom Strand aus nicht, was in den Schiffsbäuchen passierte. Kann man sich auch kaum vorstellen. Auch wenn ich später noch lange mit Buntstiften brennende Schiffe gezeichnet habe, oh Gott! Jedenfalls waren vor dem Angriff an die neuntausend Häftlinge an Bord der >Arcona< und >Thielbeck<. Von denen sind täglich gut dreihundert verhungert. Und etwa fünftausendsiebenhundert Kazettler das waren Polen, Ukrainer, Deutsche, und Juden natürlich verbrannten, ertranken oder wurden, wenn sie schwimmend ans Ufer kamen, am Strand einfach abgeknallt. Von SS-Männern und Marinekommandos. Das hab ich gesehn, als ich zwölf war. Stand da mit meinen Zöpfen und guckte. Standen auch viele Erwachsene aus Neustadt da und guckten zu, wie die Kazettler, kaum aus dem Wasser, bibbernd noch abgeknallt wurden. Die wollen natürlich nichts gesehen, nichts gehört haben, bis heute. Und auch in England redet kein Schwein davon. War ein Unglücksfall, fertig. Zwei Jahre lang trieben Leichen an und störten den Badebetrieb. War ja gleich darauf Frieden. Und auch die Wracks lagen noch lange in Sicht, bis man sie abschleppte zum Verschrotten.«
Während die Meereskundlerin weiß, wie der Gauleiter von Hamburg und die Kapitäne der Schiffe hießen, blicken die Frauen über die See, der nichts anzumerken ist. Bei Windstille regnet es leicht, wie oft in diesem verregneten Sommer. Aus der Kombüse sagt die Alte: »Na klar, sowas paßt nicht in die Geschichte. Ne dumme Panne. Das stört. Sowas vergißt man. Schwamm drüber! sagte man früher. Essen wir nun? Klopse gibt es mit Röstzwiebeln zu Stampfkartoffeln und Gurkensalat.«
Weil es nichts mehr zu sagen gibt, holt die Kapitänin beide Anker ein und ruft den Kurs aus: offene See. Wie gut, daß der Motor folgsam anspringt. Neben der Steuermännin hält sich Damroka an ihrem Kaffeepott fest. »Bloß weg hier!« sagt sie, mehr nicht, hat aber das eigentliche Ziel der Reise, das nur sie kennt, im Blick; und auch ich wünsche, daß die Frauen ablassen von der Vergangenheit und einzig wieder auf Ohrenquallen fixiert sind.
Zum Essen wird mittschiffs der Tisch geräumt, auf dem zuvor Tabellen mit Meßdaten lagen. Alle müssen die Klopse, die Köchin loben. Gerede über das Wetter und den verregneten Sommer. Wie gut, daß nichts nachhallt. Zu Klopsen mit Stampfkartoffeln trinken die Frauen aus Flaschen Bier. Sobald sie gegessen hat, holt die Kapitänin die Steuermännin vom Ruder.
Später erst, nachdem ihnen die flache Insel Fehmarn vergangen ist, sammeln sich alle an Deck und bringen ihr Strickzeug mit. Kurzatmig wirft die See kleine Wellen. Leichte Brise. Anderswo geht Regen in Schleiern nieder. Ab und zu kommt die Sonne durch. Kaum zeichnet sich backbord mit der dänischen Insel Lolland flache Küste ab, durchfährt die »Ilsebill« mal dicht, mal dünn besiedelte Quallenfelder. Hier werden keine Daten gesammelt. Der Meßhai darf ruhen. Achteinhalb Knoten Fahrt macht der Ewer.
Doch plötzlich nur weil aus südöstlicher Richtung weißleibig ein Fährschiff aufkommt kein Gerede mehr über dies und das. Ich kann nicht verhindern, daß die Meereskundlerin zu stricken aufhört und wieder von den KZ-Schiffen zu sprechen beginnt. Weil die Maschinistin mehr und Genaues wissen will»Wieso hat man die Häftlinge auf die Schiffe? Und warum haben die Engländer nicht?« -, lasse ich die Alte überm Abwasch aus der Kombüse rufen: »Jadochja! Hungernde, brennende, dann schwimmende, gleich darauf abgeknallte Menschen. Und Menschen, die andere Menschen hungern, verbrennen, absaufen ließen und zusahen, wie die wenigen Menschen, die an Land kamen, von Menschen glattweg abgeknallt wurden. Immer nur Menschen und was Menschen mit Menschen taten. Und die Ratten? Wer spricht von verbrannten, ersoffenen Ratten? Wetten, daß jede Menge Ratten an Bord waren, einige tausend bestimmt...«
Da sagte die Rättin, von der mir träumt, ohne daß sie ins Bild kam und das Schiff verdrängen konnte: Irrtum, kleiner Irrtum. Zwar sind wir den Menschen immer nahe gewesen, doch ihren Untergängen wichen wir aus. Wir wußten vorher, was kommt. Uns hielt es nicht auf Schiffen, die anrüchig waren. Bei aller Liebe zum Menschengeschlecht, mit ihm verbrennen oder ersaufen wollten wir nicht.

Das war kein Rollstuhl, von dem mir träumt. Es war eine Raumkapsel, in der ich angeschnallt saß und meiner Umlaufbahn folgen mußte. Ich, ohne Begriff von all dem Weltraumklimbim; ich, unbelastet vom Spezialwissen, das hochqualifiziert nach den Sternen greift und alle Galaxien namentlich anzusprechen versteht; ich, frei, von Sprachkenntnissen, die nicht nur leichthin plaudernden Astronauten, sondern auch Schulkindern mittlerweile geläufig sind; ich altmodischer Narr, dem selbst das Telefonieren ein unbegreifliches Wunder geblieben ist, saß fest in einer Raumkapsel und rief: Erde! Antworten Erde!
Doch mein Monitor zeigte einzig die Rättin. Nur sie gab Antwort, war gesprächig. Verzweifelt mochte ich schreien: Wir sind noch! Es gibt uns! Wir geben nicht auf! sie blieb ungerührt und sprach von vergangenen Zeiten: wehmütig und geduldig, als wollte sie mich bemuttern.
Freund, sagte die Rättin, hör zu. Erde hast du gerufen, hier spricht die Erde. Antworten Erde! hieß dein Wunsch, hier antwortet dir die Erde: Wir gruben uns ein, ahnten wir doch. Während die Menschen, als hätten sie anders nicht können, wieder einmal, doch diesmal endgültig verrückt spielten und absolut über sich hinauswollten, gruben wir uns tief ein. Reden wir nicht vom Instinkt; überliefertes Wissen, unser seit Noahs Zeiten für solche Fälle gewitztes Gedächtnis empfahl uns den Untergrund, das Überleben in Luftblasen dank Pfropfensystem. Die oft gedankenlos geplapperte Menschenweisheit
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff kam nicht von ungefähr. Seit jener Weisung, die uns den Zutritt in Noahs Kasten aus Tannenholz — Drey hundert eilen sey die lenge, funffzig eilen die weite und dreissig eilen die höhe strikt verboten hatte, waren uns Schiffe besonders verdächtig. Sooft wir von Ratten hörten, die, nach menschlichem Urteil, feige ein Schiff verlassen hatten, so prompt wurde uns wenig später der Untergang des verlassenen Schiffes bestätigt.
Es stimmt, rief die Rättin. Dieser Satz hat unseren Ruf gefestigt. Doch als es zum Schluß um das Schiff Erde ging, bot sich kein Planet zum Umsteigen an. Deshalb suchten wir unterhalb der menschlichen Bunkersysteme, Hochund Tiefbauten unterwühlend, Zuflucht. Auch legten wir Vorräte an, was während der Humanzeit nur die bengalische Reisratte tat. Obgleich ich in meiner Raumkapsel immer wieder versuchte, den Monitor zu freundlichen Bildern zu bewegen, führte die Rättin mich durch Grabensysteme, deren Laufund Verbundgänge zu Nestkammern, als Schleusen dienenden Engpässen und in geräumige Taschen führten, die wie Silos mit Korn und Kernen gefüllt waren. Labyrinthisch verzweigt öffnete sich eine Welt untertage.
Ich wollte ans Licht und Schönes träumen: Damroka! Sie sagte: Andere Ausflucht blieb nicht.
Ich fluchte auf unseren Herrn Matzerath: Er soll Ja sagen und meinen Film über den sterbenden Wald produzieren. Sie nahm mir den Ton weg und fistelte: Die allgemeine Stimmung des Menschengeschlechts, seine überbetonte, durch nichts begründete Hoffnung auf Frieden, diese von Hoffnung lebende, sich selbst verzehrende Hoffnung, dieses geschäftige Hoffnungmachen bei gleichzeitigem Leerlauf des menschlichen Getriebes, ihre trostlose Hofferei alarmierte uns.
Sie stellten sich mit Sachzwängen zu. Als wäre ihnen Zeit endlos gegeben, vertagten sie sich. Ihre Staatsmänner mochten das komisch finden, jedenfalls grinsten sie bis zum Schluß. Ach, ihr Gerede! Wenn das Humane zuvor zu weittragenden, wenngleich oft wunderlichen Ideen fähig gewesen war, plapperte es gegen Ultimo nur noch abgelegte Ideen nach, uralte Schrullen darunter: Weltraumschiffe, gebaut und bevölkert nach dem Archeund Ausleseprinzip. Offensichtlich, der Mensch gab sich auf. Er, dessen Kopf sich all das ausgedacht hatte; er, dessen Gedanken bis dahin Gestalt angenommen hatten; er, bisher stolz auf seinen Kopf und dessen Siege über Finsternis und Aberglaube, Dunkelmänner und Hexenwahn; er, dessen Geist zahllose Bücher gewichtig gemacht hatte er wollte fortan auf seinen Kopf verzichten und nur noch Gefühlen folgen, obgleich im Humanen mehr noch als der Instinkt das Gefühl unterentwickelt war.
Kurzum, sagte die Rättin, von der mir träumt: Immer mehr Menschen setzten auf ein Leben ohne Vernunft. Wie Seher und Hohepriester redeten Dichter daher. Jedes ungelöste Problem nannten sie Mythos. Schließlich wandelten sich sogar die seit Jahren üblichen, anfangs mit Wörtern und Beweisen noch klugen Friedenskundgebungen zu religiösen Aufläufen. Leider liefen auch unsere Punks mit, die wir liebgewonnen, die uns liebgewonnen hatten. Unser Rattengedächtnis erinnerte mittelalterliche Flagellantenzüge, die angstgetrieben das christliche Abendland heimgesucht, geißelwütige Exzesse, Pogrome ausgelöst und vor nichts haltgemacht hatten, weil damals die Pest umging, Menschengeißel genannt. Worauf Schuldige gesucht und gefunden wurden: wir und die Juden sollen die Seuche eingeschleppt und verbreitet haben. Von Venedig oder Genua aus. Alte Geschichten, gewiß; und doch immerneue ...
Jedenfalls sahen wir das Flagellantentum gegen Schluß der Humangeschichte abermals aufleben, wenngleich nicht gegen Juden und uns gerichtet. Vielmehr kam es nach Umzügen und Aufläufen zu vereinzelten, dann kollektiven Selbstverbrennungen: Erstmals in Amsterdam, dann in Stuttgart, darauf gleichzeitig in Dresden, Stockholm und Zürich, schließlich tagtäglich in europäischen Großund Kleinstädten, in Fußballstadien und Messehallen, auf Kirchentagen und Campingplätzen; worauf diese Mode wenn man so sagen darf in anderen Erdteilen Zulauf fand: zuerst in Atlanta und Washington, dann in Tokio und Kyoto, natürlich in Hiroshima. Am Ende, als kollektive Selbstverbrennungen sogar aus unterentwickelten Ländern gemeldet wurden, blieb auch die Sowjetunion nicht gefeit: Von Kiew sprang das heillose und nichts klärende Feuer auf Moskau und Leningrad über. Wo immer Vernunft aussetzte es sollten noch Rom und Tschenstochau erwähnt werden -, der Vorgang blieb sich gleich: Junge Menschen gruppierten sich zum enggefügten Block. Und in der Mitte solch eines betenden, singenden, den Frieden in jedes Gebet, in jede Liedzeile zwingenden Menschenblocks vorm Kölner Domportal sollen es über fünfhundert gewesen sein wurde dann, nach plötzlichem Schweigen, der Mahnblitz gezündet; viele offen reihum gereichte Kanister Benzin stellten ihn her. Davon gab es genug bis zum Schluß.
Ach das Humane! Oh, dieses Menschengeschlecht! Selbst im Zustand verzweifelter Wirrnis hatten sie alles gut organisiert. Ordner fügten die zum Selbstopfer bereiten Blöcke. Der versammelten Kopfzahl entsprechend, standen Ambulanzwagen bereit. Auffallend viele Mütter mit Kleinkindern unter den Opfern. Lehrer mit ihren Schülern. Priester und Pfarrer mit Katecheten und Konfirmanden. Großbetriebe verloren in Neckarsulm und Wolfsburg ihre Lehrlinge samt Ausbildern. In etlichen Garnisonsstädten haben Rekruten den Mahnblitz während der Vereidigung gezündet. Im späteren Verlauf dieser vorweggenommenen Selbstvernichtung gaben die Presse, der Rundfunk und das Fernsehen die täglichen Verlustzahlen vernünftigerweise nicht mehr bekannt.
Und ich sah, was die Rättin aufgezählt hatte, sah Mahnblitze vor jäh erhellten Stadtkulissen, sah Säuglinge mit Müttern, Schüler mit Lehrern, Jungchristen samt Kaplänen, Lehrlinge um ihre Meister geschart und Rekruten beim Fahneneid in Flammen aufgehen. Ich schrie und blieb doch gefangen in meiner Raumkapsel. Aufhören! Aufwachen! schrie ich. Ich bat, winselte, sagte zärtlich Rättlein, Weihnachtsratte zu ihr. Unsinnige Vorschläge fielen mir ein: hätte nicht, wäre nicht möglicherweise... Sie aber gab aus vergangener Zeit sachlich Bericht.
Gewiß hätte und wäre es besser gewesen... Und anfangs versuchte man auch, den umsichgreifenden Wahn einzudämmen und die Blöcke gewaltsam zu sprengen. Als aber in Brüssel, Nürnberg und Prag einzelne Polizisten, dann geschlossene Hundertschaften überliefen, um, wie man sagte, der mahnenden Selbstaufopferung teilhaftig zu werden, wurden die Ordnungskräfte fortan zurückgehalten. Tatenlos sah man den Mahnblitzen zu. In städtischen Ballungsgebieten gehörten sie zum Alltag, wie in entlegenen Regionen der Hunger alltäglich war. Vor diesem Hintergrund aus Qualm, Gestank und wie ein namhafter Publizist schrieb zunehmender Geneigtheit zum Tode fiel es den Staatsmännern leicht, ihrer Geschäftigkeit den Anschein von Vernunft zu geben, so daß sich besorgte ältere Menschen einer gegenläufigen Bewegung, die unter dem Motto: Den Frieden aufrüsten! mäßigen Zulauf fand, zeitweilig anschlossen. Natürlich forderten die Mahnblitze bei Zusammenstößen beider Gruppierungen entsprechend mehr Opfer.
Mir war, als lächelte die Rättin in ihrem Grabensystem. Vielleicht lächelte sie auch nicht, und nur mir, in meiner Raumkapsel, kam das alles irrsinnig komisch, zum Kaputtlachen komisch vor. Das brüllte ich auch: Mach keine Witze, Rättin! Hör auf, dich über uns lustig zu machen. Ihr habt leicht lachen in euren Rattenlöchern.
Stimmt, Freundchen, sagte die Rättin, dennoch solltest du hören, was uns dazu brachte unterzutauchen: Gegen Schluß der Humangeschichte hatte sich das Menschengeschlecht eine Sprache eingeübt, die beruhigend ausglich, schonungsvoll nichts beim Namen nannte und selbst dann noch vernünftig klang, wenn sie Blödsinn als Erkenntnis ausgab. Erstaunlich, wie es den Macheffels, ihren Politikern gelang, die Wörter geschmeidig und sich gefügig zu machen. Sie sagten: Mit dem Schrecken wächst unsere Sicherheit. Oder: Der Fortschritt hat seinen Preis. Oder: Die technische Entwicklung läßt sich nicht aufhalten. Oder: Wir wollen doch nicht in die Steinzeit zurück. Und diese Täuschersprache wurde hingenommen. So lebte man mit dem Schrecken, lief Geschäften oder Vergnügungen nach, bedauerte die Opfer der Mahnblitze, nannte sie übersensibel und deshalb unfähig, die Widersprüche der Zeit auszuhalten, ging, nach kurzem Kopfschütteln, zur Tagesordnung über — die war aufreibend genug — und sagte zwar nicht ausdrücklich: Nach uns die Sintflut, lebte aber doch so bequem wie möglich mit der Gewißheit, daß das Humane und sein seit Noahs Zeiten wiederholter Versuch, dem Menschengeschlecht ein weniger mörderisches Verhalten einzuüben, gescheitert war. Als allerletzte Weltanschauung fand der Finalismus Zuspruch und Anhänger. Leichthin sagte man zu Freunden und Bekannten: Kommt doch mal wieder vorbei, bevor es zu spät ist. Man grüßte sich: Schön, dich noch einmal zu sehn. Beim Abschiednehmen geriet die Redensart Auf Wiedersehen außer Gebrauch. Und den Kindern sagte man liebevoll, aber auch nachdenklich: Eigentlich hätte es euch, unsere kleinen Lieblinge, nicht mehr geben dürfen. Das Bilanzziehen begann. Bei familiären Feiern und offiziellen Anlässen, sogar bei Brückeneinweihungen wurde Endzeitliches zitiert. Kein Wunder, daß wir Ratten uns eingruben.
Ich widersprach nicht mehr. Meine Raumkapsel wurde mir immer wohnlicher. Warum sollte ich weiterhin Erde! Antworten Erde! rufen? Ich spielte mit mir unbegreiflichen Knöpfen, Schaltern und sonstigen Instrumenten, kam auch zu ablenkenden Bildern, die einander mutwillig löschten, vergnügte mich an den Albernheiten dieser Einblendungen, glaubte gut zu träumen und hörte dennoch der Rättin zu, schon einverstanden. Noch immer mit unserer Schlußphase beschäftigt, sagte sie: Seit Rattengedenken den Menschen zugetan, versuchten wir, sie zu warnen, bevor wir uns eingruben. Zu Hunderttausendend verließen wir die weitläufigen Tunnelsysteme ihrer Verkehrswege und unsere bevorzugte Heimstatt, die Kanalisation. Wir räumten Müllund Schrotthalden, Schlachthöfe und Hafenareale, die Versorgungsschächte der Hochhäuser und unsere sonstigen Reviere. Am hellen Tag, wie gegen unsere Natur, liefen wir über die Hauptstraßen aller europäischen Metropolen: Heerhaufen flüchtiger Rattenvölker, eine nicht einzudämmende Rattenflut. Dann steigerten wir unser Programm. Nicht einmal nur, mehrmals am Tag über die Gorkistraße zum Roten Platz. In Washington liefen wir dreimal ums Weiße Haus, in London sternförmig auf Trafalgar Square zu. Zwei gegenläufige Rattenströme blockierten die Champs-Élysées. So trugen wir dem Menschengeschlecht unsere Sorge zur Schau. Da das Humane an Bilder glaubte, setzten wir uns erschreckend ins Bild. Prachtstraßen und Avenuen rauf und runter. Jeder Rücken, die Schwänze gestreckt. Wir wollten den Menschen bedeuten: Seht, wie wir Angst haben! Auch uns ist bewußt, daß dieser Welt Dämmerung bevorsteht. Wie ihr kennen wir einschlägige Bibelstellen. Unsere von letzten Ängsten bewegte Flucht sagte: Hört auf, ihr Menschen, euch zu Ende zu denken. Macht Schluß mit dem Schlußmachen. Unübersehbar erfüllt sich der Sprüche Weisheit...
Ich tat erstaunt: Und? Das gab doch Panik, was? Ein einziger Aufschrei oder? Als wollte ich nachholen, was die Menschheit versäumt hatte: Wenn ich mir vorstelle, nachmittags, bei Berufsverkehr. Und die Hausfrauen mit ihren Einkaufstaschen ...
Was die Rättin sagte, klang müde und noch im Rückblick enttäuscht: Zwar hörten wir Schreie entsetzter Passanten, die unsere demonstrierte Massenflucht vielleicht sogar richtig deuteten, zwar brach in den Zentren der Städte sofort der Verkehr zusammen, zwar waren alle Fensterfronten der Hauptstraßen von Gaffern besetzt, doch sonst geschah nichts, außer daß man uns, wie wir bildkräftig über die Seinebrücken, immer wieder am Buckingham Palace vorbei, um Genfs hohes Wasserspiel flüchteten, aufwendig fürs Fernsehen filmte. Schon machten Touristen Schnappschüsse. Da unsere schnellfüßigen Demonstrationen oft Stunden anhielten, boten wir Motive genug. Aber, rief ich, hat man denn nicht. Ich meine Gegenmaßnahmen. Zumindest mit Wasserwerfern. Oder von Hubschraubern aus. Oder ganz einfach...
Jaja, sagte die Rättin, natürlich fiel ihnen zu allererst Gift ein. Doch nur in wenigen Großstädten wurde versucht, unser massiertes Auftreten mit Vernichtungsmitteln zu bekämpfen, in Rom sogar mit Flammenwerfern: sich rasch ausbreitende Großfeuer längs der Via Veneto waren die Folge. Verluste an Menschenleben wogen unsere Ausfälle auf. Wie dumm sie bis zum Schluß auf Gewalt gesetzt haben. Einzig in Peking, Hongkong und Singapur, wo die chinesische Spielart des Humanen vorherrschte, in Neu Delhi und Kalkutta, wo wir schon immer, wenn nicht geheiligt, so doch geachtet waren, wurden unsere bewegten Warnbilder als Appell begriffen; doch die Zentralcomputer waren anderswo lokalisiert. Mir fiel nichts Besseres ein, als Schade, wie schade! zu sagen. Dabei habt ihr euch Mühe, verdammt viel Mühe gegeben. Kein Risiko, Rättin, habt ihr gescheut.
Erst jetzt, sagte sie, nach so viel Vergeblichkeit begannen wir Ratten uns einzugraben.
Das war falsch! rief ich. Oder zu früh. Jedenfalls hättet ihr nochmal und nochmal...
Haben wir, tagelang...
Nein! rief ich. Aufgegeben habt ihr uns Menschen. Und zwar viel zu früh...
Noch einmal, als wollte sie sich und mir vergebliche Mühe bestätigen, sah ich auf dem Monitor meiner Raumkapsel in rascher Bildfolge mit Ratten zärtliche Punks, viele hundert Punker mit ihren Ratten in Richtung Hameln unterwegs, Mahnblitze in Menschenblöcken gezündet, danach die kreisund gegenläufige Rattenflut. Dann aber sah ich, wie sie sich eingruben. Keilen gleich trieben sie Erdreich auf. Tausend und mehr Löcher spieen Sand, Kies, Mergel. Anfangs ihre Schwänze noch übertage, dann wie vom Boden verschluckt. Überall gleichzeitig. So viele endgültige Bilder, Bildsalat schließlich, in den sich immer wieder, doch tonlos und untertage nun, die Rättin mischte. Dann sah ich unseren Herrn Matzerath, wie er zur Rede ansetzte, darauf des Kanzlers Kinder als Hänsel und Gretel im toten Wald laufen, sogleich die Rättin wieder, nein, meine Weihnachtsratte, die eingerollt schlief oder harmlos tat, worauf der Maler Malskat für wundersam gotische Bilder Farbe anrührte, bis plötzlich mit anderen Frauen strickend Damroka die quallengesättigte See befuhr und die Ratte sich immer tiefer und die Kinder im Wald, der leichenstarr... Erlösend, daß unser Herr Matzerath endlich seinen Antrag vorzeigte, mit Blockschrift säuberlich ausgefüllt: nach Polen will er, nach Polen.
Wird auch Zeit, sagte ich mir beim Erwachen, denn zwischen Ramkau und Matern beginnen die Kaschuben, das Fest vorzubereiten. Es soll die Zahl hundertundsieben aus Blumen gebunden werden.

Am Ende, als es nichts mehr zu lachen gab, retteten sich die Politiker in übereinstimmendes Grinsen.
Ohne Motiv, denn Komisches lag nicht vor, begannen sie, weltweit zu feixen.
Einbrüche in beherrschte Gesichtszüge.
Kein verlegenes Lächeln.
Finales Grimassieren nur noch.
Man hielt das dennoch für Heiterkeit und fotografierte das Grinsen und Feixen der übereinstimmenden Politiker. Fotos vom letzten Gipfeltreffen waren Zeugnisse ansteckend guter Laune.
Sie werden schon Gründe haben, den Ernst entgleisen zu lassen, sagte man sich.
Da bis zum Schluß getagt wurde, hielt sich Humor bis zum Schluß.

D ASDRITTEKAPITEL, indem sich Wunder
ereignen, Hänselund Gretelstädtisch seinwolen, unser Herr Matzerath an der Vernunft zweifelt, fünf Hängematten belegt sind, das Dritte Programm schweigen muß,inStege Ausverkauf und inPolen Mangelherrschen, eine Filmschauspielerin geheiligtwidund Truthähne Geschichte machen.

Meine Weihnachtsratte mag das nicht, wenn ich dem Maler Malskat nachlaufe. Beunruhigt wittert sie, sobald ich neben dem Käfig Prozeßberichte, Glossen ausbreite, etwa unter dem Titel: »Ein ostpreußischer Eulenspiegel«. Es stört sie auf, wenn ich Pressefotos von Malskat mit meiner Vorstellung von Malskat vergleiche: Durch Jahrhunderte gewitzt sieht er aus und könnte zu Schnabelschuhen, geschlitzten Hosen und Pluderärmeln anstelle seiner verfilzten Wollmütze die zwiefach gezipfelte Schellenkappe tragen.
Dazu läuft die Sendung Medienreport. Wir hören Neues vom Videomarkt, den nicht nur unser Herr Matzerath zukunftsträchtig nennt. Am Käfig meiner Weihnachtsratte vorbei finde ich mit ausgestrecktem Arm den Drehknopf, der mitten im Satz das Dritte Programm aus dem Raum nimmt; die Suche nach Malskat hinter bedrucktem Papier duldet kein Nebengeräusch. Das muß meine Ratte begreifen, so gerne sie Neues aus der Wissenschaft oder die Wasserstandsmeldungen von Elbe und Saale hört.
Weder lustige noch böse Streiche. Kein schelliger Narr. Ich stelle fest, daß Malskats Nase, deren Wurzel mit ungleichem Schwung seinen Augenbrauen Ausdruck gibt, als sehe er immerfort Wunder, auf Malskats Wandbildern zeichenhaft wiederkehrt, so daß sie im Dom zu Schleswig wie in Lübecks Marienkirche engelhaften Jünglingen und geheiligten Greisen zu Gesicht steht. Sie alle sehen mit schmerzlich geweiteten Augen mehr, als in biblischen Zeiten zu sehen war. Sie sind begabt, nicht nur kommendes Heil, sondern auch bevorstehendes Grauen zu wittern, dank jenes Riechers, der schon Anfang der fünfziger Jahre in einer Doktorarbeit vermerkt wurde, die der Malskatschen Gotik aufsaß: »Außergewöhnlich sind die langen Nasen der Figuren im Langschiff und Chor. Sie bekräftigen den seherischen Blick der Heiligen. Es spricht aus ihnen eine gewisse nordische Kühnheit, die auf anderen hochgotischen Wandbildern vergeblich gesucht wird, ausgenommen im Dom zu Schleswig, wo der Salvator Mundi und etliche Motive der Strebpfeilerausmalungen anhand der Nasengestaltung vermuten lassen, daß die Werkstatt des Lübecker Langschiffund Chormeisters auch hier tätig gewesen ist.« Ich ahne, weshalb meine Weihnachtsratte unruhig wittert und sogar Sonnenblumenkerne mißachtet, sobald ich mich über die vergilbten Fünfziger hermache. Wie ohne Erinnerung, einzig von heute soll ich sein und mich immerfort fragen, was morgen schon Schlimmes geschehen könnte.
Gut, Rättlein, sage ich, das kommt noch, unser Konkurs. Doch bevor ich Bilanz ziehe, soll herausgefunden werden, weshalb Malskats Begabung, trotz schlechter Bezahlung fürwahr gotisch zu sein, damals zeitgemäß war und einem Grundbedürfnis, der allgemeinen Gestimmtheit zur Fälschung entsprach; wie Krähen im toten Wald, einmal muß der Schwindel doch auffliegen, so hoch er noch immer im Kurs steht. Ach, nicht kurzbeinig, gut zu Fuß schritten die Lügen aus! Denn die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg taten in Deutschland so, als wäre ihren Vorjahren ein böser Traum widerfahren, etwas Unwirkliches, das man aussparen müsse, damit es nicht Alpträume mache. Entlastende Träume waren gefragt. Ich erinnere mich: Ein Heiler zog damals durchs Land, der wundertätige Stanniolkugeln verkaufte, wirksam gegen allerlei Krankheit, worauf ihm das Volk wie gelernt zulief. Zum Träumen auf Schaumgummi schön waren Sitzgarnituren gegen Ratenzahlungen zu haben. In allen Illustrierten heirateten fortgesetzt Prinzen Prinzessinnen. Unentwegt sank bei Capri die rote Sonne ins Meer.
Auf Bildern, die später Tapete wurden, erwies sich alles durchlebte Grauen als gegenstandslos. Die Politik jedoch, von der man genug hatte, blieb durch höhere Gewalt alten Männern übertragen, denen das geteilte Land mehr zufällig als hälftig zugeschnitten war.
Und siehe, den Greisen gelang es, die besiegten Deutschen zu mit den Siegern befreundeten Deutschen zu läutern, die sich, weil ihr eingeborener Fleiß den Krieg wunderbarerweise überstanden hatte, sogleich im einen, im anderen Siegerlager nützlich machten: Ruckzuck war man wieder wer, wiederbewaffnet. Deshalb dankte das Volk beiden Wohltätern, wenngleich es den Spitzbart, wie Ulbricht genannt wurde, haßte und den alten Fuchs Adenauer zwar wählte, aber nicht von Herzen so liebte, wie man als geeintes Volk während zurückliegender Jahre seinen Hitler herzlich geliebt hatte.
Gut fügte sich Malskat in diese Zeit. Seine Wandmalerei, die als echt galt, wurde »das Wunder von Lübeck« genannt; denn wenn sich ein Volk hartnäckig vom Unglück verfolgt sieht und
wie nebenbei anderen Völkern Unglück gebracht hat, dennoch mit so vielen Heiligen gotischer Machart beschenkt wird, dürfte ihm Gottes Gnade auch im profanen Bereich gewiß sein. Worauf sich weitere Wunder tätigten, unter anderem das Wirtschaftswunder, dessen Ausschüttungen schon Anfang der fünfziger Jahre spürbar waren: Die in der Stadt Bonn, wie es hieß, provisorisch ansässige Regierung blätterte hundertachtzigtausend Mark neues Geld auf den Tisch der Lübecker Kirchenleitung, so daß immer mehr Heilige sichtbar wurden und kein Fleiß ohne Preis der Maler Malskat seines Stundenlohnes von fünfundneunzig Pfennigen sicher sein konnte.
Das aber und noch andere Mirakel jucken meine Weihnachtsratte nicht. Der auf den Wundern von damals heute noch fußende Reichtum ist ihr nichtig. Sie könnte Geschenkt! rufen und vorausblickend sagen: Selbst der Schatten davon wird nicht bleiben. Aber sie huscht nur unruhig in ihrer Sägespanstreu und nimmt keinen Anteil an meinen Rückblenden. Was immer ihre schwarzpolierten Augen fassen, Malskat spiegeln sie nie.
Erst als ich später im toten Wald Hänsel und Gretel laufen ließ und sich die entlaufenen Kanzlerkinder nicht an mein Drehbuch halten wollten, sondern, weil im Wald nichts los war, zu den Punks, bei denen mehr los ist, überliefen, sagte meine Weihnachtsratte nunmehr als Rättin: Die beiden sind gut. Von gestern ist denen kein Krümel geblieben. Sieh nur, was sie bei sich tragen, mit wem sie zärtlich sind, in wessen Ohren sie flüstern, wessen nackte Schwänze sie kicherig machen und wen beide liebhaben, auf daß sie mit Haut und Haaren geliebt werden, wem einzig Hänsel und Gretel zutraulich sind... Und ich sah, daß des Kanzlers und seiner Gattin entlaufene Kinder zwei Ratten an sich trugen. Die mochten einst weißhaarig und Laborratten gewesen sein. Jetzt aber war die eine zinkgrün, die andere violett gefärbt; wie Hänsels Irokesenhaartracht zinkgrün und Gretels viele steif stehenden Zöpfe violett leuchteten. Es sah aus, als wären die Kinder eins mit ihrem Getier.
Zwar versuchte ich, beide wieder in den toten Wald und ohne tierische Zutat in den Ablauf meines Drehbuches zu schicken, aber sie pfiffen auf dessen Moral. Mit ihren grellen Ratten wollten sie grell nur noch Punker zwischen Punks sein. Immer mehr drängten ins Bild, bis es randvoll war: ein Auflauf. Alle Punks hatten sich eigensinnig und doch uniform mit Schrott behängt; nun auch Hänsel und Gretel, so daß sie sich kaum von den anderen unterschieden. Vorhängeschlösser und extra große Sicherheitsnadeln hielten ihren Plunder zusammen. Ich zählte die Gruppe aus, und im Traum half mir die Rättin beim Zählen. Hundertdreißig Punks und genau so viele Ratten zählten wir.
Das muß ich, rief ich, unserem Herrn Matzerath erzählen, daß Hänsel und Gretel, die auffallend den entlaufenen Kindern des Kanzlers und seiner Gattin gleichen, nun stilechte Punks sind, die in Berlin-Kreuzberg hausen und der Welt Grimassen schneiden, damit sie an ihrem Zerrbild erschrickt. Ein verzweifelt lustiger Haufen ist das. Denen kann man nicht mehr gut zureden. Die haben sich alle mit ihren Ratten in eines der letzten besetzten Häuser verkrochen. Das ist ein Hinterhaus mit vernagelten Fenstern.
Sieh nur, Rättin, rief ich: wie typisch, daß Gretel in der Gruppe das Sagen hat und ihren Hänsel und die anderen machen läßt, was sie will. Er sagt: Wenn die kommen mit ihrer Ramme, sind wir geliefert glatt. Doch sie sagt: Wenn die uns räumen, verzischen wir uns nach Hameln hoch und kriechen in den Berg, wie damals, als es so schlimm war wie jetzt. Und Hänsel ruft: Guckt sie euch an, diese Normalos. Die schnallen überhaupt nicht, wie tot sie sind!
Da sagte die Rättin, von der mir träumt: Die Kinder schrien, doch niemand wollte hören. Deshalb sagten wir Rattenvölker vorsorglich: Wir werden uns eingraben müssen. Schade um die Menschen. Besonders schade um die mit uns zärtlichen Punks.

Plötzlich nimmt unser Herr Matzerath Interesse. Gestern noch abweisend, ist er heute Hänsel und Gretel gewogen. Vor der Breitwandschiefertafel zwischen den Gummibäumen sagt er: »Abgesehen vom Wald gefällt mir ihre Geschichte. Man müßte sie zuspitzen. Sollten wir uns zur Produktion entschließen, könnte der Film etwa so beginnen: Während überall die Ratten aus ihren Löchern kommen, um am hellichten Tag öffentlich zu werden, ziehen auch in der geteilten Stadt Berlin alle beiderseits der Mauer getrennt ansässigen Rattenvölker zur selben Stunde über die Hauptstraßen; wenn sie drüben die Frankfurter Allee für geeignet halten, ist ihnen hier der Kurfürstendamm, von der Gedächtniskirche bis hoch nach Halensee, lang genug.
So bringen sie sich ins Bild. Sofort bricht in beiden Stadthälften punktuell der Verkehr zusammen. Massenkarambolagen sind die Folge. In ihren verkeilten Autos verschiedenen Typs erleben verschreckte Insassen, wie ungezählt viele Ratten in beide Fahrtrichtungen über alle zum Stillstand gezwungenen Autos hinwegeilen, ob Wartburg oder Opel, Tatra oder Ford. Niemand, kein Passant oder Autofahrer begreift den tieferen Sinn der unangekündigten Demonstration. Was man im Ostteil der Stadt als dem Sozialismus abträglich empfindet und deshalb wie eine Schande verschweigt, bekommt im Westen den kurzlebigen Wert einer Sensation zugesprochen. Halblaut heißt es hier wie dort: Die kommen von drüben.
Doch sobald Meldungen über den Ticker laufen und Rattenumzüge aus aller Welt bestätigen in Moskau und Washington auch! und der weltweite Zeitvergleich den Beweis bringt, daß das Rattengeschlecht rund um die Erdkugel an drei Tagen nacheinander pünktlich seinen Auftritt gehabt hat und zwar allerorts nachmittags um halbfünf -, als daraufhin niemand mehr wagt, von Zufällen zu faseln und selbst führende Politiker keine Worte finden, geeignet, ihre vom Ekel geschüttelten Staatsvölker zu beschwichtigen und deshalb schweigen, grinsend schweigen, erst als die Flut verebbt ist, liest man Kommentare, die dem Sinn der weltweiten Rattenumzüge nahekommen; wenngleich die aufklärende Absicht der Ratten unbedacht bleibt.
Tierforscher sprechen vom hochentwickelten Warnsystem der Nagetiere. Verhaltensforschern wird das Wort Paniksyndrom geläufig. Theologen rufen die Christenheit auf, Gottes warnenden Hinweis, kundgetan durch die niedrigste Kreatur, ernst zu nehmen und fortan Kraft einzig im Glauben zu suchen. Ein unerklärliches Phänomen, heißt es. Und im Feuilleton werden die Offenbarung Johannes, Nostradamus, Kafka, Camus und die indischen Weden zitiert. Mehr geschieht nicht. Einige Westberliner Zeitungen kommen wie üblich zur Sache. Sie sprechen die Kreuzberger Punks schuldig: Die hätten mit ihrem Rattenfimmel das Übel ausgelöst. Seitdem man Punks mit Ratten rumlaufen sehe, sei dieses Viehzeug groß in Mode. Es komme als Normalempfinden nicht mehr genügend Ekel auf. Jetzt müsse hart, endlich hart durchgegriffen werden.
Nur einige von Kindern geschriebene Leserbriefe sprechen wahr: Ich glaube, die Ratten haben Angst, weil die Menschen nicht genug Angst haben. Ich nehme an, daß die Ratten, bevor alles zu Ende geht, von uns Menschen Abschied nehmen wollen. Meine kleine Schwester, die die Rattenumzüge im Fernsehen gesehen hat, sagt: Zuerst hat uns der liebe Gott verlassen, und jetzt hauen auch noch die Ratten ab. Doch dann wird wieder anderes wichtig: der sprunghaft steigende Dollarkurs, Unruhen in Bangla Desh, ein Erdbeben in der Türkei und sowjetische Weizenkäufe; von einer Rattenflut, liest es sich rückblickend, hatte die Welt nur schlecht geträumt.«
So jedenfalls sieht es unser Herr Matzerath. Er springt auf und steht kleinwüchsig vor der enormen Schultafel zwischen seinen Gummibäumen. Mit Zahlen wirft er um sich und führt Beweis. In rascher Schnittfolge und auf eingeblendeten Spielebenen will er von Tokio nach Stockholm, von Sidney nach Montreal, von Ostnach Westberlin springen und das Entsetzen der Passanten, die dreinschlagenden Polizisten, den Einsatz von Wasserund Flammenwerfern, Brände und Chaos, Panik in Soho und Plünderungen in Rio, alles, was während der Rattenflut lief, in seine Videokassette bringen.
Er sagt: »Und immer wieder sieht man in bedrückenden Szenen die beiden Kinder mit ihren violett und zinkgrün gefärbten Streicheltieren: wie sie flüchten, sich mit anderen Kindern zusammenrotten, ein leeres Haus besetzen, brutal geräumt abermals flüchten, von Polizisten und Spürhunden aufgespürt, verfolgt, gehetzt werden, bis sie bei Ratten Unterschlupf finden und nach der Rattenflut mit jenen verschwunden, man hofft, gerettet sind.«
Nach einigem Sinnen, als rechne er jetzt schon die Marktchancen dieser Kassette aus, sagt er: »Sie sollten sich panoramaweit und im Detail ein nicht enden wollendes Strömen vorstellen, eine feierliche Unerbittlichkeit, den Ernst, ja, die übermenschliche Größe dieser letzten Demonstration für den Frieden.«
Nachdem wir uns ein Stündchen lang über die Möglichkeiten visueller Aufklärung gestritten haben ich setze auf Kintopp; er behauptet, nur die große Videoshow und das Heimkino hätten Zukunft -, sagt unser Herr Matzerath plötzlich: »Vielleicht sollten wir das Ganze in der Manier des Altmeisters filmischer Aufklärung, des großen Walt Disney, produzieren. Der Mensch hat das Dokumentarische satt. Soviel Wirklichkeit ermüdet. An Tatsachen glaubt ohnehin niemand mehr. Nur noch Träume aus der Trickkiste bringen stimmige Fakten. Machen wir uns nichts vor: Die Wahrheit heißt Donald Duck, und Mickey Mouse ist ihr Prophet! Gewiß war der Einfall ganz hübsch, Hänsel und Gretel als Punks laufen zu lassen; doch sollten wir besser eine Superratte erfinden, witzig in fabelhaften Abläufen zeichnen und als Anführerin, jadoch eine weibliche Ratte, sozusagen Ihre Rättin an die Spitze aller Rattenumzüge setzen. In Rom und Brüssel, in Moskau und Washington: sie superschlau vorneweg. Wir könnten die Rättin in unserem Trickfilm ganz einfach Mary, nein, Dorothea, ich hab's: Ilsebill nennen und medial zum Idol machen...« Das alles wiederholt unser Herr Matzerath im Kreis seiner Mitarbeiter anläßlich der wöchentlichen Programmplanung. Die hochgewachsenen Herren und Damen nicken. Er läßt auf den Schulschiefer mediengerechte Richtlinien schreiben. Die Produktion will wissen, woran sie ist.
Aber die Rättin, von der mir träumt, sagte: Für aufklärende Trickfilme und alles andere war es zu spät.

Sag ich ja: nichts.
In ihr Loch stolpern die Wörter. Nachträge nur noch.
Ein langes Gespräch über Erziehung, das abbrach, ohne zum Schluß zu kommen.

Nach letzten Meldungen.
Wie gegen Ende verlautbart wurde und gleich darauf dementiert.

Zu guter Letzt versuchten einige Exemplare der Gattung Mensch
von vorn zu beginnen.

Irgendwo soll gegen Saisonende preisgünstig Anlaß für Hoffnung gewesen sein.

Abschließend war von Gut und Böse, und daß es sowas nicht gebe, die Rede.

Als aber,
oder auch Gott
mit seinen ewigen Ausreden.

Überliefert ist der Beschluß, sich auf demnächst
zu vertagen.

Wir dachten, das sei ein Witz, als uns plötzlich
das Lachen verging.

Immerhin war danach niemand mehr hungrig global.
Doch hätten zum Schluß viele Menschen gerne noch einmal
Mozart gehört.

Es sind winzige Inseln, deren Namen überall in der Welt bekannt wurden, als man in sich wühlende Rauchpilze über ihnen aufgehen ließ, wie es hieß: versuchsweise. Auf diesen Inselchen haben auch wir uns erprobt. Deshalb darf man unser Verhalten den Bikinireflex nennen. Wir wissen seitdem. Fortan betraf unsere Ahnung nicht nur Schiffe, denen jene nur uns sichtbare Aura des nahen Untergangs eignete, ahnten wir doch andere Katastrophen gleichfalls voraus: Großfeuer, Sturmfluten, Erdbeben und Dürrezeiten, so daß wir uns in der Lage sahen, gerade noch rechtzeitig unsere Reviere zu verlegen. Kein Steppenbrand, dem wir nicht klüglich davongelaufen wären. Zudem wußten wir immer, welche Gattung, sie mochte sich noch so stark und im Saft stehend glauben, demnächst aussterben würde. Bei den ungeschlachten Dinosauriern haben wir, zugegeben, ein wenig nachgeholfen, um den Prozeß zu verkürzen; den Menschen jedoch wären wir gerne länger gesellig geblieben, so sehr uns ihr Haß auf alles Rattige zusetzte. Übrigens waren ihnen nicht nur die Juden, die Japaner auch, Japse genannt, rattengleich.
Nach den Vernichtungsschlägen auf Hiroshima und Nagasaki, die uns überraschten, nahmen wir die neue Gefahr in unser Vorwissen auf. Deshalb haben uns die Atomund Wasserstoffbombenversuche der Amerikaner, Franzosen und Engländer, die einige Südseeinseln zum Bodennullpunkt hatten, nicht unvorbereitet getroffen. Zwar konnten dort unsere Völker nicht fliehen, wie sie gekommen waren: per Schiff, aber das Erdreich bot sich als Zuflucht an. Sobald die Humanbevölkerung der Inseln evakuiert war, legten wir tiefe und verzweigte Fluchtbauten an, die sich nach dem Anti-Noah-Prinzip mit Hilfe opferbereiter Altratten als Luftblasen verstopfen ließen. Schon damals bedachten wir die Einlagerung von Vorräten; Kokosnußfleisch und Erdnüsse. Dennoch überlebten nur wenige Ratten.
Mir war, als mache sie eine Pause, um sich zu besinnen. Oder wollte die Rättin der Opfer ihrer Art auf dem Bikini-Atoll und auf anderen Versuchsinseln gedenken?
Nach einiger Zeit sofern man dem Traum mit der Elle Zeit beikommen kann sagte sie betont sachlich: Als viele Jahre später auf den betroffenen Inseln die Radioaktivität gemessen wurde, hielt man die Meßwerte immer noch für zu hoch, um sie Eingeborenen, die Heimweh nach ihrer Insel hatten, zumuten zu dürfen. Nichts könne dort leben! hieß es, obgleich man uns vorgefunden hatte: gesund und zahlreich wieder. Dennoch sagte unser Überleben den Menschen nicht viel. Außer Zeitungsmeldungen in der Rubrik Vermischtes, die mehr als Kuriosität denn als Nachricht Verbreitung fanden, keine weitere Reaktion. Kein tiefes Erschrecken. Allenfalls ein erstauntes Lächeln beim Frühstück hinterm Morgenblatt: Guck mal an. Die zähen Biester. Die überleben alles. So war der Mensch beiderlei Geschlechts. Wie er brüllte, wichtig tat oder, seiner Macht sicher, schwieg. Sein Gerede von der Unsterblichkeit, dabei ahnte er, daß allenfalls wir, die zähen Biester, das Zeug hatten, unsterblich zu sein. Und als wir uns allerorts eingruben es ging diesmal ja nicht um Inselchen nur-, wichen wir keiner Mühe aus. Die härtesten Brocken gaben nach. Lag was quer, wir bissen uns durch. Unserem Zahn hält nichts stand. Er ist der Ausdruck unserer Geduld. Wir unterwühlten ihren Beton. In einigen Regionen boten sich aufgelassene Bergwerke an. Die römischen Katakomben wurden erweitert. Und in jener Stadt, die für dich, unseren Freund, aufgespart in der Raumkapsel, von besonderem Interesse ist, nutzten wir die Kasematten im Hagelsberg, der seit altersher, neben dem Bischofsberg, die Stadt überragt. Es sind Endmoränen, die hier als Hügel zur Ruhe kamen. Auf dem Hagelsberg soll Jagel, ein pruzzischer Fürst und Gott, seinen Sitz gehabt haben. Schon die Schweden trieben Stollen in diesen Berg. Die eigentlichen Kasematten jedoch sind Zeugnisse der napoleonischen Zeit: solide ausgemauerte Unterkünfte und Stallungen, die noch im Zwischenkrieg als Munitionslager dienten. Dort immer schon heimisch, fiel es uns leicht, tiefere Fluchtgänge und Nistkammern anzulegen. Doch nur ein Teil unserer in GdaDsk und Umgebung ansässigen Völker suchte im Hagelsberg Zuflucht, die Mehrheit grub sich mit Krallen und Zähnen im kaschubischen Hinterland ein. Oben hatten wir vorläufig nichts mehr zu suchen.
Ich will da nicht runter. Ich habe als Kind in den Kasematten gespielt und Knöchlein, sogar einen Schädel, weiß nicht von wem, gefunden. Soll sie doch! Soll sie sich eingraben zutiefst, und mit ihr mögen alle Rattenvölker der Welt wie vom Boden verschluckt sein; ich lege ein neues Blatt auf und will, daß es weitergeht. Ringe ansetzen, Falten werfen, alt und taperig will ich werden, zahnlos noch meiner Damroka böse Märchen erzählen: Es war einmal vor langer langer Zeit...

Wenn dieser Stummfilm, der den Wald nicht retten kann, dennoch »Der Wald« heißen soll, und wenn es gelingen könnte, unseren Herrn Matzerath als Produzenten zu gewinnen, ihn, der sich schon immer für Katastrophen erwärmen konnte und allzeit schwarzsah, dann müßte ich ihn mit der weiteren Filmhandlung, was alles im toten Wald und sonstwo geschehen soll, bekanntmachen und ihm genaue Personenbeschreibungen vorlegen; denn Oskar, der mit eigenwüchsigen Einzelheiten gern hinterm Berg hält, liebt das Detail. Er könnte fragen: Wie sollen der Kanzler und seine Gattin aussehen? Auf welche Weise sind deren Kinder, bevor sie zu Hänsel und Gretel wurden, daneben geraten? Sind sie normale Wohlstandsopfer? Sollen sie etwa immer noch Punks sein? Da unser Herr Matzerath vor seiner Reise nach Polen Antwort erwartet, muß ich mich festlegen. Auf keinen Fall soll sich das filmische Aussehen des Kanzlers vom Kanzler gegenwärtiger Machart ableiten. Doch sobald ich die Augen verkneife und mir einen Stummfilmkanzler vorstelle, werden allzu leicht Versatzstücke handlich, mit denen ein Baukastenkanzler erstellt werden könnte; damit er uns nicht zu ähnlich mißlingt, müssen wir ihn labil machen.
Deshalb schlage ich einen Kanzler vor, der unsicher auftritt, nicht weiß, wo er die Hände lassen soll, Angst hat, aus vorbereitetem Text zu fallen, doch aus Gründen, die allenfalls mit den Gesetzen der Schwerkraft zu deuten wären, im Amt bleibt. Wie man es anstellt, man kommt um ihn nicht herum. Und seine Gattin? Fortwährend sucht sie etwas im Handtäschchen. Ach, wären doch beide wieder zu Hause, wo es wohnlich ist. Mit sich zufrieden könnten sie leben, wäre er nur nicht Kanzler geworden, müßte sie nicht von früh bis spät des Kanzlers Gattin sein.
Die armen Kinder. Wie sie sich langweilen. Wie sie mal hierhin, mal dorthin gestellt werden, aber lieber woanders stehen, laufen, rumlümmeln, verloren sein möchten. Es stinkt ihnen, wie man sieht. Sie könnten kotzen, so ekelt sie das. Natürlich wären sie lieber Punks und trügen gefärbte Ratten an sich. Aber das dürfen sie nicht, weil unser Herr Matzerath neuerdings sagt: »Schließlich sollen sie in den toten Wald laufen und nicht im städtischen Dickicht herumirren.« Um ihn, der den Film produzieren soll, endgültig zu gewinnen, werde ich des Kanzlers Kinder mit Eigenschaften staffieren, die unseren Oskar an das Personal seiner Kindheit erinnern. Hat nicht, genau besehen, des Kanzlers Tochter eine gewisse Ähnlichkeit mit einem spillerigen Mädchen, das Ursula Pokriefke hieß, Tulla, überall Tulla gerufen wurde und in der Elsenstraße, im Mietshaus des Tischlermeisters Liebenau wohnte?
Und erinnert uns nicht des Kanzlers Sohn, der stets finster und wie vernagelt auf etwas blickt, das nicht da ist, an einen Knaben, der Störtebeker genannt wurde und als Anführer einer Jugendbande die Stadt Danzig und deren Hafengelände unsicher machte? Das war während der Schlußphase des letzten Krieges. Störtebeker und seine Stäuber waren weit über den Reichsgau Westpreußens hin in Verruf. Und war es nicht so, daß der kleine Oskar, als er gerade voll trüber Gedanken die Langfuhrer Herz-Jesu-Kirche verließ, dem Anführer Störtebeker und dessen Bande begegnete?
Beide sind als des Kanzlers Kinder immerhin denkbar: sie, zu jeder Tücke fähig, er, schroff abweisend, sie, frei von Angst, er, zu großer Tat bereit, sie dreizehneinhalb, er fünfzehn Jahre alt, sie und er, Kriegskinder damals, sind nun des anhaltenden Friedens unreife Früchte; beide haben den Walkman, ganz andere Musik im Ohr.
Auf dieses Paar angesprochen, erinnert sich unser Herr Matzerath an die Halbwüchsigen seiner Jugendzeit. »Richtig«, sagt er, »die kleine Pokriefke, ein Luder besonderer Art, wurde Tulla gerufen, war aber auch unter dem Decknamen Lucie Rennwand bekannt. Die hätte ich nicht zur Schwester haben mögen. Sie roch nach Tischlerleim und war gegen Kriegsende Straßenbahnschaffnerin. Richtig! Die Linie fünf. Fuhr vom Heeresanger bis rauf zur Weidengasse und zurück. Es hieß: Sie soll mit der >Gustloff< von Danzig weg und draufgegangen sein. Tulla Pokriefke, ein mir bis heute gewärtiger Schrecken.«
Er schweigt und gibt das Bild eines älteren Herren ab, der sich Gedankenflucht erlauben darf. Doch wie ich ihn fordere, ihm alle Ausflüchte sperren will, ruft er: »Aber jadoch, natürlich! Der Chef der Stäuberbande. Und ob ich mich erinnere. Wer hat denn damals nicht von Störtebeker und seinen Taten gehört? Der arme Junge. Immer den Kopf voller Flöhe. Man hat damals kurzen Prozeß gemacht. Ob er den Schluß überlebte? Was mag aus ihm geworden sein? Er hatte pädagogische Anlagen. Am Ende wird er einen Lehrer mehr abgegeben haben.«
Doch wie ich unseren Herrn Matzerath um die Bestätigung meiner Vorschläge bitte, wirkt er zerstreut und ein wenig müde; die Rückschau in seine Kindheit hat ihn erschöpft. Er reibt die umfassende Stirn, als müsse er besonders stechende Gedanken wegmassieren. Dann strafft er sich plötzlich, ist wieder Boß, entschlußfreudig. »Jaja«, sagt er, »die beiden sind als Hänsel und Gretel geeignet. Mehr noch: sie sind es. Schon sehe ich, wie dieser Störtebeker dem Kanzler die Waldfeier verpatzt. Ich sehe, wie Tulla, das Luder, die Seile kappt, auf daß die gemalten Waldkulissen in sich zusammenfallen. Machen Sie. Machen Sie voran! Wir produzieren, sobald ich aus Polen zurück bin. Merkwürdig, daß mir die beiden abermals aufstoßen müssen. Als Hänsel und Gretel sehe ich sie laufen. Hand in Hand. Immer tiefer hinein in den toten Wald...«

Im Vorschiff des Motorewers »Die Neue Ilsebill« folgen Hängematten den Bewegungen des Schiffes, das unter Diesellärm seinen Kurs nimmt. Wenn sie belegt sind, hängen sie zu Köpfen, zu Füßen gestrafft an Haken; jetzt, tagsüber, während der Ewer bei leichter See die Insel Møn ansteuert, schlingern sie gelockert und frei für Wünsche: neue Schlafgäste, Mattentausch.
Hätten sich nicht andere Frauen als diese in Travemünde einschiffen können? Zum Beispiel alle, die abgesagt haben und lieber in Betten schlafen wollen?
Ich ließ fünf übrig. Oder es blieben mir fünf. Meine und keine Wahl traf ich und wollte oder durfte die Hängematten nur so und nicht anders belegen; doch wechseln die Frauen oft ihre Lage. Jede Freiwache wirft Pläne um. Immer liegen sie so, wie ich sie nicht wünsche: Wo sich gestern im Ölzeug die Maschinistin legte, wacht heute im Schlafanzug die Meereskundlerin auf; nicht die nackte, bis auf ihre Wollsocken nackte Steuermännin, Damroka liegt im langen Nachthemd in der äußersten Matte auf steuerbord; daß sich die Alte im geblümten Hemdchen nach backbord verkrochen hat, dort bleiben und wie sie sagt mit »keinem der Weiber« tauschen will, nehme ich hin, obgleich ich sie lieber in der mittleren Matte hätte.
So liegen sie dicht bei dicht, denn vier Meter siebzig nur ist von Geburt an der Ewer breit. Einzig Damroka liegt mit dem Kopf in Fahrtrichtung. Langgestreckt, fast auf dem Bauch: der schwere Schlaf der Steuermännin. Es rührt mich, zu sehen, daß die Meereskundlerin und die Alte seitlich gekauert, wie Embryos schlafen: eine der beiden nuckelt. Unruhig wälzt sich in ihren verschwitzten Plünnen die Maschinistin. Auf dem Rükken, gelöst: der Schlaf der Kapitänin. Manchmal schnarcht sie, gleichlaut die Steuermännin, doch mit Pfeiftönen versetzt. Das leise Wimmern der Meereskundlerin: offenbar träumt sie sich kindlich. Im Schlaf stöhnt die Maschinistin unter schwerer Last. Plötzlich Worte, Gebrabbel, Schimpfen: das ist die Alte.
Mehr weiß ich von ihren Träumen nicht, so nah mir alle gewesen sind. Wie gut, daß nur fünf Frauen an Bord kamen und nicht, wie nach Anmeldung, zwölf. Das hätte in meinem Kopf und auch sonst schlimmes Gedränge zur Folge gehabt. Und eigentlich wären drei Frauen für die Bedienung des Schiffes genug, auch mir. Doch welche wäre neben Damroka und der Meereskundlerin die Dritte gewesen? Wahrscheinlich die Alte, die immer dabei war, beiseite stand, hinterdrein maulte und alles aushielt.
Ich konnte mich nicht entscheiden. Eng ist es deshalb. Wie gut, daß sieben Abmeldungen kamen: ich und das Schiff sind zu klein.
Warum aber hätte nicht ich allein mit Damroka als ihr Bootsmann: ich! ihr Schiffsjunge: ich! Ay ay, Sir, ich! auf Reise gehen können? Sie hätte mich anlernen müssen: Knoten legen, Anker hieven, Seezeichen lesen, den Diesel warten und mit dem Meßhai die Quallen, die vielen Ohrenquallen, Medusen genannt...
Während der Motorewer sich Møn nähen: Gedanken im Abseits. Was alles Platz findet in unbeschwerten Hängematten. Auf Deck ist früher Morgen, doch selbst die Freiwachen wollen sich nicht legen, so sehr ich die Steuermännin, mehr noch die Meereskundlerin dränge. Alle haben ihre Schlafsäcke zum Auslüften nach oben genommen und das Strickzeug natürlich. Ich belaste die Hängematten von backbord nach steuerbord. Drei hängen durch. Ich ziehe sie nach, schlage die Knoten kurz vor den Haken straffer. Zwei der Matten sind aus farbloser Schnur geknüpft und mögen in Geschäften gekauft worden sein, die Zubehör für Segler führen. Die restlichen Matten sind farbig, eine rotweiß, die nächste verblichen blaugelb, die dritte aus rotgefärbter Schnur geknüpft. Die farbigen Hängematten schließen an den Rändern mit gemusterten Zierleisten, Fransen und Troddeln ab. Sie sind lateinamerikanischer Herkunft.
Möchte jetzt wissen, was ich hier zu suchen habe. Scheu bin ich, gehemmt und ängstlich, ertappt zu werden. Meine ergraute Besorgnis, es könnten alle Lügengeschichten auffliegen, auf daß langweilig nur noch Wahrheit herrscht.
Ihre Schritte auf Deck. Heute ist Waschtag. Sie hängen bunte und weiße Wäsche an langer Leine zum Trocknen auf. Lustig mag sie bei leichter Brise zwischen Vormast und Steuerhaus flattern. Sie singen Lieder, die man beim Wäschehängen singt. Wo und wo noch mag Damroka ihren Kaffeepott abgestellt haben? Hoffentlich regnet es nicht.
Unter Deck einzig ich. Ich schnüffle in ihren restlichen Sieben Sachen, die unter den Matten oder im Bugschrank in Seesäcken und Koffern offen liegen. Alles schamlos befingern. Ich suche Briefe aus früher, noch früherer Zeit Geständnisse und Beteuerungen und finde keinen Zettel, der mich auswiese. Ich sehe rasch Fotos durch, auf denen ich fehle. Andenken, Schmuck, Ketten aus geflochtenem Silber, doch kein Stück darunter, das ich zum Geschenk gemacht hätte. Alles fremd. Nichts wollte haften von mir. Sie haben mich abgeschrieben: nicht seetüchtig genug. Was mich ausmacht, blieb an Land. Nur jene vergilbte, an den Rändern gerissene Karte, die ich unter Damrokas Wäsche in ihrem Seesack dreimal gefaltet finde, kommt mir bekannt vor. Sie zeigt die pommersche Küste mit vorgelagerten Inseln. »Mare Balticum, vulgo De Oost See« steht über zwei maskierten Männern, die das Greifenwappen halten, teils antik, teils gotisch geschrieben, Auf dem handkolorierten Stich, der halb Land-, halb Seekarte sein will, hat ein Rotstift vor Usedom, östlich der Peenemündung einen Kreis gezogen, dessen Eintragung den Namen der versunkenen Stadt verrät. Nun sicher, wohin die Reise geht, lege ich den Stich gefaltet an seinen Ort im Seesack zurück. Oben haben sie ihre Wäsche gehißt. Oben stricken die Frauen auf Teufelkommraus. Später schlingern die fünf Hängematten stärker, weil der Wind auf Nordost dreht und die »Ilsebill« um die Südspitze der Insel Falster neuen Kurs nimmt.
Ich weiß nicht, wann Damroka den Plan gefaßt hat. Jedenfalls noch an Land und vor Monaten schon, denn frühzeitig ist das Befahren der DDR-Küstengewässer beantragt worden. Als Forschungszweck wurde das Quallenvermessen genannt. Doch erst auf Gotland werden beim Hafenmeister von Visby gestempelte Papiere liegen. Dennoch ahnten die anderen Frauen die Steuermännin voran schon früh, daß diese Reise nicht nur den Ohrenquallen gilt. Sie und die Alte haben vom Steuerhaus aus gesehen, wie Damroka eine gute Stunde lang auf dem Vorschiff hockte und die See besprochen hat. Das war östlich Fehmarn, als sie den letzten Quallenhol mit dem Meßhai hinter sich hatten. Es hieß: »Sie hat mit dem Butt...« »Und gestern abend wieder«, behauptet die Maschinistin. Das war, als sich backbord der Grønsund öffnete, Møn voraus lag, die Wäsche längst trocken hing und der Wind gegen Abend von Nordost auf Ost umsprang, dann abflaute.
»Zwar hab ich den Butt nicht gesehen, aber hin und her geredet haben die beiden. Und zwar plattdeutsch.« Das verstehe sie nicht, sagt die Maschinistin und redet sich hinterdrein: »Leider.« Aber die Anrufung: Buttje, immer wieder: Buttje! habe sie deutlich gehört. Und lang und breit sei von einem Tief die Rede gewesen, das heiße Vineta nach der versunkenen Stadt.
Jetzt wissen die Frauen, wohin die Reise außerdem geht. Auch wenn die Meereskundlerin immer wieder sagt: »Das glaub ich nicht. Ihr spinnt. Wir steuern Møns Klint und Stege an. Nie hätte ich hier mitgemacht und mit euch schon gar nicht -, wenn so ein Quatsch auf dem Programm gestanden hätte.«
Auch die Steuermännin will da nicht hin. »Davon war nie die Rede. Das wäre gegen die Abmachung.« Und doch werden beide mitmachen, wenn auch unter Protest. Das Wort Vineta bleibt hängen.
»Genau dahin«, das sagt die Alte, »werdet ihr hinwollen am Ende. Bleibt doch nichts übrig.«
Nicht nur die Steuermännin ist müde. Die vielen Kämpfe zugunsten der Frauensache, der immerwährende Streit, nicht nur mit dem kaputten Geschlecht, mit ihresgleichen auch, erschöpfte den Willen, inmitten einer tauben Gesellschaft gegen die Männermacht ein Frauenreich zu errichten. Dieser Plan ist lange schon aufgegeben, wenngleich sie alle, die Steuermännin voran, immer noch sagen: »Man sollte, man müßte, man hätte von Anfang an radikal...«
Deshalb fliehen ihre Gedanken, während sie im Bogøwasser, später vor Møns Klint der See Ohrenquallen und Heringslarven abfischen, in ein versunkenes, unter den Wassern liegendes Reich. Das sei ihnen versprochen. Das werde, habe der Butt gesagt, allen Frauen offenstehen. Als er mit Damroka, der Kapitänin, auf plattdeutsch gesprochen hat, soll es geheißen haben: »Nu, Wiebkes, sullt ji tuunners gohn.«
In ihren fünf Hängematten mögen die Frauen vielfarbig von Vineta träumen. Dicht bei dicht, wie sie liegen, wird ihnen, wenn sie nur wollen, ihr Frauenreich greifbar. Nur leicht hebt und senkt sich der Motorewer. Festgemacht liegt das Schiff im Hafen von Stege: kurz vor der Brücke zur Innenstadt, am Anleger der Zuckerfabrik. Im Hintergrund ein Berg Koks und blaßgrüne Silos. Faulig riecht das Flachwasser. Zu viele Algen. Quallen zuhauf.
Alle fünf schlafen. »Auf Møn«, hat Damroka gesagt, »brauchen wir keine Wache.« Sie liegen, wie ich es wünsche: Die Alte, die im Schlaf brabbelt und schimpft, eingerollt in der Mitte, steuerbord die Steuermännin mit offenem Mund, backbord Damroka auf ruhigem Rücken, zwischen ihr und der Alten die Meereskundlerin: seitlich gekauert, und zwischen der Alten und der Steuermännin wälzt sich unruhig die Maschinistin.
Morgen wollen die Frauen einen Stadtbummel machen. In Stege ist Ausverkauf. Die Vorräte müssen erneuert werden. Nicht nur die Wolle ging zur Neige. Die Alte weiß noch nicht, ob sie mit will.
Utopia Atlantis Vineta. Doch diese Stadt soll es wirklich als wendische Siedlung gegeben haben. Die einen sagen, vor Usedoms Küste versunken; doch polnische Archäologen graben und finden Mauerreste, Scherben, arabische Münzen neuerdings auf Wollin. Vineta hieß anfangs anders. Es sollen in dieser Stadt während langer Zeit die Frauen das Sagen gehabt haben, bis eines Tages die Männer mitreden wollten. Die alte Geschichte. Am Ende führten die Herren das Wort. Gepraßt wurde und goldenes Spielzeug den Kindern geschenkt. Worauf Vineta mit all seinem Reichtum unterging, auf daß die versunkene Stadt eines Tages erlöst werde: von Frauen natürlich, fünf an der Zahl, deren eine wendischen Ursprungs sei und Damroka heiße.

Sie ist schläfrig tagsüber und rollt sich ein: abgewendet meinen Geschichten. Doch hört sie gerne mit mir das Dritte Programm. Es bietet: Am Morgen vorgelesen, Schulfunk für alle, festliche Barockmusik, zwischendurch Nachrichten, den Medienreport, später das Echo des Tages, dann wieder Barockmusik, geistliche diesmal.
Erstaunlich ihr Interesse an Wasserständen. Hörenswert ist ihr, daß der Stand der Elbe bei Dessau eins acht null unverändert geblieben, bei Magdeburg auf eins sechs null plus eins gestiegen ist. Täglich hört sie, wie hoch die Saale bei HalleTrotha steht, dann die Peiltiefe von Geesthacht bis Fliegenberg. Doch ohne Interesse ist meine Weihnachtsratte, wenn, was aktuell ist, gemeldet wird. Überall laufen ungelöst Probleme herum. Einzig Krisen wird Wachstum nachgesagt; und meine junge, ohne Schwanz etwa zeigefingerlange Ratte wächst wie die Krisen, die, weil sie so dicht bei dicht engliegen, miteinander verwachsen sind und bildlich gesprochen den sogenannten Rattenkönig bilden.
Zum Beispiel werden im Medienreport die jüngsten Besorgnisse über das Kabelfernsehen durch noch größere aufgewogen, die dem Satellitenfernsehen hinterdreinhinken. Unser Herr Matzerath, der auf großer Schiefertafel gern einen allumfassenden Medienverbund entwirft, sagt dazu: »Glauben Sie mir, schon morgen schaffen wir uns eine Wirklichkeit, die durch medialen Eingriff der Zukunft alles Vage und Zufällige nimmt; was immer kommen wird, es läßt sich vorproduzieren.«
Und wie, Ratte, steht es mit unserem Medienverbund? Nachts träumst du mir ausgewachsen mit fettem Schwanz. Aber auch meine Tagträume sind nicht rattenfrei. Es ist, als wolltest du überall, sogar dort, wo ich meinte, hinterm Zaun und privat zu sein, Duftmarken setzen, dein Revier abstecken, mir Ausflucht sperren.
Schweigen muß das Dritte Programm. Kein Schulfunk für alle: Kernspaltung kinderleicht gemacht; vielmehr schreibe ich, seitdem der Motorewer »Die Neue Ilsebill« im Hafen von Stege festliegt, auf langer Liste nieder, was unser Herr Matzerath nach Polen mitnehmen könnte, denn endlich hat er für sich und seinen Chauffeur Visa-Anträge gestellt.
Außer den Geburtstagsgeschenken für seine Großmutter soll ein Säckchen blauweißer Plastikzwerge zum Reisegepäck gehören. Die vielen Schlümpfe werden die kleinen, immer wieder nachwachsenden Kaschubenkinder erfreuen.
Außerdem weiß ich, wie Anna Koljaiczeks hundertundsiebter Geburtstag vorbereitet wird. Zucker und Mehl in Tüten, denn viele Streuselund Mohnkuchen sollen gebacken werden. Jetzt schon kocht Schweinekopfsülze, bis sie verspricht, aus eigener Kraft zu gelieren. Einmachgläser voller Pilze vom letzten Herbst werden gezählt, darunter immer leicht sandige Grünlinge. Jemand bringt Kümmel genug für den Krautsalat. Auf Wunsch von weither wird Griebenschmalz ausgelassen. Aus Kaschemken und Kokoschken, von überall kommen Eier zusammen. Die Sorge, daß auch genug Pfingstrosen schnittreif sind. Mit Hilfe der Kirche werden hundertsieben Kerzen vorrätig sein. Noch fehlt in Flaschen Kartoffelschnaps. Zum Maler Malskat kann ich nur soviel sagen: Ich werde, sobald es die Rättin erlaubt, von ihm Bericht geben. Wann und wo er geboren wurde. In welche Lehre er ging. Wohin seine Wanderjahre ihn führten. Was ihn auf hohem Gerüst so gotisch träumen ließ. Weshalb man ihm in Lübeck, einer Stadt, die nicht nur durch Marzipan berühmt wurde, den Prozeß gemacht hat.
Vielleicht sollte ich, solange Hänsel und Gretel immer noch durch den toten Wald laufen, den Stadtbummel der Frauen nachtragen. Nur zu viert sind sie auf Landgang. Die Alte sagt, sie müsse Rotkohl vorkochen.
Da Stege auf Møn vor allem ein Einkaufszentrum ist, in dessen Hauptstraße das ganze Jahr über »Udsalg« angezeigt bleibt, kaufen die Frauen groß ein. In einem Selbstbedienungsladen, der »Irma« heißt, packen sie drei Gitterwagen voll: Büchsen und Gläser, in Folie verpacktes Obst und Gemüse, Fleisch eingeschweißt und tiefgefroren, diverse Sorten Knäckebrot, Hüttenkäse, Remoulade, Popcorn für die Meereskundlerin, dies und das noch, Spülmittel, Klopapier, viel Flaschenbier und zwei Flaschen Aquavit für die Alte. Petersilie und Schnittlauch sind frisch vorrätig. Schwerbepackt müssen sie schleppen. Beim Bäcker gibt's Kringle, im Fischhandel grüne Heringe, im Tabakladen Zeitungen und was jede so raucht.
Beim zweiten Landgang kommt die Alte mit. Während die Maschinistin Maschinenöl und Petroleum für die Lampen kauft, die Meereskundlerin zur Post rennt und die Steuermännin, weil ja überall Ausverkauf ist, nach Pullis wühlt, kauft Damroka in einem Wolladen, schräg gegenüber Møns Banken, neue Vorräte Wolle ein. Die Alte kauft sich ein Tütchen Lakritze.
Erst jetzt, Rättlein, nachdem alles in der Kombüse, im Vorschiff und mittschiffs verpackt ist, hören wir wieder Drittes Programm. Lautenmusik, der gewöhnlich Nachrichten folgen: mal hören, wer was dementiert...

Mir träumte, ich hätte mich zur Ruhe gesetzt und meine Malven stünden hoch vor den Fenstern.

Freunde kamen vorbei und sagten über den Zaun: Wie gut, daß du dich endlich zur Ruhe gesetzt hast.

Und auch ich sagte in meiner Kürbislaube zu mir: endlich habe ich mich zur Ruhe gesetzt.

So, geruhsam betrachtet,

ist mir die Welt mein Grundstück groß.

Was mich juckt, darf nicht jucken, weil ich zur Ruhe gesetzt mich habe.

Alles hat seinen Platz, wird Erinnerung, staubt ein, ruht in sich.