Kapitel 10

Mir war schlecht. Ich wollte nicht aufwachen, weil ich mir sicher war, dass ich schreckliche Kopfschmerzen haben würde. Woher mein halb schlafender Verstand das wusste, war mir ein Rätsel. Ich stöhnte vor Übelkeit und drehte mich auf die Seite. Mir taten sämtliche Knochen weh.

Bist du wach?, fragte eine piepsige Stimme an meinem Ohr.

Ich schlug nach der Stimme und traf irgendetwas. Das Kreischen, das daraufhin ertönte, löste schließlich den erwarteten Kopfschmerz aus.

Ruhe, stöhnte ich. Ich wollte weiterschlafen. Die Übelkeit und die Schmerzen vergessen. Und diesen Traum vergessen. Ich war mir sicher, noch nie etwas vergleichbar Dämliches geträumt zu haben. Da war ein Vampir gewesen, den ich erst töten wollte und den ich dann irgendwann na ja, eben nicht mehr töten wollte.

Ach? Ist in dem Traum auch ein Dämon vorgekommen?, fragte die piepsige Stimme, die es sich erneut an meinem Ohr bequem gemacht hatte.

Sei doch leise, verdammt. Aber die Stimme hatte Recht. Da war tatsächlich ein Dämon gewesen. Ich erinnerte mich dunkel an braunes Fell und eine extrem nervige Persönlichkeit.

Das ist ja wohl die Höhe!, schrie die Stimme.

Ich stöhnte vor Schmerzen. Dann war da plötzlich etwas auf meinem Gesicht. Fellgeruch stieg mir in die Nase und Haare drangen in meinen Mund ein, als ich ihn öffnete um zu protestieren.

Du undankbare Hexe! Schalt endlich mal deinen Verstand ein! Das war überhaupt kein Traum!

Das haarige Etwas verschwand von meinem Gesicht und ich öffnete misstrauisch die Augen. Bitte nicht, stöhnte ich und rollte mich auf die andere Seite. Ich erinnerte mich. Lucian, Serena, Marcelle, Sassa. Mein Tötungsversuch, die Flucht und meine Gefangenschaft auf dem Vampiranwesen. Ich wünschte, es wäre tatsächlich nur ein Traum gewesen.

Das Leben ist kein Wunschkonzert. Und jetzt steh auf und sieh zu, dass du uns hier rausholst!

Lass mich schlafen, du Fellvieh. Ich war krank. Mir fiel keine andere Erklärung für die schlechte Verfassung meines Körpers ein. Ich erinnerte mich zwar, dass ich schon gesund gewesen war, aber ich musste einen Rückschlag erlitten haben.

Dein Gehirn hat einen Rückschlag erlitten, das ist alles!, keifte der Dämon an meinem Ohr.

Es reicht jetzt!, schrie ich zurück und richtete mich auf. Siehst du nicht, dass ich krank- Ich stockte mitten im Satz, als ich das erste Mal meine Umgebung in mir aufnahm. Wo sind wir? Das Zimmer, in dem ich mich befand, glich einem Kellerraum. Die Wände wiesen eine gräuliche Färbung auf und es gab keine Möbel. Nur die harte Holzpritsche, auf der ich lag. Dann waren da noch zwei Türen, wie schon in meinem Zimmer in Lucians Haus, und ein großes Fenster, das vom Boden bis an die Decke reichte und die ganze hintere Wand einnahm. Es war von außen mit einer Art betonfarbenem Rollladen verdeckt, so dass ich nicht hinaussehen konnte. Lediglich eine nackte Glühbirne spendete etwas Licht. Was war passiert? Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, doch in meinem Kopf herrschte Chaos.

Du bist entführt worden, erklärte Sassa. Von diesen Bundmitgliedern. Die hatten Waffen! Es war schrecklich!

Entführt. Ja, die eine Frau hatte mir einen süßlich riechenden Lappen aufs Gesicht gepresst. Damit musste sie mich betäubt haben. Trotz meiner schmerzhaft pochenden Stirn stand ich auf, trat an eine der Türen heran und schrie: Dafür werdet ihr bezahlen!

Ja, das macht denen bestimmt höllische Angst, kommentierte Sassa. Krieg dich wieder ein. Ich wollte gerade erzählen, wie

Hallo!, schrie ich, diesmal lauter. Kommt rein und zeigt euch, wenn ihr euch traut!

JETZT KOMM MAL WIEDER RUNTER!, brüllte Sassa in meinem Kopf. Keuchend vor Schmerzen taumelte ich von der Tür zurück und ließ mich auf die Pritsche sinken.

Gut, sagte Sassa zufrieden und setzte sich neben mich. Jetzt hör endlich zu: Es war so schrecklich! Als sie dich betäubt hatten, bin ich natürlich hinterher und sie haben dich in so eine Maschine gesteckt. Der Kleine schüttelte sich, doch ich bekam es nur aus den Augenwinkeln mit. Die ist geflogen, die Maschine. Mit so komischen Dingern, die sich auf dem Dach gedreht haben. Teufelszeug!

Zum ersten Mal in Sassas Monolog wurde ich hellhörig. Ein Hubschrauber? Sie haben uns mit einem Hubschrauber hierher gebracht?

Wenn ihr das so nennt.

Wo sind wir? Weißt du, ob wir noch in Frankreich sind?

Ich mann, woher soll ich das wissen?

Was kannst du überhaupt!, fuhr ich den Dämon an.

Der verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Ich bin nur ein Dämon. Du die Zauberin. Was mich zu meinem anfänglichen Anliegen zurückbringt: Hol uns hier raus!

Und wie soll ich das anstellen?

Na nimm doch mit dem Vampir Kontakt auf!

Ich starrte den Kleinen an und verstand zuerst kein Wort. Nur langsam stellte mein Verstand die Verbindung zu dem her, was Serena gesagt hatte: Telepathischer Kontakt. In ihrem Buch hatte mit keinem Wort gestanden, dass dieser nur von dem Vampir ausgehen konnte. Allerdings hatte es auch nicht explizit erwähnt, dass der Mensch von sich aus den Vampir telepathisch erreichen konnte.

Versuch es!, drängte Sassa.

Und was soll das bringen? Selbst, wenn ich es schaffen würde: Meinst du, Lucian kommt dann auf seinem weißen Schimmel angeritten und rettet uns, oder was?

Ist mir egal, ob er reitet, läuft, fliegt oder schwimmt. Aber er muss uns retten! Jetzt nimm schon mit ihm Kontakt auf!

Mal abgesehen davon, dass ich keine Ahnung hab, wie das praktisch funktionieren soll Ich hielt inne und beschäftigte mich einen Moment lang tatsächlich mit der Frage, ob ich es könnte. Angenommen, ich wollte in Lucians Kopf eindringen wie würde ich an die Sache rangehen?

Nun probier es schon!

Das werde ich, versicherte ich Sassa. Eines Tages, wenn ich nicht gerade andere Sorgen habe – wie zum Beispiel, dass ich entführt wurde und zusehen muss, wie ich da wieder raus komme – werde ich es ausprobieren. Mal sehen, wie Lucian es findet, wenn ausnahmsweise mal jemand in seinem Kopf herumspukt und er nicht weiß, wie er ihn da wieder rausbekommt. Der Gedanke schaffte es, mich ein wenig aufzuheitern.

Wovon redest du überhaupt?, fragte Sassa unwirsch. Du sollst es jetzt versuchen! Du sollst ihm sagen, dass du entführt wurdest und er dich gefälligst retten soll!

Das entlockte mir ein Lächeln, jedoch kein besonders fröhliches. Ich schüttelte den Kopf. Dich naiv zu nennen, wäre die Übertreibung überhaupt. Du glaubst doch nicht tatsächlich, dass Lucian mich retten würde.

Ich bin nicht naiv, du aber dafür so was von blöd, weißt du das eigentlich?, giftete der Zwerg. Selbst Serena hat gesagt, dass da was zwischen dir und dem Vampir ist.

Ich öffnete den Mund, um entschieden zu widersprechen, da redete der Dämon schon weiter: Na ja, sie hat es zumindest angedeutet. Sonst wäre die ganze Sache mit der Kontaktaufnahme schließlich gar nicht möglich. Dieses ominöse Band, du verstehst?

Ich bin es wirklich leid, dieses Thema mit dir zu diskutieren. Ich werde Lucian nicht um Hilfe bitten. Punkt!

Jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um deine Abweisungsängste aufzuarbeiten! Hier geht es um unser beider Leben!

Keiner hat dich gebeten, dich mit mir entführen zu lassen. Stattdessen hättest du dableiben und Hilfe für mich suchen können. Die ganze Sache war nicht wirklich gut durchdacht von dir, oder?

Der Kleine sah mich aus seinen schwarzen Augen mindestens genau so finster an, wie ich ihn. Dann regel dein Leben in Zukunft doch alleine! Bin mal gespannt, wie du das hinkriegst! Beleidigt hüpfte Sassa von der Pritsche, tapste auf die rechte der beiden grauen Türen zu, schob sie einen Spalt breit auf und schlüpfte hindurch.

Ich ging weder hinterher noch rief ich nach ihm. Er würde sich schon wieder einkriegen. Ich hatte wirklich dringendere Probleme als einen eingeschnappten Dämon. Zum Beispiel, die Antwort auf die Frage, warum der Bund mich entführt hatte. Was wollten die nur von mir?

Ich war mir sicher, dass ich bald eine Antwort auf diese Frage bekommen würde. Denn ich hörte Schritte. Sie näherten sich eindeutig meiner Tür.

Ich vergaß die Übelkeit und die Kopfschmerzen und sprang auf. Adrenalin pumpte durch meinen Körper. Ich blickte im Raum umher, suchte nach etwas, mit dem ich angreifen konnte. Doch das Zimmer war leer. Nicht einmal eine Bettdecke gab es, mit der ich meinen Besucher hätte erdrosseln können.

Die Schritte stoppten.

Ich hörte das klackende Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde. Die Tür schwang knarrend auf.

Als ich das wohlbekannte Gesicht sah, taumelte ich zurück. Meine zitternden Beine drohten, unter mir nachzugeben. Ich streckte tastend die Hand aus, um mich an der Wand abzustützen.

Erst dann wagte ich, den Blick wieder auf die Person im Türrahmen zu richten. Sie trug das hässliche grün-lila-karierte T-Shirt.

Chris, formten meine Lippen ohne mein Zutun. Mehr brachte ich nicht heraus, starrte ihn nur an. Das sandfarbene Haar war nun etwas länger, so dass es ihm ins Gesicht fiel. Und auch seine Augen hatten sich verändert. Sie wiesen zwar noch dieselbe hellbraune Farbe auf, doch jegliche Wärme war daraus verschwunden. Sein Grinsen war nicht mehr verschmitzt und fröhlich, sondern arrogant.

Amelie, sagte Christopher, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Wahrlich ein Treffen unter sehr bizarren Umständen.

Ich antwortete nicht. Mein Verstand war damit beschäftigt, sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen. Chris war hier. Doch etwas sagte mir, dass er das nicht war, weil der Bund ihn für mich aufgespürt und hergebracht hatte. Warst du die ganze Zeit hier?

Natürlich war ich hier, Amelie.

Die ganzen zwei Jahre?

Die ganzen zwei Jahre.

Ich starrte ihn an. Betrachtete das fremde Abbild dessen, was früher das vertrauteste Gesicht der Welt für mich gewesen war. Ich war versucht, mich gegen die Wahrheit zu wehren. Einen tieferen Sinn in Christophers Tun zu sehen. Vielleicht war das hier nur gespielt. Vielleicht würde sich bald alles aufklären. Aber die bittere Realität war, dass Christophers Verhalten Sinn machte. Er war immer anders gewesen als ich. Hatte sich stets für Vampire und Dämonenbeschwörungen interessiert. Hatte stets diesen Funken in sich gehabt, der mir zeitweilig etwas Angst gemacht hatte.

Ich lachte trocken auf. Von Anfang an hatte ich geahnt, dass die Auflösung von Chris Verschwinden schmerzhaft simpel sein würde. Er war zum Bund übergelaufen. Ihm war klar geworden, dass er viel lieber Vampire töten wollte, anstatt einen Zaubererzirkel zu gründen. Und hatte nicht die Courage besessen, mir das ins Gesicht zu sagen.

Mit dieser Erkenntnis meldete sich die vertraute Wut zurück. Seit zwei Jahren hatte ich sie mit mir herumgetragen. Zeitweilig hatte sie mich kaum atmen lassen. Und egal, was die letzten Tage alles schief gegangen war: Zumindest mein ursprüngliches Ziel hatte ich erreicht.

Ich ging ein paar Schritte auf Christopher zu. Mit ausdruckslosem Gesicht blickte ich ihn an. Wahrscheinlich glaubst du mir das jetzt nicht: Aber es freut mich wirklich, dich wieder zu sehen.

Christopher hob eine Augenbraue.

Was ich als nächstes tat, sah er nicht kommen und ich wusste es. Ich trat einen großen Schritt vor und schlug zu. Seine Augen weiteten sich erschrocken. Im nächsten Moment pressten sie sich vor Schmerz zusammen.

Meine Fingerknöchel pochten an der Stelle, an der sie mir Christophers Nase kollidiert waren. Ich achtete nicht darauf. Mit Genugtuung sah ich, dass Blut aus Christophers Nase rann. Er griff sich fluchend in die Mitte seines Gesichts.

Brauchst du ein Taschentuch, fragte ich unschuldig.

Christopher warf mir einen genervten Blick zu und wischte sich mit seinem geschmacklosen T-Shirt das Blut aus dem Gesicht. Dann legte er den Kopf in den Nacken.

Das Bild rang mir ein Grinsen ab.

Fühlst du dich jetzt besser?, fragte Chris mit näselnder Stimme. Mit seinem in den Nacken gelegten Kopf konnte er mir nicht mal ins Gesicht sehen.

Viel besser. Ich presste die Lippen aufeinander. Es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, ihn nicht anzuschreien. Ihm nicht vorzuwerfen, was er mir mit seinem Verschwinden angetan hatte. Ihm nicht vor Augen zu führen, wie es mir die letzten Jahre gegangen war. Die Tränen, die gefährlich nah an der Oberfläche lauerten, nicht hinaus zu lassen. Ich hatte diesem Menschen vertraut. Als einziger Person auf der ganzen Welt. Er war meine Familie gewesen, mein bester Freund. Alles.

Mir war klar, dass du so reagieren würdest, sagte Christopher und sah mich wieder an. Das Blut war versiegt. Deshalb habe ich auch nichts gesagt. Und mir war klar, dass du ungefähr wissen würdest, was passiert ist.

Ich wusste nicht, dass du dich den Rassisten angeschlossen hast.

Aber du wusstest, dass ich freiwillig gegangen bin, oder? Du dachtest nicht, mir wäre etwas zugestoßen.

Ich habe mir gewünscht, dass dir etwas zugestoßen wäre.

Christopher lachte auf. Immer noch die Alte, was?

Ich ignorierte ihn. Aber du hast Recht: Leider wusste ich es besser.

Und jetzt? Seine Augen funkelten neugierig.

Und jetzt was?

Du kennst nun die Wahrheit. Was denkst du jetzt?

Dass ich den Zeitpunkt nicht mitbekommen habe, als du komplett durchgedreht bist.

Ich meine es ernst, Amelie. Christophers Stimme trug nun eindeutig eine Spur Ungeduld.

Ich auch. Was denkst du denn, was du hier tust? Ein Zauberer beim Bund! Glaubst du wirklich, sie respektieren dich? Glaubst du, sie sehen dich als einen von ihnen?

Vielleicht nicht. Aber meine Fähigkeiten sind von großem Nutzen für sie. Und ich, für meinen Teil, bin nicht aus Prinzip hier. Es ging mir nicht darum, Teil dieser Organisation zu sein. Sondern darum, was ich damit erreichen könnte.

Ich war mir nicht sicher, dass ich verstand, worauf er hinauswollte. Es interessierte mich auch nicht. Ich wollte, dass er ging und mich in Frieden ließ. Ich wollte endlich, endlich mit der ganzen Sache abschließen. Ich weiß nicht, was du noch von mir willst, gab ich müde zu.

Fragst du dich denn nicht, wieso ich gegangen bin? Wieso gerade damals, zu jenem Zeitpunkt? Wieso nicht früher oder später?

Ich blickte ihn verständnislos an.

Amelie, du kennst mich doch. Dir muss doch klar sein, dass es einen Grund gab. Die echte Empörung in seiner Stimme traf mich tief und schaffte es beinahe, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich ließ es nicht zu. Du bist einfach gegangen. Ich wusste zwei Jahre lang nicht, wo du bist und was passiert ist. Die Tränen wurden immer hartnäckiger. Schon spürte ich, wie meine Augen zu schwimmen begannen. Ich zog die Nase hoch und blinzelte ein paar Mal, um die Feuchtigkeit zu vertreiben. Was könnte das rechtfertigen?

Seine Antwort kam prompt. Die Wahrheit. Die Wahrheit über unsere Eltern. Über ihren Tod.

Gänsehaut breitete sich kribbelnd über meinen ganzen Körper aus. Es war ein Unfall, Chris. Ein stinknormaler Autounfall. Doch meine Stimme zitterte.

Das war es eben nicht, Amelie. An jenem Abend, als sie gemeinsam zum Essen aus waren, wurden sie nicht tot aus einem Autowrack geborgen. Sie wurden in einer Seitengasse gefunden. Blutleer und mit Bissspuren am Hals. Niemand – weder die Babysitterin, noch später die Heimleiterin – brachte es über sich, uns die Wahrheit zu sagen. Die in ihren Augen war, dass unsere Eltern einer Gruppe Satanisten oder zugedröhnter Jugendlicher zum Opfer gefallen waren.

Meine Kehle war auf einmal schrecklich trocken. Blutleer?, krächzte ich.

Und Bisswunden, ja. Grimmig blickte er auf mich herab. Ironie, nicht wahr? Wenn man bedenkt, warum du hier bist.

Ich fixierte sein Gesicht und versuchte zu ergründen, ob er die Wahrheit sagte. Wenn es stimmte, machte das seine Entscheidung, sich dem Bund anzuschließen, zumindest plausibler. Und machte es überhaupt einen Unterschied, ob unsere Eltern durch einen Unfall oder durch Vampire gestorben waren? Ich war mir nicht sicher.

Christopher lachte freudlos auf. So viel muss ich dir lassen: Selbst ich hätte dir nicht zugetraut, dass du dich einem Vampir an den Hals werfen würdest. Vielleicht bist du sogar die Hure des Mörders unserer Eltern!

Diese Anschuldigung verschlug mir für einen Moment die Sprache. Ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte und Panik in mir aufkam. Das ist absurd, redete ich mir ein. Selbst wenn es stimmte, dass Vampire unsere Eltern getötet hatten - die Wahrscheinlichkeit, dass es ausgerechnet Lucian gewesen war, ging gegen Null. Ich hatte schließlich erlebt, wie er sich seine Beute beschaffte. Er griff möglichst immer wieder auf dieselbe Person zurück. Solch ein Überfall passte nicht zu ihm.

Doch egal, wie viele logische Argumente mein Verstand produzierte: Diese diffuse Angst, dass an Christophers Behauptung etwas dran sein könnte, blieb. Hast du irgendeinen Anhaltspunkt dafür, dass es Lucian war?, fragte ich und hasste mich für das offen hörbare Zittern in meiner Stimme.

Nein, gab Chris kühl zu.

Erleichterung durchströmte meinen Körper. Es war nur ein Spiel gewesen. Christopher hatte mich lediglich aus der Fassung bringen wollen.

Er könnte es trotzdem gewesen sein, Amelie, sagte Chris scharf.

Doch damit konnte er keinen Eindruck mehr auf mich machen. Plötzlich hörten sich die logischen Argumente meines Verstandes sehr überzeugend an. Mit was für einer Wahrscheinlichkeit? Eins zu tausend? Eins zu zweitausend? Wie viele Vampire gibt es auf der Welt?

Wenn es nicht unsere Eltern waren, dann waren es eben die Eltern, Kinder oder Geschwister eines anderen!, brüllte Christopher. Dein Vampir hat Menschen auf dem Gewissen! Egal, wie du es drehst und wendest.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich persönlich weiß nur von einigen Bundmitgliedern, die er getötet hat.

Nur einige Bundmitglieder?, wiederholte Christopher ungläubig. Du sprichst hier von Menschen, Amelie. Hat sich deine Moral innerhalb von zwei Jahren in Nichts aufgelöst? Oder war es dein Vampir, der sie dir ausgetrieben hat?

Du willst mir was von Moral erzählen? Mir entwich ein hysterisches Lachen. Fakt ist, dass dieser Vampir um einiges moralischer ist als du oder der Rest des Bundes!

Christophers Augen sprühten vor Verachtung. Du widerst mich an. Er wandte sich der Tür zu, doch hielt im letzten Moment inne. Ich freue mich wirklich, dass du dabei zusehen wirst. In seinem Blick stand der blanke Hass. Er deutete auf das Fenster, dessen Aussicht verschlossen war. Dein Vampir wird nämlich bald sein ohnehin viel zu langes Leben aushauchen.

Meine Kehle schnürte sich zu, so dass ich kaum noch Luft bekam. Sagte Christopher diesmal die Wahrheit? Hatten sie außer mir vielleicht auch Lucian und die anderen gefangen nehmen können? Unwahrscheinlich. Die Frau, die an meiner Entführung beteiligt gewesen war, hatte aus Angst vor Lucian das Anwesen möglichst schnell verlassen wollen. Ich zwang mich zu einem mitleidigen Lächeln. Du denkst, darauf falle ich herein? Du bist so durchschaubar, warst es schon immer.

Chris lachte. Dann gehört das anscheinend auch zu den Dingen, die sich während der letzten zwei Jahre geändert haben. Dein Vampir wird sterben. Oder was dachtest du, wofür wir dich entführt haben? Etwa um deinetwillen? Wohl kaum. Dein einziger Wert besteht darin, dass der Vampir einen Narren an dir gefressen zu haben scheint.

Ich…“ Meine Stimme brach.

Christopher nickte. Du bist der Köder.

Plötzlich fühlte ich mich unendlich leicht.

Christopher redete weiter. Wir haben deinem Vampir bereits eine Nachricht zukommen lassen. Diese besagt, dass er dich nur lebend zurückbekommt, wenn er noch heute Nacht seine Armee aus Blutsaugern und dem anderen Gesindel auflöst und hier auftaucht. Dreimal darfst du raten, wie viele Bundmitglieder auf ihn warten werden. Ein kleiner Tipp: Die Zahl ist beinahe dreistellig. Christophers Lachen hallte von den kahlen Wänden wider. Was ist los, Amelie? Du siehst so blass aus. Dann lasse ich dich jetzt wohl besser allein. Du sollst die Vorstellung nachher doch in bester Verfassung genießen können. Er warf mir einen letzten spöttischen Blick zu. Dann verließ er den Raum.

Ich ließ mich auf die kalte Holzpritsche sinken. Alles ist in bester Ordnung, flüsterte ich zu mir selbst. Nur warum wollte mein Körper dann nicht zu zittern aufhören?

Lucian würde nicht kommen, so viel war klar. Ich war sein Spielzeug und sein Essen. Vielleicht mochte er mich sogar, wenn man der Band-Theorie aus Serenas Buch glauben wollte. Aber auch für sein Lieblingsessen riskierte doch niemand sein Leben.

Ich ließ meinen Kopf gegen die Wand sinken und schloss die Augen. Es würde sich alles fügen. Ich freute mich auf den Moment, in dem Chris vor Wut schäumend die Tür aufreißen würde, um mir zu eröffnen, dass Lucian nicht gekommen war. Der ganze schöne Plan zunichte.

Mit fröstelte etwas und ich zog die Beine enger an meinen Körper. Gut, es war nicht ganz das Ende, auf das ich für mich selbst gehofft hatte, aber es war akzeptabel. Ich hatte die Sache mit Chris geklärt und würde sogar Zeuge seines Versagens werden.

Und dann, fragte eine piepsige Stimme.

Ich drehte den Kopf und sah Sassa hinter der Tür, durch die er vorhin verschwunden war, hervorlugen.

Was meinst du?

Angenommen, du hast Recht und der Vampir kommt tatsächlich nicht. Dann hast du deine Rache an deinem ehemaligen Freund. Aber was passiert dann mit uns?

Wir werden sehen. Es kommt ganz drauf an, wie der Bund auf Lucians Nicht-Erscheinen reagiert. Gut möglich, dass uns – sofern wir den richtigen Moment wählen – eine Flucht gelingt. Wie gesagt: Wir werden sehen.

Oder du könntest mentalen Kontakt zu deinem Vampir aufnehmen, ihm von der Falle erzählen und ihn bitten, dich – und mich – zu retten.

Ich warf dem Dämon einen vernichtenden Blick zu. Hast du immer noch nicht genug von dieser Diskussion?

Wieso sträubst du dich so? Schön, wenn du sterben willst – bitte. Aber es gibt auch noch mich. Du hast eine Verantwortung!

Ich werde mein Bestes geben, damit wir nicht sterben. In Ordnung?

Sassa hoppelte auf mich zu, hüpfte auf die Pritsche und von dort auf meinen Schoss. Er sah mich eindringlich an. Nein, das ist nicht in Ordnung. Wirklich dein Bestes zu tun hieße nämlich, mit dem Vampir Kontakt aufzunehmen. Komm schon. Wenn man bedenkt, dass du dadurch mir und dir das Leben retten kannst, ist das kein zu großes Opfer.

Ich drehte den Kopf zur Seite und würdigte ihn keiner Antwort.

Sassa seufzte. Schön, wenn du mich dazu zwingst: Ich weiß schließlich, warum du dich so dagegen wehrst. Aber das Band zwischen euch ist da, ob du nun davon Gebrauch machst oder nicht. Es wird nicht einfach verschwinden. Egal, wie sehr du es dir auch wünschst.

Aber vielleicht bildet es sich ja bei Nicht-Benutzen zurück.

Sassa schnaubte. Wir reden hier nicht von irgendeinem Muskel. Da ist etwas zwischen euch und das kannst du nicht einfach abstellen. Es kann sein, dass es für immer bleibt. Selbst, wenn du ihm für den Rest deines Lebens aus dem Weg gehst. Und ja, ich weiß, dass diese ganze Band-Geschichte schwer für dich ist. Aber das ist es doch immer, wenn man Gefühle hegt und fürchten muss, dass diese nicht erwidert werden.

Mir klappte der Mund auf.

Und anstatt jetzt wütend zu werden, solltest du deine ganze Energie in den Versuch stecken, uns hier rauszuholen.

Ich stieß den Dämon von meinem Schoss und sprang auf. Zum allerletzten Mal: Ich nehme keinen geistigen Kontakt zu Lucian auf!

Nicht, dass du es sofort könntest, selbst, wenn du es probiertest. Es erfordert einige Übung, Zugang zu dem Geist eines anderen zu erhalten.

Ich riss die Augen auf. Zwar war Lucians Stimme in meinem Kopf nicht ganz so schockierend wie beim ersten Mal, aber mindestens ebenso unerwartet. Nachdem ich den ersten Schreck einigermaßen überwunden hatte, setzte ich mich zurück auf die Pritsche und schloss die Augen. Ich formulierte im Geiste einen Gedanken. So, wie ich es tat, wenn ich auf diese Weise mit Sassa kommunizierte.

Was machst du schon wieder in meinem Kopf?

Ich hörte Lucian lachen. Wäre nicht ein wenig mehr Dankbarkeit angebracht? Schließlich leiste ich dir Gesellschaft in deiner Einöde der Gefangenschaft.

Ich schnaubte.

Übrigens, sprach Lucians Stimme weiter. Verzeih, dass ich dich so lange habe warten lassen. Aber es gab vieles zu planen und noch viel mehr zu bedenken. Eine kurze Pause. Dann: Andererseits hat dir das bisschen Warten bestimmt nicht geschadet. Ich persönlich bin ja der Meinung, dass dir Zeit zum Nachdenken nur gut tun kann.

Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Was wollte er nur?

Ich hörte, nein, spürte eher, wie der Vampir lächelte. Ich werde dich retten, Amelie. Dann brach die Verbindung ab. Die Präsenz in meinem Kopf war verschwunden.

Lucian?, fragte ich in Gedanken, doch es blieb still.

Er wird uns retten! Neben mir hüpfte Sassa jubelnd auf und ab.

Freu dich nicht zu früh.

Der Dämon hielt inne, die Arme noch immer begeistert erhoben, und blickte mich misstrauisch an. Was meinst du damit?

Ich meine nur, dass wir noch nicht gerettet sind. Bisher haben wir nichts, außer Lucians Wort.

Du glaubst, er kommt nicht?

Ich

Oh Die Augen des Dämons wurden kugelrund.

Was?

Du glaubst, dass er kommt. Und das ist das Problem, nicht wahr?

Ich biss mir auf die Unterlippe. Er muss doch wissen, dass das eine Falle ist.

Wahrscheinlich hat er einen Plan.

Und was für einen?

Tja Ratlos ließ Sassa sich neben mir auf der Pritsche nieder. Aber blöd ist er nicht.

Ich begann, auf einem Fingernagel herumzukauen.

Hey, sagte Sassa plötzlich, rutschte näher zu mir und legte mir eines seiner Händchen aufs Bein. Du kannst nichts tun. Nur hoffen, dass dein Vampir genauso intelligent ist, wie er sich so gerne gibt. Deshalb musst du trotzdem nicht deine Finger verstümmeln! Ist ja eklig!

Gehorsam nahm ich den Finger aus dem Mund und starrte gedankenverloren den abgekauten Nagel an.

Ich weiß nicht, wie lange Sassa und ich schweigend nebeneinander saßen. Ich weiß auch nicht, was mir in dieser Zeit alles durch den Kopf ging. Lächerliche, verrückte Sachen. Träume, Wünsche, die sich nie erfüllen würden. Seltsamerweise hatte beinahe jeder davon mit einem gewissen Vampir zu tun.

Noch heute Nacht, hatte Chris gesagt. Wies spät war es? War Lucian schon überfällig?

Amelie?, fragte Sassas Stimme plötzlich vorsichtig.

Erst jetzt registrierte ich, dass der kleine Dämon gar nicht mehr neben mir auf der Pritsche saß.

Was ist? Unwillig richtete ich mich auf und suchte mit den Augen nach dem Fellknäuel. Ich entdeckte es mitten im Raum, eines der kleinen Ärmchen zur hinteren Wand hin ausgestreckt. Sein Finger zeigte stumm auf das Fenster. Ich musste zweimal hinsehen, um zu verstehen, was da passierte. Der graue Rollladen, der das Fenster von außen verschloss, war dabei, sich zu heben. Stückchen für Stückchen gab er den Blick nach draußen frei.

Langsam erhob ich mich von der Pritsche und näherte mich dem Fenster. Wider Erwarten konnte ich nicht die Dunkelheit der Nacht sehen, nicht den Mond und die Sterne. Dies war kein Fenster nach draußen.

Mein Körper wurde taub, als meine Augen die Situation auf der anderen Seite der Scheibe aufnahmen. Ganz von allein trugen mich meine Beine zum Fenster. Meine Hände pressten sich gegen das Glas.

Unter mir erstreckte sich ein großer, hoher Saal, in dem an die hundert uniformierte Bundmitglieder Stellung bezogen hatten. Sie standen in zwei Blöcke geteilt; die eine Hälfte links, die andere rechts. In der Mitte hatten sie einen Gang frei gelassen, der von der Eingangstür bis zur Wand am anderen Ende des Saales führte. Dort, gegenüber der Tür, standen etwa zehn Personen. Es musste sich um die noch lebenden Führungspersonen handeln, denn ich erkannte die Gesichter von Bettina und Philippe. Auch Chris stand bei ihnen, vielleicht eine Art Ehrenplatz. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihn allen Ernstes zu einer Führungspersönlichkeit ernannt hatten. Schon gar nicht innerhalb von zwei Jahren.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin, starrten plötzlich alle Anwesenden im Saal zur Tür hin. Ich wusste, was passieren würde, noch bevor es stattfand. Die riesige Tür schwang auf und eine einzelne Gestalt trat hindurch. Erhobenen Hauptes schritt sie den Gang entlang, mitten durch die hundert Bundmitglieder hindurch. Es war Lucian.