Kapitel 3

Als ich am nächsten Tag im Bus zum Bahnhof saß, dämmerte es bereits. Ich beobachtete durch das Fenster, wie wir die Schauersiedlung hinter uns ließen und in Richtung der nächstgrößeren Stadt fuhren. Schon nach wenigen Minuten im beheizten Bus begann ich, in meinem dicken Schal zu schwitzen. Zögernd zog ich ihn aus, strich mir dafür aber meine langen, braunen Haare über das Mal an meinem Hals, welches sich über Nacht dunkelblau gefärbt hatte. Ich sah mich verstohlen um. Auf keinen Fall wollte ich, dass mich irgendjemand ansprach oder sogar die Polizei rief, weil ich wie ein Misshandlungsopfer aussah.

Schon hatte ich das Gefühl, neugierige Blicke auf mir zu spüren. Ich drehte mich um und sah ein Pärchen, welches schräg hinter mir saß und angeregt miteinander tuschelte. Dabei warfen mir die beiden immer wieder kurze Blicke zu. Seufzend zog ich den Schal wieder an.

Als ich am Bahnhof aus dem Bus sprang fand ich mich inmitten einer vorwärts strömenden Menschenmasse wieder. Ich mischte mich unter sie und hielt Ausschau nach meiner Begleitung. Die Sonne war so gut wie weg, eigentlich konnten die Vampire langsam aus ihren Särgen gekrochen kommen. Natürlich wusste ich aus meinem Buch, in welchem ich heute Vormittag noch ein wenig geblättert hatte, dass Vampire nicht in Särgen schliefen. Sie schliefen überhaupt nicht, sondern verbargen sich tagsüber lediglich vor dem Sonnenlicht. Trotzdem gefiel mir die Vorstellung, dass Lucian gerade in diesem Moment aus seinem Sarg kletterte – und sich den Kopf am Deckel stieß.

Kaum hatte ich den Haupteingang passiert und war bei den Gleisen angekommen, legte sich der Menschenstrom etwas. Kein Wunder. Hier sah es aus, wie auf einer Shoppingmeile: Bäcker, kleine Supermärkte, Fastfood-Restaurants und Tabakgeschäfte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte, inmitten der vielen Köpfe das blasse Gesicht und die schwarzen Haare auszumachen. Fehlanzeige. Kein Vampir weit und breit. Dann eben nicht. Ich sah mich kurz um, dann steuerte ich auf einen Bäcker zu. Sollte Lucian eben nach mir suchen, wenn er nicht pünktlich sein konnte.

Während ich Kaffee schlürfte und Streuselkuchen aß, beobachtete ich den Menschenstrom vor der Bäckerei.

Trotzdem sah ich ihn nicht kommen. Plötzlich stand er neben mir, wie aus dem Nichts gewachsen und grinste auf mich herab. Mit dem langen, etwas altmodischen Mantel, der makellosen Haut und den viel zu weißen Zähnen sah er aus wie… nun ja, wie ein Vampir. Für mich jedenfalls. Doch in den bewundernden Blicken der anderen Bäckereikunden, die uns in diesem Moment ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten, las ich, dass sie ihn eher für einen Schauspieler oder Sänger halten mussten. So viel äußerliche Perfektion fand man schließlich nur im Showbusiness.

So schnell wie meine Augen zu ihm geflogen waren, richtete ich sie jetzt wieder auf meinen Kaffeebecher. Der Vampir bekam zweifellos schon mehr Aufmerksamkeit, als gut für sein solide gefülltes Ego war. Ich spürte den Blick seiner Augen auf mir, als ich die Tasse zum Mund hob. Ganz in Ruhe trank ich aus, stellte den Kaffeebecher ab und griff nach der Gabel, um das letzte Stück Kuchen zu essen.

Ich rechnete damit, dass der Vampir meine Ignoranz nicht so einfach hinnehmen würde. Ich erwartete, dass er mir drohen oder mich sogar vom Stuhl zerren würde. Doch was er letztendlich tat, damit rechnete ich nicht. Ich hatte mir gerade das letzte Stück Kuchen in den Mund geschoben und die Gabel auf meinen leeren Teller gelegt, da ergriff Lucian plötzlich meine Hand. Vor Schreck verschluckte ich mich am Kuchen und begann, zu husten. Gleichzeitig zerrte ich an meiner Hand, doch der Vampir hielt sie eisern in seiner. Als ich zu ihm hoch blickte, zwinkerte er mir zu. Im nächsten Moment hob er meine Hand mit einer theatralischen Geste an seine Lippen. „Eile dich, Liebste, der Zug steht bereit!“

Ich hustete noch heftiger. Hatte der Kerl von einem Junkie getrunken? Mit einem Ruck bekam ich endlich meine Hand frei. Ich starrte zu dem Vampir hoch, konnte jedoch nichts sagen, da ich immer noch mit dem Erstickungstod rang.

Wir genossen die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Selbst die Bedienung hinter der Theke hatte kurzzeitig aufgehört Kaffee zu zapfen und starrte uns an. Was wollte Lucian mit dieser Showeinlage erreichen? Mich in Verlegenheit bringen?

„Liebste! Ich weiß, es ist schwer für dich, aber du musst deine Vergangenheit hinter dir lassen. Folge mir in ein neues, besseres Leben!“

Ich starrte in Lucians vor Spott funkelnde Augen und plötzlich begriff ich: Er wollte mich tatsächlich in Verlegenheit bringen! Schon hörte ich einige der Anwesenden kichern. Selbst draußen auf dem Bahnsteig waren ein paar Schaulustige stehen geblieben und lugten neugierig zu uns herein.

Schade für Lucian: Er konnte nicht wissen, dass mich die Meinung fremder Menschen im Allgemeinen so sehr interessierte, wie einen Vampir die Speisekarte einer Pizzeria. Doch wie stand es mit ihm?

Endlich hatte ich den Hustenreiz überwunden und konnte wieder sprechen. Lucian, was habe ich dir gesagt? Wenn ich dich aus der Klinik hole und bei mir wohnen lasse, darfst du unter keinen Umständen allein das Haus verlassen!“ Ich stand auf und musterte ihn besorgt. Dann wandte ich mich der Bedienung hinter der Theke zu, die das Schauspiel noch immer mit offenem Mund verfolgte. „Es war ein Fehler. Er ist noch nicht soweit. Wissen Sie, wenn er unter so vielen Menschen ist, fangen sofort die Halluzinationen wieder an. Und ich wette, er hat wieder die Medikamente abgesetzt. Das merkt man sofort, oder?

Die Frau nickte mit großen Augen.

Ich wandte mich wieder dem Vampir zu. „Wenn du dich nicht benimmst, kommen ganz schnell wieder die Leute mit den weißen Kitteln und den großen Spritzen und das wollen wir doch nicht, oder?“ Nur am Rande nahm ich Lucians Gesichtsausdruck wahr, als ich mich umdrehte und die Bäckerei verließ. Er hatte gegrinst!

Kaum hatte ich mich durch die Schaulustigen hindurch gekämpft, ballten sich meine Hände zu Fäusten. Er hatte gegrinst. Und damit keinen Zweifel daran gelassen, dass er meinen Teil der Show ebenso genossen hatte wie seinen eigenen.

Aber das war mir eine Lehre. Ich würde mich nicht noch mal als Lucians persönliche Bespaßerin missbrauchen lassen.

Ich lief weiter die Gleise entlang, nach einem Zug nach Frankreich Ausschau haltend, als plötzlich Marcelle in mein Blickfeld geriet. Sie war nicht zu übersehen. Zwar trug sie ein anderes Kleid als gestern, aber dieses war nicht weniger auffällig. Es bestand aus rotem Samt mit goldener Stickerei.

Ich drehte mich nach Lucian um, doch von ihm war weit und breit nichts zu sehen. Wahrscheinlich verteilte er in der Bäckerei noch schnell Autogrammkarten.

Ich bog zu dem Gleis ab, an dessen Bahnsteig Marcelle stand. Je näher ich kam, desto seltsamer wirkte das Bild, das sich mir bot.

Denn… da stand jemand neben der Vampirin. Eine zierliche, rothaarige Frau. War es Zufall oder… ? Nein, die beiden gehörten eindeutig zusammen. Sie redeten miteinander, schienen sogar in eine Art Streitgespräch verwickelt zu sein.

Was sollte das? Etwa noch eine Vampirin?

Langsam näherte ich mich den beiden und hörte, wie die fremde Frau rief: „Das ist Wahnsinn! Was denkt er sich dabei?“ Dann folgte sie Marcelles Blick, der sich auf mich gerichtet hatte. „Ist sie das?“ Als die Vampirin nickte, drehte sich die Fremde um und kam mir entgegen. Sie lächelte.

Ich streckte meine geistigen Fühler nach ihr aus, wie ich es gestern bei Dario und Marcelle getan hatte. Diese Frau besaß eindeutig Macht. Doch war sie eine Vampirin?

Da stand die Frau bereits vor mir, streckte mir die Hand entgegen und sagte: „Ich bin Serena, die andere Zauberin. Und du musst Amelie sein.“ Sie lächelte ein freundliches, ehrliches Lächeln.

Eine Zauberin. Das war immerhin besser, als wenn sie ein Vampir gewesen wäre. Aber was zur Hölle meinte sie mit: Die andere Zauberin? Genau das fragte ich laut.

Serena zog ihre Hand zurück, aber das Lächeln blieb. „Na, die andere Zauberin.“ Sie sah mich abwartend an. Als ich nur fragend die Augenbrauen hob, verschwand das Lächeln.

„Lucian hat dir nicht gesagt, dass wir zu zweit sind?“

Ich schüttelte benommen den Kopf. Nicht nur, dass ich nichts von einer zweiten Zauberin gewusst hatte. Auch der Bund schien dieses winzige Detail nicht zu kennen. Ich warf Marcelle einen durchdringenden Blick zu, doch die Vampirin sah starr in eine andere Richtung. Was ging hier vor?

Lucian wusste von Anfang an, dass ich ihn in seinem Plan, den Bund zu vernichten, unterstützen würde. Aber er wollte unbedingt zwei Zauberinnen. Serena lehnte sich näher zu mir. Ich atmete ihren Geruch ein, eine Mischung aus Vanille und Weihrauch. „Zusammen können wir mehr und mächtigere Dämonen beschwören. Du hast Lucian ja bereits kennen gelernt: Er will natürlich die Besten und davon so viele wie möglich.“

Ich wich einen Schritt zurück. „Warum nimmt er dann nicht einfach zehn Zauberinnen?“, fragte ich halblaut und hoffte inständig, dass sie mir nicht sagte, dass noch weitere in Frankreich oder sonst wo auf uns warten würden.

Serena lachte. „Du kennst dich mit Dämonenbeschwörungen nicht besonders gut aus, oder? Wenn es zu viele Zauberer sind, beschwört man unter Umständen mit der geeinten Kraft Dämonen, die zu mächtig sind, um sie kontrollieren zu können.“

Immerhin. Es war also nur Serena, die ein neues Problem darstellte.

„Wo ist eigentlich Lucian?“, fragte die Zauberin in diesem Moment.

Ich zuckte mit den Achseln, nickte zum Zug hin und sagte: „Sollten wir nicht langsam einsteigen?“

„Aber er wollte dich suchen“, beharrte Serena, ohne auf meinen Vorschlag zu achten. Er meinte, du säßest irgendwo da drüben in einer Bäckerei und er würde dich holen. Oh nein“, rief die Zauberin plötzlich bestürzt und schlug sich die Hand vor den Mund. „Er hat es wieder getan, oder?“

Ich blinzelte sie irritiert an, doch machte mir nicht die Mühe, sie zu fragen, was er wieder getan haben sollte. Schon nach fünf Minuten mit ihr konnte ich sagen, dass sie auch ungefragt erklären würde.

Es tut mir ja so leid! Weißt du, er versucht grundsätzlich, Sterbliche in Verlegenheit zu bringen, wenn er die Möglichkeit dazu hat. Seiner Meinung nach scheren wir uns viel zu sehr um die Meinung anderer. Was hat er denn genau getan?“

Ich schüttelte den Kopf. Das wollte ich nun wirklich nicht noch einmal durchkauen. Außerdem wollte ich die Zauberin in ihrer offensichtlichen Vorstellung, wir könnten die besten Freundinnen werden, nicht noch ermutigen.

Du musst es mir nicht sagen“, versicherte Serena und klang dabei ganz genau wie Kim. „Und mach dir keine Sorgen: Sobald Lucian es einmal geschafft hat, dich vor anderen bloßzustellen, wird er es nicht wieder versuchen.“

Blieb nur zu hoffen, dass der Vampir in seinem übergroßen Ego annahm, er hätte mich in der Bäckerei über alle Maßen blamiert.

„Ah, was für ein bezauberndes Bild“, erklang in diesem Moment Lucians Stimme, die eher einem Schnurren glich. Genervt drehte ich mich um. Lucians Blick ruhten wohlwollend auf mir und Serena. „Meine beiden Lieblingszauberinnen so eng beieinander. Da läuft mir das Wasser im Munde zusammen.“

Starr vor Fassungslosigkeit sah ich in die belustigt funkelnden blauen Augen. Er hatte mich zum Lebensmittel degradiert! Wie konnte er es wagen?

Lucians Lächeln weitete sich zu einem amüsierten Grinsen. Er stolzierte an mir und Serena vorbei und schlenderte am Gleis entlang. Marcelle wartete, bis ihr Meister an ihr vorbei war und folgte ihm dann mit ein paar Schritten Abstand.

Zitternd vor Wut starrte ich ihm nach.

„Mach dir nichts draus. Er will nur provozieren. Er wird dich nicht gegen deinen Willen beißen, versicherte Serena.

„Natürlich“, stimmte ich mit todernster Miene zu. Und als nächstes erzählst du mir, dass er ein guter Vampir ist und sowieso keiner Fliege was zuleide tun kann.“

„Das nun nicht gerade.“

Ich sah der Zauberin prüfend in die hellen Augen. Da war noch mehr, das spürte ich. Etwas, das sie nicht aussprach.

Doch da plapperte sie schon weiter: „Willst du dir vor der Abfahrt noch was kaufen? Essen, Trinken, eine Zeitschrift? Der Zug fährt erst in einer Viertelstunde ab.“

Ich hob meinen Kopf, um selbst auf die Anzeigetafel zu sehen. Serena hatte Recht, was die Zeit anging. Viel interessanter war allerdings, dass ich das erste Mal das Ziel des Zuges las: Paris. „Lucian wohnt in Paris?“ Vielleicht würde es dem Bund ja reichen, wenn sie die Stadt kannten, in der sich Lucians Anwesen befand. Und vielleicht wäre es mir dann früher erlaubt, den eigentlichen Plan in die Tat umzusetzen.

Lucian wohnt an vielen Orten“, lachte die Zauberin. „Er besitzt mehrere Anwesen, jedes in einem anderen Land. Ich glaube, wenn man so alt ist wie er, langweilt man sich schnell. Aber nein, Lucians französisches Anwesen ist nicht in Paris. Es liegt weit abgeschieden von jeglicher Stadt. Aber weil dort keine Bahn hinfährt, müssen wir erst nach Paris. Von da geht es dann weiter.“

„Wie lange wird die Reise dauern?“

„Wenn alles so läuft, wie es soll, werden wir morgen Abend ankommen.“

„Was sollte denn nicht so laufen?“

Serena lächelte. „Ach, der Bund eben… na ja, du weißt schon… wenn er uns findet. Aber darüber sollten wir uns nicht den Kopf zerbrechen. Also, wollen wir einsteigen?“

Ich musterte die Zauberin von oben bis unten. Sie sah süß aus, mit ihren roten Locken, den Sommersprossen und den hellgrünen Augen. Ihre Kleidung wirkte wie aus einer Zirkuskiste zusammengestellt. Der Rock war grün, der Pulli rot, das Halstuch blau. Alles in allem wirkte sie wie eine etwas naive, aber durchaus sympathische Person. Wie kam so jemand nur dazu, zusammen mit einem Vampir einen Haufen Menschen ermorden zu wollen? Wahrscheinlich stimmte das dämlich Sprichwort doch: Stille Wasser sind tief.

Ich antwortete nicht auf ihre Frage, drehte mich um und machte mich auf den Weg zur nächstgelegenen Zugtür. Mein abweisendes Verhalten schien die Zauberin nicht einzuschüchtern. Kommentarlos holte sie zu mir auf und trabte neben mir her. Ich wünschte sie zur Hölle. Nicht nur, weil mich ihr nettes Äußeres irritierte, sondern auch, weil ihre Anwesenheit meinen Auftrag erschwerte. Sicher würde sie nicht einfach dastehen und zusehen, wenn ich versuchte, dem Vampir einen Pflock ins Herz zu jagen. Außerdem musste ich herausfinden, ob sie auch nach Lucians Tod am Plan festhalten und die Dämonen auf eigene Faust beschwören würde. Wenn ja, schuf das ein ganz neues Problem, das ich dringend mit Bettina besprechen musste.

Plötzlich ließ mich ein Gefühl des Beobachtetwerdens den Kopf drehen. Durch das dicke Fensterglas des Zuges blitzten mir zwei provozierende blaue Augen entgegen. Ich starrte zurück, bis Serena und ich am Fenster vorbei waren.

Ich stieg, mit Serena auf den Fersen, in den Zug ein und ging den Gang in die Richtung zurück, in der ich Lucian durchs Fenster gesehen hatte. Ob ich mir von dem Vampir meine Zugfahrkarte aushändigen lassen sollte, damit ich mich von ihm wegsetzten konnte? Dann hätte ich zwar Ruhe, doch das war es nicht, was ich momentan wollte. Ich wollte Rache für seinen geschmacklosen Spruch von eben. Ich überlegte gerade, wie ich mich passend bei Lucian revanchieren könnte, als mich Serenas Stimme einholte.

„Du bist mächtig.“

Ich wandte mich zu ihr um.

Serena lächelte. „Ich bin wahrscheinlich nicht so mächtig wie du, aber ich habe mich lange und intensiv mit der Zauberei beschäftigt. Ich erkenne übernatürliche Wesen, wenn ich sie sehe, und kann auch ihre Macht einschätzen. Ich nenne diese Fähigkeit den ‚sechsten Sinn’. Vampire besitzen ihn auch. Vorhin, als wir uns getroffen haben, hast du versucht, ihn bei mir einzusetzen, oder?“

Ich ließ einen Mann mit Koffer vorbei, der irgendwas von blöden, im Weg stehenden Weibern murmelte.

Ja.

„Hat es geklappt?“

„Nicht so richtig.“

„Ja, das dachte ich mir schon“, murmelte Serena nachdenklich. „Du bist mit diesem Teil deiner Magie nicht besonders gut vertraut, oder?“

„Ich habe diesen Teil meiner Magie erst gestern entdeckt“, gab ich zu.

Wahnsinn“, murmelte Serena. „Erst gestern… und du hast es schon fast unter Kontrolle. Was kannst du noch?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Nur das Übliche.“

„Ernsthaft?“ Serena kratzte sich am Kopf. „Ich habe Geschichten über Zauberer gehört, die die Elemente beherrschen konnten. Oder die Dinge ganz nach Belieben nur mit ihrer Magie bewegen. Sogar andere Menschen sollen sie festhalten, schweben lassen und wer-weiß-was-noch mit ihnen anstellen können. Ich hätte geschworen, dass ich gerade so eine Zauberin vor mir habe.“

Ich zuckte abermals mit den Achseln.

„Aber ich wette, du kannst unglaublich starke Illusionen erschaffen, oder? Und du hast bestimmt nahezu unerschöpfliche Energiereserven, die du freisetzen und gegen andere richten kannst!“ Die hellen Augen leuchteten begeistert.

Ich hatte noch nicht besonders viele Vergleichsmöglichkeiten, deshalb kann ich dazu nichts sagen.

Serena lachte fröhlich. „Natürlich! Deine Eltern sind sicher genauso mächtig wie du, oder? Da dachtest du bestimmt die ganze Zeit, alle Zauberer seien so mächtig wie die in deiner Familie.“

Ich war versucht, sie einfach in ihrer Annahme zu bestätigen. Andererseits wollte ich mich nicht in mehr Lügen verstricken als unbedingt notwendig. Meine Eltern sind gestorben als ich zehn war. Ich weiß nicht, ob sie mächtig waren oder nicht. Damals konnte ich das noch schlechter einschätzen als heute.

„Oh“, machte Serena und starrte mich bestürzt an. „Es tut mir so leid, Amelie. Hätte ich das gewusst…

„Schon gut.“ Ich wollte mich umdrehen und den Gang weiter gehen, doch Serenas Stimme hielt mich zurück: Es tut mir leid, dass ich so taktlos war, wirklich. Aber was deinen sechsten Sinn angeht, könnte ich dir helfen. Ich könnte dir beibringen, ihn besser zu kontrollieren.

Ich drehte mich um und musterte die andere Zauberin.

„Alles eine Frage der Übung. Also, was sagst du? Wir haben eine Menge Zeit totzuschlagen.“

Ich lachte auf. „Und wo willst du das machen? Wir werden hier kaum ein leeres Abteil finden.“ Ich hatte eher das Gefühl, dass wir, sollte Lucian uns keine Plätze reserviert haben, auf dem Gang sitzen würden.

Serena grinste. „Wir gehen einfach in den Speisewagen. Schließlich tun wir nichts, was die Menschen als Magie entlarven könnten. Nur reden und… na ja, die geistigen Fühler ein wenig ausstrecken.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Eigentlich wollte ich mit dieser Frau nichts zu tun haben. So nett und aufgeschlossen sie auch wirkte – sie arbeitete mit Lucian zusammen. Sie kannte sich mit Dämonenbeschwörungen, einer der dunklen Seiten der Zauberei, aus. Sie hatte vor, ihre Kräfte einzusetzen, um Menschen zu töten. Nur konnte ich ihr all das schlecht offen vorhalten. Schließlich spielte ich eine Gleichgesinnte. Und es konnte nicht schaden, mehr Kontrolle über meine Kräfte zu erlangen. Ich seufzte innerlich. Und nickte Serena zu.

Serena gab mir keinen Grund, meine Entscheidung zu bereuen. Sie erklärte mir alles, was ich über den sechsten Sinn wissen musste und ermutigte mich, ihn an beinahe jedem Mensch im Bordrestaurant zu testen. So langsam bekam ich Routine darin.

Außerdem musste ich zugeben, dass es recht angenehm war, mit Serena im Bordrestaurant zu sitzen und Kaffee zu trinken. Die Zauberin behielt die Herzlichkeit, die sie bereits am Bahnhof gezeigt hatte, unermüdlich bei. Zwischendurch war ich beinahe versucht zu vergessen, was sie war. Eine von denen.

Als ich irgendwann aufstand, weil ich nach zwei Tassen Kaffee die Bordtoilette aufsuchen musste, erhob sich Serena ebenfalls.

„Ich setze mich zu Lucian und Marcelle ins Abteil. Das ist dahinten, im übernächsten Wagon.“

Ich weiß. Bis gleich.“ Gut, dass Serena mich daran erinnert hatte. Sonst wäre mir meine offene Rechnung mit Lucian beinahe entfallen. Aber mit ein bisschen Glück konnte ich sie jetzt begleichen, noch bevor wir in Paris ankamen.

Als ich die müffelnde Zugtoilette verließ, machte ich mich mit beschwingten Schritten auf den Weg zu Lucians Abteil. Bisher war mir zwar noch keine passende Gemeinheit eingefallen, doch ich war sicher, dass der Anblick des Vampirs mich inspirieren würde. Ich kämpfte mich durch den mit Gepäck voll gestellten Gang eines Großraumwagens, passierte eine Tür und… blieb überrascht stehen.

Nur ein paar Meter weiter, wo eine Tür zum nächsten Großraumwagen führte, stand jemand. Der Gang machte an dieser Stelle einen Knick und die Person war halb hinter der Wand verborgen. Trotzdem erkannte ich eindeutig den langen Mantel und das schwarze Haar. Was machte Lucian da? Mir kam ein schrecklicher Verdacht, der mein Herz vor Empörung schneller schlagen ließ.

„Sag nicht, dass du dir was zum Trinken suchst!“ Die Worte waren heraus, noch bevor ich zu ihm aufgeholt hatte. Erst als ich um die Ecke spähte, bemerkte ich, dass er gar nicht in den Großraumwagen lugte. Stattdessen starrte er durch das Fenster in der Zugtür nach draußen.

„Wieso sollte ich? Ich habe alles dabei, was ich brauche.“ Seine Stimme klang seltsam tonlos. Weder herablassen, noch amüsiert, noch sonst irgendetwas. In diesem Moment erreichte die Bedeutung seiner Worte meinen Verstand. „Was soll das heißen: Du hast alles dabei?“

Nervtötend langsam drehte sich der Vampir zu mir um. „Was glaubst du, was ich damit meine?“ Seine Stimme hatte zu ihrem alten Selbst zurückgefunden. Unschuldig wie das Maunzen eines Kätzchens zeigte sie mir, das Lucian sich mal wieder über mich lustig machte.

Ich starrte ihn an und spürte, wie die mittlerweile vertraute Wut zurückkehrte. „Lass deine Ratespielchen! Wenn du auch nur einem Menschen hier schadest…

„Dann?“ Lucians Mund verzog sich zu einem erwartungsvollen Lächeln.

„Das war nicht Teil der Abmachung! Ich werde nicht zusehen, wie du wehrlose Menschen beißt!“

„Wer redet denn von wehrlos?“ Plötzlich packte er meinen Oberarm und zerrte mich durch die Tür in den nächsten Großraumwagen hinein.

„Lass das! Bist du verrückt?

Alle starrten uns an, aber niemand hielt es für nötig, etwas zu sagen, geschweige denn, mir zu helfen. Als wir den nächsten Gang erreicht hatten, reichte es mir. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen Lucians Gewicht, versuchte, ihn zum Stehen zu bringen aber es war aussichtslos. Er zerrte mich einfach weiter, wurde nicht mal langsamer. Ich griff blind nach irgendetwas und bekam den Griff einer Abteiltür zu fassen. Ich klammerte mich daran fest, doch der Vampir achtete nicht darauf. Als er mich weiter zog und ich den Griff nicht losließ, riss die Tür mit einem lauten Scheppern auf.

„Lass los“, befahl Lucian und blieb tatsächlich stehen.

Die sechs Passagiere in dem Abteil starrten uns perplex an.

Lass du los!“

Lucian zerrte mich mit einem so heftigen Ruck weiter, dass meine Finger vom Türgriff gerissen wurden. Stöhnend krümmte ich meine Finger eins-, zweimal, um zu sehen, ob sie schwerere Schäden davongetragen hatten. Die Schmerzen sprachen dafür. Doch bis auf die roten Druckstellen an der Innenseite schien die Hand in Ordnung zu sein.

Ich öffnete den Mund, um lauthals nach Hilfe zu schreien, da zog mich Lucian plötzlich in ein Abteil.

„Ah, da ist ja mein Häppchen.“

Endlich ließ er mich los. Ich schüttelte den tauben Arm, an dem Lucian mich durch den halben Zug geschleift hatte, während ich mich verwirrt umsah. Wir waren in unserem Abteil. Zumindest ging ich davon aus, dass Lucian das ganze Abteil reserviert hatte. Warum sonst sollte es, bis auf Marcelle und Serena, leer sein?

„Ich glaube, es ist wieder Zeit.“ Ich folgte Lucians Blick, der direkt auf die Zauberin gerichtet war.

„Was soll das heißen?“ Ein unguter Verdacht stieg in mir hoch.

„Das würde ich auch gerne wissen.“ Serenas Stimme wies eine Schärfe auf, die nicht so recht zu ihrer lieblichen Art passen wollte. „Du hast gestern ausgiebig getrunken. Heute wäre es für mich zu früh, wieder Blut zu verlieren. Das weißt du selbst am besten. Also: Was soll das?“

Ich starrte die Zauberin an, unfähig, den Sinn hinter ihren Worten zu begreifen. Nur langsam sickerte das Offensichtliche bis in meinen Verstand durch. Serena ließ sich als Imbiss missbrauchen.

„Was das soll?“, fragte Lucien mit laszivem Unterton und dem passenden Blick dazu. „Du machst dir keine Vorstellung davon, wie süß das Blut einer Zauberin schmeckt. Man könnte auch sagen, ich kann einfach nicht genug von dir bekommen.“

Mir war schlecht. Ganz sicher würde ich mich übergeben, wenn ich noch länger in diesem Abteil blieb. Doch ich konnte nicht gehen, ohne mir ganz sicher zu sein. „Du lässt ihn von dir trinken?“ Ich war selbst überrascht, wie viel Abscheu ich in einen einzigen Satz legen konnte.

Serena sah mich mit ihren blauen Augen an und biss sich auf die Unterlippe. „Es war seine Bedingung dafür, dass ich bei dieser Sache mitmachen darf, sagte sie und zupfte ihr Halstuch zurecht.

„Da hast du dich aber ganz schön übers Ohr hauen lassen. Von mir wurden nämlich keine Sonderleistungen verlangt! Und selbst wenn… wie kannst du dich auf so was einlassen? Und dann auch noch mit ihm?

Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Lucian amüsiert die Augenbrauen hob.

Er weiß eben, von wem er wie viel verlangen kann, murmelte Serena so leise, dass ich sie beinahe nicht verstanden hätte. Ihre Augen richteten sich auf Lucian.

Ich folgte ihrem Blick.

„Na na na“, rügte Lucian gespielt beleidigt. „Da sagt aber jemand nicht die ganze Wahrheit, oder?“ Er musterte Serena tadelnd. Ist es denn nicht wahr, dass du es wolltest?“

Die Zauberin nickte zögernd.

Du wolltest es und das spürte ich“, nickte Lucian zufrieden. Du wolltest wissen, ob es ebenso sein könnte wie früher. Nur deshalb erlegte ich dir diese Bedingung auf.

Mein Kopf schwirrte von den vielen ekelerregenden Informationen.

„Du hast Recht“, bestätigte die Zauberin in diesem Moment. Ihre Stimme war wieder vollkommen ruhig und auch ihr Gesicht hatte sich entspannt. Ich wollte wissen, ob es mit jedem Vampir gleich ist. Du wusstest, dass es nicht so sein würde. Trotzdem hast du es von mir verlangt. Ich nehme es dir nicht übel, denn es ist eure Art, zuerst an euch und nicht an andere zu denken.“

Lucian lächelte zustimmend.

„Dennoch verstehe ich nicht, was du mit diesem Gespräch bezweckst.“

Lucians Lächeln wurde breiter und seine Augen richteten sich auf mich. „Mir schien, dass unsere neue Zauberin vergessen hatte, dass sie nicht in Begleitung gewöhnlicher Sterblicher reist. Ich dachte, es wäre in ihrem Interesse, sie daran zu erinnern.“

Obwohl er andere Wörter benutzte, klang es in meinen Ohren verdächtig wie: Wenn sie nicht mehr Respekt zeigt, wird sie ebenfalls als Häppchen enden. Und ich war mir sicher, dass er genau das damit sagen wollte. Obwohl mir Serenas Offenbarung noch immer schwer im Magen lag, konnte ich nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. Wie traurig: Der arme Vampir fühlte sich so wenig respektiert, dass er mir Serenas Dienst als Lunchpaket unter die Nase reiben musste, um sein Ego aufzupolieren.

Amelie“, kam es in diesem Moment flüsternd von Serena. „Ich würde es dir gerne erklären. Damit du verstehst.“

„Kein Bedarf, danke.“ Das fehlte mir gerade noch, dass sie mir von ihrer verkorksten Kindheit vorheulte. Als ob es irgendeinen Grund gäbe, so einen – ich warf Lucian einen angewiderten Blick zu, den er mit einem verbindlichen Lächeln quittierte – von sich trinken zu lassen.

„Mein Freund war ein Vampir.“

Widerwillig sah ich zu ihr zurück. Das war zumindest etwas, das ich nicht erwartet hatte. Ich musste an das letzte Kapitel in meinem Vampirbuch denken. So viel zu der Frage, wer schon so blöd war, sich mit einem Blutsauger einzulassen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Daher also das Ganze. Sie hatte einfach ein Faible für die Untoten – deshalb wollte sie auch helfen, den Bund zu vernichten. Klar, dass sie es nicht gerne sah, wenn dieser einen Vampir nach dem anderen abschlachtete. Am Ende blieb vielleicht keiner mehr für sie übrig.

„Und was genau soll das erklären?“, fragte ich, ehrlich interessiert an der Sichtweise einer solch verdrehten Person.

„Er war noch kein Vampir, als wir uns kennen lernten. Ein trauriges Lächeln breitete sich auf Serenas Gesicht aus. „Er wurde im Laufe unserer Beziehung zu einem gemacht. Glücklicherweise war sein Meister sehr nachsichtig und erlaubte ihm, weiterhin mit mir zu leben. Anfangs… wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Natürlich konnte ich ihn nicht einfach so verlassen, nur weil er plötzlich kein Mensch mehr war. Ich versuchte, ihm in dieser Zeit, die auch für ihn sehr schwer war, zu verstehen und zu unterstützen. Und mit der Zeit ließ ich ihn natürlich auch von mir trinken.“

Natürlich.

Serena schien die Ironie in meiner Zustimmung aufgefallen zu sein, denn sie stellte lächelnd fest: „Du weißt nicht viel über Vampire, oder?

Dafür über Menschen: Und es ist nicht normal, einen Untoten einfach so an seine Halsschlagader zu lassen. Egal, ob Freund, Ehemann oder Großvater.“

„Mir ist klar, dass es für dich schwer vorstellbar ist“, sagte sie. „Du warst aber auch noch nie in solch einer Situation. Vorher hätte ich auch nicht gedacht, dass ich jemals einen Vampir mein Blut trinken lassen würde.“ Sie seufzte. „Die ganze Problematik liegt in der Beziehung zwischen Vampiren und ihren Opfern. Entgegen der weitläufigen Meinung trinken Vampire normalerweise nicht von irgendjemandem. Sie suchen sich ein Opfer, das ihnen zusagt, und trinken von diesem über Monate hinweg. Für sie hat der Akt des Trinkens etwas Intimes. Ich wollte nicht, dass Ben das mit einer anderen Person tut. Sie lächelte gedankenverloren. „Es ist auch für den Mensch etwas ganz Besonderes, zumindest wenn man Gefühle für den Vampir hat. Wenn nicht… “ Sie ließ den Satz offen, warf aber Lucian einen bedeutungsschweren Blick zu.

Der Vampir leckte sich provozierend über die Lippen.

Ich wandte mich von ihm ab.

Serena ebenfalls. Sie seufzte. „Es gibt Schlimmeres.“

Und was sagt dein Ben dazu, dass du diesen intimen Akt nun mit einem anderen Vampir vollziehst?“, fragte ich. Es war der letzte Versuch, Serena wachzurütteln und damit Lucian sein Proviant auszuspannen.

Doch Serena lächelte nur traurig. „Er ist tot.“

„Wie ist das passiert?“

Sie zuckte mit den Achseln, ihr Gesicht überschattet von nicht überwundener Traurigkeit. „Der Bund.“

Ich sah den Schmerz in den grünen Augen und irgendwo in meinem Inneren regte sich ein Funken Mitleid. Es war schrecklich, jemanden zu verlieren, den man liebte. Egal ob dieser jemand die Liebe verdient hatte oder nicht.

Ich schüttelte den Kopf und schob das Mitleid zur Seite, denn mir war etwas anderes aufgefallen: Der Bund hatte Ben getötet. Zumindest kannte ich nun Serenas Motiv, Lucian bei seinem Plan zu helfen.

„Was ist mit dir?“, erklang plötzlich Lucians seidige Stimme.

Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass er mit mir sprach. Ich hob fragend die Augenbrauen.

„Was für einen Grund hast du, bei unserem Vorhaben mitzumachen?“ Aus den blauen Augen sprühte pure Belustigung.

Am Rande meines Blickfeldes sah ich, wie Serena Marcelle einen Blick zuwarf, den ich nicht deuten konnte.

Mechanisch begann ich, die Geschichte zu erzählen, die ich mir zurecht gelegt hatte: „Ich bin zusammen mit einem Freund aufgewachsen, der ebenfalls Zauberer war. Als unsere Eltern gestorben sind, haben wir versucht, uns gegenseitig den Umgang mit unseren Kräften beizubringen. Wir wollten sogar einen Zaubererzirkel gründen. Bis hierhin entsprach es wenigstens der Wahrheit. „Im Grunde war es ähnlich wie bei dir“, sagte ich mit einem Blick zu Serena und begann mit dem Teil der Geschichte, der frei erfunden war: „Er wurde vom Bund getötet, aber es war nicht seine Schuld. Er hat nichts Böses getan. Es war eher… ein Missverständnis.“ Es fühlte sich seltsam an, diese Lüge zu erzählen. Vor allem, weil ich mir während der letzten Jahre so oft gewünscht hatte, dass Chris tatsächlich tot wäre. Dass ich nicht spüren konnte, dass er lebte, dass es ihm gut ging. Nicht zu wissen, dass er einfach gegangen war ohne es für nötig zu halten, mir seine Gründe zu nennen oder sich auch nur zu verabschieden.

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Ich konnte es mir nicht leisten, melancholisch zu werden.

Erst jetzt fiel mir das Schweigen auf, das meinen Erzählungen gefolgt war. Niemand hatte meine Geschichte kommentiert. Nicht mal der Vampir.

Ich forschte in Lucians Augen nach einem Hinweis darauf, dass meine Lüge nicht glaubwürdig gewesen war. Doch seine Augen, ja sein ganzes Gesicht, war auf einmal vollkommen leer. Ohne mich weiter zu beachten, setzte er sich auf den freien Platz gegenüber Marcelle und richtete den Blick aus dem Fenster.

Hatte ich etwas Falsches gesagt? Mich unbewusst verraten? Ich ging meine Geschichte noch mal im Geiste durch, als plötzlich Serena aufstand und meine Hand nahm. Ich verstehe dich sehr gut“, sagte sie mitfühlend. „Jemanden zu verlieren, den man liebt – unter welchen Umständen auch immer – verändert uns. Manchmal werden wir dadurch zu Taten getrieben, zu denen wir sonst nie fähig gewesen wären.

Ich entzog ihr meine Hand, doch zwang mich zu einem dankbaren Lächeln.

Serena nickte mir noch einmal verständnisvoll zu, dann setzte sie sich zurück auf ihren Platz.

Ich ließ mich auf dem Sitz ihr schräg gegenüber nieder. So saß ich zwar neben Lucian, jedoch mit einem freien Platz Abstand zwischen uns.

Ich wollte aus dem Fenster schauen, meine Gedanken ordnen, doch mein Blick blieb an dem Vampir hängen.

Er drehte den Kopf und sah mich an, aber nicht wirklich. In seiner Nachdenklichkeit sah er mehr durch mich hindurch.

Ich wollte den Mund öffnen, um ihm zu sagen, dass er woanders hinschauen sollte, da blinzelte Lucian plötzlich und sah mich direkt an. Einen langen Moment starrten wir uns in die Augen. Dann drehte Lucian sich abrupt um und sah aus dem Fenster.

In diesem Moment ertönte eine Durchsage: „Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir unseren Zielbahnhof: Paris Est. Wir bitten alle Fahrgäste, hier auszusteigen. Wir danken Ihnen für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn.

Dann noch mal dasselbe auf Französisch. Das heißt, ich vermutete, dass es dasselbe war. Mein Schulfranzösisch war ziemlich eingestaubt.

Mit vor der Brust verschränkten Armen wartete ich darauf, dass die Vampire und Serena aufstehen würden, doch keiner der drei rührte sich.

Schon spürte ich, wie der Zug langsamer wurde und schließlich hielt. Ich sah abermals zu meiner Rechten, doch sowohl Marcelle als auch Lucian starrten nur stumm aus dem Fenster. Ich hörte, wie Menschen an unserem Abteil vorbei liefen. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, sah ich ebenfalls aus dem Fenster. Die Sicht war mehr als gewöhnlich: Menschenmassen, die unter dem hell erleuchteten Schild mit der Aufschrift „Gare de l’Est“ hindurch hetzten. Trotzdem wunderte es mich nicht, dass die beiden Vampire von dem Anblick so gefangen waren. Ich stellte mir vor, dass statt Menschen gebratene halbe Hähnchen auf dem Bahnsteig herumliefen und fand die Aussicht plötzlich auch viel interessanter.

Einen Moment später, wie auf ein geheimes Zeichen hin, erhoben sich Lucian und Marcelle synchron und schritten zur Tür. Ohne einen Blick zurück zu werfen verließen sie das Abteil. Fragend sah ich Serena an. Die zuckte lächelnd mit den Achseln. „Gewöhn dich dran. Es geht nach Lucians Willen, immer und überall.“

Die Uhr am Gleis zeigte halb zehn. Da der Zug bereits vor einer Weile gehalten hatte, war nicht mehr allzu viel auf dem Bahnsteig los. Auch von Lucian und Marcelle keine Spur.

„Komm“, sagte Serena und zeigte auf die Rolltreppe.

„Wo sind die beiden?“

„Wahrscheinlich dort, wo die Taxen halten. Unser Hotel liegt etwas außerhalb, im Westen von Paris. Es ist ein ganzes Stückchen bis dorthin. Und kannst du dir vorstellen, dass Lucian sich in einen Bus setzen würde?“

Wie eine willenlose Hülle ließ ich mich von Serena durch die Wirren des Pariser Bahnhofes bugsieren. Leute rempelten mich an und ständig schnappte ich unverständliche Gesprächsfetzen auf. Als wir endlich draußen waren und die Taxen in Sicht kamen, wollte ich nur noch weg. Ins Hotel, Bettina anrufen und mit ihr klären, wie ich weiter vorgehen sollte. Aber mir stand ja noch eine vampirische Taxifahrt bevor.

Serena zog mich weiter. Offensichtlich hatte sie unsere Begleiter entdeckt. Als ich den Kopf hob, sah ich sie ebenfalls. Sie standen neben einem Taxi und sahen uns gelangweilt entgegen.

„Wir dachten schon, jemand anderes hätte euch zum Essen eingeladen. Der Gedanke hat uns über alle Maßen betrüblich gestimmt.“ Mit einem viel sagenden Lächeln entblößte Lucian seine Eckzähne. Dann streckte er die Hand aus und öffnete die Beifahrertür. Mit einem Kopfnicken bedeutete er Serena, einzusteigen.

Während die Zauberin Lucians Befehl Folge leistete, ging Marcelle um das Taxi herum und stieg hinten ein. Als ich meinen Blick wieder auf Lucian richtete, hielt der mir einladend die Tür zur Rückbank auf.

Ich lachte ihn aus. „Ganz sicher quetsche ich mich nicht zwischen euch beide.“

„Du bist die Kleinste von uns. Ist es da nicht nur praktisch, wenn du in der Mitte sitzt?“

„Erstens ist Serena kleiner als ich und zweitens lass ich mir von dir nicht meinen Platz zuweisen.

„Dies hier ist meine Reise und, da ich es bezahle, auch mein Taxi. Wenn du also nicht laufen willst, schlage ich vor, dass du jetzt einsteigst.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Vampir herausfordernd an.

„Eins“, begann Lucian plötzlich zu zählen.

Ich verdrehte die Augen. Als ob ich – nur weil er auf einmal Zahlen aneinanderreihte freiwillig einsteigen würde.

Das schien dem Vampir in diesem Moment auch zu dämmern. Statt in seiner Zahlenfolge fortzufahren, packte er mich an den Oberarmen. Bevor ich reagieren konnte, hatte Lucian mich ins Auto geschoben. Ich trat und schlug nach ihm, doch traf kein einziges Mal. Obwohl er direkt neben mir saß.

„Du solltest dich anschnallen.

Ich ignorierte ihn.

Deine Einfältigkeit ist wirklich entzückend. Wie du dich verausgabst, ohne zu verstehen, dass ich zu schnell für deine menschlichen Reflexe bin. Überaus amüsant.“ Er sagte zum Taxifahrer etwas auf Französisch. Das Auto fuhr an.

Ich versuchte, eine einigermaßen bequeme Sitzstellung zu finden, was schlichtweg unmöglich war. Auf der einen Seite quoll mir Marcelles üppiges Kleid entgegen, auf der anderen presste sich Lucians Bein an meines. Dabei machte ich mich schon so schmal wie möglich. Ich schielte zu dem Vampir rüber, um feststellen, ob er auf der anderen Seite noch Platz hatte.

„Du erinnerst mich an jemanden“, bemerkte Lucian abwesend zum Fenster hin.

Ich stellte meine Detektivarbeit ein.

„Ja, jetzt weiß ich es.“ Er wandte sich vom Fenster ab und sah mich mit unlesbarem Blick an. „Marie Antoinette. Auch sie gab anfangs vor, mich abstoßend zu finden. Doch beobachtete sie mich immer dann, wenn sie dachte, niemand würde hinsehen.“

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, worauf er damit anspielte. „Ich wollte nur wissen, ob du mir absichtlich so nah auf die Pelle rückst! Deshalb habe ich zu dir herüber gesehen.

Lucian lächelte lasziv. „Marie Antoinette war ebenfalls nie um eine Ausrede verlegen.“ Er sah mich verträumt an. „Oh ja, sie war… etwas ganz Besonderes.“

„Sehe ich aus, als würde mich das interessieren?“ Ich richtete meinen Blick demonstrativ nach vorn. Als nächstes würde Lucian mir wahrscheinlich erzählen, dass in Wirklichkeit er Napoleon Bonaparte gewesen war.

„Sie wehrte sich lange gegen ihre wahren Gefühle“, fuhr Lucian ungefragt fort. „Besonders, als sie merkte, was ich wirklich war. Aber als der Druck am Königshof immer größer wurde, bat sie mich, sie zu meinem Geschöpf zu machen.“ Ohne hinzusehen wusste ich, dass Lucians Blick sich an meinem Gesicht festgesogen hatte. Ich ignorierte ihn weiterhin.

„Wirklich schade, dass ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen konnte. Denn, wie du dir vielleicht denken kannst, hatte ich damals schon jemand anderes im Auge. Und Marcelle erschien mir um einiges geeigneter als diese verwöhnte, gelangweilte Königin.“

Ich warf Marcelle einen Blick zu, doch sie hielt ihre Augen stur nach vorn gerichtet.

Was der Bund ihr wohl geboten hatte, damit sie Lucian verriet? In dem Vampirbuch hatte ich gelesen, dass es Meister gab, die ihre Geschöpfe zwangen, ihr Blut zu trinken und so zum Vampir zu werden. Ob Lucian sie gegen ihren Willen zum Blutsauger gemacht hatte? Das würde einiges erklären.

Möglichst unauffällig wandte ich meinen Blick wieder nach rechts. Ich musterte Lucians Spiegelbild im Fenster und erschrak, als sich seine Augen durch die Scheibe auf mich richteten. Diesmal kommentierte er mein Starren jedoch nicht. Er sah mich nur einen Augenblick an, dann richteten sich seine Augen wieder auf das nächtliche Paris.

Und plötzlich musste ich an vorhin denken, als ich im Zug von der Toilette gekommen und Lucian auf dem Gang vorgefunden hatte – in einer ähnlichen Pose wie jetzt. Was hatte der Kerl nur mit Fenstern, dass er ständig grübelnd durch sie hindurch starrte?

Ich wandte den Blick von Lucian ab und riss erschrocken die Augen auf, als ich sah, dass sich Serena zur Rückbank umgedreht hatte. Sie sah mich an, mit einem ungewöhnlich ernsten Ausdruck in den grünen Augen. Sie öffnete den Mund, schien etwas sagen zu wollen. Ihr Blick schweifte zu Lucian, dann zurück zu mir. Sie lächelte gequält und drehte sich wieder um. Die restliche Fahrt verbrachten wir in Schweigen.