Kapitel 8
Als ich aufwachte, hatte ich schreckliche Halsschmerzen. Jedes Schlucken tat weh und mein Gesicht glühte. Ich rappelte mich schnaufend hoch – seit wann war Aufstehen so anstrengend? – und spürte dabei jeden Muskel.
Wenigstens stand die Sonne hoch am Himmel und spendete etwas Wärme. Es musste zwei oder drei Uhr nachmittags sein. Trotzdem fühlten sich die Temperaturen noch gefährlich nahe dem Gefrierpunkt an. Ich sah mich nach Sassa um und entdeckte ihn zusammengerollt einige Meter von meiner Schlafstelle entfernt.
„Komm, du Faultier“, krächzte ich. „Wir müssen los!“ Und mir in Paris möglichst bald einen Arzt besorgen.
Der Dämon gähnte und streckte sich wie eine Katze. Dann stand er auf und begann, wortlos die Straße weiter zu marschieren. Ein Morgenmuffel - wie putzig. Vielleicht war ihm auch einfach nur kalt.
„Mir ist nicht kalt“, maulte der Kleine, als ich zu ihm aufgeholt hatte. „Aber du siehst aus wie der Tod höchstpersönlich. Wir sollten uns wirklich beeilen, sonst siehst du bald nicht mehr nur so aus.“
Ich verkniff mir jeglichen Kommentar, weil ich fürchtete, dass Sassa Recht hatte.
Wir liefen lange schweigend nebeneinander her. Viel länger, als ich durchzuhalten erwartet hätte. Wie weit war es noch bis Paris? Sechzig Kilometer? Mehr?
Es begann zu dämmern. Der Himmel erstrahlte in lila und rot, dann war die Sonne verschwunden. Es war wieder Nacht.
Ein paar Stunden später erreichten wir die Stelle, an der die Überreste der Kutsche lagen. Ein bisschen geschmolzenes Metall, ein paar Holz- und Plastikreste, sonst nichts. Seltsam, dass das noch niemand beseitigt hatte. Es lag mitten auf der Straße. Aber das zeigte nur, wie selten hier jemand vorbeikam.
Alles in allem ein trauriges Bild. Besonders deshalb, weil ich mir nun ausrechnen konnte, dass wir noch etwa vierzig Kilometer von Paris entfernt waren.
Da! War da nicht jemand? Ich war mir sicher, etwas gehört zu haben. Ein Rascheln in den Büschen? In denselben Büschen, in denen ich gestern die Bundmitglieder ein Rascheln hatte hören lassen.
„Das war bestimmt nur ein Tier. Komm weiter!“, drängte Sassa.
„Warte“, flüsterte ich. Langsam schlich ich auf die Büsche zu. Wahrscheinlich war es nur ein Tier. Oder da war gar nichts und meine kranken Sinne spielten mir einen Streich. Aber vielleicht auch nicht. Ich stellte mir vor, wie Lucian hockend hinter dem Busch saß und mich angrinste, sobald ich dahinter sah. Mein Gehirn funktionierte wirklich nicht mehr richtig. Lucian würde wohl nie auf die Idee kommen, sich hinter einen Busch zu hocken.
Plötzlich hörte ich Geräusche aus einer anderen Richtung. Hufe. Es waren Pferde, die ich hörte! Eine Kutsche? Mir schwante Böses. Mein Herz raste, als ich versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das Hufgetrappel kam immer näher. Dann durchschnitt ein Schuss die Nacht. Im selben Moment erstarb das Hufgetrappel. Jemand packte mich grob an den Armen und riss mich um. Ein vertrauter Geruch drang mir in die Nase, eine Mischung aus nassem Gras und Vanille. Dann war der Geruch verschwunden und ich kam hart auf dem Boden auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Hand. Ich hob den Kopf, doch konnte niemanden entdecken. Erst, als ich mich den Büschen zuwandte, sah ich etwas. Mehrere dunkle Schatten, die miteinander kämpften. Noch ein Schuss. Dann war alles still. Keine Kampfgeräusche mehr, keine Schüsse. Dafür eine große, dunkle Gestalt, die sich zielstrebig auf mich zu bewegte. Ich rappelte mich vom Boden hoch. Diese Gestalt kannte ich. Oh ja, ich kannte sie.
„Das ist der Vampir, Dummchen! Du musst abhauen! Sofort!“ Sassas kreischende Stimme ließ meinen Kopf noch mehr schmerzen, als er es ohnehin tat.
Lucian blieb ein paar Meter von mir entfernt stehen. Doch er sah mich gar nicht an, sondern hatte die Augen auf einen Punkt hinter mir gerichtet. Ich musste die Chance nutzen. Vorsichtig ging ich ein paar Schritte rückwärts. Dann drehte ich mich um und wollte losrennen. Ich gefror in meinen Bewegungen.
Da stand jemand hinter mir. Die Gestalt packte mich am Arm und riss mich herum, so dass ich wieder in Lucians Richtung sah. Kühles Metall presste sich an meine Schläfe.
„Wie überaus herzerwärmend“, dröhnte eine männliche, mir unbekannte Stimme. „Ein Vampir, der einem Menschen hilft. Aber was macht der Vampir jetzt, wo ich sein Menschlein habe?“
Mit der einen Hand presste der Mann weiterhin die Waffe gegen meinen Kopf. Die andere Hand umklammerte meine Hüfte, hielt mich eng an seinen Körper gepresst. Mir war schwindelig und der Schweißgeruch, der mir penetrant in die Nase stieg, ließ mich beinahe würgen. Ich starrte Lucian an, der uns unbeweglich gegenüber stand. Seine Augen sahen an mir vorbei zu dem Mann, der mich festhielt.
Ich schielte zu der Waffe an meinem Kopf. Irgendetwas musste ich tun. Da verließ die Waffe plötzlich meine Schläfe. Eine Sekunde lang fragte ich mich, was der Kerl vorhatte. Dann wurde es mir klar. Mein Körper reagierte ohne mein Zutun. Ich schlug nach der Hand, die die Waffe hielt. Der Schuss verfehlte Lucian und verlor sich in der Dunkelheit. Im nächsten Moment hing Sassa an der Schusshand. Der Mann schrie, als der Dämon ihn biss, dann sackte er plötzlich leblos zusammen. Ungläubig starrte ich auf die Leiche zu meinen Füßen und dann zu Lucian hoch, der daneben stand.
„Gut gemacht, Amelie“, seufzte Sassa. „Du hast ihn schon wieder gerettet. Und mich sogar zum Mittäter gemacht!“
„Ich hab mich selbst gerettet“, zischte ich und warf dem Dämon einen bösen Blick zu. Großer Fehler. Kaum, dass ich meinen Blick gen Boden gerichtet hatte, begann sich dieser unter mir zu drehen. Nur mit Mühe fand ich mein Gleichgewicht wieder. Mein Kopf fühlte sich mindestens doppelte so groß an wie normalerweise. Es fiel mir unendlich schwer, die Augen offen zu halten. Ich starrte zu Lucian hoch und bemerkte, dass es plötzlich drei Lucians waren, die vor mir standen.
„Werd jetzt nicht ohnmächtig! Wir müssen hier weg! Fliehen! Du darfst nicht zulassen, dass er uns mitnimmt!“ Sassa zerrte an meinem Hosenbein.
„Lass das“, flüsterte ich matt.
„Du siehst nicht gut aus“, stellten die drei Lucians fest, als sie mich von oben bis unten musterten. Doch ihre Blicke blieben nicht an meinem Gesicht, sondern an meiner rechten Hand hängen. Ich hob sie nah an meine Augen, um zu sehen, was so besonders an ihr war. Blut. Ein feines Rinnsal der roten Flüssigkeit zog sich seinen Weg von meiner Handfläche über meinen Arm hinunter. Vage erinnerte ich mich an den stechenden Schmerz, als Lucian mich zu Boden gerissen hatte. Langsam sah ich wieder zu den Vampiren hoch. Ihre Augen waren noch immer auf mein Blut fixiert.
„Denkt nicht mal dran“, krächzte ich. „Ich bin nicht euer… äh dein Abendessen.“
Endlich hoben sich die drei Augenpaare, um mir ins Gesicht zu sehen. Ich konnte keinerlei Gefühlsregung in ihnen erkennen. „Nimm deinen Dämon und komm mit“, befahlen die Lucians.
Ich bewegte mich keinen Zentimeter.
„Das ist die richtige Einstellung!“ jubelte Sassa. „Und jetzt nimm die Beine in die Hand und lauf!“
Ich versuchte es, doch meine Beine fühlten sich zentnerschwer an und bewegten sich keinen Zentimeter. Plötzlich spürte ich, wie ich fiel. Eigentlich spürte ich es nicht einmal. Ich sah nur, wie der Boden immer näher kam.
„Was machst du denn?“, kreischte Sassa neben mir.
Seltsamerweise kam ich nie auf dem Boden auf. Doch es war mir egal. Ich schloss die Augen. Schlafen, nur schlafen.
Ich wachte auf, weil ich auf ungesunde Weise hin und her geschaukelt wurde. Mit halb geschlossenen Augen versuchte ich, mich umzusehen. War ich im Zug? Das Schaukeln würde dazu passen. Doch nein, dies war eine andere Bewegung.
„Wir sind auf einem Pferd, du Nuss. Auf Lucians Pferd, genau gesagt. Herzlichen Glückwunsch, eine echte Glanzleistung war das. Du hast dich von ihm einfangen lassen. Oder sollte ich besser auffangen sagen?“
Ich hatte keine Ahnung, wovon das kleine Monster sprach. Nur das mit dem Pferd machte Sinn. Ich sah nach vorn und tatsächlich: Vor Sassa, der sich in meinem Schoß zusammengerollt hatte, hob und senkte sich ein pechschwarzer Pferdekopf. Als ich an mir hinunter blickte bemerkte ich die fremden Hände, die rechts und links unter meinen Armen die Zügel hielten. Besonders die linke dieser Hände erregte meine Aufmerksamkeit: Dickes Narbengewebe verunstaltete die ansonsten ebenmäßige Haut.
„Es ist verheilt“, erklärte Sassa. „Vampire heilen schneller, das müsstest du eigentlich wissen. Bald werden auch die Narben verschwunden sein. Eigentlich schade. So viel Mühe für nichts und wieder nichts.“
Lucian. Natürlich. Es waren seine Hände – und sein warmer Körper, an dem ich lehnte. Ich wollte hochschrecken, doch ich konnte keinen Muskel rühren. Trotzdem versuchte ich es. Das Ergebnis war, dass ich auf dem Rücken des Pferdes hin und her schaukelte und beinahe herunter fiel. Ich stöhnte gleichermaßen schmerzerfüllt wie frustriert.
„Was soll die Zappelei?“, fragte Lucians Stimme amüsiert. „Wir wollen doch nicht, dass du herunterfällst und dir das Genick brichst. Bei allem, was ich noch mit dir vorhabe.“
Ich schluckte. Dann sagte ich: „Du hast es also immer noch nötig, mir zu drohen, um dich selbst besser zu fühlen. Das ist wirklich traurig.“ Der zweite Satz ging teilweise in einem Hustenanfall unter. Sowieso war das, was als furchtloser Gegenschlag gemeint gewesen war, eher als heiseres Murmeln heraus gekommen. Sah der Vampir denn nicht, dass ich krank war? Kannte der denn gar keine Rücksicht?
Anscheinend nicht. „In der Tat tut es gut, die Phantasie ein wenig schweifen zu lassen. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie ich dich für deinen Verrat bestrafen könnte. Du hättest wirklich besser daran getan, dein Vorhaben zu Ende zu bringen, anstatt kopflos davonzulaufen. Das hätte dir eine Menge Probleme erspart.“
In meinen Ohren klang Lucians Stimme plötzlich seltsam bitter.
Aber ich hatte keine Kraft, mir darüber Gedanken zu machen. Stattdessen versuchte ich, Lucians Wärme zu ignorieren und schloss die Augen wieder. Doch egal, wie sehr ich mich anstrengte, ich schaffte es nicht, wieder einzuschlafen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, die wir durch die Nacht ritten.
Als wir endlich das Tor vor Lucians Anwesen passierten, bemerkte ich, dass der Himmel bereits heller geworden war. Bald würde die Sonne aufgehen.
Wir ritten den Weg entlang, den ich letzte Nacht zweimal gelaufen war. Diesmal konnte ich mehr erkennen. Neben dem wirklich eindrucksvollen Herrenhaus stand noch ein kleineres Gebäude, aus dem uns nun ein Mann entgegen kam. Er griff nach den Zügeln des Pferdes. „Gut, dass Ihr zurück seid, Monsieur. Wir waren schon in Sorge, Ihr würdet es nicht mehr vor Sonnenaufgang schaffen.“ In seiner Stimme schwang ein schwerer französischer Akzent. Ich spürte, wie die Wärme in meinem Rücken verschwand. Im nächsten Moment sah ich Lucian neben mir am Boden stehen. Sassa gähnte und streckte sich, dann sprang er vom Pferd.
Lucian grinste mich süffisant an und streckte die Arme nach mir aus. Widerspruchslos ließ ich mich hinein gleiten und vom Pferd heben. Ich wusste, dass ich die Absteigerei nicht allein geschafft hätte. Trotzdem war ich froh, als ich endlich wieder auf meinen eigenen Füßen stand. Leider währte die Freude nur kurz. Kaum hatten mich Lucians Arme losgelassen, wurde mir schwarz vor Augen. Ich taumelte, griff blind um mich, doch fasste ins Leere. Da legte sich ein Arm stützend um meine Taille, ein anderer um meine Kniekehlen. Ich wurde hochgehoben.
„Versorg das Pferd, Michel. Ich muss dafür sorgen, dass das Mädchen nicht ihrer Krankheit erliegt.“ Lag es an mir oder hörte sich der letzte Satz überaus ironisch an?
„Schließlich soll sie gesund sein für das, was ich mit ihr vorhabe.“
Schon wieder diese indirekte Drohung. Das wurde langsam eintönig. Genau das wollte ich dem Vampir sagen, doch kein Wort kam aus meinem Mund. Nur ein ungesundes Röcheln. Langsam klärte sich mein Blickfeld und ich sah, dass Lucian mich bereits durch die Eingangstür ins Haus trug.
„Serena!“, rief Lucian, kaum das wir das Haus betreten hatten. Fast im selben Moment kam die rothaarige Zauberin die Treppe hinunter gerannt. Bei meinem Anblick riss sie erschrocken die Augen auf. „Was ist mit ihr?“
„Wahrscheinlich eine Erkältung“, hörte ich Lucian gelangweilt antworten.
Eine Erkältung. Das konnte man leicht sagen, wenn man selbst seit vierhundert Jahren nicht mehr krank gewesen war!
„Du hast bestimmt keine Medikamente im Haus, oder?“, fragte Serena.
„Es sieht schlechter für dich aus als ich dachte!“, hörte ich Sassa von irgendwoher aufkeuchen.
Die Zauberin seufzte. „Das dachte ich mir.“ Offensichtlich hatte ich dank des hysterischen Dämons Lucians Reaktion verpasst. „Ich habe ein paar Kräuter in meinem Zimmer, die helfen könnten. Ich hole sie.“
Ich beobachtete, wie Serena die Treppe hochjagte, doch plötzlich verschwamm ihre Gestalt vor meinen Augen. Ich sah noch, wie Lucian mit mir ebenfalls auf die Treppen zusteuerte, dann füllte abermals Dunkelheit mein Blickfeld aus. Ich ließ mich fallen. In den Abgrund, an dessen Ende nichts war.
Ich wachte auf, weil ich das Gefühl hatte zu ersticken. Ich hustete, schlug um mich und riss die Augen auf.
„Du solltest den Sud wirklich trinken. Er hilft.“ Serena saß neben dem Bett, in dem ich lag, und hielt mir eine Tasse an die Lippen.
Als ich wieder Luft bekam, trank ich ein paar Schlückchen.
„Stirb nicht, bitte stirb nicht! Wer soll mich denn dann zurück schicken?“, drang Sassas Stimme an mein Ohr.
Serena setzte die Tasse mit dem Sud ab.
Ich schloss wieder die Augen.
Als ich das nächste Mal aufwachte, fühlte ich mich schon besser. Ich blickte mich um und bemerkte, dass ich in einem schwarz bezogenen Bett lag. Das Zimmer, in dem ich mich befand, hatte hohe Wände und riesige Fenster, durch die Sonnenstrahlen hereinfielen. In dem Raum standen außerdem eine schwere, mahagonifarbene Kommode und ein dunkler, runder Tisch mit passenden Stühlen. Links von meinem Bett befand ein Sessel aus rotem Samt, in dem Serena saß.
„Wie geht es dir?“, fragte sie. Die dunklen Ringe, die sich um ihre Augen zogen, ließen vermuten, dass sie lange nicht geschlafen hatte.
„Ja, wie geht es dir?“, fragte eine zweite Stimme.
Ich hob den Kopf und entdeckte Sassa, der wie ein Kätzchen an meinem Fußende lag und mich schläfrig anblinzelte.
„Kopfschmerzen.“ Meine Antwort war kaum mehr als ein Krächzen und schmerzte im Hals. Trotzdem schienen beide mich verstanden zu haben. Sassa ließ den Kopf einigermaßen zufrieden zurück auf die Bettdecke sinken.
Serena nickte und sagte: „Du hast dich ziemlich verkühlt. Ein paar Tage wirst du auf jeden Fall noch im Bett bleiben müssen. Aber ich glaube, dass ist in deiner Situation nicht das Schlechteste. Dein Kranksein gibt dir zumindest zeitweise einen gewissen Schutz.“
„Was soll das heißen?“, fragte ich mit rauer Stimme.
„Lucian ist ziemlich wütend“, erklärte Serena ohne Umschweife. „Aber nicht nur auf dich, wenn ich es mir recht überlege.“
Marcelle. Natürlich musste mit meinem Verrat auch ihrer aufgeflogen sein. Sicher war Lucian sofort klar gewesen, dass der Bund nur durch einen Spion in den eigenen Reihen von seinem Plan Wind bekommen haben konnte. „Wie geht es Marcelle?“, fragte ich, nicht so sehr aus Mitleid, sondern eher aus Neugier. Daran, dass mein Auftrag missglückt war, trug sie zumindest eine Teilschuld. Sie hatte ihr Versprechen gebrochen und sich feige zurückgezogen, als ich sie gebraucht hätte. „Lebt sie noch?“
Serena sah mich überrascht an. „Ich meinte nicht… “ Sie brach ab, schien kurz zu überlegen und nickte dann. „Ihr geht es gut.“
„Hat Lucian sie nicht für ihren Verrat betraft?“
Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Serenas Gesicht. „Doch. Aber das ist schon länger her.“
„Länger her?“ Ich stand auf der Leitung. „War ich so lange nicht ansprechbar?“ Doch ich hatte das Gefühl, dass Serenas Worte anders gemeint gewesen waren.
„Du verstehst nicht“, bestätigte die Zauberin meine Vermutung. „Mit ‚länger’ meine ich, noch bevor du überhaupt zu uns gestoßen bist.“
„Du meinst… “
„Lucian wusste schon, dass Marcelle ihn verraten hat, bevor der Bund dich überhaupt kontaktiert hat. Er hat es fast sofort herausgefunden, nachdem sich Marcelle das erste Mal mit dem Bund getroffen und ihm Lucians Plan – wenn auch nur zum Teil - verraten hat.“
„Aber das bedeutet… “ Ich konnte es nicht mal aussprechen.
Serena nickte. „Marcelle war schon längst nicht mehr auf der Seite des Bundes, als du sie und Lucian kennen gelernt hast.“
Ich hörte für einen Moment auf zu atmen.
„Lucian hielt es für eine gute Idee, den Bund weiterhin glauben zu lassen, dass sie in Marcelle eine treue Spionin hätten. Seinen Plan, Morddämonen beschwören zu lassen, kannten sie ohnehin schon. Nur über die Sache mit der zweiten Zauberin wusste der Bund nicht Bescheid, denn das überlegte Lucian sich erst, nachdem er Marcelles Verrat entdeckt hatte. Ihm gefiel der Gedanke, dass der Bund Marcelle traute und sie ihm so falsche Informationen zuspielen könnte, wenn es nötig wäre. Und natürlich sollte sie uns über die Pläne des Bundes auf dem Laufenden halten.“ Serena stockte kurz. „So wusste Lucian natürlich auch, dass der Bund ihm eine Zauberin schicken würde, die ihn töten sollte.“ Sie sah mich eindringlich an. „Wir kannten deine Absichten noch bevor du Lucian zum ersten Mal begegnet bist.“
Ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten. Hörte ihre Worte. Ich begriff auch, dass sie etwas Entscheidendes gesagt hatte. Etwas, das alles veränderte. Doch ich verstand nicht.
„Die letzten Tage waren eine einzige Farce. Ein großes Spiel, das Lucian sich ausgedacht hat.“
Ich schüttelte den Kopf. Immer und immer wieder. „Das kann nicht sein“, murmelte ich. „Das macht keinen Sinn. Als ich Lucian das erste Mal traf, wollte er mich töten. Er hat mir erst vertraut, als ich Marcelle erwähnte und… “ Ich brach entsetzt ab. Nein, so war es nicht gewesen. Er hatte mir Marcelles Namen genannt. Er hatte mich gefragt, ob sie meine Informantin gewesen war. So hatte er mich glauben lassen, ich hätte ihn ausgetrickst und mit meiner Lüge Erfolg gehabt. In Wahrheit war es genau umgekehrt gewesen. „Wieso das Ganze?“, murmelte ich fassungslos.
„Das weiß ich eben auch nicht! Eigentlich wollte Lucian dich nur treffen, weil er neugierig war, wen der Bund schicken würde, um ihn zu töten. Und dann hieß es auf einmal, wir würden die Beschwörung nicht in Deutschland, sondern auf seinem Anwesen in Frankreich durchführen. Und dich würden wir mitnehmen! Ich bin aus allen Wolken gefallen. Ich wollte von Marcelle wissen, was in diesem Pensionszimmer vorgefallen ist, dass Lucian plötzlich dieses Spiel mit dir spielen wollte. Sie sagte, es sei im Grunde nichts gewesen, und dass Lucian seine Entscheidung schon getroffen hatte, bevor er sie dazuholte. Er befahl ihr, sich vor dir als Spionin auszugeben. Und er quälte sie ein wenig, um die Show perfekt zu machen. Oder vielleicht hat Lucian es auch als Gelegenheit gesehen, sie nachträglich für ihren Verrat zu bestrafen.“
„Wozu die Mühe? Was hatte Lucian davon, mich mitzunehmen?“ Das alles machte keinen Sinn.
Serena zuckte mit den Achseln. „Er fand dich interessant. Du musst irgendwas getan oder gesagt haben, dass seine Neugier geweckt hat. Also beschloss er, sich mit dir die Zeit zu vertreiben und zwang uns, bei seinem Spiel mitzumachen.“
Ich lachte schrill auf. „Ein ziemlich gefährliches Spiel, oder? Ich hätte ihn beinahe getötet!“
„Du hast Recht. Die ganze Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Eigentlich war nicht geplant, dass du bis auf das Anwesen mitkommst. Ursprünglich wollte Lucian dich irgendwo hinter Paris loswerden und Camille abholen. Camille“, erklärte sie auf meinen verwirrten Blick hin, „ist die zweite Zauberin. Oder zumindest die, die als zweite Zauberin eingeplant war. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich Lucian in Gérards Auto gefragt habe, ob wir nicht einen Zwischenstopp einlegen sollten? Damit meinte ich, ob wir nicht Camille abholen sollten. Sie wohnt in einem kleinen Dorf nicht weit von hier. Aber Lucians Antwort war eindeutig: Er hat sich entschieden, dich bis hierher mitzunehmen und sein Glück mit dir zu versuchen.“
„Sein Glück mit mir zu versuchen?“ Meine Stimme machte sich selbstständig. „Was soll das heißen?“
„Dass er beschlossen hatte, auszuprobieren, ob du die Seiten wechseln würdest.“
Ich starrte sie an. „Wieso, in aller Welt, sollte ich das tun?“
„Du hast es doch getan, oder?“
„Ich habe keine Dämonen für ihn beschworen.“
„Aber du hast ihn auch nicht getötet.“
„Das heißt nicht, dass ich die Seiten gewechselt habe.“
„Wenn du meinst.“
Ich starrte sie schweigend an.
Schließlich unterbrach Serena meine Sprachlosigkeit: „Weißt du, ich habe geahnt, dass das alles in einer Katastrophe enden würde. Lucian war so verändert. Seit ich ihn kenne, hat er sich nie für Menschen interessiert. Es war ein wirklich schlechtes Zeichen, dass es bei dir anders war. Deshalb habe ich dich gewarnt, im Hotel beim Frühstück. Ich dachte, wenn du dich Lucian gegenüber anders verhalten könntest, würde sich das ganze Problem in Luft auflösen. Dann würdest du uninteressant für ihn werden und er würde dich einfach laufen lassen und Camille nehmen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Dass es soweit kommt, hätte ich trotzdem nicht gedacht.“ „Ich habe dir ja gesagt, dass er nicht nur auf dich wütend ist. Das macht die ganze Sache noch schlimmer. Denn eigentlich ist er auch wütend auf sich selbst. Weil er dir vertraut hat und das beinahe schief gegangen wäre.“
„Vertraut?“, spie ich. „Ich war sein kleines Experiment. Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Es hat ihm einfach Spaß gemacht, zu beobachten, was ich tun würde. Und er hat alles daran gesetzt, mich dazu zu bringen, mich gegen den Bund zu entscheiden.“
„Wie meinst du das?“, fragte Serena verwirrt.
„Annäherungsversuche. Wenn du und Marcelle nicht hingesehen habt, hat er… na ja, dann war er ganz anders als sonst. Er wollte mich dazu bringen, dass ich ihn mag. Wahrscheinlich fand er es lustig zu sehen, ob er mich so weit manipulieren kann, dass ich für ihn meinen Auftrag aufgebe.“
„Vielleicht war es so“, gab Serena zu. „Aber vielleicht… “ Sie brach ab.
„Vielleicht?“
Serena betrachtete mich mit einem undeutbaren Blick. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nur Vermutungen. Wenn ich die äußern würde, würde Lucian mich einen Kopf kürzer machen. Du solltest ihn selbst fragen.“
„Das ist das letzte, was ich tun werde.“