6
»Haben Sie viel mit Mr Mirkwood zu tun?« Mit gespreizten Fingern hielt Martha die Karte an die Klassenzimmerwand.
»So gut wie nie. Sie?« Mr Atkins hatte Nägel im Mund; vermutlich sollte sie ihm jetzt keine Fragen stellen.
»Ein wenig. Er war letzte Woche da, und wir haben uns ein wenig unterhalten.« Der Stuhl unter ihren Füßen wackelte. Je mehr Unwahrheiten man verbreitete, desto schwieriger war es, den Überblick zu behalten. Doch dieser Besuch hatte ja eine weitere Unwahrheit zum Zweck gehabt: die schlichtweg falsche Information, Mr James Russell habe ihr geschrieben und der Schule zugestimmt. Mr Atkins hatte ihr natürlich geglaubt und begonnen, zur Feier des Tages Dinge an die Wände zu hängen.
»Und was für einen Eindruck haben Sie gewonnen?«, fragte er jetzt zwischen den Nägeln hindurch.
Das war eben die Frage. Vor einer Woche hätte sie sie leicht beantworten können. Jetzt zögerte sie. »Ich weiß nicht, ob ich ihn gut genug kenne, um ihn einschätzen zu können. Er scheint ein gutmütiger Mann zu sein, aber man hört ja so einiges über seine Machenschaften in London.«
Die Nägel purzelten in die Hand des Pfarrers. »Ich versuche, nichts auf solchen Klatsch zu geben. Die Menschen neigen dazu, unsere Erwartungen an sie zu erfüllen – im Guten wie im Schlechten. Und er ist noch sehr jung, glaube ich. Er entwickelt sich noch.« Er setzte einen Nagel an und hob den Hammer.
»Auch junge Männer können sich anständig benehmen.« Sie hatte die Stimme erhoben, um sich gegen das Hämmern durchzusetzen. »Sie haben Ihre Jugend nicht vorgeschoben, um ein Lotterleben zu führen.« Sie mussten etwa gleich alt sein, Mr Mirkwood und Mr Atkins.
»Nun, die Kirche macht einen ernsthaft, falls andere Dinge das noch nicht bewirkt haben.« Er kam von seinem Stuhl herunter, und als er sie anschaute, lag ein ganz und gar unernster Ausdruck in seinen Augen. »Was Mr Mirkwood betrifft, so sage ich: Im Zweifel für den Angeklagten. Haben Sie bemerkt, dass er gestern die ganze Predigt hindurch wach geblieben ist?«
»Sie zu verschlafen wäre ja auch schockierend gewesen. Wir können alle aus den Fehlern des törichten Mannes mit seinen neuen Scheunen lernen, meine ich.«
»Ich glaube, nächste Woche werde ich über Sprüche 22,6 predigen: Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so lässt er auch nicht davon, wenn er alt wird. Über diesen Vers habe ich aus naheliegenden Gründen viel nachgedacht. Und ich habe mir John Wesleys Predigt zu diesem Thema noch einmal durchgelesen. Ich kann ihm einfach nicht darin zustimmen, dass Kinder von Natur aus zur Boshaftigkeit neigen. Also muss ich ihn widerlegen.« Er nahm die Nägel wieder in den Mund und stellte den Stuhl auf Marthas andere Seite.
Was war er doch für ein großherziger Mann. Über jeden hatte er etwas Gutes zu sagen. Es würde ihr sehr leidtun, seine gute Meinung zu verlieren, sollte ihr falsches Spiel auffliegen. Sie sah zu, wie er auf den Stuhl stieg, die Nägel ausspuckte und einen weiteren in die Wand schlug. Er hielt den Kopf schief und blickte an seiner langen Nase vorbei auf das Werk seiner Hände. Da sie ihm schon oft bei den unterschiedlichsten Tätigkeiten zugesehen hatte, wusste sie, dass er so eine besonders unbändige Haarsträhne davon abhielt, ihm ins Gesicht zu fallen.
»Das hätten wir«, sagte er beim letzten Hammerschlag. »Sieht es gerade aus?«
»Kommt die Frage nicht ein bisschen spät?«
»Vermutlich.« Er stieg vom Stuhl, sie ebenfalls, und sie betrachteten die Karte aus größerer Entfernung.
Wie die Schiefertafeln und die Griffel sah sie gebraucht und ein bisschen schäbig aus. Er hatte so gut es ging die Knicke herausgebügelt – das war ihre Idee gewesen – und die ausgeblichenen Stellen mit Tinte nachgezogen, doch gegen die Kritzelei irgendeines Schuljungen, der ausgelassen seinen Namen, Stepen, über den Südpazifik geschmiert hatte, war nichts zu machen. Vermutlich hieß er Stephen. Er hätte vor solch mutwilliger Beschädigung wenigstens schreiben lernen können.
»Mein Bruder und ich hatten eine solche Karte, als wir Kinder waren.« Mr Atkins stützte die Hände in den Rücken. »Nicht annähernd so groß, aber natürlich mit denselben Ländern und Ozeanen. Wir haben alle Namen auswendig gelernt.«
»Auch Stepen?«
»Nein, Stepen nicht. Wesley hätte diesem Jungen mit Sicherheit so einiges zu sagen gehabt!« Er lächelte gedankenverloren, den Blick noch immer auf die Karte gerichtet. Sicherlich hing er Kindheitserinnerungen nach: wie er zum ersten Mal mit dem Finger die lange Küste Afrikas entlanggefahren war oder wie ihm aufgefallen war, dass Italien wie ein Stiefel aussah. Jetzt würde er anderen Jungen – und Mädchen – helfen, diese Entdeckungen zu machen.
Sie war eine Lügnerin, und das war niederträchtig. Sie schlief mit Mr Mirkwood, und das war eine schreckliche Sünde. Sie beabsichtigte, einen Mann um sein Erbe zu betrügen, und dafür konnte sie vermutlich ins Gefängnis kommen. Doch als sie Mr Atkins betrachtete, in seiner Vorfreude auf das gute Werk, das er vollbringen würde, bereute sie nichts.
»Auf, auf, Mrs Russell! Ich habe schon seit über einer Stunde eine teuflische Erektion!« Mr Mirkwood schloss die Tür hinter sich und warf seinen Hut in die Ecke. Er trug einen Stapel Bücher in der Hand.
»Was haben Sie denn da?« Sie machte keine Anstalten aufzustehen.
»Eine Erektion. Hab’ ich doch gerade gesagt.«
Also wirklich. »Die Bücher meine ich. Und die Rolle da.«
»Später.« Mit vier großen Schritten war er beim Sofa, ließ seine Last achtlos darauffallen und knöpfte sich den Frack auf. »Weshalb sind Sie denn noch angezogen? Ich hatte gehofft, dass wir das gestrige Prozedere beibehalten könnten.«
Mit flinken und sicheren Fingern entkleidete er sie beide und schritt mit jedem abgelegten Kleidungsstück näher auf das Bett zu, bis sie nackt unter der Decke lagen.
Diesmal ging er vorsichtiger zu Werke, wie um wiedergutzumachen, dass er am Vortag die Beherrschung verloren hatte. Er schaute sie unverwandt an und lauerte, da war sie sicher, auf das kleinste Anzeichen von Unbehagen. Auch als sie die Augen schloss, um seinem Blick zu entgehen, fühlte sie, dass er sie beobachtete. Es fühlte sich … seltsam an. Anders. Mr Russell war nie so rücksichtsvoll gewesen. Nicht einmal beim ersten Mal, das in der Tat sehr unangenehm gewesen war, und auch nicht beim zweiten Mal, als sie noch wund vom ersten gewesen war. Tut mir leid, hatte er gesagt, doch sein Recht hatte er dennoch eingefordert. So war das eben.
»Nur zu«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Es tut nicht weh, wirklich.« Zweifellos gab es bessere Antworten auf die zärtliche Zurückhaltung eines Mannes. Doch diese Sprache sprach sie ungefähr so gut wie Portugiesisch, und außerdem war in dieser Abmachung kein Platz für so etwas. Sie legte lediglich die Hände auf seine Schultern, weil er es mochte, berührt zu werden, und an seinem raschen Atmen erkannte sie den Augenblick, in dem er sie zurückließ, um zum Höhepunkt zu kommen, genau wie sie es wollte.
Anschließend klärte er sie über die Bücher auf. »Sie alle beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten der Landwirtschaft. Fruchtwechsel. Erträge und Preise. Ich soll das lernen, doch ich bringe nicht das nötige Interesse dafür auf. Aber ich hatte eine Idee.« Er lag auf dem Bauch; jetzt stützte er sich auf die Ellbogen. »Sie könnten sie lesen, da Sie sich dafür interessieren, und dann könnten Sie mir erzählen, was drinsteht. Wenn Ihnen etwas Besonderes dazu einfällt, schreiben Sie es auf. Erzählen Sie mir, wie eine ernsthafte Person auf dieses Material reagieren sollte, damit ich Mr Granville die richtigen Antworten geben kann.«
Martha wusste kaum, ob sie lachen oder ihm eins auf die Finger geben sollte. Vermutlich weder noch. Die Menschen neigen dazu, unsere Erwartungen an sie zu erfüllen, hatte Mr Atkins gesagt. Was, wenn sie ihm einen Vertrauensvorschuss gab? »Ich würde diese Bücher sehr gern lesen. Es ist sehr gut von Ihnen, dass Sie sich daran erinnern. Aber ich denke, Sie sollten sie lieber mit mir zusammen lesen, anstatt sich auf meine Berichte zu verlassen. Vielleicht könnten wir uns jeden Tag eine Stunde lang in meinem Arbeitszimmer zusammensetzen, wenn die andere Angelegenheit erledigt ist.«
Wenn die andere Angelegenheit erledigt ist. Drei Tage später spukten ihm die Worte noch immer im Kopf herum. Sie empfing ihn jetzt immer freundlich und hatte ihren entsetzlichen, missbilligenden Widerstand aufgegeben, doch es war offensichtlich, dass sie die Angelegenheit tatsächlich nur erledigt wissen wollte. Falls sie überhaupt fleischliche Lust empfinden konnte, so schlummerte diese Fähigkeit tief und fest.
Er streckte sich gähnend und spürte, wie seine Schulterblätter sich in den Teppich bohrten. Sie hatte die Grundstückskarte im Salon auf dem Fußboden ausgerollt und mit einer Vase, einer Untertasse und zwei Büchern beschwert, und es war ihm kameradschaftlich erschienen, sich zu ihr auf den Boden zu gesellen. Die Schulstunden-Routine hatte sich generell als recht entspannend erwiesen, denn meistens konnte er auf dem Sofa vor sich hin dösen und der lebhaften Melodie ihrer Stimme lauschen, während sie ihm vorlas.
Sie blickte bei seiner Bewegung kurz auf. »Eine dieser umrandeten Flächen scheint zwischen Ihrem und meinem Land zu liegen, wenn ich die Zeichnung richtig verstehe. Ich bin nicht ganz sicher, wo ich mir die Grenzen von Seton Park vorzustellen habe, doch wenn es der Ort ist, an den ich denke, dann weiden dort einige meiner Pächter ihre Schafe, glaube ich.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn und schien keine Antwort zu erwarten.
Theo fuhr sich durch die Haare. Der Teppich war nicht annähernd so bequem wie das Sofa, aber man sah den Raum einmal aus einer neuen Perspektive. Der Stuck, der die Decke umrahmte, war vorzügliche Arbeit. Italienischer Stil, wenn er sich nicht irrte. Schnörkel und so. Er gähnte abermals, die Faust vor dem Mund. »Wissen Sie, was wir tun sollten?«
»Nein.« Sie sprach mit der Landkarte. »Das haben wir heute schon getan. Jetzt lernen wir. Können Sie Ihren Appetit nicht bis morgen unter Kontrolle behalten?«
»Was Sie doch für schamlose, sündhafte Gedanken haben!« Er rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf die Hand. Ihre strenge schulmeisternde Art hatte begonnen, ihm zu gefallen. »Ich hatte nichts dergleichen im Sinn. Aber jetzt haben Sie mir solche Flausen in den Kopf gesetzt.«
»Dann müssen Sie sie sich wieder austreiben. Ich schlage einen flotten Spaziergang vor.« Auch das hatte sie zur Landkarte gesprochen, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Er war sich fast sicher, dass sie langsam begann, dieser Routine etwas abzugewinnen; dass es ihr eine gewisse Befriedigung gab, seine abschweifenden Gedanken zu maßregeln. Vielleicht würde sie später ja auch anderen Dingen mehr abgewinnen können.
»Da haben Sie Glück. Einen Spaziergang wollte ich eben vorschlagen.« Ihr Kinn schoss in die Höhe, doch er ließ sich nicht abbringen. »Wir nehmen die Karte mit und schauen uns diese Parzellen selbst an.« Eins nach dem anderen schob er die Gewichte beiseite. »Ich gehe hintenherum und klingele an der Vordertür, und wir gehen gemeinsam dieses Stück Land zwischen Ihrem und meinem Besitz begutachten. Was könnte respektabler sein?«
Sie zögerte. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte, und die Karte raschelte und wisperte, als er sie zusammenrollte. »Sie werden äußerste Diskretion an den Tag legen, falls wir jemandem begegnen?«
»Na und ob! Ohne diese Fähigkeit wäre ich doch nicht halb so beliebt bei den verheirateten Damen Londons.« Er zwinkerte ihr zu, als ihr Gesicht sich tadelnd verdüsterte, und stand auf. »Die frische Luft wird uns guttun, das verspreche ich Ihnen. Ist Ihnen bewusst, dass wir schon elf Tage miteinander bekannt sind und einander nur drinnen begegnet sind? Das kann nicht gesund sein, und außerdem will ich sehen, wie Sie in der Sonne aussehen. Geben Sie mir fünfzehn Minuten; ich komme in Ihre Einfahrt.«
Etwas mehr als fünfzehn Minuten später waren sie draußen – und er konnte noch immer nicht sagen, wie sie in der Sonne aussah, denn sie trug eine schwarze Haube, die ihre Züge gänzlich verbarg. Er hätte von unten hineinblicken müssen, um sie zu sehen, und dafür hätte er ihr den Weg abschneiden müssen. Nebeneinander schritten sie über die große Rasenfläche auf einige kleine Anhöhen im Osten zu.
Ihr Lauftempo harmonierte erstaunlich gut, wenn man bedachte, wie unähnlich sie sich in jeder anderen Hinsicht waren. Sie schritt entschlossen aus und hielt mit seinem längeren, müheloseren Schritt mit. Gemeinsam hätten sie bis ans Ende der Welt gehen können, wenngleich der Gesprächsstoff ihnen lange vor dem Ziel ausgegangen wäre.
»Freuen Sie sich darauf, ein Baronet zu werden?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ganz und gar nicht.« Er nahm die Karte unter den anderen Arm.
»Nicht?« Die Hutkrempe schwenkte in seine Richtung; er konnte ihr Kinn ausmachen und ihre Unterlippe, die sich anschickte, ihn einzuschätzen.
»Nein, meine Liebe. Ich werde mehr Verantwortung tragen, ohne dafür mehr Privilegien zu bekommen.«
»Gewiss werden Sie merken, dass Sie der Verantwortung gewachsen sind, wenn es so weit ist.«
»Ein Mann kann allen möglichen Dingen gewachsen sein und es dennoch vorziehen, sie nicht zu unternehmen.« Ja, da war er, der vor Missbilligung zusammengepresste Mund. »Aber das war nur so dahergesagt. Verantwortung hin oder her; ich kann dem Ereignis, das mich zum Baronet werden lassen wird, nicht mit Freude entgegensehen, also kann ich mich auch nicht auf meinen Baronet-Status freuen.« Plötzlich war sie nicht mehr an seiner Seite, und als er sich nach ihr umdrehte, sah er sie stocksteif hinter sich stehen, das Kinn gehoben, sodass er ihr endlich ganz ins Gesicht sehen konnte. »Bitte sagen Sie nicht, dass Sie das verwundert.«
Selbst im Schatten ihrer Haube konnte er sie erröten sehen. »Verwundert bin ich nicht. Aber vielleicht etwas überrascht. Sie wollen damit sagen, dass Sie Ihren Vater lieben.«
»Nicht unbedingt. Es liegt einiges dazwischen, jemanden zu lieben und sich sein Ableben zu wünschen.« Er ging weiter und hörte, dass sie folgte, ein oder zwei Schritte hinter ihm, so als wolle sie ihn begutachten und diese neue Erkenntnis mit dem Bild in Einklang bringen, das sie sich bisher von ihm gemacht hatte. »Aber ich schätze schon, dass ich ihn ziemlich gernhabe.« Jetzt würde er sie noch weiter verwirren. »Das habe ich mir vorgenommen, und bislang hat er es nicht geschafft, mich davon abzubringen.«
»Nicht einmal, indem er Sie für etwas so Belangloses wie eine Schnupftabakdose verbannt hat?«
»Es ging nicht nur um die Tabakdose.« Er bückte sich, um einen langen Grashalm zu pflücken und um ihrem Blick auszuweichen. Hatte sie soeben für ihn Partei ergriffen, oder hatte er sich verhört? »Ich war schon immer ein ziemlicher Tunichtgut. Zu nichts nütze.« Das hatte er schon immer freimütig zugegeben. Im White’s hatte es ihm einige Lacher eingebracht. Doch irgendwie klang es hier draußen bei Weitem nicht so lustig. »Ich habe vor, mich zu bessern, irgendwann.« Er zwirbelte den Grashalm zwischen Daumen und Zeigefinger. »Aufrecht und respektabel und so weiter zu werden. Spätestens wenn ich ein Baronet bin.«
»Wenn Sie wissen, dass Sie es besser können, warum dann nicht jetzt?« Da kam die Standpauke. So viel dazu, dass sie für ihn Partei ergriffen hatte.
»Vorsicht, Teuerste! Denken Sie doch mal nach. Wäre es wirklich in Ihrem Interesse, wenn ich mich jetzt sofort ändern würde?« Er wandte sich um, um sie anzugrinsen, und die Art, mit der die Haube sich senkte und das Gespräch verebbte, verriet ihm, dass sie ihn verstanden hatte.
Gut so. Er warf den Grashalm weg, und sie gingen weiter. Auch ohne Unterhaltung war es ein wundervoller Tag, um mit einer Frau spazieren zu gehen. Die Luft roch frisch, denn in der Nacht hatte es ein wenig geregnet, und das Gras war mit verschlafenen weißen, gelben und violetten Spätsommerblumen gesprenkelt. Vögel flogen auf, landeten wieder und riefen einander in einem Dialekt, der ganz anders klang als die Vogelstimmen Lincolnshires. Auf einem nahe gelegenen Hügel durchkämmte eine sanfte Brise das Gras wie eine unsichtbare Hand.
»Wir müssen über diesen Hügel.« Ihre ausgestreckte schwarze Hand hob sich dunkel vom leuchtend blauen Himmel ab. »Der Ort, den ich im Sinn habe, ist gleich auf der anderen Seite.«
Langsam erklommen sie die Anhöhe – welcher abartige Teufel hatte eigentlich beschlossen, dass Witwen Schwarz tragen mussten, sogar bei solchem Wetter? – und erreichten die Hügelkuppe. Ein kleines grünes Tal voller Schafe erstreckte sich vor ihnen. Ein Hund bellte bei ihrem Anblick und jagte auf den gegenüberliegenden Hügel zu, auf dem im Schatten einiger Bäume ein Mädchen saß. »Sie gehört zu meinen Pächtern«, sagte Mrs Russell. »Eine von den Everett-Töchtern, glaube ich.« Sie ging noch ein paar Schritte vor. »Und ein Stückchen hinter den Bäumen da ist Ihre Hecke.«
Dieses Land konnte vermutlich ihm gehören, wenn er es wollte. Obwohl es nicht besonders vielversprechend für Weizen oder anderes Getreide aussah. Und das Mädchen würde eine Weide mit einem sehr vorteilhaften schattigen Ausguck verlieren. Er steckte sich die Karte unter den Arm. »Warum, glauben Sie, hat Ihr Mann diese Wiese nicht für sich beansprucht?«
»Ich fürchte, ich habe keine Ahnung. Mr Russell hat nicht oft über solche Angelegenheiten gesprochen.« Sie wandte sich zu ihm um und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch nach einem kurzen Schweigen schlug sie lediglich vor, das Tal zu durchqueren und die Schäferin zu begrüßen.
Das Mädchen hatte ein Buch und einen Korb dabei und den wachsamen Hund. Als sie näher kamen, klappte es das Buch zu und schob es halb unter den Korb, was den Band wesentlich interessanter machte, als er es sonst gewesen wäre.
Offenbar fand Mrs Russell das auch. Als sie sich einander vorgestellt hatten – das Mädchen war tatsächlich eine Miss Everett und erfreut, seine Bekanntschaft zu machen – und im Schatten saßen, zog die hervorblickende Buchecke immer wieder die Aufmerksamkeit der Witwe auf sich, während sie die nötigen Erkundigungen über die Gesundheit des Mädchens und einiger ausgewählter Familienmitglieder einholte.
Sie gaben ein hübsches Bild ab, die junge Witwe mit ihren dunklen Augen und ihrem dunklen Kleid und die jüngere Schäferin, blauäugig, rotblond und sommersprossig. Er hatte sich ein Stück von ihnen entfernt an einen Baumstamm gelehnt. Der Hund, ein zotteliger, braunweißer Hütehund, ließ sich neben ihm nieder und legte die Schnauze auf sein Bein, so als gehöre es ihm. Seine Ohren zuckten hierhin und dorthin, während die Damen sich unterhielten.
Die Unterhaltung verlief stockend. Miss Everett schien ein wenig eingeschüchtert zu sein von Mrs Russell, und diese machte es ihr durch ihre Themenwahl nicht leichter. Die Sonntagsschule wurde erwähnt und Schule überhaupt gelobt, ebenso Grundsätze wie Pflichtschuldigkeit und Fleiß sowie der Gemeindepfarrer, der offenbar darauf sann, den Kindern seiner Schäfchen eine Schule aufzubrummen. Das arme Mädchen konnte nur nicken und seine Zustimmung murmeln, während es die Hände rang, des Buchs beraubt, und die Witwe zum nächsten Feldzug für die Bildung anhob. Es war offensichtlich, dass sie versuchte, Begeisterung in ihrer Zuhörerin zu wecken, doch sie ging es völlig falsch an, prügelte mit sehr lobenswert und immer fleißig auf das Kind ein und schien sich nicht im Geringsten für anderer Leute Meinung zu interessieren. Ihr Tonfall war gar nicht so anders als der, den sie ihm gegenüber anschlug.
»Vielleicht ist Miss Everett eher eine Verfechterin der Autodidaktik«, warf er ein, als die Witwe einmal Luft holen musste. Er lächelte das Mädchen an, um es so gut er konnte zu ermutigen. »Sie haben gerade etwas gelesen, glaube ich, als wir gekommen sind. Ich fürchte, wir halten Sie von Ihrer Lektüre ab.«
»Oh nein, ich habe nur gelesen, um mir die Zeit zu vertreiben.« Sie errötete und sah noch unglücklicher aus. »Nichts Lehrreiches.«
»Einen Roman, vermute ich?« Mrs Russell griff den neuen Gesprächsstrang schnellstens auf, und als das Mädchen nickte, fuhr sie mit frischem Elan fort. »Gewiss gibt es handfestere Dinge, die eine junge Dame lesen kann, aber die meisten Romane schaden nicht. Man kann mit romantischen oder spannenden Geschichten anfangen und später zu Shakespeare oder Homer übergehen oder zu etwas anderem Erhebenden.«
Gott, was war sie schlecht darin! Bemerkte sie denn nicht, dass das Mädchen sich seines schlechten Romans schämte und immer mehr in sich zusammensank? Dass es sich vor den erhebenden Dingen, die die Witwe ihr aufdrängen wollte, fürchtete? Er beugte sich vor und vergrub die Finger im Fell des Hunds. »Ein Roman?«, sagte er verschwörerisch zu Miss Everett. »War es Der Mönch?«
Ihr Gesicht verzog sich zu neunzig Prozent vor Beunruhigung und – dafür hätte er fast die Hand ins Feuer gelegt – zehn Prozent Freude; die Witwe fuhr indes zu ihm herum und fixierte ihn mit einem sehr ernsten Blick.
»Nein? War es vielleicht Der Italiener?«
Vierzig Prozent Freude, sechzig Prozent Beunruhigung; er kam der Sache näher.
»So etwas war es nicht«, sagte das Mädchen und zog endlich das Buch hervor. »Ich lese nur Belinda.«
»Ah, Belinda. Lass mal sehen.« Er nahm den Band und schlug die erste Seite auf. »Aber das ist doch nichts! Sie brauchen die Originalversion! Lucy heiratet einen afrikanischen Plantagenarbeiter und Belinda heiratet beinahe diesen Kreolen, den Typen aus der Karibik. Sehr skandalös. Der Vater der Autorin missbilligte es, daher hat sie es umgeschrieben.« Er gab das Buch zurück und lehnte sich wieder an den Baumstamm, während er dem Hund die Schnauze kraulte.
»Woher wissen Sie denn das?« Mrs Russells Augen waren immer größer geworden. »Und woher kennen Sie denn den Mönch?«
»Ältere Schwestern.« Er verspürte den äußerst unangebrachten Impuls, ihr zuzuzwinkern, und unterdrückte ihn. »Als ich klein war, wurde meine Schwester Sophia mit einer Ausgabe erwischt und beinahe verstoßen. Da musste ich es natürlich lesen, versteht sich.« Und woher wissen Sie etwas davon?, hätte er zu gerne gefragt.
»Das dürfte das genaue Gegenteil dessen gewesen sein, was Ihre Eltern bezweckt haben.« Garantiert hätte sie sich jetzt entsetzlich gerade aufgesetzt, wenn sie nicht bereits kerzengerade wie eine Richterin dagesessen hätte, wie es ihre Angewohnheit war.
»Dann hätten sie mir interessanteren Lesestoff geben müssen.« Er zuckte mit den Schultern und fläzte sich noch tiefer ins Gras. »Als Damen haben Sie es viel besser als wir, mit Ihren Romanen.«
Diese Worte erinnerten die Witwe offenbar daran, dass Miss Everett zugegen war, und sie wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Mrs Edgeworths Bücher sind zweifellos amüsant und unterhaltsam, und sie kann sich – wie alle Schriftstellerinnen – glücklich schätzen, eine unabhängige Einkommensquelle gefunden zu haben. Wenn Sie aber einen etwas ehrgeizigeren Roman lesen möchten, sollten Sie Waverley versuchen. Das Buch ist gerade diesen Sommer erschienen und hat ausgezeichnete Kritiken bekommen. Der Autor hat ein, wie ich glaube, sehr akkurates Bild vom Schottland des letzten Jahrhunderts gemalt. Ich könnte Ihnen mein Exemplar leihen.«
»Waverley«, wiederholte das Mädchen. Es versuchte ein Lächeln, sah aber ungefähr so enthusiastisch aus wie ein Dienstmädchen, dem aufgetragen wird, die Nachttöpfe zu schrubben. »Wovon handelt es?«
»Es ist eine wahre Geschichte, eine Erzählung aus jener Zeit, in der viele Schotten den Thronanspruch der Stuarts unterstützten. Vielleicht kennen Sie sich damit nicht so gut aus, Sie hatten ja nicht das Glück, zur Schule gehen zu dürfen. Aber Waverley ist ein Roman, der solche Bildungslücken auf dem Gebiet der englischen Geschichte schließen könnte, und durch die Entwicklung des Helden weg von sentimentalem Überschwang hin zu einem gemäßigteren, praktischen Weltbild transportiert er gleichzeitig eine wichtige Moral.«
Herrgott, bei ihr klang Waverley wie eine Fortsetzung zur Nützlichkeit landwirtschaftlichen Wissens. »Gibt es eine Liebesgeschichte?«, half er nach.
Sie zögerte auf ihre penible Art. »Ich schätze, ja. Mr Waverley entwickelt Zuneigung zu zwei verschiedenen jungen Frauen, die beide auf unterschiedliche Weise seiner würdig sind. Die eine soll, glaube ich, den radikalen Geist der Jakobiten symbolisieren, während die andere –
»Gibt es Schlachtszenen oder eine Queste? Riskiert Mr Waverley sein Leben für ein nobles Ideal?«
»Na ja, natürlich gibt es Schlachten. Es spielt während der Jakobitenaufstände, da geht es ja gar nicht anders, und der Autor scheint, wie gesagt, sehr akribisch zu sein, was historische Korrektheit betrifft.«
»Hervorragend.« Er nickte der Schäferin zu. »Sie scheinen eine ausdauernde Leserin zu sein. Sie müssen dieses Buch lesen und mir dann verraten, ob zwischen all den historisch korrekten und moralisch erhebenden Stellen eine gute Geschichte steckt. Ich fürchte, diese Werte sind wie Gift für mich – ich brauche erst einen Vorkoster, der für mich probiert und mir sagt, ob es ungefährlich ist.«
Er wusste sehr wohl, wie man Frauen um den Finger wickelte. Die meisten Frauen. Das Mädchen errötete anständig ob seiner Zuwendung und erklärte sich bereit, mit Waverley zu beginnen. Die Witwe, die anfangs die Stirn gerunzelt hatte, so als wolle sie ihn zurechtweisen, saß jetzt stumm und nachdenklich da.
Von da an verlief das Gespräch müheloser. Mrs Russell erwähnte den Grund ihres Kommens und breitete die Karte aus, um sich mit Miss Everett darüber zu beraten, inwiefern sie dem entsprach, was sie sahen, und welche Familien davon betroffen wären, sollte das Land nicht mehr zur Verfügung stehen.
Theo sank wieder gegen den Baumstamm, bis er beinahe auf dem Boden lag. Der Hund rollte sich auf den Rücken und sah ihn erwartungsvoll an. Abwesend kraulte Theo ihm den Bauch.
Er wollte nicht, dass irgendwelche Familien betroffen wären. Er wollte nicht, dass diese schüchterne kleine Leseratte darunter litt, dass er aufs Land gekommen war. Würde jedes Stück auf der Karte so aussehen? Steckte hinter der Tinte der sauber gezeichneten Darstellung immer nur eine Gelegenheit, Menschen zu enteignen, die nichts getan hatten, um so etwas zu verdienen? Und doch, wenn die Akquise von Land den Wohlstand Pencarraghs mehren und dazu führen konnte, dass seine Tagelöhner nicht mehr vom Armengeld abhingen, musste er den Schritt vermutlich in Betracht ziehen.
Stirnrunzelnd sah er den Hund an, der seinen Blick mit schläfriger Teilnahmslosigkeit erwiderte. Wie oft hatte er selbst so dreingeblickt, bevor er nach Sussex gekommen war und gelernt hatte, was Sorgen waren.
»Ihre Pächter müssen Sie sehr mögen«, sagte Martha, als sie sich von Jenny Everett verabschiedet hatten und in nördlicher Richtung über freies Weideland gingen.
Mr Mirkwood lachte humorlos. »So? Ich wünschte, jemand würde ihnen das mal sagen.« Unter freiem Himmel sah er ungewöhnlich gut aus; er bewegte sich mit dem Elan eines freigelassenen Tiers. Jenny war völlig hingerissen gewesen.
»Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Sie waren so gut eben mit Miss Everett. Sie wussten genau, was man sagen muss.«
»Das war nur geraten.« Er zuckte die Schultern.
»Die Fähigkeit, so mit ihr umzugehen, ist keine Selbstverständlichkeit. Wie ich, glaube ich, eben deutlich demonstriert habe.«
»Sie wirken in der Tat ein bisschen wie ein Drachen von Gouvernante.« Über die Schulter grinste er sie an und nahm den Worten jede kränkende Wirkung.
»Ich nehme an, das ist nicht verwunderlich. Ich wurde hauptsächlich von einer Gouvernante erzogen, auch wenn ich Miss York niemals als Drachen bezeichnen würde. Sie war eher vernünftig. Korrekt.« Streng auch, natürlich, aber nicht unverhältnismäßig.
»Tatsächlich?« Er verlangsamte seinen Schritt, sodass sie ihn einholte. »Wann haben Sie Ihre Mutter verloren?«
»Mit sieben. Aber sie war die ganzen sieben Jahre schon nicht gesund. Entweder erwartete sie eine Geburt, oder sie erholte sich von der letzten.« Die Worte kamen zögernd. So viele Einzelheiten musste man wirklich nicht preisgeben. »Es hätte nach mir noch drei Kinder geben sollen. Aber keins von ihnen hat überlebt, und das letzte hat sie mitgenommen.« Obwohl am Ende wahrhaftig nicht viel von ihr übrig gewesen war. Fünf lebende Kinder, fünf tote, und mit jeder Geburt und jedem Schicksalsschlag war sie schwächer geworden.
»Und Ihr Vater hat nicht wieder geheiratet?« Unter ihrer Krempe hindurch konnte sie seine weißen Handschuhe sehen, als er die Kartenrolle höher zog.
»Oh nein. Es war ein kleines Wunder, dass er überhaupt geheiratet hat, so zurückgezogen war er. Meistens hat er sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen mit seiner Bibel und seinen Philosophiebüchern.«
»Wer war denn dann da, um Sie zu lieben?« Die Frage kam ohne jedes Zögern, und er gab sich keine Mühe, das aufwallende Mitleid aus seiner Stimme herauszuhalten. Verschwendetes Mitleid, denn das kleine Mädchen, das sie damals gewesen war, hatte sie längst zurückgelassen.
Hinter dem Rücken legte sie die Hände übereinander und verschränkte fest die Finger. »Ich bezweifle nicht, dass meine Eltern mich geliebt haben. Meine Geschwister mögen mich auch. Und Miss York hat meine Erziehung recht fähig zuwege gebracht. Falls ich ein Drache geworden bin oder mich in Situation wie der, deren Zeuge Sie heute geworden sind, wenig geschmeidig verhalte, dann liegt die Schuld allein bei mir, will ich meinen.«
Sie schwiegen. Martha wagte nicht, ihn anzusehen und in seinen indiskreten Augen noch mehr Mitleid zu erkennen. Sie marschierte weiter, verschränkte ihre Finger und löste sie wieder, bis er erneut das Wort ergriff.
»Glauben Sie nicht, dass ich mit meinen Arbeitern auch immer so umgehe. Mit fremden Bauern ist es etwas ganz anderes. Außerdem waren Sie ja dabei. Wäre ich ihr allein begegnet, wäre sie nicht halb so empfänglich gewesen.«
»Natürlich. Daran hatte ich nicht gedacht.« Ein alleinstehender Grundherr hatte noch ganz andere Schwierigkeiten zu meistern. Womöglich könnte sie ihm von Nutzen sein. »Vielleicht könnte ich ja einmal mitkommen, wenn Sie Ihren Leuten einen Besuch abstatten.«
»Vielleicht.« Er drehte sich vor ihr um, wie um der Last des Ernstes zu entfliehen, und ging rückwärts, den Schalk in den Augen. »Werden Sie den Damen mit Lektürelisten zusetzen? Werden Sie über die Tugenden der Bildung predigen?«
»Vielleicht zu Ihnen.« Unverschämter Mann, er hätte es verdient. »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, den Kindern auf Ihrem Besitz Bildung angedeihen zu lassen?«
»Keine Predigten mehr für heute!« Er nahm die Karte in die Hände und ließ sie kreisen wie ein Soldat eine Muskete. »Kein Nachdenken mehr. Ich hatte alles in allem einen angenehmen Nachmittag, und dabei würde ich es gern belassen; im Sonnenschein mit Ihnen unter dem blauen Himmel.«
Sie sagte also nichts mehr. Doch die Hoffnung loderte stark und stetig in ihr. Keine Predigten mehr für heute, hatte er gesagt. Es gab ja auch noch morgen und ein paar weitere Tage. Mit Beharrlichkeit, und wenn sie ihn in seinen guten Eigenschaften bestärkte, könnte sie vielleicht geraume Verbesserungen in Gang setzen, auf seinem Land genauso wie auf ihrem, bevor der Monat um war.
Wenn er in einer Bauernkate wohnen würde – und er sollte häufiger dafür dankbar sein, dass er das nicht tat –, würde Theo hoffentlich einen Haushalt wie Mr Barrows führen. Schon der Hof ließ Sparsamkeit und Ordnung erkennen; die Gänse und das Schwein waren in zwei provisorischen Pferchen untergebracht und hinter dem Haus war ein ordentlicher Küchengarten zu sehen.
Die Tür stand offen und lud die Nachmittagsbrise ein. Diesen kleinen Luxus konnte man sich leisten, wenn man sein Schwein sicher verwahrt wusste. Theo blieb auf der Schwelle stehen und klopfte.
Nach seiner Rückkehr aus Seton Park war er rastlos von Zimmer zu Zimmer getigert, um eine Beschäftigung zu finden. Nach dem ganzen Studium der Karten und dem langen Marsch hätte er eigentlich müde sein müssen, doch stattdessen verlangte es ihn nach einer Betätigung. Emsigkeit konnte vielleicht zur Gewohnheit werden, wenn man es zuließ.
»Herein«, rief eine Stimme, und er trat ein.
Sonnenlicht fiel schräg durch die geputzten Fenster und ließ die einfache, saubere Küche erkennen, die Theo bereits beim letzten Mal erspäht hatte, als er Mr Barrow nicht angetroffen hatte. Jetzt saß er am Tisch und hantierte mit Nadel und Faden. Ein Teller mit Essen stand in der Nähe.
Auf dem Lande aßen die Leute früher. Das sollte er eigentlich inzwischen wissen. »Ich bitte um Verzeihung.« Er blieb stehen und verneigte sich entschuldigend. »Ich wollte Sie nicht beim Abendessen stören. Ich komme ein anderes Mal wieder.« Sein Besuch hatte sowieso keinen bestimmten Zweck; nur die vage Idee, herauszufinden, ob er nicht mit einem seiner eigenen Leute eine ebenso herzliche Unterhaltung führen konnte wie mit Miss Everett.
»Abendessen? Nicht doch!« Der Mann stand auf und fegte eine weitere Ecke des Tisches sauber. »Nur ein Imbiss. Wollen Sie nicht Platz nehmen? Ich hole Ihnen einen Teller.« So schnell es sein Alter erlaubte, eilte er los und holte einen Zinnteller von einem Regal an der Rückwand der Küche und einige eingewickelte Nahrungsmittel aus einem anderen Regal, das mitten im Raum an einer Kette von der Zimmerdecke hing, um selbst den pfiffigsten Ratten das Handwerk zu legen.
Ja, er musste dankbar sein, nicht in einer Bauernkate zu wohnen. Dankbar für ein Leben, in dem andere Leute sich darum kümmerten, die Ratten von seinem Tisch fernzuhalten, ohne dass er davon überhaupt etwas mitbekam. Dankbar für Mahlzeiten, die von geblümtem Porzellan gegessen wurden, an Tischen mit Leinentischdecken, dankbar für abwechslungsreiche Gänge anstelle des Brotkantens und des reizlosen Käsestücks, die ihm nun vorgesetzt wurden.
Er senkte den Kopf und verharrte eine Weile in dieser Position, um ein stummes Tischgebet anzudeuten, falls das in diesem Hause üblich war. Als er wieder aufsah, blickte er in Mr Barrows Augen. Sie waren eisblau und am Rand von Runzeln umgeben und leuchteten wie die eines Jungen, der ungeduldig auf den Beginn eines Kasperletheaters wartete. Sie wussten genau, was man sagen muss, hatte die Witwe gesagt. Zu einem hübschen jungen Mädchen, ja. Doch wie machte man Konversation mit einem Mann von Mr Barrows Alter und Stand? Er sah sich nach einer Inspiration um. »Was machen Sie da mit der Nadel?« Er nickte in Richtung der verwaisten Arbeit.
»Flicken.« Der Mann griff danach und wendete den Stoff, um ihm die Rückseite zu zeigen. »Das Hemd hat ein Loch im Ärmel, und ich setze einen Flicken darauf.«
»Das machen Sie selbst?« Kaum dass er das gesagt hatte, bemerkte er seine Dummheit. Natürlich besserte der Mann seine Kleidung selbst aus. Wer sollte es sonst machen, ohne Frau und ohne Dienerschaft? »Ich meine, ich hätte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte.« Er krümelte eine Ecke von seinem Käse ab und probierte. Er schmeckte entfernt nach Kreide. Nein, so entfernt auch nicht. Er legte den Rest hin und gab sein Bestes, zu kauen und hinunterzuschlucken, was bereits in seinem Mund war, ohne zu viel davon zu schmecken.
»Man fängt an, indem man den Faden einfädelt, das ist das Schwierigste für mich. Die Augen sind nicht mehr die besten. Danach muss man nur aufpassen, dass der Flicken gerade liegt.« Mr Barrows Finger, knubbelig und ganz und gar nicht geneigt, gerade zu liegen, strichen ihn glatt und zogen die Nadel durch den Stoff. Er griff nach seinem Brot und biss ein Stück ab. »Tut mir leid, dass das Essen nicht besser ist«, sagte er, nachdem er geschluckt hatte.
»Oh, ich bin nicht sehr hungrig.« Er spürte die Schamesröte in sein Gesicht steigen. War es so offensichtlich gewesen mit dem Käse? »Ich muss noch Platz für das Abendessen lassen.«
»Sie sind kein geübter Lügner, oder?« Mr Barrow lächelte, den Blick auf die Nadel gerichtet. »Man muss sich für eine Ausrede entscheiden; entweder haben Sie keinen Hunger oder sie müssen Platz für das Abendessen lassen. Beides zusammen funktioniert nicht.«
»Es tut mir leid.« Er suchte verzweifelt nach einem besseren Kompromiss zwischen Wahrheit und Takt. »Ich glaube, Käse ist etwas, wofür man eine Vorliebe entwickeln muss. Keiner schmeckt so wie der, mit dem man aufgewachsen ist.«
»Schon besser.« Das Lächeln des alten Mannes grub sich tiefer in sein Gesicht. »Dennoch sollten Sie besser ein Mädchen heiraten, das Sie nicht anzulügen brauchen.« Er stupste den Käse auf seinem eigenen Teller an. »Er ist widerwärtig; ich weiß, wovon ich rede. Ich bin in einer Meierei aufgewachsen.«
»Wirklich? Hier in Sussex?« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Hier bot sich vielleicht ein Gesprächsthema an. Vielleicht brauchte er gar nicht zu wissen, was man sagen musste, sondern sollte sich einfach die Lebensgeschichte des älteren, weiseren Mannes erzählen lassen und Fragen stellen, wie man sie seinen eigenen Großeltern hätte stellen können, wenn sie alt genug geworden wären.
Mr Barrow machte es ihm leicht. Lebhaft erzählte er Anekdoten aus seinem Leben in Sussex vor einem halben Jahrhundert und warf hie und da seine recht entschiedenen Ansichten über die moderne Käse- und Butterherstellung ein, gelegentlich auch die von Brot und Tee und über all den Schund, der heutzutage beigemischt wurde, um Produkt und Profit zu strecken.
Theo hörte zu. Er hatte erwartet, dass die Anekdoten spannend sein würden, doch sogar die Käse-Sache war interessant, fast mehr als ihm geheuer war. Und noch dazu klang sie, als müsse sie Mrs Russell interessieren.
Vielleicht würde er bei ihrer nächsten Unterhaltung im Wohnzimmer etwas von seinem neu gewonnenen Wissen einstreuen und sehen, ob es ihr ein fasziniertes Leuchten in die Augen zaubern würde. Oder er könnte es ihr im Bett zuflüstern, in der Hoffnung, dass sie ihn dann ansah wie eine Frau einen Mann ansah, der sie immer wieder überraschen konnte.
Oder er könnte sie einfach auf einen Besuch mitbringen und sich zurücklehnen, während sie und der alte Mann sich über Dinge unterhielten, die sie interessierten. Sie würde durchdachte, wohlüberlegte Antworten geben, und Mr Barrow würde vielleicht von diesem Inbegriff der modernen Frau mit ihrem ernsthaften Betragen und ihrer Hingabe an die Verbesserung ihres Guts beeindruckt sein.
Stolze Freude überkam ihn bei dem Gedanken. Narr. Worauf konnte er stolz sein? Was hatte er in der Szene zu tun, außer in der Ecke zu sitzen, müßig wie immer, und zwei besseren Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich anfreundeten? Und dennoch wärmte die Freude ihn noch, als die angemessene Zeit für einen Anstandsbesuch erreicht und überschritten war, als die Schatten über den Küchenfußboden krochen, sogar noch, als er schließlich zum Haus zurückging, so spät, dass nicht einmal mehr Zeit blieb, sich vor dem Essen umzuziehen.