15

Er fiel neben ihr auf die Matratze, die Augen geschlossen, weil der Raum sich noch immer drehte. Er hatte sich in sie ergossen. Er hatte nichts, aber auch gar nichts mehr übrig. Er war nur noch die leere Hülle eines Mannes, und eine stumme Euphorie tobte an der Stelle, wo Lunge und Leber sich hätten befinden sollen.

Teufel noch mal! Orgasmus. Was für ein entsetzlich unzureichendes Wort. Wie für irgendeinen langweiligen wissenschaftlichen Prozess, der etwas mit Pflanzen zu tun hatte, ein abstruses Thema für einen Humphry-Davy-Vortrag. Es drückte nicht annähernd diese mitreißende Herrlichkeit aus. Wie seine innerste Seele seinen Körper verließ und in den ihren überging. Den wilden, überirdischen Triumph in ihren vom Kissen erstickten Schreien.

Kissen. Er öffnete die Augen. Er sollte ihr auf das Kissen helfen. Andererseits, wozu? Entweder war sie inzwischen guter Hoffnung oder nicht. Sie würde es früh genug erfahren, und er dann auch. Dann würde alles zu Ende sein. Doch er musste den Moment ja nicht mit dem Gedanken daran verbringen.

»Bitte sag mir nicht, dass es die ganze Zeit so einfach gewesen ist.« Zwischen seinen mühsamen Atemzügen sandte er die Worte in Richtung Betthimmel. »Mich fesseln. Dich nach oben.«

Sie drehte sich auf die Seite und wandte ihm ihren ganzen Körper zu. Ihre Hand fand seine und spielte mit seinen Fingern. »Das hat vielleicht auch geholfen. Aber hauptsächlich musste ich dich kennen, schätze ich. Wissen, was du wirklich bist.«

»Ah. Mhm.« Gott helfe ihm, er würde sich nie daran gewöhnen, dass sie solche Dinge sagte. Seine Kehle fühlte sich an, als habe er einen pflaumengroßen Stein verschluckt. »Wahrhaftig, wenn du gesagt hättest, dass ich die nötigen Mittel die ganze Zeit zur Hand gehabt hätte, ich glaube, dann müsste ich mich in Schande aus deinem Fenster stürzen.«

Sie lachte, das wundervolle wissende Lachen einer befriedigten Frau. Ihre Augen waren dunkel und köstlich wie türkischer Kaffee, jetzt, wo er sich gestattete, hinzusehen. »Aber bitte nicht heute.« Ihr Daumen strich über seine Handfläche. »Weder aus meinem Fenster noch aus einem von deinen. Ich will, dass du heute Abend wiederkommst.«

»Ich kann in fünfzehn Minuten wieder kommen, wenn du magst.« Mit der freien Hand ergriff er ihr Handgelenk und zog sie näher. »Du auch.«

»Unverbesserlicher Mann!« Ihre Stimme war voll nachsichtiger Zärtlichkeit. »Ich wusste, du würdest diesen Scherz machen!«

Einunddreißig Tage. Zu früh, um siegesgewiss zu sein. Zu früh, um einer Hoffnung nachzugeben, die mit immer verheerenderer Wirkung zerstört werden konnte, je mehr Tage vergingen. Obwohl sie in letzter Zeit vormittags eine leichte Übelkeit verspürte oder sich einbildete zu verspüren.

Martha saß hinten im Schulzimmer, eine Hand gedankenverloren auf dem Bauch, und sah zu, wie ein weiteres ihrer Vorhaben Früchte trug. Sieben junge Damen. Die beiden Farris-Mädchen, Jenny Everett und ihre Schwester, zwei Mädchen aus zwei weiteren Pächterfamilien und – was für eine wundervolle Überraschung es gewesen war – Carrie Weaver, die Zöpfe hochgesteckt und die Augen hell vor Wissbegierde.

Sie konnte kaum lesen. »Denken Sie, wir sollten ihren Eltern sagen, dass sie in die Wochentagsklasse zu den jüngeren Kindern muss?« Mr Atkins war mit besorgt gerunzelter Stirn zu ihr nach hinten gekommen. Er hatte die angenehme Angewohnheit beibehalten, sie in allem, was die Mädchenklasse betraf, zu Rate zu ziehen.

Ansichten meldeten sich wie üblich prompt zu Wort, doch sie brachte sie zum Schweigen. »Was denken Sie?« Sie hatte sich vorgebeugt, die Ellbogen unfein auf der Tischplatte. »Schließlich werden Sie es sein, der im Unterricht mit ihr fertigwerden muss.«

»Ich würde sie sehr ungern versetzen.« Er blickte über die Schulter nach den sieben über ihre Tafeln gebeugten Köpfen, während die Mädchen ihre Namen darauf schrieben. »Das würde sie gewiss beschämen, und außerdem wird ihre Mutter sie vielleicht nicht öfter als einmal in der Woche entbehren können.«

»Dann müssen wir einen Weg finden, wie wir sie in dieser Klasse behalten können. Sie muss gleichzeitig lesen lernen und Geschichte.«

»Vielleicht, wenn eins der Mädchen von Seton Park einverstanden wäre, ihr zu helfen …«

»Fragen Sie Jenny. Sie ist eine hervorragende Leserin, und sie hat vielleicht Zeit, während sie ihre Schafe hütet.«

»Sehr gut.« Mit einem kurzen Nicken ging er wieder durch die Reihen nach vorn. »Heute beginnen wir mit den Königen und Königinnen.« Er stand neben seinem Schreibtisch, eine Hand auf der Tischplatte. »Rückwärts von unserem derzeitigen König George aus. Kann mir jemand sagen, in welchem Jahr er auf den Thron gekommen ist?«

Die Stimmen des ernsten Lehrers und der jungen Schülerinnen verwoben sich zu einer beruhigenden Decke, die sich über sie legte, während sie sich ihren Gedanken überließ.

Sie bereute das, was sie gestern getan hatte, und letzte Nacht wieder, kein bisschen. Und heute Morgen abermals, schnell und direkt, auf dass Mr Mirkwood nach Hause gehen und vor der Kirche noch ein paar Stunden Schlaf bekommen konnte.

Er hatte sie nur mit einem knappen Nicken zur Kenntnis genommen, bevor er in seine Bank geglitten war. Seine Miene hatte keinerlei unangemessene Erinnerung oder Vorstellung verraten; dennoch hatte sie die Augen sofort niedergeschlagen und gespürt, wie ihr Gesicht heiß geworden war. Den ganzen Gottesdienst hindurch hatte jede seiner Bewegungen sie abgelenkt, sich wie eine warme Hand an ihrer Wange ihrer Aufmerksamkeit aufgedrängt. In vielerlei Hinsicht war sie recht lästig, diese ganze Angelegenheit. Und dennoch tat es ihr nicht leid.

Es tat ihr gewiss nicht leid. Aber es machte sie vielleicht etwas melancholisch, nachdem eine weitere Nacht auf ähnliche Weise vergangen war und ein weiterer Tag im Kalender abgestrichen. Das sollte ja ein Symptom sein. Unerklärliche plötzliche Sentimentalität. Sie nahm die Möglichkeit zur Kenntnis und ignorierte sie.

Die Stimmung hielt jedoch an und trieb Martha am Nachmittag auf einen langen Spaziergang in alle Ecken des Guts. Bergauf, bergab, die längste Hecke entlang, vorbei an Bauernkaten und endlich ans Ufer eines Baches, wo sie sich hinsetzte und Zweige vom Boden aufhob, um sie in die Fluten zu werfen. Einige trieben davon, und sie stellte sich vor, wie sie bis dorthin schwammen, wo der Bach in den Fluss mündete, und von dort aus den langen Weg bis zum Meer. Viele blieben jedoch an Steinen hängen oder liefen in den Untiefen auf Grund, sodass ihre Reise ein schmachvolles verfrühtes Ende nahm.

Dinge gingen eben zu Ende. Manchmal früher, als einem lieb war. Mr Russell musste im Laufe seines Lebens zahllose Male über sein Land gegangen sein und sich vorgestellt haben, wie es in direkter Linie weitergegeben werden würde. Ohne sich je träumen zu lassen, dass eine böse Intrige ihn zu früh von der Bühne holen und sein geschätztes Gut in die Hände eines verwerflichen Bruders oder einer treulosen Witwe fallen lassen würde.

Ich habe mich einem Mann hingegeben, wie ich mich dir, meinem Ehemann, niemals hingegeben habe. Die Worte drängten sich auf und verlangten, laut ausgesprochen zu werden; für wessen Ohr war kaum zu sagen. Sie war nicht reumütig. Wenn es Verrat an dem Toten war, sich Mr Mirkwood hinzugeben, dann würde sie diese Sünde wieder begehen, bei jeder Gelegenheit, die ihr noch blieb.

Dennoch warf sie den letzten Zweig ins Wasser und stand auf, klopfte sich die Röcke ab und wandte sich in Richtung des Friedhofs, auf dem Generationen von Russells aufgereiht lagen. Mr Russell lag neben seiner ersten Frau, ein Stück vom Eisenzaun entfernt. Kurze, grüne Schösslinge überzogen den Boden über ihm wie das unrasierte Kinn eines Mannes. Wenn ihr Kind geboren wurde – falls sie denn mit einem gesegnet war –, würde sein Grab aussehen wie all die anderen.

Er hatte sich einen Sohn gewünscht. Er hatte die Untaten seines Bruders nicht hingenommen, als so viele nur die Schultern gezuckt hatten, und er hatte versucht, Mr James Russell am Erben zu hindern.

Sie kniete vor dem Grabstein nieder und fuhr mit dem Finger die Linien entlang, die sein Leben einrahmten. Das Kind wird nicht dein Blut haben. Stumm formte sie die Worte. Vielleicht nicht einmal meins. Aber es wird als Russell aufwachsen, und es wird deine Linie ehren. Sonderbar, wenn man es sich überlegte. Selbst eine lieblose, kaum erwähnenswerte Ehe konnte etwas Würdiges hervorbringen. Mr Russell hatte sie in der Hoffnung auf einen Erben geheiratet, und sie würde dafür sorgen, dass er einen bekam.

»Ich habe mich schon gefragt, wann ich Sie hier finden würde.« Da stand Mr Atkins, der soeben mit einer Heckenschere durchs Tor getreten war. Die Nachmittagssonne fiel hell auf ihn und ließ seinen Umriss und seine Züge in besonderem Glanz erstrahlen. So, als wäre er ein Engel, der auf Erden unter den Toten arbeiten musste.

Martha hockte sich hin. »Ich bin nachlässig gewesen.« Sie klopfte sich die behandschuhten Hände ab.

»Das wollte ich damit nicht andeuten. Vergeben Sie mir meine Wortwahl.« Seine Füße kamen näher, bis nur noch eine Grabreihe sie trennte. Sie hörte, wie er zögerte, dann umkehrte und sich dem Grab eines Rodney Russell zuwandte, vor dem er sich hinkniete und ein wenig Unkraut abschnitt.

Ihr Blick auf ihn wurde zum Teil durch den nächsten Grabstein versperrt, auf dem – wie auch eines Tages auf dem ihren – der Name Mrs Richard Russell eingraviert war. Geliebte Ehefrau stand auch darauf. Diese Worte würden bei ihr vielleicht weggelassen werden. »War seine erste Ehe glücklich?« Die Frage drängte sich ohne Umsicht hervor.

Mr Atkins wandte sich nach ihr um, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. »Ich glaube schon. Ihr Tod war jedenfalls ein entsetzlicher Schlag für ihn.« Die Heckenschere sang in der folgenden Pause weiter. »Ab jenem Zeitpunkt … wurden seine Angewohnheiten deutlich schlimmer.« Auch er sprach beinahe unfreiwillig; der Gedanke stahl sich hervor, ergriff von seiner Zunge Besitz und brachte die bisher stille Friedhofsluft in Unruhe.

»Mir war nicht bewusst, dass Sie davon wussten.« Sie kniete sich wieder hin; ihre Beine brauchten plötzlich alles an festem Grund unter sich, was sie bekommen konnten.

»Ich habe früh gelernt, die Symptome zu erkennen.« Er hielt die Schere still, saß einfach da und betrachtete sie eine Sekunde lang oder auch fünf. »Wenn ich Sie etwas sehr Zudringliches fragen darf …« Er blickte auf und erwiderte ihren Blick, die Augenbrauen schräg wie jener Akzent, mit dem die Franzosen ihren Buchstaben E markieren. »Ich habe ihn nie für gewalttätig gehalten. Ich habe mich hoffentlich nicht geirrt?«

»Er war nicht gewalttätig.« Ihr Körper war wie steif gefroren, unbeweglich wie die Steine auf den Gräbern und jene, die unter ihnen lagen.

»Gut.« Er ließ den Blick wieder auf das Werkzeug sinken und nahm es gedankenverloren in die andere Hand. »Keine Frau sollte gezwungen sein, das zu ertragen.« Sie konnte beinahe die Erinnerungen hinter seinen Worten sehen, wie eine böswillige Wolke um seine Schultern. So eifrig hatte sie Dinge vor ihm verborgen und nie innegehalten und sich gefragt, welche Geheimnisse er seinerseits haben mochte. »Ich hätte Ihnen ein besserer Freund sein sollen, da ich Ihre Umstände kannte.«

»Sie waren ein wunderbarer Freund.«

Er verzog den Mund und schüttelte den Kopf. »Ich bin davor zurückgeschreckt, ein Thema zur Sprache zu bringen, bei dem Sie sicherlich etwas Mitgefühl hätten gebrauchen können.«

»Das sind wir beide. Wir haben beide die Schicklichkeit einer unschicklichen Vertrautheit vorgezogen. Sie haben sich nichts vorzuwerfen.« Und die Schicklichkeit stellte jetzt weniger harte Anforderungen. In Zukunft würden sie offener miteinander sprechen können. »Es tut mir leid, was Sie gelitten haben müssen. Haben Sie je zu jemanden davon gesprochen?« Das hatte Mr Mirkwood sie gefragt, ohne viel Erfolg.

»Mein Bruder und ich sprechen davon, wenn wir uns treffen.« Er strich sich das Haar aus der Stirn, das ihm immer wieder ins Gesicht fiel. Er hatte seinen Hut nicht wieder aufgesetzt. »Inzwischen können wir sogar über manche Dinge lachen, ehrlich gesagt.« Mit der anderen Hand benutzte er wieder die Schere und bückte sich, um das Gras neben dem Grabstein zu kürzen. »Unsere Mutter hatte Mittel und Wege, zurechtzukommen. Mein Bruder wollte nach Oxford gehen, obwohl alle männlichen Atkins in Cambridge gewesen waren. Allein hätte er Vater niemals herumgekriegt. Genau genommen hat er das auch nicht.« Er erzählte die Geschichte mit derselben sorgfältigen Liebe zum Detail, mit der er das Gras schnitt. »Eines Tages sagte Mutter Vater einfach, er habe Oxford zugestimmt. Und sein Erinnerungsvermögen war derart, dass er nie erkannte, dass er das nicht hatte.«

Ihre Handschuhe fühlten sich an, als würden sie aus den Nähten platzen, so fest ballte sie die Fäuste. Ihr Herz brach ihr fast die Rippen. Von jetzt an würde sie aufrichtig sein. Sie würden eine bessere Freundschaft aufbauen, eine wahre Freundschaft, voller Offenheit und Aufrichtigkeit, wo Täuschung und Unaufrichtigkeit gewesen waren. »Mr Atkins.« Ihre Stimme klang hoffnungsvoll.

»Mrs Russell.« Seine Handfläche streckte sich ihr abwehrend entgegen. Sein Gesicht wandte sich ihr nicht zu. »Ich darf es nicht wissen. Sie verstehen doch, oder? Ich darf es nicht wissen.« Langsam, als Antwort auf ihr Schweigen, senkte sich seine Hand wieder auf das Gras und die Schere schnippte weiter.

Aber ganz offensichtlich wusste er es. Und die Botschaft war eindeutig: Offenheit zwischen ihnen konnte nur so weit gehen.

Enttäuschung wirbelte ihre Eingeweide auf wie den Sand eines aufgewühlten Flussbetts. Ohne guten Grund. Verschwiegenheit war etwas Respektables. Man konnte ja nicht wie Mr Mirkwood alles unverblümt aussprechen, was einem in den Sinn kam.

Ihre Fäuste lösten sich, sie verschränkte die Finger und ließ das Klappern der Schere und die entfernten Rufe von Schafen die Pause füllen, bis er wieder sprach.

»Sie sollten wissen, dass ich darüber nachdenke, die Kirche zu verlassen. Als Beruf, meine ich«, fügte er auf ihren offenbar erstaunten Blick hastig hinzu. »Ich glaube, ich möchte mehr Zeit in die Schule stecken.«

»Das Unterrichten liegt Ihnen.« Ja, davon konnten sie frei sprechen.

»Ich habe das Glück gehabt, die Arbeit zu finden, für die Gott mich geschaffen hat.« Ein spitzbübisches Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. »Das ist meine Antwort für alle, die meine Entscheidung missbilligen. Ziemlich schwer zu bestreiten, oder?«

»Ich würde den Versuch niemals wagen. Aber werden Sie zurechtkommen?« Sie lehnte sich vor, um ihn an Mrs Richard Russells Grabstein vorbei besser sehen zu können. »Ich werde Ihr Gehalt selbstverständlich erhöhen, wenn ich kann, doch bis die Nachfolge von Seton Park geklärt ist, steht das nicht in meiner Macht.«

»Das wird nicht nötig sein. Mr Mirkwood ist äußerst freigiebig gewesen. Wenn Sie mir eine Kate zu dem Preis verpachten wollen, den die anderen Pächter genießen, dann werde ich mit dem Gehalt von Seton Park und Pencarragh und mit ein bisschen Landwirtschaft sicherlich zurechtkommen.« Mit der Zufriedenheit eines Mannes, der seine Zukunft kennt, fuhr er fort, das Gras zu schneiden.

Wann hatte Mr Mirkwood ihm ein Stipendium angeboten? Er musste ihm ohne sie einen Besuch abgestattet oder ihm geschrieben haben. So oder so war es sehr großzügig von ihm. Das würde sie ihm sagen. Er würde sie am Nachmittag besuchen, unter irgendeinem Vorwand, der etwas mit Milchwirtschaft zu tun hatte, und sie würde dafür sorgen, dass er erfuhr, wie sehr er sie erfreut hatte.

Keine Lust, so hatte es sich gezeigt, befriedigte einen Mann so sehr wie die Lust, die erst erblühte, nachdem die Wertschätzung Wurzeln geschlagen hatte. Vielleicht hätte er das sein ganzes Leben lang nie erfahren, wenn er nicht nach Sussex ins Exil geschickt worden wäre. Jetzt erlaubte er sich, wenn er seinen Gedanken nachging, die Vorstellung, diese Köstlichkeit für den Rest seines Lebens zu genießen.

Lincolnshire würde ihr gefallen. Sie würde dort all die Annehmlichkeiten von Seton Park vorfinden – Getreide, Vieh, Pächter, eine zu vergebene Pfarre –, und wenn sie jemals Heimweh nach Sussex bekam, bräuchten sie bloß für eine Weile nach Pencarragh zu kommen. Vielleicht würde ihr sogar London gefallen, mit seinen Vorträgen und Bibliotheken und großen Enklaven der Armut, die nur darauf warteten, dass fleißige Frauen von nobler Gesinnung die Ärmel hochkrempelten und die Dinge in Ordnung brachten.

Über das leider äußerst anschauliche Pamphlet über die Symptome von Kuhpocken hinweg sah er sie an. Hinter ihren Mitteilungen an das Landwirtschaftsministerium betrachtete sie ebenso oft diesen oder jenen Teil von ihm. Sein Besuch war höchst angenehm verlaufen, und nun lümmelte er nackt auf dem Bett im Blauen Zimmer herum, das Kissen gegen einen der Bettpfosten gelehnt. Sie saß mit dem Rücken zum Kopfende, die Überdecke bis unter die Achseln gezogen. Ein immerwährendes Lächeln umspielte dieser Tage ihre Lippen, und das sollte es wohl.

Am Anfang hatte sie seinen Anblick nicht ausstehen können. Noch ein Triumph. Ein wenig schadenfrohe Selbstgefälligkeit würde sie ihm wohl verzeihen. »Siehst du etwas, was dir zusagt?«, fragte er, während er nachlässig umblätterte.

Sie errötete. »Dein Körper ist so anders als meiner.« Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht. »Ich fand dich anfangs seltsam, doch jetzt erkenne ich eine gewisse Logik in deinem Aufbau.«

»Ich bin froh, das zu hören.« Er ließ das Kuhpocken-Pamphlet ein oder zwei Zentimeter sinken. »Hat deine Ehe dich denn nicht mit der männlichen Anatomie vertraut gemacht?«

»Oh doch.« Ihre geschürzten Lippen verrieten ihm, wie sie darüber dachte. »Aber wie es aussieht, kann ein Mann sich in nicht unerheblicher Weise von einem anderen unterscheiden.«

»Der eine könnte ein größeres Anhängsel haben, meinst du?«

»Das ist überhaupt nicht das, was ich meinte.« Ihre Mundwinkel zuckten dennoch. »Obwohl es dich sicher freuen wird, zu hören, dass du meinen verstorbenen Mann darin übertriffst.«

»Liebes, ich übertreffe die meisten Männer darin.«

»Herzlichen Glückwunsch.« Sie legte ihre Lektüre ganz beiseite. »Was ich meinte, hat eher etwas mit der Reaktion der Frau zu tun. Ob Glieder ansehnlich oder unansehnlich sind, hängt hauptsächlich davon ab, wer sie bewohnt.« Ihre Augen wanderten kurz zur Überdecke. »Manche … Akte … scheinen bei dem einen Mann geschmacklos, aber nicht gänzlich unangemessen bei einem anderen.«

»Akte.« Plötzlich musste er sich räuspern. »Und was für Akte wären das genau?«

»Frag doch dein Anhängsel.« Ihr Gesicht nahm einen boshaften Ausdruck an. »Es scheint ein paar Ideen zu haben.«

In der Tat schoss sein Blut jetzt mit vereinten Kräften dorthin, wo es am meisten ausrichten konnte. »Mein Anhängsel hat immer Ideen, und es ist noch nie mit einem Akt konfrontiert worden, der ihm nicht gefallen hätte.« Vorsichtig legte er das Kuhpocken-Pamphlet beiseite. »Ich bin immer noch gespannt.«

Ihr Blick enthielt jedes weibliche Geheimnis, das die Welt je gekannt hatte. Ihre Lippen täuschten ein Lächeln an, gaben ihm aber doch nicht ganz nach. Ohne Eile drückte sie ihre Schultern vom Kopfende des Bettes weg und setzte sich auf. Die Decke wogte wundervoll, als sie sich hinkniete. Dem Schicksal sei Dank.

Sie blickte auf und nieder. »Du badest es hin und wieder, hoffe ich?« Mrs Russell mit Leib und Seele.

»Täglich. Mit genau diesem Zweck im Sinn.«

»Weil du jederzeit einer Dame begegnen könntest, die es in den Mund nehmen will?«

»Ich bin ein optimistischer Mensch.« Er streckte eine Hand aus und berührte sie am Arm. »Hast du das schon mal gemacht?«

Sie nickte.

»Aber nicht mit Freuden, vermute ich?« Als sie den Kopf schüttelte, schloss er die Finger um ihren Arm. »Martha, wenn du es unangenehm findest, dann tu es nicht. Ich brauche es nicht.«

Ihre Stirn runzelte sich. Eine Weile lang starrte sie ihn an, der gewohnte Ernst in einem ungewohnten Kontext. Dann lehnte sie sich vor, die Decke noch immer unter den Armen, und legte die Lippen an seine empfindlichste Stelle.

Hölle. »Martha.« Sie drehte den Kopf, noch immer gebeugt, und blickte zu ihm auf wie eine Bittstellerin aus seinen schmutzigsten Träumen. »Ich werde nicht wollen, dass du aufhörst, wenn du einmal angefangen hast.«

»Das kann ich mir auch nicht vorstellen.«

»Das musst du aber. Wenn du es unangenehm findest, musst du aufhören, auch wenn ich dich anflehe, weiterzumachen. Versprich es mir.«

»Ich verspreche es.« Ganz rehäugiger, nackter Gehorsam, seine Bittstellerin. Die Decke bedeckte ihre Vorderseite, aber die entzückende Kurve ihres Rückens lag frei vor seinen Augen.

»Also dann.« Er ließ sich etwas tiefer in sein Kissen sinken und schloss die Augen, lauschte mit dem ganzen Körper auf den Augenblick, in dem sie – Da! Ihre Lippen berührten ihn und hinterließen eine funkelnde Spur unter seiner Haut. Dann eine schmalere Berührung, die nur von ihrer Zungenspitze herrühren konnte. Dann nichts. Ihr Atem. Er spürte ihren Atem, ruhig und warm, wo ihre Zunge seine Haut befeuchtet hatte.

Er wartete. »Ist es …?« Die Worte kamen rau und unsauber. »Hast du es dir anders überlegt?«

Sie antwortete mit der Zunge. Er zuckte unter ihr. Dann glitt er den Bettpfosten hinab, bis er flach auf dem Bett lag. Wieder hielt sie inne und atmete.

Gütiger Himmel. Sie würde ihn umbringen. »Bitte«, flüsterte er. Er hatte nicht erwartet, schon so bald zu betteln.

Ihr Atem erreichte ihn ungleichmäßig. Gelächter. »Ist das ein Befehl?«

»Was immer deinen Mund am schnellsten zurückbringt, Frau! Ich hatte an ein Flehen gedacht. Aber wenn dir ein Befehl lieber ist, dann ja. Beglücke mich unverzüglich. Ich befehle es.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Still wie ein See lag er da und spürte die Berührung ihres Munds, hier und da, wie vereinzelte Regentropfen auf der ruhigen Wasseroberfläche, der sanfte Anfang von etwas, das zu einer Sintflut werden würde. »Am Ende ist es am besten«, murmelte er. »Da, wo es rund ist. Vor allem an der Unterseite. Da fühlt es sich am besten an.«

»Geduld.« Sie sprach gegen seine Haut, und er spürte die Silben. Verspielt und ohne Eile arbeitete sie sich vom Ansatz seines Geschlechts zu dessen Kopf und erforschte ihn mit Lippen und Zunge. Geduld! Sein Körper stand bereits in Flammen, reckte sich um den knappen Zentimeter, der fehlte, wenn sie so grausam war, ihren Mund wegzunehmen. Er würde es nicht überstehen. In dem Augenblick, wo sie ihn in den Mund nahm, würde es ihn zerstören – oder – ah – vielleicht doch nicht. Vielleicht würde er es noch ein paar Sekunden aushalten. Zur Hölle. Hatte Mr Russell ihr das beigebracht? Diese schnellen, boshaften Muster, die ihre Zunge beschrieb? Die Art, wie ihre Lippen sich über ihm schlossen und ihn willkommen hießen? Er würde dem Mann im Jenseits dafür danken müssen. Vor allem dafür.

Er hob seine Hände und vergrub die Finger in ihrem offenen Haar, spielte mit den Fingerspitzen über ihre Kopfhaut, so wie sie es mochte. Sie würde noch mehr Freuden erleben, in ein paar Minuten. Dafür würde er sorgen. Hiernach konnte sie kaum ablehnen.

Eine Sekunde noch konnte er aushalten. Nein, zwei. Und drei. Und – Nein. Hier war die Grenze. Seine Hände glitten hinab und hielten ihren Kiefer, legten sich dann auf ihre Schultern. Verwirrt blinzelte sie ihn an, als er versuchte, sie unter sich zu bekommen, die Decke wegzuzerren, sich an die richtige Stelle zu bringen. »Samen«, erklärte er heiser und gab ihn ihr, nur eine halbe Sekunde, bevor er ihn dem Laken hätte geben müssen.

Sonderbare Bilder kamen und gingen auf dem langen Weg zurück ins Bewusstsein. Ein Kind. Mehr als eins. Sie kamen nach ihm und nach ihr, in allen möglichen Kombinationen. Ein Junge, groß und blond, aber mit kaffeefarbenen Augen. Ein Mädchen mit tadelloser Haltung, die Strenge seines Gesichts gemildert durch einen Mund, der zum Lachen aufgelegt war. Ein Kind nach dem anderen, eins hübscher als das andere.

Er stieß sich von ihr ab und sank an ihrer Seite auf die Matratze. Eine Hand hob sich, streichelte ihre Wange und klemmte eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr. Er hatte ihr etwas zu sagen. Doch zuerst hatte er etwas zu tun.

Ihre Stirn kräuselte sich, als er sich aufsetzte und die Arme unter sie schob; einen hinter ihre Schultern, den anderen unter ihre Knie. Sie runzelte die Stirn, als er aufstand und sie hochhob, doch sie sagte keinen Ton. Erst, als er sie in den Sessel setzte und ihn vor den größten Spiegel im Raum zog, sprach sie. »Was tust du?« Ja, das würde den Rest seines Lebens die einzig angemessene Antwort einer überraschten Frau bleiben.

»Sieh zu und entdecke! Leg dein Bein über die Lehne. Egal welches.«

Ein Beben durchfuhr sie. »Das will ich nicht. Ich möchte nicht hinsehen.«

Weniger Befehl. Mehr Überredung. Er veränderte seine Stimme. »Ich zeige dir etwas Sehenswertes. Versprochen. Aber lass dich solange ansehen.« Er stellte sich hinter den Sessel, einen Arm auf der Rückenlehne, und lehnte sich vor, um ihr ins Ohr zu sprechen. »Wie gebieterisch du aussiehst, wenn du so dasitzt! Sieh dein Gesicht an. Oder meins.« Im Spiegel lauerte er hinter ihr, und eine Hand schlängelte sich die Rückenlehne hinab, die Armlehne entlang. Er lehnte sich nach links, griff weiter und erreichte ihr Knie. Ihre Lippen pressten sich zusammen. »Ich wünschte, ich hätte eine Krone, die ich dir aufsetzen könnte. Du musst dich jetzt wie eine Königin fühlen.«

»Bist du mein König?« Ihr Blick, im Spiegel, haftete fest auf seinem.

Er schüttelte den Kopf. »Stallbursche.« Sie sträubte sich nicht, als er ihr Knie anhob und ihr Bein über die Stuhllehne legte. »Großer, bärenstarker Stallbursche, der der Königin aufgefallen ist, und dessen Dienste in ihren Gemächern benötigt werden.«

»Das ist ja schockierend von mir.« Ein weiteres Beben durchfuhr sie, ein besseres diesmal.

»Du bist eine entsetzlich schockierende Königin.« Er ließ sie sehen, wie sein Blick ihr Spiegelbild hinabwanderte, ihren nackten Körper hinab, bis dorthin, wo sie am allernacktesten war. »Jeder Mann im Palast, vom Premierminister bis hin zum Rattenfänger, kennt deine Vorlieben und lebt in der Hoffnung, eines Tages auserkoren zu werden.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich das gutheiße. Bin ich verheiratet?«

Sie dachte zu viel nach. Wie immer. »Nur auf dem Papier.« Er drückte seinen Mund auf ihre Schulter, auf die empfindsame Haut in ihrem Nacken. »Der König kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten, solange du ihm keine Bastarde schenkst. Und das werden wir nicht.« Er bedeckte ihre Schulter und ihren Arm mit Küssen, während er sich hinter dem Sessel hervorwand und mit teuflischer Anmut seinem Vorhaben entgegenschritt.

»Jetzt kommt der Teil, den du sehen solltest«, sagte er und sank vor ihr auf die Knie. Hin und zurück wanderte ihr Blick, von seinem Gesicht zum Spiegel. Sie war erblasst; vor welchem Gefühl, vermochte nur sie selbst zu sagen. Noch blasser waren die Innenseiten ihrer Schenkel, auf die er seine aufgefächerten Finger legte. Und dazwischen, natürlich, das errötete Rosa ihres süßesten Fleisches.

Er neigte den Kopf und legte seinen Mund auf sie. Sie sog überrumpelt die Luft ein. Gut. Dann war er der Erste. »Schande über deinen nachlässigen Mann!« Er zog sich gerade weit genug zurück, um es sagen zu können, und dann gab es nichts mehr zu tun, als sie wahnsinnig zu machen, während er sich in ihr verlor, in diesen zarten Körperteilen, so geheim, so vorzüglich, so offensichtlich für seine Zunge gemacht.

Ihr Körper öffnete sich ihm wie eine exotische Blume. Sie legte eine Hand auf seinen Hinterkopf und schob sich an die Sesselkante, um mehr von ihm zu bekommen, um alles zu bekommen, was er zu geben hatte.

Und er hatte jede Menge. Er schob ihr zweites Bein über die Armlehne, um sie weiter zu öffnen – sie leistete nicht mehr den geringsten Widerstand – und legte die Hände auf ihre Hüften, um sie festzuhalten, wenn sie sich bewegen wollte. Vermutlich würde sie darüber entrüstet sein, doch je besser er Geschwindigkeit und Druck beherrschte, desto länger konnte er es aufrecht, erhalten.

Sie wehrte sich gegen seinen Griff, gab ihrer Frustration mit kehligen, animalischen Lauten Ausdruck. Er trieb sie stärker an, höher, seine gnadenlose Zunge war an drei Orten zugleich, seine gnadenlose Hand hielt sie fest. Jede Bewegung, die er vereitelte – jede Drehung, jeder Stoß –, lief wie eine Welle durch ihren ganzen Körper. Sie trat und strampelte, nicht länger Mensch, nicht einmal Tier, sondern Element, pur und wütend unter seiner Berührung. Luft, Feuer, Erde, Wasser: sein Wirbelwind, seine Feuersbrunst, seine Lawine, sein Taifun.

Was war er doch für ein selbstsüchtiger Mann. Selbstsüchtig hielt er sie in ihrer eigenen Lust gefangen, selbstsüchtig, denn es war sein eigenes aufkeimendes Bedürfnis, das ihn schließlich veranlasste, seinen Griff zu lockern und sie von dem Höhepunkt, auf dem er sie festgehalten hatte, über den Rand hinunterließ.

Sie rang nach Luft. Mit wildem Blick sah sie in den Spiegel, und dann hinab, dorthin, wo er noch immer zwischen ihren Beinen kniete. »Das war …« Wieder in den Spiegel. »Das war …« Wieder in sein Gesicht. »Was war das?«

»Der Frauen größtes Kunststück. Ich wünschte, bei Gott, du könntest es mir beibringen.« Er kam auf die Füße, hob sie dabei auf und trug sie zum Bett. »Und nun, Mylady, bin ich Euer König. Der königliche Samen muss eingepflanzt werden, und die königliche Lust duldet keinen Widerspruch.«

In diesem Augenblick war sie nicht die Frau, einem Mann irgendetwas abzuschlagen. Sie legte sich aufs Bett und nahm ihn, alles von ihm, zum dritten Mal an jenem Nachmittag. Verdammt noch mal, er fühlte sich wirklich wie ein König. Sie gab ihm das Gefühl, dass er das immer schon gewesen war, dass er sich durchs Leben geschlagen und nur darauf gewartet hatte, dass sie ihn mit ihrem Kuss aus irgendeiner Verzauberung erlöste und ihm zu seinem Geburtsrecht verhalf. Er ergoss sich in sie – der Atem blieb ihm im Halse stecken, die Zeit stand still – und rollte von ihr herab, zog sie an seine Brust und legte das Kinn auf ihren Scheitel.

»Martha«, sagte er mit dem ersten ruhigen Atemzug, »ich liebe dich.«

Sein Puls pochte an seinem Hals, keine zwei Zentimeter von ihren Augen entfernt. Die Halsschlagader, oder? Oder die Drosselvene? Innere Anatomie kam im Schulstoff für Mädchen nicht vor. Aber sie könnte es nachschlagen. Jedenfalls sah der Puls beschleunigt aus.

Sie schloss die Augen.

Damit hatte man rechnen müssen. Es hatte gewisse Anzeichen gegeben. Und er war von Natur aus warmherzig. Ein Monat in der ausschließlichen Gesellschaft egal welcher Frau hätte vermutlich zu diesem Ergebnis geführt. Zweifellos würde es vorübergehen, wenn er sich wieder unter den schönen Zerstreuungen Londons befand.

Ihr Herz, das ihm so zugetan war, wie es ein vernünftiges Herz nach nur einem Monat der Bekanntschaft überhaupt sein konnte, verlangte, dass sie sprach. Sie hatte selbst eine wichtige Neuigkeit.

Behutsam zog sie sich so weit zurück, dass sie ihn anständig ansprechen konnte. »Ich muss dir etwas sagen.«

Wie standen die Chancen, dass das der Auftakt zu Ich liebe dich auch war? Nicht gut. Er nickte und wartete ab.

»Meine Periode ist seit fünf Tagen überfällig. Ich glaube langsam, dass ich guter Hoffnung bin.« Ihr Gesicht glühte, wie es in letzter Zeit häufig vorgekommen war. Das war also die ganze Zeit der Grund gewesen.

»Martha, ich liebe dich.« Das hatte er bereits gesagt. »Ich will dich heiraten.«

Sie legte eine Hand, sanft und mitfühlend, an seine Wange. Er verspürte den entsetzlichen Drang, sie wegzustoßen. »Du hast mich gern.« Wie eine weise Erwachsene, die einen irrenden Jungen korrigierte. »So wie ich dich. Aber wir haben beide von Anfang an gewusst, wie weit diese Abmachung gehen darf. Sie kann nicht in so etwas wie Hochzeit enden.«

»Ich spreche nicht von so etwas wie Hochzeit.« Nur mit Mühe behielt er die Ruhe. »Es gibt nichts wie Hochzeit. Es gibt nur Hochzeit, und ich wüsste nicht, was in unserer Abmachung sie ausschließen sollte. Das kann nur dein Herz.«

»Mein Herz hat dabei nichts zu sagen.« Die Worte hätten einem Fiebernden eine Gänsehaut verursachen können, wenngleich ihr Tonfall warm und ernst wurde. »Ich habe geschworen, Seton Park nicht in Mr James Russells Hände fallen zu lassen. Ich kann nicht heiraten und es aufgeben.«

»Warum, um alles in der Welt? Wird er es dem Erdboden gleichmachen? Was befürchtest du von ihm?«

Sie zögerte, presste die Lippen zusammen. Würde sie ihm noch nicht einmal das verraten? »Ich habe nichts zu befürchten«, sagte sie abrupt. »Aber ich fürchte, die Hausmädchen schon. Ich weiß, dass er sich in der Vergangenheit der Niedertracht schuldig gemacht hat.«

Aha. Das hatte sie also dazu bewogen, etwas zu tun, was ihr anfangs völlig zuwider gewesen war. Er hätte sich denken können, dass es ein derartiger Kreuzzug gewesen war. »Aber du kannst nicht sicher sein, was er in Zukunft tun wird. Und muss die Verantwortung für die Sicherheit der Mädchen ganz allein auf dir lasten?«

»Wer wird sie tragen, wenn nicht ich?« Mit jedem Wort wurde ihr Entschluss, ihre Pflicht zu erfüllen, fester. »Niemand interessiert sich für das Wohlergehen dieser Frauen. Frag deine Mrs Weaver. Und ich werde das Risiko nicht eingehen. Der Einsatz ist zu hoch.« Jedes Wort trieb ihn weiter von ihr fort. Sie hatte diese zentrale Mission vor ihm verborgen. Offenbar hatte Mrs Weaver ihr etwas anvertraut, und sie hatte ihn nicht eingeweiht.

»Martha.« Er würde jetzt nicht nachfragen, was es war, und sich von seinem Ziel ablenken lassen. »Ich glaube, ich könnte mit dir glücklich werden.« Am besten sagte er es rundheraus. »Ich hoffe, dass du mit mir glücklich werden könntest. Du und ich und das Kind sind eine Familie. Willst du das wirklich alles wegwerfen?«

Sie schluckte. Er sah – er fühlte tief in der Magengrube, wie sie die Hoffnung aufgab, dass er sie je verstehen würde. »Es gibt wichtigere Dinge, als glücklich zu sein.« Die Familie erwähnte sie nicht.

Er rollte sich auf den Rücken. Der Betthimmel füllte sein Blickfeld, blauer Brokat, kaum schwerer zu beeinflussen als die Frau neben ihm. Er hatte es kommen sehen, dieses absurde Ende. Was er nicht hatte kommen sehen, war, dass der Brunnen brusttief mit eisigem Wasser gefüllt sein würde, das jeden Atemzug zu einem Kampf machte. »Willst du nicht wenigstens sagen, dass du mich nimmst, wenn es ein Mädchen wird?« Das Bild kehrte mit schmerzhafter Klarheit zurück, ein Mädchen mit ihrer Haltung und seinem Lächeln.

»Das kann ich nicht.« Etwas Neues färbte ihre Worte. Scham. »Wenn ich keinen Jungen bekomme, beschaffe ich mir auf anderem Wege einen.«

»Herrgott!« Sie zuckte zusammen, doch er konnte nicht anders. »Bist du dazu wirklich fähig?«

»Ich bin zu allem fähig, was nötig ist, um das Vertrauen aufrechtzuhalten, das diese Frauen in mich haben.« Ihre Stimme bekam einen scharfen Beigeschmack, wütend und verzweifelt. »Ich hatte gedacht, dass wenigstens du weißt, dass das die Wahrheit ist.«

Natürlich. Jetzt würde sie ihr gesamtes Verhältnis einschließlich der himmlischen letzten paar Tage als etwas umdeuten, das sie zähneknirschend und stolz für andere ertragen hatte.

Erschöpfung überkam ihn wie eine triefende Wolldecke. Er hatte keine weiteren Fragen. Wo genau sie einen Jungen herzubekommen gedachte – nicht sein Problem. Was sie über Mrs Weaver wusste – das ging ihn nichts an. Es war ihm nahegegangen, bis zur Erschöpfung, und jetzt würde es ihn nicht mehr kümmern.

»Dann bleibt mir nichts, als dir Glück zu wünschen.« Noch ein gemeiner Gedanke kam ihm und landete wie ein scharfes Geschoss in seiner Wurfhand. »Und dem Pfarrer, vermutlich.«

»Wie bitte?« Gott im Himmel, das stachelte sie mehr an als alles, was vorangegangen war. Sie drehte sich zu ihm um, die Augen zusammengekniffen, die Stirn gerunzelt.

»Darauf wird es doch wohl hinauslaufen.« Er zuckte die Schultern und setzte sich auf. »Mehrere Jahre der keuschen Gespräche und sehnsüchtigen Blicke, dann, nachdem eine anständige Trauerzeit verstrichen ist, die Erfüllung der romantischen Träume, die du vermutlich seit – was würdest du sagen? – einem Monat nach deiner Ankunft hier hegst.«

Sie schnellte hoch, doch er war ebenso schnell auf den Füßen, griff nach seinem Hemd und sah sie nicht an.

»Du tust Mr Atkins und mir entsetzliches Unrecht.« So hatte ihre Stimme noch nie geklungen. Interessant. »Pure Freundschaft zwischen einer Dame und einem Gentleman ist dir wohl völlig fremd, aber –«

»Freundschaft.« Er zerrte sich das Hemd über den Kopf. »Wenn du es so nennen willst.«

»Du hast ja keine Ahnung, wovon du sprichst.« Aus den Augenwinkeln konnte er sie sehen, blass, starr und kalt wie Alabaster. »Mr Atkins ist ein würdiger, ehrenwerter Mann. Ich halte es für ein Privileg, ihn zu beschäftigen.«

Beschäftigen. Zum Teufel damit. »Du beschäftigst seine rechte Hand vermutlich einen ganzen Abend lang, das glaube ich dir.« Er schnappte sich seine Hosen.

Ihr Schweigen hatte Gewicht und Textur; es erstreckte sich über mehrere Sekunden. Zweifellos rang sie um Fassung. »Glaub nicht, dass ich auf solch eine gemeine, niederträchtige Bemerkung antworten werde«, sagte sie schließlich. »Wenn du dich wieder respektabel gemacht hast – wenn du dich angezogen hast, besser gesagt –, darfst du gehen. Ich werde für dich nicht mehr zu sprechen sein, weder morgen noch an irgendeinem anderen vorstellbaren Tag.« Sie würdigte ihn keines Blicks.

Zorn und – verdammt, er sollte es besser wissen – törichte Trauer zerrissen sein Innerstes. In einer Zeitspanne von fünf Minuten hatte er das wenige zerstört, das sie gehabt hatten. Sie hätten noch ein paar Tage weitermachen und sich wenigstens in Freundschaft trennen können.

Nein. Kein Quäntchen Bedauern mehr, keinen Tropfen Gefühl an eine Frau verschwenden, die es niemals würde erwidern können. Verdammt noch mal, ein Mann hatte schließlich auch seinen Stolz. Ohne Eile knöpfte er sich die Hosen zu, sperrte den Körper weg, der sie so beleidigte. Krawatte. Weste. Strümpfe. Stiefel. Stück für Stück bedeckte er sich, so ruhig und methodisch, als sei er allein im Raum.

Als er vor dem Spiegel innehielt, ergriff ihn ein letzter grausamer Impuls. Mit einer ausladenden Geste, die sie nicht übersehen konnte, zog er sein Taschentuch hervor und wischte sich ihren Geschmack von den Lippen. Dann warf er das verkrumpelte Leinen weg – so endete es also – und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.