10
»Guten Morgen, Mrs Russell. Dieser Brief ist versehentlich bei mir abgegeben worden. Ich habe das Siegel aufgebrochen, bevor ich bemerkte, dass er an Sie gerichtet sein muss. Würden Sie bitte nachschauen und mir bestätigen, dass es Ihrer ist? Oder muss ich ihn noch weiter durch die Nachbarschaft tragen?«
Was um alles in der Welt sollte das? Es konnte kaum zehn Uhr morgens sein. Zu welchem Zweck war er so früh aufgestanden und spielte ihr jetzt diese ach so respektable Szene vor?
Mit einem Seitenblick auf den wartenden Diener ergriff Martha den Brief und faltete ihn auf. In der entsetzlichen Handschrift eines hochgeborenen Gentlemans war quer über das Papier gekrakelt: Wir müssen es jetzt tun. Können Sie es einrichten, sich in zehn Minuten oben mit mir zu treffen?
»Ja.« Sie hob wieder den Blick. »Ja, das ist tatsächlich mein Brief. Vielen Dank, dass Sie ihn mir gebracht haben.« Sie faltete ihn wieder und strich besorgt über die Knicke.
»Ich dachte es mir.« Einen Augenblick lang betrachtete er ihre arbeitenden Finger, und als er sprach, merkte sie, dass er sie beruhigen wollte. »Dann empfehle ich mich. Ich bin sicher, die Pflicht ruft Sie ebenso wie mich.« Mit einer Verbeugung und einem beinahe verschwörerischen Lächeln setzte er seinen Hut wieder auf und ließ sich vom Diener hinausgeleiten.
»Sie haben gestern zu gute Arbeit geleistet, als sie mich Granville vorgeführt haben.« Er schüttelte bereits den Frack ab. »Er glaubt, dass ich mich jetzt ernsthaft in die Verwaltung stürzen will. Ich soll heute und morgen mit zum Dreschen. Nicht, dass man nicht seit Tagen schon sehr gut ohne mich zurechtgekommen wäre – ich muss mit, und dann soll ich auch noch dabei sein, wenn er das Korn irgendwo zum Mahlen bringt, und Gott weiß was noch alles. Alle möglichen Schikanen, und jede einzelne scheint einen ganzen Nachmittag zu dauern. Ich wusste nicht, wie ich mich davor drücken sollte.«
»Überhaupt nicht.« Martha stand still und wartete, bis er sie ansah. »Mr Mirkwood, das sind ja wundervolle Neuigkeiten! Sie haben hart gearbeitet und sich mit Dingen befasst, die Sie nicht mögen. Das ist äußerst lobenswert. Ich habe gesehen, wie beeindruckt Mr Granville war, und dazu hat er auch jeden Grund. Sie sollten stolz auf sich sein.«
»Und Sie, meine Liebe, sollten sich ausziehen! Muss man denn hier alles selbst machen?« Er senkte den Kopf, um seine Weste aufzuknöpfen, doch seine ganze Gestalt strahlte vor Erfolg. Sie war zuversichtlich, dass sie ihn als besseren Menschen nach London zurückschicken würde.
Die Details arbeiteten sie aus, während er sich anzog. »Ich kann nicht davon ausgehen, dass ich jeden Tag zu dieser Zeit verschwinden können werde«, sagte er, während er sich die Hosen hochzog. »Vielleicht könnte ich nachts kommen, wenn das Gesinde schlafen gegangen ist. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, auf mich zu warten.«
»Haben Sie etwa vor, den weiten Weg hin und zurück mitten in der Nacht zurückzulegen?« Sie hob den Kopf vom Kissen, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
»Wovor sollte ich mich denn fürchten?« Ein nachsichtiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, bis es unter dem Hemd verschwand. »Vor Geistern?«, fragte er aus dessen bauschiger Tiefe heraus. »Zigeunern? Menschenfressenden Tigern?« Der Kopf kam wieder zum Vorschein, dann die Hände, erst durch die eine Manschette, dann durch die andere.
»Lachen Sie mich nicht aus! Vor allem nicht bei einem Thema, mit dem ich mich dank meiner Erfahrung auf dem Lande besser auskenne als Sie.« Das Genick tat ihr langsam weh in dieser Stellung. »Von Wilderern würde Ihnen Gefahr drohen, zum Beispiel.«
Er schüttelte abwehrend den Kopf, stopfte sich das Hemd in die Hose und schloss die Hosenknöpfe. »Ich habe kein Wild. Die hiesigen Wilderer sind doch gewiss nicht so dumm, auf meinem Land ihre Zeit zu verschwenden.«
»Es gefällt mir trotzdem nicht.« Sie ließ den Kopf zurückfallen. »Ich würde mir Sorgen machen.«
»Sparen Sie sich Ihre Sorgen für das Kind auf.« Die Matratze sank ein; er hatte sich auf die Ecke gesetzt, um sich die Krawatte zu binden. »Ich bin sicher, er wird Ihnen Grund genug geben, insbesondere wenn er nach mir kommt.« Der Stoff raschelte, als er die Lagen drapierte. Sie war beeindruckt, denn es gab weit und breit keinen Spiegel.
Als er vom Bett aufstand und sich in den Sessel setzte, vor dem seine Stiefel standen, ergriff sie wieder das Wort. »Warum können Sie kein Pferd nehmen, auf der Straße kommen und über Nacht bleiben? Dann wären Sie nicht so lange unterwegs und hätten nur einen Weg bei Dunkelheit. Ich kann mit meinem Mädchen sprechen, damit es einen sicheren Ort für das Pferd findet.«
Keine Antwort. Sie hob den Kopf und sah, dass er einen Stiefel betrachtete, die Wimpern gesenkt, und mit der Hand die Krempe richtete. »In Ihr eigenes Bett kommen, meinen Sie?« Er fragte, als wäre der Punkt unklar. »Und dort mit Ihnen schlafen?«
»Ich denke, das wäre das Beste. Sie können auf dem gleichen Weg kommen wie jetzt. Ich zeige Ihnen, wie man von hier zu meinen Wohnräumen gelangt. Ich gebe Ihnen einen Schlüssel. Natürlich müssen Sie dort … leiser sein, weil die Räume näher an den Dienstbotenquartieren liegen.«
Er antwortete nicht, sah sie nicht einmal an. Er machte den Stiefel fertig und zog ihn langsam an. Dann holte er sich den anderen. Er ließ sich Zeit damit, die inneren und äußeren Seitennähte seiner Hosen geradezuziehen.
Ob er … überlegte, wie er möglichst höflich ablehnen konnte? Vielleicht hatte sie ihn gekränkt mit der Ermahnung zur Ruhe. Oder vielleicht sprengte der Vorschlag die Grenzen ihrer Abmachung vollends? Aber woher sollte sie jetzt noch wissen, was sich gehörte und was nicht? Normalerweise war so etwas ja auch nicht ihre Art.
Er ließ von den Stiefeln ab und hob den Kopf. »Ja«, sagte er. »Das geht.« In einem Schwung hob er die Handschuhe vom Tisch auf und stand auf. »Aber ohne Pferd. Selbst, wenn wir es vor Ihren Stallburschen verheimlichen könnten – meine würden es auf jeden Fall bemerken. Ich nehme eine Pistole gegen die Wilderer mit, wenn Sie das beruhigt.« Er durchquerte den Raum, um sich seine Weste zu holen, und als er sich wieder umdrehte, war das alte freche Grinsen wieder da. »Ich fürchte, die Tage werden Ihnen endlos erscheinen ohne mich! Sie werden das Geplapper Ihres Damenbesuchs über sich ergehen lassen und insgeheim die Stunden bis zur Schlafenszeit zählen.«
»Ich werde nichts dergleichen tun!« Sie stützte sich auf die Ellbogen. »Selbst wenn ich Besuch bekäme, würde ich meine Gedanken niemals dermaßen abschweifen lassen.«
»Kein Besuch?« Er hielt inne, einen Arm in der Weste, den anderen draußen. »Aber Sie haben doch sicher Freundinnen in der Nachbarschaft?«
»Ich habe nicht wirklich Bekanntschaften geschlossen. Ich glaube, Sie haben gesehen, wie es ist. Die Leute sind freundlich zu mir, aber wir wahren die Distanz. Ich habe kein … einnehmendes Wesen, oder wie auch immer man jene Eigenschaften nennt, die geeignet sind, Zuneigung und Freundschaft zu begünstigen.« Wie holprig und ungelenk ihr die Worte über die Lippen kamen. Und welch törichte Reaktion. Es war doch gut, allein zu sein. Sie wollte nichts von ihren Nachbarn, außer ihrer guten Meinung.
»Trotzdem sollten sie Sie besuchen.« Er beschäftigte sich mit dem zweiten Arm. »Sie sind verwitwet. Es gehört sich so, ob sie Sie gut kennen oder nicht.«
Dass gerade er sich darüber Gedanken machte, was sich gehörte! Das Gespräch wurde immer absurder. Sie verkniff sich ein Lächeln und bemühte sich um einen neutralen Tonfall, um seine Gefühle nicht zu verletzen. »Grämen Sie sich nicht meinetwegen. Ich kann mich schon beschäftigen. Ich muss ja meine Pächter besuchen, und ich kann Mr Atkins bei den Vorbereitungen für die Schule helfen.«
Stirnrunzelnd zog er sich die Handschuhe an. »Sie sollten einen größeren Bekanntenkreis haben. Mehr Besuche machen als nur bei Ihren Pächtern und Ihrem Pfarrer.«
»Mag sein, aber das würde mein Arrangement mit Ihnen viel komplizierter machen. Wir hätten nachmittags nicht so ergiebig lernen können. Jetzt helfen Sie mir beim Anziehen, dann zeige ich Ihnen den Weg zu meinen Räumen.«
Diesmal war ihr Korb nicht so schwer, doch sein Inhalt verlangte immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Eine Kiste oder ein Korb mit einem Deckel wären geeigneter gewesen als das Tuch, das sie ständig zurechtziehen und neu feststecken musste. Nun denn. Beim nächsten Mal würde sie es besser wissen.
Am Montag würde die Schule beginnen, und am Sonntag darauf würde Mr Atkins zum ersten Mal den Versuch unternehmen, junge Mädchen zu unterrichten. Sie hatte sich überlegt, dass sie Mr Mirkwood dahingehend bearbeiten wollte, dass er einige seiner Kätner-Kinder anmeldete und vielleicht ein Stipendium stiftete, doch jetzt, wo er zeitlich so eingebunden war, nun, da musste man eben einige Dinge selbst in die Hand nehmen.
Die Bäume um sie herum flüsterten verschwörerisch in der leichten Brise, so als wollten sie sie anspornen. An einer Stelle, an der die Sonne auf eine Lichtung zwischen den Stämmen fiel, hielt sie wieder einmal an, um ein Paar winziger Klauen vom Korbrand zu lösen und ihren Besitzer zurück unter das Tuch zu schieben. Ein Kater war ein nützliches Haustier. Dieses Exemplar hätte sich sein warmes Plätzchen in Seton Park redlich verdient; jetzt würde es, wenn sein Glück anhielt, nicht nur die Genugtuung ehrlicher Arbeit erfahren, sondern auch die zärtliche Zuneigung eines kleinen Mädchens.
Rund zwanzig Meter bevor der Wald in ein Gebüsch und dann in offenes Weideland überging, kam die Kate der Weavers in Sicht. Marthas Atmung wurde unwillkürlich flacher; sie zwang sich zu tiefen, gleichmäßigen Zügen. Wie viel weniger beängstigend das doch mit Mr Mirkwood gewesen war, der sich überall wie zu Hause fühlte und sich sogar bei den Schweinen beliebt machte. Doch die Aufgabe konnte einen anspornen, selbst wenn man unterwegs ein wenig zauderte. Sie zog die Schultern zurück und ging weiter.
Klein Hiob war heute draußen, irgendwo hinter dem Haus, und schrie seinen Unmut jedem entgegen, der zuhörte. Martha öffnete das Tor. Das Schwein, mit dem Inhalt seines Trogs beschäftigt, hob gerade lange genug den Kopf, so konnte man jedenfalls meinen, um festzustellen, dass sie nicht Mr Mirkwood war, bevor es abschätzig grunzte und weiterfraß. Drei oder vier Gänse watschelten auf sie zu, offensichtlich am Inhalt des Korbs interessiert, und folgten ihr.
Mehrere Wäscheleinen waren im Zickzack über den Hinterhof gespannt, ungefähr zur Hälfte mit frischer Wäsche behängt. Die älteste Tochter stand über eine Kupferwanne gebeugt und rührte deren Inhalt mit einem Waschstab um, während vier andere Kinder damit beschäftigt waren, die kleineren vermutlich bereits gespülten Kleidungsstücke aus einer zweiten Wanne auszuwringen. Ihre Mutter hängte gerade eine Schürze auf; das Kind schrie in einem Korb zu ihren Füßen. Sie drehte sich um, vermutlich durch die immer unüberhörbarere Anwesenheit der Gänse auf Martha aufmerksam geworden, und stemmte wortlos die Hände in die Hüften. Mrs Russell kam zu Besuch, Mrs Russell mochte das Gespräch beginnen.
Martha trat näher. »Guten Tag! Wie schön, dass ich gerade zur rechten Zeit komme, um mich nützlich zu machen! Ich helfe Ihnen gern beim Auswringen der größeren Stücke. Oder beim Aufhängen, damit Sie sich ausruhen und das Baby halten können.«
Die Frau blickte kurz auf das Kind herab und runzelte die Stirn, so als hätte sie vergessen, dass es da war, und schätzte es auch nicht, daran erinnert zu werden. Sie sagte nichts.
»Ich muss nur zuerst meinen Korb loswerden beziehungsweise das, was ich darin habe. Ich habe Ihrer Tochter nämlich ein Geschenk mitgebracht, und diese Art von Geschenk muss in sichere Hände übergeben werden. Sehen Sie mal!« Sie hob das Tuch an und zeigte ihr das Kätzchen, das Fell gesträubt und die Wirbelsäule gebuckelt, vermutlich als Reaktion auf den allgemeinen Lärm im Hof. Schnell deckte sie es wieder zu. »Er stammt von ausgezeichneten Mäusefängern ab. Seine Tanten, Onkel und Vettern wohnen in meinen Nebengebäuden oder in den Häusern meiner Pächter. Ihre Carrie hat erwähnt, dass Sie keine Katze für die Speisekammer hätten. Beim letzten Mal als ich hier war. Mit Mr Mirkwood.« Herrje, würde die Frau denn nie etwas sagen? Sie selbst schien nicht den Mund halten zu können, wenn die Alternative dieses erdrückende Schweigen war. »Mr Mirkwood konnte mich heute leider nicht begleiten, denn er muss noch so viel über Gutsverwaltung lernen. Ich glaube, er wusste gar nicht, dass es sich gehört, Geschenke vorbeizubringen, bevor ich es ihm gesagt habe.«
Endlich blickte die Frau auf, und zwar recht abrupt. »Sie haben ihm gesagt, dass er uns Geschenke bringen soll?«
Martha nickte. »Vor einer ganzen Weile schon. Aber falls er noch nicht dazu gekommen sein sollte, bin ich sicher, dass es all seinen anderen Verpflichtungen geschuldet ist. Mr Granville hält ihn mit einer ganzen Menge Unterricht beschäftigt. Aber Mr Mirkwood hat gute Absichten.«
Mrs Weaver kratzte sich den Handrücken. Beide Hände waren rau und gerötet. Sie musste seit gestern mit dem Waschen beschäftigt sein, mit Einweichen und Schrubben, immer mit den Händen im heißen Wasser. Sie runzelte leicht die Stirn. Dann hob sie einen Zipfel des Tuchs an und warf einen Blick auf das Kätzchen.
»Carrie ist drinnen und passt auf die Kleinen auf. Ich bringe ihn ihr. Sie können den Kleinen halten, wenn Sie möchten.«
Martha überließ ihr den Korb und hob das schreiende Kind auf. Das wäre geschafft, wenngleich das Geschenk Mrs Weaver wohl kaum so sehr besänftigt hatte, als dass sie sich auf ein Gespräch über die Schule einlassen würde. Wenn sie das Kind wieder zum Schlafen bringen könnte, würde das die Mutter vielleicht in bessere Stimmung versetzen. »Was für kräftige Lungen euer kleiner Bruder hat!«, sagte sie zu den anderen Kindern, während sie an der Wäscheleine entlangschritt, doch diese Erkenntnis war offenbar nicht neu genug, um ihnen eine Antwort zu entlocken.
Als Mrs Weaver wieder aus der Hintertür der Kate trat, war Hiob ruhiger, wenn auch nicht wirklich ruhig. Mit einem kurzen Blick auf Martha stellte sie den nun leeren Korb ab – zwei Gänse stürmten herbei und steckten die Köpfe hinein – und ging zur Wanne zurück, wo sie sich daranmachte, ein Laken auszuwringen.
Diese Frau würde ihr keinen Millimeter entgegenkommen. Das würde sie in Zukunft einfach nicht mehr erwarten. Zweifellos hatte sich Mr Mirkwood in den ersten Tagen mit ihr genauso gefühlt, und zweifellos würde er lachen, wenn er jetzt sehen könnte, wie Martha die Suppe auslöffelte, die sie sich eingebrockt hatte.
»Sie redet manchmal von Ihnen.« Mrs Weaver drehte sich halb um, aber nicht weit genug, um sie anzusehen. »Carrie. Seit Ihrem Besuch.«
»Wirklich?« Wie ein himmlischer Sonnenstrahl durch düstere Wolken drangen diese paar freundlichen Worte zu ihr. Ja, auch das musste Mr Mirkwood gespürt haben. »Das freut mich sehr. Ich war ja so bezaubert von ihr nach unserem Besuch. Sie können ihr ausrichten, dass auch ich an sie gedacht habe.«
Keine Antwort. Doch davon würde sie sich nicht mehr aufhalten lassen. Sie hievte das Kind höher und suchte sich einen Platz am Zaun, wo Mrs Weaver sie sehen konnte, ohne sich umdrehen zu müssen. »Ich habe an alle Ihre Kinder gedacht. Vermutlich haben Sie noch nicht davon gehört, aber mein Pfarrer eröffnet eine Schule. Jungen aller Altersstufen und junge Mädchen werden während der Woche unterrichtet, und sonntags nach der Kirche bekommen auch ältere Mädchen Unterricht. Religiösen Unterricht natürlich, aber auch –«
»Ihre Kirche kann uns gestohlen bleiben.« Sie blickte nicht einmal auf, um zu sehen, wie Mrs Russell diesen Affront aufnahm, sondern begann, das Laken wieder auszuwickeln.
»Ich helfe Ihnen!« Martha eilte ihr mit dem Baby auf dem Arm zu Hilfe und erwischte das eine Ende. Gemeinsam wickelten sie das Laken aus und zogen es so glatt wie möglich, bevor sie es auf die Leine hängten. Der beißende Laugengeruch stieg ihr in die Nase. Sie räusperte sich. »Sie sind … Methodisten … vermute ich?« Das Wort kam ihr nur widerwillig über die Lippen. So viele arme Familien fühlten sich davon angezogen. »Aber ich bin überzeugt, dass Mr Atkins für Bildung für alle ist. Er hat sogar einige von Mr Wesleys Predigten studiert.« Um sie zu widerlegen zwar, aber das musste sie ja nicht sagen.
Jetzt wandte Mrs Weaver sich ihr zu. Sie stützte eine Hand in den Rücken und sah Martha unverhohlen an. »Die Methodisten können uns erst recht gestohlen bleiben.«
»Oh. Verstehe.« Sie spürte, wie sie errötete. So etwas hatte noch nie jemand in ihrer Gegenwart gesagt, und schon gar nicht vor Kindern.
Und doch war es gesagt und konnte nicht zurückgenommen werden. Und immer noch stand sie hier, und Mrs Weaver auch, und die Kinder arbeiteten unbekümmert weiter. Sie könnte es gut sein lassen. Sie war ja nicht gekommen, um den Seelenzustand dieser Frau zu untersuchen.
»Um ganz ehrlich zu sein, ist die spirituelle Bildung nebensächlich. Wir hoffen, die älteren Mädchen auf lange Sicht zusammen mit ihren Brüdern wochentags unterrichten zu können. Aber Schulbildung für junge Damen ist eine ganz neue Vorstellung für viele Eltern, deswegen haben wir uns gedacht, dass wir es langsam angehen.«
Nicht zu sagen, ob Mrs Weaver ihr zugehört hatte. Sie hängte etwas auf die Leine – ein abgetragenes Kinderkleid – und zupfte den Ausschnitt mit der Kordel glatt. Plötzlich sog sie scharf die Luft ein und kniff die Augen zusammen. Sie hielt sich die Hand an den Bauch, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
»Mrs Weaver! Ist alles in Ordnung?«
Sie nickte kurz und biss sich auf die zur Faust geballte andere Hand.
»Verzeihung, aber Sie sehen ganz und gar nicht gut aus! Wollen Sie sich nicht setzen? Kann ich Ihnen etwas bringen?« Martha sah ein Kind nach dem anderen an, doch keines sprang auf, um zu helfen. Keines schien beunruhigt zu sein.
»Es geht gleich vorbei. So ist es immer in den ersten paar Monaten.«
»In den ersten paar … Erwarten Sie noch ein Kind? So bald schon?« Hiob, der fast eingeschlafen war, stieß einen erneuten Schrei aus, wie um zu protestieren.
»Acht Monate, minus eine Woche oder so. Bald genug.« Sie drehte die Hand um und presste sich die Handfläche auf die Lippen.
Acht Monate. Martha horchte auf. Einen schändlichen Augenblick lang war sie wie zum Zerreißen gespannt, wie ein Jagdhund, der Moorhühner witterte. Ein Kind. In acht Monaten. Vielleicht ein Junge. Und diese Familie hatte bereits mehr, als sie gebrauchen konnte.
Wie tief sie gesunken war! Mr Mirkwoods Dekadenz oder die Tatsache, dass Mrs Weaver nicht zur Kirche ging, waren nichts im Vergleich zu diesem abscheulichen, habgierigen Plan. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. »Aber Ihr Sohn kann doch noch kein Jahr alt sein.« Sie sprach leise, wegen der Kinder. »Sollten Sie nicht ein bisschen Zeit zum Erholen bekommen, bevor Sie wieder in diesen Zustand gebracht werden?«
Mrs Weaver schüttelte den Kopf und öffnete endlich die Augen. Die Farbe kehrte zurück, doch sie wirkte abgezehrter denn je. »Fragen Sie Ihren Pfarrer, weshalb es Gott gefallen hat, es so einzurichten. Weshalb Frauen, die nie darum gebeten haben, von Kindern heimgesucht werden. Falls dahinter ein göttlicher Plan steht, habe ich ihn noch nicht entdeckt.« Sie ließ beide Hände sinken und nahm dem kleinen Jungen, der am nächsten stand, ein ausgewrungenes Hemd ab.
Martha biss sich auf die Zunge. Es gab etwas, das gesagt werden musste, obwohl es unverschämt war, und vermutlich nicht in ihrem Interesse. Wenn sie Mrs Weaver kränkte, brauchte sie nicht zu hoffen, dass sie in acht Monaten –
Nein! Von dieser Hoffnung würde sie sich nicht leiten lassen. Sie würde aussprechen, was ausgesprochen werden musste. »Ich möchte meinen, dass Ihre Frage besser dem Ehemann gestellt werden sollte als dem Pfarrer.« Sie trat einen Schritt näher, um die Kinder vor dem skandalösen Gespräch zu bewahren. »Wenn Männer lernen würden, die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Frauen vor ihren eigenen Appetit zu stellen, gäbe es weniger Tode im Kindbett, weniger arme Waisenkinder und weniger Frauen, die lange vor ihrer Zeit verbraucht sind. Ist es zu viel verlangt von einem Mann, sich ein bisschen zu beherrschen?« Männer kamen schließlich auch alleine klar. Sie hatte gesehen, wie das ging.
Mit grimmiger Konzentration zog und zerrte Mrs Weaver alle Falten aus dem Kleidungsstück, während sie antwortete. »Für Sie ist es sicherlich anders. Aber manche Frauen schätzen sich glücklich, überhaupt einen Mann zu haben. Es war sehr gut von Mr Weaver, mich zu heiraten. Er hat einiges auf sich genommen. Es steht mir nicht an, zu ihm von Beherrschung zu sprechen.« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und sah Martha direkt in die Augen. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe mit dem Baby. Wenn Sie so gut sein wollen, ihn jetzt in seine Wiege zu legen, dürfen Sie Carrie selbst begrüßen. Passen Sie aber auf das Schwein auf, wenn Sie dann vorne rausgehen.«
Die Frau hatte sich immerhin bedankt, dachte Martha auf dem Weg zurück nach Seton Park. Das musste man als Fortschritt werten. Vielleicht konnte sie in dieser Kate und in anderen mehr ausrichten, jetzt, wo die Tage ihr allein gehörten. Falls Mr Mirkwoods Anwesenheit in ihrem Bett sie heute Nacht verunsicherte, würde sie sich mit dem Gedanken an all das, was sie morgen erreichen konnte, Mut machen.
Er kam kurz nach Mitternacht, auf einer Welle männlichen Tatendrangs, die sie bis in ihr Bett spüren konnte. Sie hatte noch gelesen; jetzt legte sie ihr Buch beiseite und sah zu, wie er die Tür abschloss und den Schlüssel einsteckte, mit einer einzigen fließenden Bewegung, erfüllt von der Zufriedenheit eines Mannes, der den Tag ehrenhaft verbracht hatte und ihn nun liederlich zu beenden gedachte.
Ihre nackten Schultern bemerkte er sofort. »Schon ausgezogen? Hervorragend.«
Sie zog die Knie an und legte die Arme darum, sorgfältig darauf bedacht, das Laken nicht von ihrem Oberkörper rutschen zu lassen. »Ich dachte, Sie würden zu müde sein, um mir dabei zu helfen.«
»Müde? Pah. Sehen Sie sich vor!« Er ließ sich in den Sessel fallen und begann, mit seinen Stiefeln zu kämpfen.
Sie zog das Laken etwas höher. »Wie war das Dreschen?«
»Die Menschen sollten dringend die Finger davon lassen, sobald jemand eine fähige Maschine entwickelt. Gütiger Gott!« Er vergaß seine Stiefel und ließ sich im Sessel zurückfallen. »Haben Sie mal gesehen, wie es gemacht wird? Das ist Knochenarbeit! Die ganze Zeit drischt man gebückt den Flegel auf den Boden, und die Spreu fliegt überall herum und dringt allen in die Augen. In die Lungen auch, nehme ich an, trotz der Tücher, die sie sich vor Mund und Nase binden. Es ist ein wahres Wunder, dass meine Männer noch nicht allesamt die Schwindsucht haben!« Er lehnte sich vor und zerrte wieder am ersten Stiefel.
»Dennoch geht vermutlich ein gewisser Stolz mit der Arbeit der eigenen Hände einher, der verloren ginge, wenn eine Maschine sie übernehmen würde.«
»Zum Henker mit dem Stolz, zum Henker mit der Arbeit der eigenen Hände!« Der erste Stiefel löste sich. »Einer der Männer ist alt genug, mein Großvater zu sein! Das kann ich ganz und gar nicht gutheißen.« Der zweite Stiefel löste sich, und er ließ ihn halb über dem Fuß hängen. »Brauchen Sie noch mehr von dieser Konversation, oder vielleicht zu einem anderen Thema, oder können wir jetzt?«
In was für einer sonderbaren Stimmung er war. Sie gestattete sich ein Lächeln. »Ich denke, das genügt für heute. Ziehen Sie sich aus.«
Sofort war er bei den Kerzen. »Sie möchten das Licht aus haben, nehme ich an? Dann müssen Sie nicht hierhin und dorthin starren, um mich nicht ansehen zu müssen.« Kerzenschein tanzte über sein helles Haar wie Sonnenlicht auf der gekräuselten Oberfläche eines Sees. Seine Haut schien von innen zu leuchten, und seine Augen verrieten ihr nicht mehr, als wenn sie aus Glas gewesen wären.
»Ganz wie Sie möchten. Ich glaube, ich bin inzwischen an Ihren Anblick gewöhnt.«
»Worte, die jeden Mann in Wallung bringen würden.« Er leckte sich die Finger und drückte die Kerzen eine nach der anderen aus. Das Löschhütchen ließ er liegen, wo es war. »Dann versuchen wir es im Dunkeln. Der Abwechslung halber.«
Noch ein feuchtes Zischen, und noch eins, und alle Kerzen waren aus. Er war nicht mehr als ein Schatten, ein Schatten unter vielen im dunklen, dunklen Zimmer. Stoff flüsterte und raschelte, als er sich entkleidete, und etwas klirrte leise und metallen – ein Manschettenknopf gegen einen anderen Knopf vielleicht. Durch den schmalen Spalt, den sie zwischen den Vorhängen gelassen hatte, damit sie merkten, wenn der Morgen graute, sickerte nur schwaches, von Wolken verschleiertes Mondlicht. Vielleicht genug, um seine Silhouette ausmachen zu können, wenn ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch nicht genug, um von seinem Gesicht Gemütsverfassung und Absichten ablesen zu können.
Nicht, dass sie das gebraucht hätte. Sie kannte sein Gemüt und seine Absichten. Sie hatte sie oft genug gesehen. Sie blieb liegen und wartete.
Abwechslung. Ha! Bei Dunkelheit und mit gedämpfter Stimme könnte er jeder Mann sein. Sie könnte sich vorstellen, er sei ein anderer, falls ihr dergleichen Vorstellungen gefielen. Vielleicht würde sie sich diesen Pfarrer vorstellen, schüchtern und eifrig in seiner Hochzeitsnacht.
Darauf würde sie vielleicht ansprechen.
Theo zögerte und legte die Finger um den Bettpfosten. Durch die Dunkelheit drang ihr leiser, geduldiger Atem an sein Ohr. Er umklammerte den Pfosten und lockerte seinen Griff dann wieder.
Wie würde ein unschuldiger Mann auf sie zukommen? Ein Mann, der sich bis zu seiner Hochzeitsnacht aufgespart hatte, musste völlig ausgehungert sein. Vielleicht würde er völlig den Kopf verlieren, vor allem wenn seine Braut eine Witwe war, die die sanfte Einführung nicht brauchte, die ein Bräutigam einer Jungfrau bei ihrem ersten Mal schuldig war. Schnell zur Sache kommen und sich die Nettigkeiten für die zweite Runde aufsparen. Stellte sie es sich so vor?
Mit einem Bein kniete er sich auf die Matratze und verlagerte langsam sein Gewicht. Jetzt würde sie wissen, dass sie nicht mehr allein im Bett war. Wenn ein Mann sich bis in seine Zwanziger hinein zurückgehalten hatte, musste er andererseits eine erstaunliche Selbstbeherrschung besitzen und würde sie vielleicht in dieser Nacht zur Anwendung bringen. Vielleicht würde er es langsam angehen wollen, um jedes gelüftete Geheimnis in Ruhe auszukosten. Seine Finger glitten das Laken empor bis zum Saum; er ergriff ihn und zog das Laken langsam zurück bis zum Fußende. Jetzt trennte seine Haut nichts mehr von ihrer.
Er würde zum ersten Mal nackte Schultern erleben, der selbstdisziplinierte Mann. Er schob das zweite Knie auf die Matratze, direkt neben ihrem Kissen. Seine freie Hand wanderte – schüchtern, fast nicht imstande zu glauben, dass sie das Recht besaß – hinab von ihrer schwebenden Position und traf auf ihren weichen Oberarm. Er legte die Finger darum. Ließ sie aufwärtswandern. Sein Daumen tastete sich bis zu ihrem Schlüsselbein vor und erfühlte es. Die Kuhle darüber. Den graziösen Kamm. Bald, wenn er Mut geschöpft haben würde, würde seine Hand sich abwärtsstehlen. Er bückte sich und legte die Lippen auf ihre geschwungene Schulter.
Sie hielt mehrere Sekunden lang den Atem an, bevor sie wieder Luft holte. Verwirrtheit vielleicht. Vielleicht auch etwas anderes. Er hob das Knie und brachte es sanft zwischen ihre Beine, um eine bessere Balance zu haben.
Sie hatte es nie gemocht, wenn er sie geküsst hatte, auf den Mund oder anderswohin. Doch vielleicht waren die Regeln heute Nacht anders. Vielleicht gab es andere Regeln für einen Mann, der alles von ihr lernen musste. Er fuhr mit dem Mund über ihr Schlüsselbein. Dann über das zweite.
Wieder hielt sie den Atem an, diesmal nicht so lange. Eine Hand kam hervor und fasste ihn unsicher am Arm. Sollte sie doch unsicher sein. Das würde er auch. Er wagte es, die Lippen auf ihren Hals zu legen, und verweilte, um ihren warmen Puls zu spüren. Seine Hand wanderte zurück zu ihrem Arm und seine Finger streichelten ermutigend zwischen Schulter und Ellbogen hin und her. Du bist nicht unsicherer als ich, sagte die Berührung, und die Vorstellung, sich einer Frau mit zitterndem Staunen zu nähern, wurde unerträglich erotisch.
Er brachte sein anderes Knie zwischen ihre Beine und ließ sich ganz vorsichtig hinunter, um sie nicht zu erdrücken, bis er auf ihr lag und sein Geschlecht ihre warme, zarte Haut berührte. Denn er war nicht so kühn, gleich in sie einzudringen. Und wenn er genau so auf ihr lag, würde womöglich ihr Innerstes zerschmelzen.
Der Druck ihrer Hand auf seinem Arm verstärkte sich beinahe unmerklich. Ihre andere Hand landete leicht wie ein Schmetterling auf seiner Schulter. Sie machte eine winzige Bewegung mit der Hüfte, die ihn fester an die Stelle brachte, an der ihre Freude wohnte – ihr erstes kleines Zugeständnis an die Lust. Er bewegte sich leicht gegen sie, wie versehentlich, oder wie ein Anfänger, der gerade erst herausfand, was er tun musste. Sie zuckte und wurde wunderbar weich.
Gütiger Gott. Er hatte endlich den Weg gefunden! Alles, was nötig war, war Dunkelheit und unendliche Zurückhaltung. Nichts, was ihm unmöglich war.
Er küsste ihren Kiefer in einer gepunkteten Linie zwischen Ohr und Kinn. Ihr Körper erschauerte unter ihm. Sein Daumen fuhr ihre Mundwinkel entlang, dann lösten seine Lippen ihn ab. Sie lud seine Zunge nicht ein, und er drängte sie nicht auf. Das hatte Zeit. Er wandte sich wieder ihrem Kiefer zu, auf der Seite, die er beim ersten Mal vernachlässigt hatte. Irgendwo zwischen seinen Atemzügen und ihren hörte er, wie sich ihre Lippen öffneten, vielleicht sogar wie ihre Zunge hervorkam und kostete, wo er gewesen war.
»Sie riechen nach Schnaps!« Überall, wo sie sich berührten, spürte er, wie ihre Muskeln sich verkrampften.
»Ja, Branntwein.« Er flüsterte, damit seine Stimme die Stimme eines jeden Mannes blieb. »Ich musste mir für heute Abend Mut antrinken.«
»Mirkwood!« Ihr Flüstern wurde ein Zischen. »Sind Sie betrunken?«
»Trunken von deinem Duft! Trunken vom Gefühl deiner Haut.« Während er versuchte, das Spiel aufrechtzuerhalten, spürte er bereits, wie sie in ihre kühle, spröde Schale zurückwich. Ihre vorgebeugte Hüfte sank wieder in eine rein passive Haltung und ihre Empfänglichkeit verflüchtigte sich wie ein Traum.
»Sie kennen meinen Duft und meine Haut sehr gut. Ich glaube, der Branntwein hat Ihnen den Kopf verdreht.« Sie musste wahrhaft verzweifelt nach einem Fluchtweg aus ihrer eigenen Erregung gesucht haben, wenn sie eine so fadenscheinige Ausrede wie ein Glas Branntwein ergriff.
Er kannte sie allerdings. Er hätte es besser wissen sollen, als sich einzubilden, er könne sie durch gespielte Tugendhaftigkeit zur Lust locken. Dafür war sie einfach nicht die Frau, und er nicht der Mann. Kein Wunder, dass sie ihm die Rolle nicht abgenommen hatte. Was wusste er schon von Unschuld? Er hatte seine mit fünfzehn weggeworfen, noch am selben Tag, an dem er endlich die eindringlichen Blicke verstanden hatte, die die unzufriedene Frau eines Nachbarn ihm zugeworfen hatte. Längst unwiederbringlich verloren war seine Unschuld, und bisher war er nie darauf gekommen, das zu bereuen.
Auch jetzt würde er das nicht. »Also an die Arbeit?« Er gab sich keine Mühe mehr, zu flüstern.
»Wann immer Sie möchten.«
So viel dazu. Er stemmte sich auf seine Arme und verfolgte sein eigenes Vergnügen, ein Lump wie eh und je. Zum Teufel mit der Schüchternheit. Zum Teufel mit schüchternen Männern. Mit einer Hand stützte er sich auf das Kopfende des Bettes, klammerte sich daran fest und keuchte oder stieß Luft durch die Zähne, wenn er aufschreien wollte. Der Höhepunkt stürzte ihm entgegen; er warf den Kopf in den Nacken und zitterte wie ein junger Spross in einem Windstoß, denn die Dienstboten durften nichts hören, und er würde ihr zeigen, dass auch ein schamloser Mann sich beherrschen konnte.
Närrin, schalt sie sich im Rhythmus seiner Begierde. Närrin. Närrin. Närrin. Vor nicht allzu langer Zeit waren ihr noch all die Gründe gegenwärtig gewesen, einem Mann zu widerstehen. All die großen und kleinen Weisen, auf die man verraten werden konnte. Die Lust konnte eine Frau dazu bringen, sich wegzuwerfen, bis nichts mehr übrig war außer einer leeren Hülle der Reue. Alles, was ihres gewesen war, würde dem Mann gehören, dem sie es schenkte, und sie würde es niemals zurückbekommen. Noch würde er es wertschätzen.
List, branntweingetriebene List wäre ihr heute Nacht um ein Haar zum Verhängnis geworden, zusammen mit dem perfiden Schwung seiner Lippen an ihrem Hals und den hinterlistigen Intrigen seiner Hüfte. Doch sie war gerade noch rechtzeitig zu sich gekommen, und nun hatte sie Zeit, sich in Erinnerung zu rufen, was sie wollte und was nicht.
Er war fertig und lag keuchend neben ihr. Sie wartete nur so lange, bis sie sicher sein konnte, dass er sie über seine angestrengten Atemzüge hinweg hören konnte. »Ich hoffe sehr, dass Sie nicht noch einmal betrunken in mein Bett kommen werden.« Ihre Stimme klang steif und brüchig. Natürlich tat sie das. »Ich finde diese Angewohnheit äußerst anstößig.«
»Ich bin nicht betrunken.« Er holte Luft. »Nur angenehm gestärkt. Und es ist keine Angewohnheit. Man kann ab und an ein Glas Branntwein trinken, ohne es zur Regelmäßigkeit werden zu lassen.«
Sie unterdrückte das bittere Lachen, das in ihr aufwallen wollte. »Männer glauben immer, dass sie ihre Gewohnheiten beherrschen, und erkennen nie, dass es genau umgekehrt ist.«
»Wenn ich’s Ihnen doch sage, es ist keine Angewohnheit.« Jetzt wurde er langsam ungehalten. »Ich habe Granville auf ein Glas eingeladen. Ich wollte nur nett sein. Das war das erste Mal, dass ich mir etwas gegönnt habe, seit wir uns kennengelernt haben. Wenn Sie mir nicht glauben, werde ich morgen abstinent bleiben, bevor ich zu Ihnen komme. Würden Sie jetzt bitte aufhören, mit mir zu sprechen, als sei ich der öffentlichen Ausschweifung angeklagt?«
Sie ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Zugegeben, sie war nicht ganz unvoreingenommen in dieser Sache. Und er hatte ihr noch nie Anlass zu der Annahme gegeben, dass er betrunken sei, obwohl es natürlich Männer gab, die so etwas gut verbergen konnten. Vielleicht sollte sie ihr Urteil bis morgen aufschieben und abwarten, ob er Wort hielt oder nicht. Sie holte Luft. »Es tut mir leid. Ich habe sehr wenig Verständnis für jegliche Art des Rausches.«
»Was Sie nicht sagen.« Seine Stimme wurde sanft, als er sich zu ihr umdrehte. »Wer hatte denn diese entsetzliche Angewohnheit? Ihr Vater? Ihr Mann? Der Bruder, bei dem Sie es vorziehen, nicht zu wohnen?«
Sie schrak vor der indiskreten Frage zurück, doch ihre Zunge hatte bereits begonnen, zu antworten. »Andrew? Das ist absurd! Er ist so streng, dass ich daneben geradezu nachsichtig wirke.«
»Dann hoffe ich, dass ich ihm niemals begegnen werde«, sagte er in einem angenehm ruhigen Plauderton. »Ist sein Charakter – und Ihrer – dann vielleicht eine Reaktion auf ein trunksüchtiges Elternteil?«
Nichts davon ging ihn etwas an. Nichts. Sie presste die Lippen steif zusammen. Doch wenn sie jetzt schwieg, würde er zu einer Schlussfolgerung gelangen, die ihrem Vater Unrecht tat. »Wie können Sie etwas Derartiges annehmen?« Die Ungerechtigkeit war unerträglich. »John Blackshear war ein ernster, bibeltreuer, enthaltsamer Mann.« Jetzt müsste sie Mr Russell verteidigen. Das käme logischerweise als Nächstes. Sie schwieg.
»Ah.« Die Silbe war bedeutungsschwanger. Er dachte, er wüsste jetzt alles. Sie spürte, wie seine Gedanken in der Stille arbeiteten. Vor diesem geheimen Hintergrund ließ er jede Szene, die sie miteinander gespielt hatten, Revue passieren. So als könnte diese eine Tatsache alles erklären, was ihm bisher an ihr unerklärlich gewesen war. »Möchten Sie darüber sprechen?«, fragte er nach einer Weile.
»Nein.«
»Haben Sie schon mal mit jemandem darüber gesprochen?«
»Nein.«
Sie hörte, wie sein Mund sich bewegte. Vielleicht hatte er zu etwas angesetzt und es dann doch nicht gesagt. »Hat er Sie geschlagen?«
»Nein.« Um Himmels willen. »Ich sagte doch, ich möchte nicht darüber reden.«
»War er jähzornig?«
»Nichts dergleichen! Nichts von alledem, was man in Romanen liest.« Er würde sich ihre Geschichte in den schaurigsten Farben ausmalen, wenn sie ihm keine bessere Vorstellung von der Wahrheit gab. »Es war vor allem eine Art Abwesenheit. Das hat es mir schwer gemacht, das Maß an Respekt aufzubringen, das eine Frau für ihren Mann empfinden sollte. Denn ich denke, ein Mann sollte verlässlich sein und sich selbst unter Kontrolle haben.«
»Relativ unwahrscheinlich, wenn der Mann ein Sklave der Flasche ist.« Seine Worte unterstrichen ihren Standpunkt und ermutigten sie, fortzufahren.
»Richtig. Der Alkohol hat ihn unberechenbar gemacht. Er hatte große Gedächtnislücken. Manchmal hat er die Ereignisse mehrerer Stunden einfach vergessen.«
»Aber nicht den Weg in Ihr Bett.«
Ihr stockte der Atem. Er hatte genau ins Schwarze getroffen, so sicher, als hätte er sie aufgeschnitten und den Finger in die Wunde ihres klopfenden Herzens gelegt. Wenngleich sie Mr Russells Angewohnheit gern als lästiges Ärgernis abtat, etwas, das sie nicht wirklich berühren konnte, blieb die Tatsache, dass er, ihr Mann, sie hatte berühren können. Wann immer er wollte. Ein Mann, der ein Fremder für seine Frau geworden war, hatte dennoch das Recht. Eine Frau hatte kein Recht, sich zu weigern.
Es hätte schlimmer kommen können. Er hat dich nicht geschlagen. Er war nicht grausam. Diese strenge Selbstmaßregelung hatte einfach nie den stärkenden Effekt, den man sich gewünscht hätte. Ihre Augen blinzelten mit abscheulicher Geschwindigkeit; glücklicherweise wurde ihr Versuch, ihre Verletzlichkeit bloßzustellen, von der Dunkelheit vereitelt. Sie holte tief Luft und krallte die Fingernägel in die Handflächen.
»Martha.« Seine Fürsorglichkeit strömte über das Kissen hinweg zu ihr herüber wie ein warmes, lebensfrohes Bad, das sie einlud, zu bleiben.
»Mr Mirkwood.« Sie ließ die Worte wirken wie eine ausgestreckte Hand in einer Geste der Abwehr. »Ihre Freundlichkeit und Anteilnahme ehren Sie, da bin ich mir sicher. Aber ich habe alles gesagt, was ich zu diesem Thema sagen möchte. Ich schlage vor, dass wir jetzt schlafen.«
Die Luft war voller Bewegung. Zielsicher kam seine Hand durch die Dunkelheit und legte sich an ihren Kopf, die Handfläche an ihrem Ohr, die Finger in ihrem Haar vergraben. Nur einen Augenblick lang blieb sie da, nur gerade lange genug, um sie zu halten, während er seine Lippen auf ihre Stirn legte. »Dann gute Nacht.« Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Haaransatz. Er legte sich zurück und hatte nichts mehr zu sagen, und sie lauschte seinen Atemzügen, während sie länger wurden und sich in ein leises Schnarchen verwandelten.
Irgendwann in der Nacht drehte sie sich um und stieß mit einem Teil von ihm zusammen. Sofort schlängelte sich sein Arm zu ihr hinüber und zog sie an sich, so als sei das der Platz im Bett, wo sie hingehörte und von dem sie sich nur versehentlich im Schlaf entfernt hatte. Sie hielt den Atem an und wartete ab, was als Nächstes passieren würde, doch nichts geschah. Sein Arm hatte eigenmächtig gehandelt, vielleicht hatte er sich diesen Reflex in zahllosen Nächten mit einer Frau in greifbarer Nähe angewöhnt. Oder vielleicht deckte sich ihre Anwesenheit an seiner Seite zufällig mit einem Traum von irgendeiner anderen Geliebten.
Das ging sie nichts an. Er durfte träumen, was immer er mochte. Nur wäre sie lieber nicht wie ein Ersatz mit hineingezogen und an so vielen Stellen von seinem Körper umschlungen worden. Seine Beine mit ihren verheddert. Sein Arm über ihrem Schlüsselbein. Die Kuhle zwischen seinem Kinn und Hals in genau der richtigen Größe für ihren Kopf. Durch ihre Kopfhaut und durch ihre Schulter, die auf seiner Brust lag, spürte sie seinen Puls. Und seinen Atem: das leise Heben und Senken seines Brustkorbs, den langsamen, schwachen Luftzug irgendwo über ihrem Kopf. Bestimmt würde er sich gleich umdrehen und sie freilassen, doch vorläufig war sie in ihm gefangen und konnte nichts tun, als sich ihrer misslichen Lage bewusst zu sein.
Wenn man einen Mann liebte, wünschte man sich das vermutlich. Welch ein seltsamer Gedanke. Man würde sich wünschen, von seinem Arm festgehalten zu werden. In der Kuhle zu liegen, die sein Körper für ihren machte. Das leise Lied zu hören, gedämpft und rhythmisch, das sein Puls und sein Atem für sie sangen, damit sie einschlafen konnte.
Doch welche Dame würde so schlafen können, auf allen Seiten von so viel Mann umgeben? Sie spürte das Anhängsel an ihrer Hüfte schlummern. Ihr Atem und seiner waren vielleicht bereits Bewegung genug, um es aufzuwecken.
Vorsichtig befreite sie ihr Bein von seinem und schob sich seitwärts zurück in Richtung Bettkannte. Doch sie hatte noch keine zwanzig Zentimeter geschafft, bevor sein Arm sie zurückzog und er sie nur noch fester an sich drückte. Er murmelte etwas Unzusammenhängendes und wand seine Beine wieder um die ihren. Seine Lippen berührten ihren Scheitel. Das Anhängsel regte sich nicht.
»Mirkwood«, flüsterte sie. Das konnte er doch unmöglich alles im Schlaf tun?
Er gab keine Antwort, und in der Stille formte sie ihren Mund, ihre Lippen, ihre Zunge und ihren Gaumen, zu etwas Neuem. »Theophilus.« Der Name schwebte in der Luft wie von der Handfläche gepustete seidig weiße Löwenzahnsamen, flüchtig und unberechenbar.
Er murmelte wieder etwas – sie spürte das Brummen in seiner Brust – und verstummte dann bis auf die Atemzüge. Ein und aus.
Sie schloss die Augen und wartete auf den Schlaf oder den Sonnenaufgang. Wahrscheinlich Letzteres. Wenn sie nicht einschlief, würden sie zumindest nicht die Stunde im Morgengrauen verpassen, in der er aufstehen und leise gehen musste. Dann würde sie ihn bitten, seinen Gliedern etwas mehr Disziplin anzugewöhnen.
Frau. Irgendein niederer, animalischer Teil seines Gehirns gab ihm die Information. Frau, keine zwei Fuß entfernt.
Seine Nase bestätigte die Nachricht. Der süße Duft einer nackten Frau, überlagert von etwas Blumigem. Flieder. Fliederpuder. Ach ja. Diese Frau.
Langsam öffnete er die Augen. Schwaches Grau drang durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Noch kein Sonnenlicht und keine Farben, doch sie würden bald kommen. Dann musste er los.
Er hatte Zeit. Er brauchte sie nicht einmal aufzuwecken.
Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, das Haar war auf dem ganzen Kissen ausgebreitet und eine Schulter war entblößt, wo die Decke von ihr gerutscht war. Er zog daran und deckte sie wieder anständig zu. Geübt schloss er zu ihr auf und vermied jeden Zentimeter Zwischenraum. Mit der Brust berührte er – ganz leicht – ihren Rücken und legte einen Arm über ihre Rippen, um sie festzuhalten. Sein Knie schob sich – ganz langsam – zwischen ihre Knie. Mit der Hand hob er ihre Wade hoch und legte sie auf sein Bein. Sein Geschlecht berührte sie und verweilte auf der Schwelle, und dann – leise wie Schnee – glitt er hinein.
»Was tun Sie?« Augenblicklich war sie hellwach. »Das haben Sie schon gestern Nacht getan.«
Er fluchte leise. »Können Sie nicht einfach weiterschlafen?«
»Weiterschlafen? Sind Sie wahnsinnig? Mit dem Ding könnten Sie einen ganzen Friedhof aufwecken!«
»Herrje. Wenn ich geahnt hätte, dass Sie morgens Humor haben, wäre ich schon viel früher über Nacht geblieben.« Er stieß einmal zu, dann zweimal. Gott, das sollte er nicht tun. Die Dinge, die sie letzte Nacht gesagt hatte, kamen ihm wieder in den Sinn, und mit ihnen eine vage, innbrünstige Entschlossenheit, die Zurückhaltung ihres Körpers zu respektieren und zu beweisen, dass er ein besserer Mann war als Mr Russell.
Und da war er nun, drängte sie, drängte in sie, und verlangte, dass sie wieder einschliefe. Trotzdem, sie hatte ihn nicht abgehalten. Das würde sie doch, wenn sie wirklich nicht wollte. Oder?
Er stieß noch einmal zu und zog sich fast ganz aus ihr zurück. »Wollen Sie wirklich, dass ich aufhöre?« Er keuchte, als sei er gerade einen Marathon gelaufen.
Ihre Rippen hoben sich gegen seine Brust, während sie darüber nachdachte. »Ich schätze, es kann ja nicht schaden. Vielleicht ist gerade das jetzt der richtige Samen.«
»Guter Gedanke. Vielleicht ist das jetzt der richtige.« Ich werde mein Bestes tun, damit er es wird. Er hatte durchaus ehrenvolle Absichten. Bevor er fortfuhr, hielt er kurz inne und legte die Lippen an ihre Schulter, ganz vorsichtig, damit seine raue Wange ihre zarte nicht berührte.