18

Es war nicht so, dass London seinen Reiz verloren hätte. Die Geschäfte in der Bond-Street, Billard und Karten im White’s, das zwielichtige nächtliche Gewimmel von Covent Garden gefielen ihm nach wie vor. Seine Wohnung hieß ihn mit den Strahlen einer schwermütigen Herbstsonne willkommen, wie gemacht, um einen Mann morgens sanft und behutsam aus dem Bett zu locken. Und die Oper war bewegend und verursachte auf mysteriöse Weise Gänsehaut und feuchte Augen, während er den Blick durchs Publikum schweifen ließ, um auszumachen, welche vornehmen Leute heute Abend anwesend waren.

Nein, das Problem war der wehmütige Beigeschmack, den er jetzt immer verspürte, wenn er sich fragte, wie ihr das alles wohl gefallen hätte. Gern wäre er zu ihr nach Hause gekommen und hätte ihr etwas Lustiges erzählt, was im Club geschehen war. Gern hätte er einen Grund gehabt, morgens länger im Bett zu bleiben. Er hätte auf dem Weg zur Oper den Arm um sie gelegt, um sie vor dem Gesindel von Covent Garden zu schützen, und sie hätte neben ihm gesessen und ihm mit dem gefalteten Fächer aufs Knie geklopft, wenn er unaufmerksam wurde.

Na ja, das hätte sie natürlich nicht. Ihre Umstände hätten es ihr eine ganze Weile lang gar nicht erlaubt, sich in Gesellschaft zu begeben.

Theo streckte sich unruhig in seinem Sessel, während der Dummkopf von Sopran eine Arie über den Verlust eines treulosen Geliebten anstimmte. Seit fünf Tagen war er nun schon in der Stadt, und in seltsamen Augenblicken traf ihn das Bewusstsein, dass er eine Frau verlassen hatte, die sein Kind trug, wie ein Schlag ins Gesicht.

Natürlich hatte sie es so gewollt. Es war ursprünglich so vereinbart worden. Und verlassen war wohl kaum das richtige Wort dafür, wenn ein Gentleman um die Hand einer Dame anhielt und abgewiesen wurde.

Dennoch. Jetzt war er hier in London, und wenn sein Kind oder die Mutter seines Kindes Hilfe brauchte oder in Not geriete, würde er es nie erfahren. Er würde nie die Möglichkeit haben, sie zu unterstützen. Liebe und Familie hin oder her, es blieb immer noch die Verantwortung, oder nicht? Sonderbar, dass er ausgerechnet diese Idee aus Sussex mitgebracht hatte, und doch war es so.

Andere Verpflichtungen lasteten ebenfalls auf seinem Gewissen. Andere Menschen. Granville, der ihn so sehr zu seinem Molkereiprojekt ermutigt hatte und sich jetzt allein um die Einzelheiten kümmern musste. Die Arbeiter. Er hatte ihnen von vornherein gesagt, dass er früher oder später nach London zurückkehren würde, aber sie hatten sicherlich erwartet, dass er wenigstens beim Kauf der Kühe noch dabei sein würde. Und um ehrlich zu sein, hatte er sich darauf gefreut. Mitzukommen und Mr Barrow oder einem anderen würdigen Mann das Kompliment seiner ungeteilten Aufmerksamkeit zu zollen. Zu lernen, wie man eine gute Kuh von einer schlechten unterschied. Warum sollte das nicht genauso interessant sein wie die Pferde von Tattersall?

»Mirkwood!« Die Stimme klang ungeduldig, so als habe ihr Besitzer schon seit einer Weile versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Wo zum Teufel bist du heute mit deinen Gedanken? Ich dachte, du würdest hier in unserer Loge ein wenig aufleben, aber ich hätte besser daran getan, meine Großmutter einzuladen.« Sein Freund betrachtete ihn aus dunklen Augen, die Brauen in gespielter Strenge zusammengezogen.

Ich habe eine Meisterin der dunkeläugigen Strenge gesehen. Sie, Sir, kommen nicht annähernd an sie heran.

»Du hättest genauso gut in Sussex bleiben können. Hier ist ja doch nichts los mit dir. Was beschäftigt dich denn eigentlich so?«

Da war es, ganz unverblümt. Was zum Teufel machte er hier? Er hätte bleiben sollen. Er hatte gedacht, Sussex bedeute ihm nur wegen seiner Zuneigung zu Mrs Russell so viel, und er war abgereist, als diese Geschichte zu Ende gegangen war. Aber war er denn nicht mehr als die Summe seiner Gefühle? Zum Teufel mit allem, er hatte Dinge zu lernen und Vorhaben auszuführen. Er war nicht der Mann, der das Molkereiprojekt seinem Schicksal überließ, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.

»Kühe«, sagte er, während das Orchester einen anschwellenden Akkord spielte, wie um seine wachsende Entschlossenheit zu untermalen. »Kühe beschäftigen mich.« Ja, er wusste, was er zu tun hatte. »Rinder, sollte ich wohl sagen, wenn ich mich auf eine Menge davon beziehe.«

»Was du nicht sagst.« Die Augenbrauen schossen in den Himmel, die Augen weiteten sich vor Abscheu.

»Summerson.« Ohne nachzudenken, stand er auf, als hätte die Musik ihn auf die Füße gebracht. »Kennst du irgendwelche Gebete?«

»Einige. In der Schule habe ich mal einen Preis für das Aufsagen von Bibelversen bekommen.«

»Hervorragend.« Sein Puls raste. Er zog seinen Frack zurecht und schritt zum Ausgang der Loge. »Such dir ein paar gute aus und sprich sie für mich.«

»Was soll das heißen? Gütiger Gott. Mirkwood, wo willst du denn hin?«

Mit einer Hand bereits am Türknauf, drehte er sich um. »Heute Abend nach Hause, um möglichst viel Schlaf zu bekommen. Morgen –« Er hielt ganz kurz inne, als die Arie ihren Höhepunkt erreichte und wie wilde Ozeanwellen um ihn wogte. »Morgen begebe ich mich in die Höhle des Löwen.«

Martha trat von einem Fuß auf den anderen, die Arme eng um den Bauch geschlungen, als die Kutsche in die Einfahrt fuhr. Vier Pferde, und zweifellos hatten sie mehrmals gewechselt. Northumberland war weit weg.

Mit den Zehen ihres rechten Fußes tastete sie nach dem Rand der Stufe. Drei Stufen. Sie würde sie schwungvoll hinuntergehen und ihrer Schwester ein strahlendes Lächeln schenken. Sie würde als Erste die Hand ausstrecken. »Wie war die Reise?«, würde sie fragen, und dann zu all den Nettigkeiten übergehen, die man zu solchen Gelegenheiten sagte. Was ihr nicht spontan einfiel, würde mit der Übung kommen, und sie konnte ebenso gut gleich anfangen zu üben.

Der Vierspänner kam zum Stehen und ein Diener eilte hinzu, um die Tür zu öffnen. Jetzt. Er klappte das Treppchen aus. Geh jetzt. Lächle!

Sie zwang sich vorwärts, die erste Stufe hinab, als eine dunkelhaarige Gestalt ohne Zögern ausstieg. Und plötzlich war es das Natürlichste auf der Welt. Sie stürmte die übrigen Stufen hinab und über die Einfahrt, in ein Paar liebevoller warmer Arme. Kitty roch wie immer nach Jasmin.

»Du liebe Güte, Martha.« Was für eine elegante Stimme, und so wunderbar vertraut. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Ich freue mich nur so, dich zu sehen.« Es stimmte.

»Ich bin sofort losgefahren, als ich deinen Brief bekommen habe.« Sie nickte in Richtung Kutsche. »Ich bin über London gekommen. Schau, wen ich mitgebracht habe!«

»Nick!« Martha wand sich aus einer Umarmung, um in die nächste zu sinken. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du mitkommst!«

»Gütiger Himmel!« Auch diese Stimme weckte so viele Kindheitserinnerungen, als Nick über ihren Kopf hinweg mit Kitty sprach. »Wer ist diese Person, und wo hat sie wohl unsere Schwester versteckt?«

Ganz bestimmt machte sie sich lächerlich, wenn sie in ihrem Alter plötzlich in kindische Sentimentalität verfiel. Und wenn schon. Ihr Herz hatte genug Mäßigung gehabt, und nichts – fast nichts – hätte ihr mehr Freude bereitet als der liebevoll scherzhafte Umgang mit diesen Menschen, zu denen sie gehörte.

»Ich bin wirklich erleichtert, dich zu sehen. Ich muss gestehen, dass ich nach der Beerdigung etwas in Sorge um dich war.« Nick ließ sie los und drehte sich abermals nach seiner Schwester um. »Du hättest sie sehen sollen. So blass und ausgezehrt, und fast kein Wort hat sie gesprochen.«

»Es tut mir leid, dass ich nicht da sein konnte. Arme Martha, und niemand, um sie zu trösten, außer einem Paar tollpatschiger Brüder.«

»Unsinn.« Die wenigen Diener waren aus der Kutsche gestiegen, und Martha ging auf eine Amme zu, um ihr ein kleines Bündel abzunehmen. »Du hattest die beste Entschuldigung der Welt.«

»Herzchen, ich hatte nicht einmal die beste Entschuldigung in der Familie. Hat jemand von euch von Will gehört?«

Nick hatte als Letzter einen Brief erhalten und konnte berichten, dass das Dreißigste Infanterieregiment noch immer in Antwerpen stationiert war.

»Was denken die sich nur dabei?«, war Kittys Kommentar. »Wenn sie ihn auf Elba stationiert hätten, um Napoleon persönlich zu überwachen, könnte ich es ja verstehen, aber der Krieg ist doch vorbei, mein Gott! Englische Soldaten gehören nach Hause!«

Nick war damit nicht ganz einverstanden, und die beiden zankten sich den ganzen Weg ins Haus, während Martha langsam folgte, den Kopf gesenkt, um den Geruch ihres neuesten Neffen aufzunehmen. Der kleine Charles würde im Laufe eines Jahres einen kleinen Cousin oder eine kleine Cousine bekommen – so Gott und ihre Gesundheit es wollten. Irgendwo in einer entfernten Ecke Englands, von wo keine Neuigkeiten nach Sussex und Mr James Russell zu Ohren kommen würden, um ihren Handel hinfällig zu machen.

Und irgendwann zwischen Jetzt und Dann – irgendwann bevor ihr Zustand unverkennbar würde – würde sie sich überlegen müssen, was genau sie Kitty und ihrem Mann erzählen sollte. Im Augenblick hatte sie allerdings noch keine Ahnung, was das sein könnte.

Es ist ja nicht das erste Mal, dass du ihn enttäuschst. Es wird vermutlich auch nicht das letzte Mal sein. Theo straffte die Schultern und erklomm die Treppe des Londoner Hauses der Familie. Er hatte natürlich eine Karte geschickt, als er in die Stadt gekommen war, doch bis jetzt war er noch nicht dazu gekommen, sich persönlich vorzustellen. Und mit was für Neuigkeiten!

Ein schweigsamer Diener führte ihn herein. Als ob er sich nicht auskennen würde! Im zweiten Stock links, dann rechts zum hinteren Teil des Hauses. Sir Frederick würde im Salon sein, vermutlich mit einer Reihe weiterer Familienmitglieder, was seine Schmach nur noch verschlimmern würde.

Und wenn schon. Die gute Meinung seines Vaters war ohnehin wenig wert, wenn sie auf Unwahrheiten oder auch nur auf Halbwahrheiten beruhte. Und wenn er Sir Fredericks Wohlwollen verspielte – nun, dann war er auch nicht schlechter dran als die meiste Zeit seines Lebens.

An der Salontür ging der Diener glücklicherweise nicht so weit, ihn anzukündigen, sondern empfahl sich mit einer Verbeugung. Theo trat ein.

Trotz seines Anliegens wurde es ihm warm ums Herz, als er über die Schwelle trat.

Wie viele schöne Stunden er in diesem Raum verbracht hatte! Er hatte sein Taschengeld an jeden seiner Brüder verloren, der mit ihm Dame gespielt hatte, oder sich einfach nur dem Müßiggang hingegeben, während seine Schwestern an ihren Stickrahmen saßen und einer seiner gelehrigen jüngeren Brüder etwas vorlas.

Kein Bruder war an diesem Nachmittag anwesend, aber Sophia, seine älteste Schwester, legte ihre Handarbeit beiseite, stand vom Sofa auf und gab ihrem Entzücken darüber Ausdruck, dass sie gleichzeitig in der Stadt waren. Mutter war ebenfalls anwesend und ebenfalls entzückt. Vater begrüßte ihn mit einem Nicken, das möglicherweise herzlich war, von seinem Schreibtisch in der Ecke aus, wo er sich immer positionierte und mit wichtig aussehenden Papieren und anderen Zeichen seiner Bedeutung umgab.

Also los. Er entschuldigte sich von den weiblichen Nettigkeiten, durchquerte den Raum und nahm, den Hut in der Hand, vor dem Schreibtisch des Baronets Platz.

Was für ein wunderbarer Grübler sein Vater doch war, auch noch in reiferen Jahren. Dasselbe strenge Profil, dieselben schweren Augenlider wie auf den Porträts in der Galerie in Broughton Hall. Zu schade, dass er einer nordischen Prinzessin verfallen war und hatte mit ansehen müssen, wie die Mirkwood-Züge bei dem größten Teil seiner Nachkommen von blonder Muskelkraft verdrängt wurden.

»Ja?« Sir Frederick warf ihm einen Blick zu, aus dem halb widerwillige Aufmerksamkeit sprach; seine Feder schwebte noch über dem Papier. Ich habe mir vorgenommen, ihn gernzuhaben, und bislang hat er es nicht geschafft, mich davon abzubringen. Es lag in seiner Natur, Leute gernzuhaben. Da war nichts zu machen.

»Ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, dass ich mich in Pencarragh niederlassen werde. Ich habe meine Wohnung in der Stadt gekündigt, und ich beabsichtige, mindestens bis Ende nächsten Sommers in Sussex zu bleiben. Ich dachte, das sollten Sie wissen.«

Sein Vater griff nach dem Wischer und säuberte seine Feder mit penibler Sorgfalt, doch seine Mundwinkel drohten, sich jeden Moment zu einem aufrichtigen Lächeln zu verziehen. »Es gerät einem ins Blut, nicht wahr?«, sagte er endlich und legte die Feder in eine Vertiefung, die der Schreibtisch extra zu diesem Zweck besaß. »Die Arbeit auf dem Land. Ich hatte vermutet, dass es sich so ergeben würde.«

Dermaßen schlecht verhohlener Stolz und Freude waren wie ein Folterinstrument für Männer mit einem schlechten Gewissen. Er räusperte sich. »Granville hat Ihnen von unserem Molkereiprojekt geschrieben, glaube ich. Es gibt noch viel zu tun, bevor es anlaufen kann, und ich glaube, ich möchte es selbst durchziehen.«

Dabei durfte er es nicht belassen. Es waren keine vorgeschobenen Gründe für seine Rückkehr, sondern wahre. Doch nach sechsundzwanzig Jahren war er es leid, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. In letzter Zeit wollte er ein Mann sein, der vor nichts zurückschrak. Die Sorte Mann, die ein Kind zum Vater haben sollte.

»Es gibt aber noch einen anderen Grund. Eine andere Verpflichtung.« Er drehte seinen Hut um, eine ganze Umdrehung, und grub die Finger in die Krempe. »Die Sache ist: Ich habe eine Dame in Schwierigkeiten gebracht.« Ein Poltern drang vom anderen Ende des Raums an sein Ohr. Sophia hatte ihre Schere fallen lassen. Sie hörten also zu. Großartig.

Stolz und Freude wichen unverzüglich aus Sir Fredericks Gesicht. Er starrte auf die Tischplatte, als brächte er es nicht über sich, seinen Sohn anzusehen. Er presste die Lippen zusammen. Drehte die Schreibfeder eine Vierteldrehung weit in ihrem Fach. Abrupt sah er auf. »Doch nicht die benachbarte Witwe?«

Theo fühlte, wie sein eigenes Gesicht erstarrte. »Woher wissen Sie das?«

»Ich hatte Granville gebeten, derartigen Verstrickungen vorzubeugen. Er hat mir versichert, dass du mit keiner Dame Umgang hattest, mit Ausnahme einer Witwe auf dem Nachbarbesitz. Aber er war von ihrer Tugendhaftigkeit überzeugt.«

»Zu Recht.« Er sah seinen Händen zu, wie sie den Hut wieder drehten. »Ich hatte noch nie im Leben so große Schwierigkeiten, jemanden zu verführen.«

»Von deinen persönlichen Angewohnheiten mal ganz abgesehen, wirst du gefälligst wenigstens ein bisschen Anstand vorgeben, wenn deine Mutter anwesend ist.« Wie ein donnerndes Urteil von oben kam die Rüge. Jetzt war der Baronet in seinem Element. »Was verlangt sie? Geld? Heirat?«

»Nichts dergleichen. Gar nichts, um ehrlich zu sein.« Jetzt kam das Schlimmste. »Sie ist erst so kurz verwitwet, dass das Kind als das ihres verstorbenen Mannes durchgehen könnte, und mit dem daraus resultierenden Erbe ist sie gut versorgt.«

»Herr im Himmel! Was ist das für eine Frau?« Die Stimme seines Vaters deutete an, dass er bereits darauf gekommen war.

»Eine ehrbare, standhafte Frau, die von ihrem Verlust überwältigt war und einem geübten Abenteurer ins Netz gegangen ist.« Geübt, allerdings. Er hatte die Zeilen, die alle Schuld auf seine Schultern luden, vor dem Spiegel geübt. Jetzt neigte er bußfertig das Haupt und gab sich Mühe, dem Blick seiner Mutter und seiner Schwester auszuweichen.

»Wo ist dann die Verpflichtung?« Sir Frederick lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Handflächen flach auf den Tisch. »Die Angelegenheit ist gewiss peinlich genug, aber wenn das Kind als das ihres Mannes durchgehen kann, wo sind dann die Schwierigkeiten, von denen du sprichst?«

Auch diesen Teil hatte er geübt. Es ist meine Pflicht, für das Kind zu sorgen. Ob Sie es zugeben oder nicht – ob sie es zugibt oder nicht – ich habe eine Verantwortung dem Kind gegenüber, und ich werde mich ihr nicht entziehen.

Er drehte den Hut um, drehte ihn zurück und sah seinem Vater in die Augen. »Die Schwierigkeit ist, dass ich sie liebe. Ich möchte nicht von ihr getrennt sein.« Oh Gott, was sollte das werden? Am anderen Ende des Raums sog jemand scharf die Luft ein. Sophia. Vielleicht sogar Mutter.

»Du wirst nichts dergleichen tun.« Ein Muskel zuckte im Gesicht seines Vaters. »Wenn du auch nur eine Sekunde lang glaubst, ich würde irgendein Verhältnis zu einer Frau dulden, deren moralische Verworfenheit offenbar selbst die deine noch übersteigt –«

»Ich bitte Sie nicht um Erlaubnis, Sir.« Er sprach leise und faltete die Hände über dem Hut. »Und von weiteren Bemerkungen über ihren Charakter möchte ich Ihnen dringend abraten.«

»Willst du mir etwa drohen?« Selbst in seinem Alter sah sein Vater noch aus, als sei er durchaus in der Lage, über den Tisch zu springen und seinen Sohn zu erwürgen.

»Keineswegs. Aber wenn Sie sie als Ihre Tochter kennengelernt haben und sie dementsprechend lieben, werden Sie nicht wollen, dass Ihre Zuneigung durch die Erinnerung an so unziemliche Gefühle, wie Sie sie heute zum Ausdruck bringen könnten, getrübt wird.« Woher kamen diese Worte? Als er dieses Zimmer betreten hatte, hatte er genau gewusst, was er sagen wollte. Die Pflicht zwingt mich zurück nach Sussex. Wie war es zu Erklärungen und himmelhohen Ambitionen gekommen?

»Theo.« Endlich musste seine Mutter das Wort ergreifen. »Wie kannst du hoffen, sie zu heiraten, wenn sie vorhat, das Kind als das ihres Mannes auszugeben?«

»Und selbst ohne das Kind könnte sie nicht so bald wieder heiraten.« Sir Frederick stimmte ebenfalls einen milderen Ton an, wie um die fürsorglichen Bedenken seiner Frau zu unterstützen. »Ihr beide würdet in keiner vornehmen Gesellschaft willkommen sein.«

»Linfeld und ich würden euch empfangen.« Sophia warf einen kühnen Blick in seine Richtung, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Ich bin sicher, alle deine verheirateten Schwestern würden das tun.«

Sein Herz floss über vor Dankbarkeit, und einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen. »Ich werde eure Gastfreundschaft sicherlich eines Tages in Anspruch nehmen.« Er verneigte sich vor seiner Schwester. »Aber ich vermute, dass sie mindestens ein Jahr lang nichts von Heirat wissen wollen wird.« Noch ein Blick in Richtung seines Vaters. »Vielleicht wird Ihnen das Zeit geben, sich mit dem Gedanken anzufreunden, Sir.«

»Mich damit anfreunden?« Der Baronet sprach wieder zu seinem Schreibtisch. »Mit einem unehelichen Enkel, der dann einem anderen Mann zugeschrieben wurde? Mit einer Hochzeit, die aus weiß Gott wie vielen verschiedenen Skandalen hervorgegangen ist?« Er schüttelte den Kopf. »Trotz all der Jahre als Taugenichts hätte ich dir nie zugetraut, so tiefe Schande über diese Familie zu bringen. Ich kann nur sagen, dass es mir leidtut, dass nicht Edwin der Ältere ist und du der Jüngere.«

Als wenn das nicht mindestens seit seinem zwölften Lebensjahr offensichtlich gewesen wäre. Theo nahm seinen Hut und setzte ihn auf. »Ich bedaure, Ihnen Betrübnis bereitet zu haben. Und ich weiß, ich habe in meinem Leben bisher nicht viele Taten vollbracht, wegen denen Sie stolz auf mich sein können.«

»… derentwegen ich stolz auf dich sein könnte.«

»Ja. Haargenau.« Er stand auf. »Aber ich fürchte, ich habe meinen Entschluss gefasst. Ich bin ein besserer Mann geworden dank Mrs Russell. Dass Sie das nicht erkennen, macht es nicht weniger wahr. Ich werde Ihre gute Meinung zu schätzen wissen, wenn Sie sie eines Tages zum Ausdruck bringen möchten, doch ich werde keine schlaflosen Nächte damit verbringen, auf diesen Tag zu warten. Meinen Respekt.« Er verbeugte sich.

Mutters und Sophias Gesichter strahlten vor stummer Sympathie, als er sich verabschiedete. Er hatte jemanden auf seiner Seite. Teufel noch mal, auch Sir Frederick würde bekehrt werden, wenn er sie kennenlernte. Das war das Ironische an der ganzen Sache: Hätte er sich auf die Suche nach einer Braut gemacht, die seinem Vater in Charakter und Verstand möglichst zusagte, hätte er keine bessere finden können als die ernste, selbstlose Martha Russell.

Jetzt musste er nur noch sie selbst überzeugen. Und wenn es ein Jahr dauern würde – wenn es zehn Jahre dauern würde oder zwanzig oder den Rest seines irdischen Lebens –, er würde einen Weg finden.

Pencarragh, verflucht sei seine Winzigkeit, kam ihm wie sein Zuhause vor, als er in die Einfahrt fuhr. Er sprang aus der Kutsche, ohne auf das Treppchen zu warten, und sah sich im Haus danach um, ob sich in der Woche seiner Abwesenheit wohl etwas verändert hatte. Nicht viel. Und dennoch sah er die Wände, die Fenster und den Parkettboden mit anderen Augen. Von hier aus würde er seinen unnachgiebigen Überzeugungsfeldzug angehen, und hier würde er feiern, wenn sie endlich eingewilligt haben würde, ihr Leben und das ihres Kindes mit dem seinen zu verbinden.

Granville arbeitete an seinem Schreibtisch in der Bibliothek. Theo hob ein paar Karten und Briefe auf, die für ihn angekommen waren, und sortierte sie, während er dem Verwalter einen vagen Bericht von seinem Aufenthalt in London erstattete.

»Wir hatten schlechte Neuigkeiten, seit Sie abgereist sind«, sagte Granville beiläufig. »Mrs Russells Erwartungen wurden enttäuscht; sie muss Seton Park verlassen. Ich glaube, sie zieht zu einem Bruder oder einer Schwester.«

Die Post fiel zu Boden. Theo blinzelte, sah aber nur tanzende Farben an der Stelle, wo der Verwalter sein sollte. »Sie hat das Kind verloren?«

»Ich habe es erst gestern gehört, von Mr Keene. Der Besitz fällt doch an den jetzigen Mr Russell. Ich will nicht damit zurückhalten, dass es mir verdammt leidtun wird, sie zu verlieren. Aber das wird es hier vermutlich allen.«

Theo stand unbeweglich da; ihm fehlten die Worte. Er hatte gedacht, er wüsste, wie es sich auf dem Grund des Brunnens anfühlte. Gar nichts hatte er gewusst. »Haben Sie sie gesehen?« Ja. Das waren die Worte, die er brauchte. »Kann sie schon Besuch empfangen?« Granville antwortete irgendetwas, doch es hätte ebenso gut Vogelgezwitscher sein können. Selbst wenn sie ans Krankenlager gefesselt wäre, würde er sich zu ihr durchkämpfen. Er bückte sich nach den Briefen, die er hatte fallen lassen, und ließ sie dann doch zurück. Keine Zeit für Nebensächlichkeiten.

Er sagte etwas zu Granville – der Himmel wusste, was, sollte der Verwalter sich ruhig seinen eigenen Reim auf seine Hast machen – und war verschwunden. Stall. Pferd. Die Einfahrt hinab und auf die Straße, auf der sie gegangen waren, als sie ihm die Gründe aufgezählt hatte, aus denen sie keine Lust mit ihm empfinden konnte. Eine Erkenntnis drang durch den Schleier seiner Trauer wie ein fernes Ufer, das im Nebel auftaucht: Der Grund, aus dem sie mich nicht heiraten wollte, ist weg. Doch seine einzige Reaktion auf diese Aussicht war stechende Scham darüber, dass er in einem solchen Augenblick so etwas hatte denken können.

Jemand musste ihm am Eingang von Seton Park das Pferd abgenommen haben. Jemand musste ihn eingelassen haben. Doch in seiner verschwommenen Verzweiflung wusste Theo nur noch, dass er sich an irgendeinem Dienstboten vorbeigezwängt hatte und den Salon im selben Moment betrat, in dem er angekündigt wurde. Und da war Martha.

Sie saß auf dem Sofa und wandte ihm das erstaunte Gesicht zu. Andere Leute waren im Raum. Sie waren nicht von Belang. Vier Schritte brachten ihn zum Sofa, wo er sie auf die Füße und in seine Arme riss. »Ich habe gehört, was geschehen ist«, sagte er in ihr Ohr. »Es tut mir so leid, dass ich nicht da war. Es tut mir so leid, dass du es allein durchstehen musstest.«

»Wer zum Henker ist das?«, fragte jemand hinter ihm, doch Mrs Russell sprach gleichzeitig, also drehte er sich nicht um. »Ich weiß nicht, was du meinst.« Sie wand sich in einem halbherzigen Versuch, seiner Umarmung zu entfliehen. Keine Chance. Keine Chance im Himmel oder auf Erden. »Was hast du gehört, und von wem?«

Wie konnte sie im Unklaren darüber sein, wovon er sprach? Er ergriff ihre Oberarme und hielt sie so, dass er ihr in die Augen sehen konnte. »Granville hat mir gesagt, dass du das Kind verloren hast.« Er sprach so leise, wie er konnte.

»Zum Henker mit Ihrem unverschämten Blick! Lassen Sie sie sofort los!«

»Einen Moment, bitte.« Er streckte die Hand aus. »Martha?« Hoffnung klopfte plötzlich an sein Bewusstsein wie ein ungebetener Gast an der Eingangstür. Sie hatte nicht verstanden, was er gemeint hatte. Und sie sah nicht so erschüttert aus, wie sie hätte sollen, klang auch nicht so, und fühlte sich nicht so an.

Mit einem Seitenblick auf die anderen Anwesenden schüttelte sie den Kopf. »Es ist nicht wahr.« Sie sprach fast ebenso leise. »Das Kind ist noch bei mir.«

Pure Erleichterung zwang ihn in die Knie; er sank auf das Sofa und vergrub den Kopf in den Händen. Dann spürte er, wie sie sich neben ihn setzte.

»Martha, was soll das bedeuten?« Durch seine Finger erspähte er den Besitzer der Stimme: ein Gentleman ungefähr in seinem Alter, mit honigfarbenem Haar und kaffeefarbenen Augen, der sich halb aus seinem Sessel erhoben hatte. Eine Dame mit dunklerem Haar, aber den gleichen Augen, saß im nächsten Sessel und hielt eine Teetasse.

Ja, das hätte er auch sehr gern gewusst. »Warum zum Teufel hat Granville mir dann etwas anderes erzählt?« Er hob das Gesicht und sah sie an. »Er hat gesagt, du würdest Sussex verlassen.« Misstrauen durchfuhr ihn. »Was tun diese Leute hier?«

»Wie können Sie es wagen!« Der junge Mann wollte ganz offensichtlich einen Kampf provozieren. »Wir sind ihre Blutsverwandten, wir haben ein Recht, uns um ihr Wohlergehen zu sorgen! Ich will verdammt sein, wenn Sie so viel von sich behaupten können!«

»Bitte.« Er streckte eine erschöpfte Hand aus. »Lassen Sie mich fünf Minuten mit ihr sprechen. Dann dürfen Sie mich gern draußen für meine verdammte Unverschämtheit verdreschen, wenn Sie wollen.«

»Nick.« Die Dame sprach über ihre Teetasse hinweg; ihre Augen leuchteten interessiert. »Geben wir ihm die fünf Minuten, ja? Ich schätze, sie werden sehr erhellend sein.«

»Du ziehst zu einem von ihnen?« Er beugte sich vor, um allein mit ihr sprechen zu können. »Aber warum, wenn du das Kind gar nicht …«

»Ich habe den Besitz Mrs James Russell und ihren Söhnen überschrieben.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Deswegen musste ich allen erzählen …« Sie schürzte die Lippen und wartete, bis er verstand.

Und er verstand. Plötzlich saß er kerzengerade. »Ich habe mich mit diesem Handel einverstanden erklärt unter der Voraussetzung, dass ein Sohn den Besitz erben würde und eine Tochter einen Anteil daran bekäme.« Einen vertraulichen Tonfall brachte er jetzt nicht mehr zustande. »Ganz zu schweigen von einem anerkannten Vater. Wag es ja nicht, mir zu sagen, dass du den Enkel eines Baronets zu einem verarmten Bastard machen willst.«

»Oh Martha!« Die Frau blickte von Mrs Russell zu ihm und dann zu Mrs Russells Bauch. »Was hast du getan?«

»Ich hatte gute Gründe.« Trotzig richtete sie sich auf. »Es war ein vernünftiger Plan. Aber die Umstände haben sich auf unvorhersehbare Weise geändert.«

»Zum Henker mit Ihren fünf Minuten. Von wegen Verdreschen.« Der junge Mann fuhr erneut aus seinem Sessel auf. »Gebt mir ein Paar Pistolen, dann regle ich diese Angelegenheit sofort.«

»Nicholas, setz dich.« Augenblicklich wurde ihm klar, wie sie ihre Geschwister schon als Kind herumkommandiert haben musste, mit ihrem kühlen, sicheren Auftreten, das Wut oder andere ungemäßigte Emotionen nicht ins Wanken brachten. »Oder, wenn du darauf bestehst, dich mit jemandem zu duellieren, dann wirst du mit mir vorliebnehmen müssen. Mr Mirkwood hat nichts Verwerflicheres getan, als dem Geschäftsvorschlag zuzustimmen, den ich ihm gemacht habe. Dein hitzköpfiges, unhöfliches Benehmen lässt unsere Familie in keinem sehr vorteilhaften Licht erscheinen, gerade jetzt, wo ich gehofft hatte, dass er möglicherweise darüber nachdenkt, sich mit ihr zu verbinden.«

»Gütiger Gott.« Theo ließ sich in die Sofaecke zurückfallen und musterte sie. »War das ein Antrag?«

»Der kümmerlichste, den ich je gehört habe.« Die Schwester stellte ihre Tasse ab, und der Bruder sank wieder in seinen Sessel.

»Allerdings! Ich mache dir einen besseren, falls deine Geschwister uns eine Minute allein lassen. Oder vielleicht acht Minuten.« Sein Herz klopfte in seiner Brust wie ein freigelassener Hase. Sie wollte ihn heiraten. Seinem Kind ging es gut, und es würde als sein Kind zur Welt kommen.

»Das werden Sie nicht tun, Sir.« Sie war selbst recht respekteinflößend, diese Schwester. Katharine. Bald würden sie sich beim Vornamen nennen. »Sie ist gerade mal zwei Monate verwitwet. Kein Pfarrer, dem seine Stelle lieb ist, würde sich bereit erklären, Sie zu trauen.«

»Ich kenne einen, der es tun würde.« Sie schenkte ihrem Bruder und ihrer Schwester ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, doch als er die Hand hob, ergriff sie sie sofort. »Wir brauchen bloß einen Dispens, und zwar so schnell wie möglich, wegen des Kindes.«

»Denken Sie doch bloß an den Skandal! Sie wären in keiner anständigen Gesellschaft mehr willkommen.«

Ah, das hatte er schon durchgemacht. »Meine Familie umfasst mehrere höchst anständige Haushalte, in denen man uns mit Freuden willkommen heißen wird. Ich komme soeben aus London und habe sie vorbereitet.« Bei diesen Worten drückte sie köstlich seine Hand. »Das wird für den Anfang reichen, und ich werde es mir zur Aufgabe machen, auch Ihre Zustimmung zu gewinnen.«

»In dieser Nachbarschaft werden wir auch willkommen sein.« Sie rückte vor, ernst, und drückte noch immer seine Hand. »Ich habe alles bedacht.« Natürlich hatte sie das. »Alle haben von meiner Enttäuschung gehört, und von meiner veränderten Situation. Alle schätzen Mr Mirkwood. Alle werden glauben, dass er mich geheiratet hat, um mich vor einem jämmerlichen Dasein zu bewahren. Sie werden eine höhere Meinung von ihm haben denn je.« Er hörte, wie ihre Beharrlichkeit mit jeder Silbe zunahm. »Aber selbst wenn nicht, würde ich ihn dennoch heiraten.«

»Die Pflicht verlangt es jetzt.« Er legte seine Finger um ihre. Gemeinsam würden sie allen skeptischen Brüdern und Schwestern der Welt trotzen.

»Ja. Die Pflicht.« Ihr ganzer Körper versteifte sich in süßer, befangener Anstrengung, so als müsse sie die nächsten Worte durch einen Mund voller Steine hervorbringen. »Und mein Herz. Ich liebe ihn.« Ihre Wangen wurden krebsrot. Ein Beobachter hätte gedacht, sie hätte soeben eine entsetzliche Sünde gebeichtet.

Er würde nicht lachen. Aber er grinste wie ein Idiot mit einem Eimer voller Sirup. Er drückte ihr abermals die Hand. Die Empfindung war wichtig. Dass sie sie elegant ausdrückte, dass sie sie überhaupt aussprach, war nicht von Belang. Alles, was ihm blieb, war, ihr in den kommenden Jahren möglichst oft einen Grund zu geben, es ihm zu sagen, und herauszufinden, ob sie mit der Übung besser wurde.

Spät in der Nacht, als er den Dienstbotenaufgang hinauf und durch die drei Flure in ihr Zimmer schlich, wo sie eine Kerze hatte brennen lassen, weil sie gewusst hatte – ohne dass sie es ihm hätte sagen müssen –, dass er kommen würde, übte sie weiter. Ich liebe dich, sagte sie, mit Worten und mit Gesten, die einen Mann bis ins Mark befriedigten. Und er antwortete aus tiefster Seele, gehörig und unermüdlich. Denn die Pflicht verlangte nichts Geringeres.