Kapitel 5
Die Vampirin sah mich aus unfreundlichen dunklen Augen an, sagte jedoch nichts.
„Kann ich bitte reinkommen? Ich muss mit dir reden.“ Verstohlen sah ich mich um. Doch der Hotelflur vor Marcelles Zimmertür war menschenleer. Trotzdem: Ich hatte nicht die geringste Lust, dieses Gespräch hier draußen zu führen. Lucians Zimmer lag bestimmt auch auf dieser Etage. Er könnte jeden Moment um die Ecke geschlendert kommen.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du paranoid bist?“, mischte sich der nervige Dämon ein. Ich ignorierte ihn.
Marcelle musterte mich lange. Schließlich trat sie zur Seite und gewährte mir Einlass.
Gefolgt von Sassa betrat ich das Zimmer der Vampirin. Es lag fast völlig im Dunkeln. Nur die bordeauxfarbenen Vorhänge, die zwar das Sonnenlicht absorbierten aber durch selbiges zum Leuchten gebracht wurden, spendeten etwas Helligkeit. Ich hörte, wie Marcelle die Zimmertür hinter mir schloss und es wurde noch dunkler. „Kann ich das Licht anmachen?“
„Nein.“
Ich schluckte und drehte mich zu ihr um. „Weswegen ich hier bin….“ Ich machte eine kurze Pause und kam dann direkt auf den Punkt. „Stehst du auf meiner Seite oder nicht?“
„Ich habe dem Bund von Lucians Plänen erzählt. Deine Frage erübrigt sich also.“ Es war das erste Mal, dass Marcelle mehrere zusammenhängende Wörter mit mir sprach. Sie sah mich direkt an, auf eine ähnliche Art und Weise, wie ihr Meister mich immer fixierte.
„Wirst du mir helfen, Lucian zu töten?“
„Nein.“
Ich starrte sie an. War sie etwa doch eine Verräterin? „Warum nicht?“
„Ich habe dem Bund bereits gesagt, dass ich Lucian nicht töten werde. Das genügt.“
Langsam verlor ich die Geduld. „Das genügt überhaupt nicht! Nur weil du dem Bund verschwiegen hast, dass es noch eine zweite Zauberin gibt, hab ich jetzt auch noch Serena am Hals! Nur wegen dir muss ich mich um einen Vampir und eine Zauberin kümmern! Kann es sein, dass du gar nicht willst, dass ich Erfolg habe?“
Für einen Moment, so schien es, sah die Vampirin durch mich hindurch. Dann richtete sie ihre schwarzen Augen wieder auf mich. „Ich will ebenso wie du, dass dein Plan gelingt. Und wenn du Lucian übernimmst, werde ich mich um Serena kümmern.“ Trotz der versöhnlichen Worte blieb ihre Miene kalt und abweisend.
„Gut“, sagte ich langsam und mit einer gewissen Portion Misstrauen, weil ich plötzlich so schnell erreicht hatte, was ich wollte. „Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.“
Marcelle nickte nur.
„Na dann… schönen Tag noch.“ Ich drehte mich um und verließ das Zimmer.
„Wenn du mich fragst, geht da was nicht mit rechten Dingen zu“, bemerkte Sassa, als wir wieder auf dem Gang standen.
Er hatte ausnahmsweise Recht. Marcelles kooperatives Verhalten ließ bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen. Aber was hatte ich für eine Wahl? Mir blieb nichts anderes übrig als zu hoffen, dass Marcelle die Wahrheit gesagt hatte. Nur mit ihrer Hilfe konnte ich meinen Auftrag zu Ende bringen.
„Na, mir kann es ja egal sein. Solange du mich in meine Welt zurückschickst, bevor du dein Leben in die Hände dieser korrupten Vampirin legst.“
„Wenn du nicht endlich deine unqualifizierten Kommentare sein lässt, behalte ich dich vielleicht doch hier.“ Ich bog um die Ecke und wäre fast mit jemandem zusammengestoßen. „Können Sie nicht aufpassen?“ Da erst merkte ich, dass mir das schwarze Hemd vor meiner Nase äußerst bekannt vorkam. Ich sah hoch und sog erschrocken die Luft ein.
Es war Lucian. Anzüglich lächelnd sah er auf mich herab. „Eine Zauberin, die mit sich selbst redet. Wie… interessant.“
Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Hatte er die ganze Zeit hier gestanden? Die Stelle lag vielleicht fünfzig Meter von Marcelles Zimmer entfernt. Wie gut genau waren Vampirohren? Hatte er uns gehört? Wusste er inzwischen, dass ich eine Verräterin war?
„Sag, was treibt dich in diesen Teil des Stockwerks? Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, liegt dein Zimmer am anderen Ende der Etage.“
Ich schluckte und starrte in die nachtblauen Augen. Er wusste es. Er wusste alles. Da war ich mir sicher.
„Jetzt mach dir nicht gleich in die Hose, du Drama-Queen!“, wies Sassa mich zurecht. „Wenn er etwas wüsste, würdest du schon längst nicht mehr hier stehen und atmen.“
Ich versuchte, mich zu beruhigen. Der Dämon hatte Recht. Wenn Lucian mich und Marcelle gehört hätte, wäre ich bereits tot. Oder? Mittlerweile kannte ich den Vampir gut genug, um zu wissen, dass er großen Spaß an sadistischen Psychospielchen hatte. Was, wenn er mich durchschaut hatte, aber noch ein bisschen quälen wollte, bevor er die Sache beendete?
„Nun?“ Lucian hob die Augenbrauen.
„Ich war bei Marcelle.“
Sassa keuchte erschrocken auf. „Bist du blöde?“
Lucian musterte mich interessiert.
„Ich war bei Marcelle, um noch mal mit ihr über die Szene in meinem Pensionszimmer zu reden. Du erinnerst dich? Die Situation, bei der du sie gequält hast? Nur, weil sie mich angeworben hat?“ Ich presste die Lippen zusammen. „Sie Sache hat mir keine Ruhe gelassen.“
Lucian schwieg einen Moment, doch hielt seinen Blick auf meine Augen geheftet. Ich hoffte wirklich, dass Serenas fälschliche Annahme auch den Vampir überzeugen konnte.
„Interessant.“
Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, eine ruhigen Gesichtsausdruck beizubehalten.
„So viel Mitgefühl hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Ich zuckte gespielt gelassen mit den Achseln. „Nur, weil du dank deines überdimensionalen Egos glaubst, alles zu wissen, heißt das noch lange nicht, dass es wirklich so ist.“
Lucian grinste und entblößte dabei seine Eckzähne. Er beugte sich zu mir herunter. Ich fühlte seinen Atem an meiner Wange. „Ich weiß, dass du was im Schilde führst, kleine Zauberin“, hauchte er mir ins Ohr.
Ich vergaß zu atmen.
„Ich spüre, dass du nicht mit offenen Karten spielst. Deshalb werde ich jetzt mit Marcelle reden und herausfinden, ob sie deine Geschichte bestätigt. Du solltest beten, dass sie es tut. Wenn nicht, statte ich dir nachher einen Besuch in deinem Zimmer ab.“
Er hob den Kopf, sah mir ein letztes Mal in die Augen und schlenderte dann an mir vorbei.
Ich drehte den Kopf, doch da war der Vampir schon um die Ecke verschwunden. Der angehaltene Atem entwich meiner Lunge. Lucian hatte Recht: Ich sollte beten. Und zwar dafür, dass Marcelle tatsächlich auf meiner Seite stand und mich vor ihrem Meister deckte.
„Selbst wenn“, gab Sassa zu bedenken. „Der Vampir ahnt etwas. Zu sagen, du hast ein Problem, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.“
Ich antwortete nicht. Der Dämon hatte Recht.
Die Stunden, die ich bis Anbruch der Dunkelheit auf meinem Zimmer verbrachte, fühlten sich an wie mehrere Tage. Jedes Mal, wenn ich Schritte auf dem Flur hörte, sprang ich auf. Ich fixierte so lange die Tür bis der Urheber der Schritte an meinem Zimmer vorbei gegangen war. Es war eine quälende Zeit, doch sie ging ereignislos vorüber. Lucian besuchte mich nicht. Marcelle musste die Wahrheit gesagt haben: Sie stand tatsächlich auf meiner Seite.
„Können die anderen dich eigentlich spüren, wenn sie dich berühren?“, wollte ich von Sassa wissen, als wir einige Stunden später unser Hotelzimmer verließen.
„Manchmal frage ich mich wirklich, ob in deinem Hohlkopf irgendetwas drin steckt. Warum sollten sie mich nicht spüren können?“
Ich verdrehte die Augen. „Hören und sehen können sie dich schließlich auch nicht, oder?“
„Trotzdem bin ich da, dumme Nuss.“
„Dann pass auf, dass du nicht mit den Vampiren in Berührung kommst. Ich will mir von Lucian nicht auch noch anhören müssen, was für eine unfähige Zauberin ich bin, einen Dämon zu beschwören, den ich nicht mehr loswerde.“
„Darüber machst du dir Gedanken?“, fragte der Dämon ungläubig. „Du solltest dich lieber fragen, ob du diese Nacht überleben wirst!“