Wie das Kaninchen vor der Schlange
»Komm aus dem Bett und mach dich schön, wir gehen frühstücken.«
»Guten Morgen. Weshalb hast du dich so in Schale geschmissen? Wir sind doch nicht in Hamburg. Casual ist hier angesagt.«
»Andere Sachen habe ich nicht dabei. Ich hatte schließlich nicht viel Zeit zum Koffer packen. Bitte mach du dich auch ein wenig formell zurecht, damit ich nicht wie ein Idiot neben dir wirke.«
»Wo geht es denn hin?«
»Zu Chris und Nicole zum Brunch. Nun beeile dich doch. Es ist gleich elf und ich habe Hunger.«
Ja, doch! Was macht er für einen Aufriss? Dass er immer diesen Chef Ton anschlägt, wenn er einen Anzug trägt. Das hört auf. Künftig wird er wie jeder normale Mensch in diesem Ort einen Bermudashort tragen und ein kurzärmeliges Hemd darüber. Bequeme Slipper und dann wird aus Seibert auch wieder Martin. Während ich unter der Dusche stehe, will er mit dem Hund eine kurze Runde machen.
»Und Haare waschen!«, ruft er mir beim rausgehen zu. Zehn Minuten später steht er schon wieder hinter mir. Während ich meine Haare über die Rundbürste glatt föhne, reicht er mir ein Kleid und Schuhe und treibt mich weiter an.
»Iss einen Jogurt, wenn du es vor Hunger nicht mehr aushältst, und jetzt raus hier!«
Gleich nach Erreichen der Biegung schaue ich in den Garten vor dem Hotel.
»Da ist ja schon alles belegt!«, sage ich erstaunt.
»Siehst du! Ich hab doch gesagt, du sollst dich beeilen.«
Der Anblick der vollbesetzten Terrasse ist schon ungewöhnlich. Gut, heute ist Anreisetag. Trotzdem habe ich noch nie so viele Menschen im Hotelgarten gesehen. Vor allen nicht so viele, die mir alle bestens bekannt sind.
»Omi«, schreien mir die jüngsten der Anwesenden zu und laufen mir mit ausgestreckten Armen entgegen. Dahinter sehe ich Julian, Sunny, Anja und Gerald, Sören, meine Vormittagsfrauen, Buche mit Ute, Linde und ihre beiden Männer und Maria. Ich bin völlig überwältigt und heule erst mal eine Runde.
Nach dem Sektempfang fragen die ersten Gäste nach unserem Haus. Martin bietet sich an, nach dem Brunch den Führer zu geben. Er beginnt mit Sunny, Julian und den Enkeln. Völlig begeistert über den Pavillon, den riesigen Pool und nicht zuletzt über Jackson kommen sie freudestrahlend zurück. Sie versprechen während der Sommerferien für mindestens drei Wochen zu Besuch zu kommen. Die zweite Besichtigungsgruppe besteht aus Anja, Gerald und Buche mit seiner Frau Ute. Mein Geschäftsführer Sören kommt mit zwei gefüllten Gläsern auf mich zu und bittet um ein kurzes Gespräch unter vier Augen.
»Gibt es Probleme in der Firma?«
Bitte keine Hiobsbotschaften, die das Fest zum Platzen bringen. Ich ahne nichts Gutes, aber Sören beruhigt mich schnell.
»Nein, alles läuft gut. Martin hat angedeutet, dass ihr euch für immer hier niederlassen wollt. Ich frage mich natürlich, ob du überhaupt noch Interesse an dem Geschäft und an dem Haus in Hamburg hast. Genauer gesagt, will ich dich fragen, ob du es mir nicht verkaufen willst. Du musst dich nicht gleich entscheiden. Aber vielleicht denkst du mal darüber nach.«
Ja, das will ich gerne tun, aber nicht jetzt. Lieber geselle ich mich zu Linde und ihren Männern, die mit Maria an einem Tisch sitzen und offensichtlich über mich sprechen. Es geht mal wieder um das Thema Hochzeit und ich höre Marias frechen Ausführungen lachend zu.
»Du bist nicht der Typ Lollo, so wie ich. Dir sieht man das Alter auf zehn Meter Entfernung an. Also mach endlich, bevor dein Martin dir eine Gehhilfe kaufen muss.«
»Ich bin der Typ klassische Moderne und Martin steht drauf.«
»Sag Linde, hast du deinen Sohn früher nicht gestillt, oder warum steht er auf so flachbrüstige Frauen ohne Hintern?«
»Ich glaube, mein Sohn sieht mehr in Lotte als ihren Po und ihre Brüste.«
Albert und Caruso finden mein Figur super. Sie stehen auf knabenhafte Körper.
»Hallo? Ich bin anwesend! Würdet ihr bitte in meiner Gegenwart nicht so unverschämt über mich sprechen?« Linde reicht mir mein Geschenk.
»Pass auf, Lotte. Lass es nicht fallen. Es ist schwer und zerbrechlich.«
In der Tat. Es ist richtig schwer und ich stelle es auf dem Tisch ab, um es vorsichtig auszupacken. Es ist das versprochene in Stein gemeißelte Namensschild, das künftig die Mauer vor unserem Eingang schmücken soll. Allerdings wurde es nicht wie verabredet mit Villa Talbach gefertigt, sondern es trägt den Schriftzug Mc Seibert.
»Mc Seibert? Das klingt ja wie Mc Donald?«, lache ich laut aus.
»Das M steht für Martin und das C für Charlotte. Das ist doch offensichtlich.«
»Und warum habe ich nur ein kleines c bekommen?« Darauf weiß die Künstlerin auch keine Antwort. Martin meint, wir sollten froh sein, dass sie nicht noch unsere Gesichter eingemeißelt hat. Vermutlich hätten wir wie Heino und Hannelore ausgesehen.
»Hier wohnen Heino und Hannelore Mc Seibert«, gluckse ich albern. »Das hat doch was.«
Als Maria mit Sören und den Vormittagsfrauen von der Besichtigungstour zurück sind, biete ich mich an, die letzte Führung zu übernehmen. Martin hatte gestern völlig Recht, als er von anstrengend sprach. Mit Linde unter dem Arm gehe ich vor. Caruso und Albert folgen uns dicht.
»Du wurdest als Doppelagentin enttarnt, Linde.«
Sie stellt sich ahnungslos. Und ich wiederhole, dass ihre Tarnung als Vermittlerin aufgeflogen ist.
»Du solltest mir besser danken. Ohne mein Einmischen würdet ihr beide noch immer Trübsal blasen. Es ist gut, dass er sich dir endlich anvertraut hat. Ich sage nur Eberhard.«
Ich verstehe kein Wort und frage nach. Als sie in mein ahnungsloses Gesicht sieht, macht sie einen Rückzieher und stellt sich dumm.
»Was hat der dreischwänzige Eberhard mit Martin zu tun? Einen braucht er zum Denken. Einen für die Erfüllung seiner ehelichen Pflichten und einen zum Fremdgehen. Martin denkt nicht mit dem Schwanz. Zumindest jetzt nicht mehr. Und eheliche Pflichten hat er keine, da wir nicht verheiratet sind. Noch nicht! Und er ist auch nicht fremdgegangen. Außer mit mir. Mit Julia war nichts und ich glaube ihm. Also was?«
»Schön habt ihr es hier. Wirklich wunderschön. Du hast ein Händchen für den Garten.«
»Lotte, gestattest du, dass wir hier unseren kleinen Freund rauchen? Im Hotelgarten scheint es mir nicht angebracht. Magst du auch?«
»Heute nicht«, lache ich Caruso zu. Er reicht mir zwei fertige Joints und rät mir, sie gut vor Martin zu verstecken. Und Albert meint, der Tag wird kommen, an dem ich sie (b)rauchen werde. Ich bringe Jackson ins Haus und stecke die Taschenlampe für den späteren Rückweg ein. Meine Kiffer Senioren versprechen, nach einem kurzen Kanon nachzukommen.
Ich bin rundum glücklich. Endlich wieder. Es ist ein wunderschönes Fest. Ich habe alle Menschen um mich versammelt, die mir wirklich etwas bedeuten. Ich geselle mich zu Anja und Gerald, die gemeinsam mit Chris und Nicole an einem Tisch sitzen. In ihrer Unterhaltung geht es um das Thema Gastronomie und Auswandern. Chris erklärt zum wiederholten Mal, dass Martin und ich seine Retter sind. Mit dem Geschäftsmodell Seminarhotel wird er künftig auch wieder schwarze Zahlen schreiben können.
»Die Pacht ist mehr als fair und die Wohnung können wir kostenfrei nutzen. Bei diesem sogenannten Win-win-Pakt habe ich die eindeutig die besseren Karten.«
»Es war wohl mehr ein Freundschaftsdienst als ein reales Geschäft«, fügt Nicole an.
Anja zieht ein Gesicht und fordert mich auf, sie auf einem kleinen Spaziergang zu begleiten.
»Nett, dass du dich nach Stunden auch mal um mich kümmerst«, schimpft sie mich aus. Sie will von mir wissen, warum Martin nicht ihr und Gerald die Bewirtung angeboten hat. Schließlich sind sie mit uns länger und enger befreundet, als diese beiden Traumtänzer. Ich erkläre ihr, dass ich von der ganzen Aktion nichts gewusst habe und erst gestern Abend damit überrascht wurde.
»Ihr werdet also Hamburg ganz den Rücken kehren?«
»Ja und vorher werden wir endlich heiraten.«
»Du hast ihm seine Affäre verziehen!«
»Ich brauche ihm nichts zu verzeihen. Da war nichts. Er war mir immer treu und hat mich auch nicht belogen. Es war alles ein großes Missverständnis.«
»Na, dann ist für das Glücksschwein ja wieder alles gut gelaufen.«
»Wir sind beide sind Glücksschweine. Du bist wieder gesund und hast dich mit Gerald ausgesöhnt.«
»Ja, du hast Recht. Ich sollte dankbar sein.«
Worüber Anja und ich gestritten haben, will Martin wissen.
»Wir haben nicht gestritten. Sie ist nur ein wenig maulig darüber, dass du an Hinrichs verpachtet hast, ohne sie und Gerald zuvor zu fragen, ob sie Interesse gehabt hätten.«
Unser Fest dauert nun schon über zwölf Stunden an und sowohl Martin und ich, als auch unsere Gäste werden langsam müde. Bis auf Linde und ihre Männer starten morgen früh alle anderen mit der Morgenmaschine, die sie zurück nach Hamburg bringt. Es wird Zeit, Danke und Tschüss zu sagen. Ich wende mich mit meinem Glas an meine Liebsten und halte eine kurze Ansprache.
»Liebe Gäste, es war nicht nur richtig schön, euch alle wiederzusehen, es war auch ein ganz besonderes Fest. Das erste seit Jahren, das ohne böse Überraschungen endet. Der böse Fluch der über den letzten Feiern hing, ist gebrochen. Ein guter Anlass, euch zu sagen, dass schon ganz bald der nächste Grund zum Feiern ansteht. Unsere Hochzeit. Sie soll noch vor Eröffnung des Seminarhotels stattfinden. Die Organisation übergebe ich in Martins Hände. Er hat heute mal wieder bewiesen, dass er Feste verdammt gut planen kann. Ich wünsche mir, dass Buche und O.J. unsere Trauzeugen werden. Denn mit dir und diesem Halunken hat das Ganze angefangen.«
Wir fallen todmüde ins Bett. Und ich verschiebe, die Zusammenfassungen der Neuigkeiten, die ich heute erfahren habe auf den nächsten Tag. Ich schaffe es gerade noch ein »Danke, Liebling« zu hauchen und schlafe sofort auf seiner Brust ein.
Während ich den Hamburgern hinterher winke, spricht Linde mit Martin. Sie macht ein ernstes Gesicht, während er immer wieder den Kopf genervt zur Seite dreht. Was quasseln die beiden nur? Albert sagt, dass es fabelhaft ist, uns jetzt dauerhaft in der Nähe zu wissen, obwohl 150 km Distanz nicht gerade um die Ecke sind. Caruso hat gestern nicht für uns gesungen. Er verspricht, es auf der Hochzeitsfeier nachzuholen. Linde umarmt mich fest und sagt, dass wir genau das Richtige tun. Ich möchte keinen Kaffee bei Nicole trinken, sondern schnellstens wieder ins Bett.
»Welche Heimlichkeiten hattest du mit der Doppelagentin Linde zu besprechen?«
»Wir sprachen über die Hochzeit.«
»Und?«
»Warum hast du gesagt, dass Buche und O.J. unsere Trauzeugen werden sollen? Man braucht heutzutage keine Trauzeugen mehr.«
»Stimmt. Man braucht nicht, aber man darf und ich hätte die beiden gern dabei. Ist es dir etwa nicht recht?«
»Warum gerade O.J.? Er versucht ständig einen Keil zwischen uns zu treiben und missgönnt uns offensichtlich unser Glück.«
»Das ist doch kompletter Unsinn und das weißt du. Ich dachte, ihr hättet eure Differenzen längst beigelegt.«
Ich koche Kaffee und Tee während Martin seine Bahnen im Pool zieht. Irgendwie wirkt er seit seinem Gespräch mit seiner Mutter durcheinander. Ich erzähle ihm von ihrem Vergleich mit ihm und der Statue Eberhard, aber er kann sich auch keinen Reim darauf machen.
»Es wird das Jahr der Hochzeiten. Marias Sergio heiratet auch, genau wie wir. Wo eigentlich? Hier oder in Hamburg?«
»Hier können wir erst, wenn einer von uns seit 30 Tagen seinen festen Wohnsitz in Frankreich hat. Das haben wir beide nicht.«
»Also doch Hamburg. Du, Sören hat mich gefragt, ob wir ihm das Haus und das Geschäft verkaufen wollen.«
»Und was bietet er an?«
»Soweit sind wir nicht gekommen.«
»Willst du meine ehrliche Meinung?«
»Na, sicher.«
»Wir haben es nicht nötig zu verkaufen. Unsere Kinder, Enkel und Freunde wohnen in Hamburg. Wir werden immer einen Grund haben, dorthin zu reisen. Ich will dann nicht ins Hotel gehen müssen. Wir haben so viel Geld in die Wohnung gesteckt. Ich glaube, das ist Sören gar nicht bewusst. Also wenn du mich fragst, lassen wir es, wie es ist.«
Ich klappe mein Notebook auf, um nach Standesämtern in Hamburg zu suchen. Irgendwie kann es mir jetzt nicht schnell genug gehen. Eine Trauung im Harburger Rathaus könnte mir gefallen. Aber Martin hört nur mit einem Ohr zu. Wo ist er nur mit seinen Gedanken? Hat er einen Kater? Wir beide haben gestern kaum etwas getrunken. Das kann es also nicht sein.
»Was hast du gesagt?«
»Dass O.J. mir eine Geburtstagsmail geschickt hat, in der er dich grüßen lässt. Nuschel ich etwa? Ich werde ihn gleich zurückrufen und mich bedanken. Bei der Gelegenheit werde ich ihn fragen, ob er bereit ist, unser Trauzeuge zu sein.«
»Tu es nicht. Bitte lege wieder auf.«
»Wieso? Was soll dein komisches Benehmen?«
»Ich will nicht, dass du mit ihm sprichst. Nicht bevor wir miteinander geredet haben. Du sollst es von mir erfahren und nicht von der Hamburger Morgenpost, Ottmar Jensen.«
»Was erfahren?«
»Es stimmt, was ich dir gesagt habe. Ich hatte nie etwas mit Julia. Und trotzdem. Ich war dir nicht treu. Es war nur einmal und ich bereue es wie nichts anderes.«
Der Schreck, der mir gerade durch alle Glieder fährt, hat die Intensität eines Stromschlages. Das darf doch nicht wahr sein.
»Kenne ich sie?«
»Ja.«
»Wer und wann?«
»Sage es endlich, verdammt. Dein theatralisches an die Decke gucken, macht mich jetzt nur noch rasender. Was hast du vor, Seibert? Wie lange willst du mich noch emotional durch Berg und Tal treiben? Mach den Mund auf und rede endlich mit mir! Die Time out Phase ist vorbei. Ich will es jetzt wissen. Und wenn ich jetzt sage, dann meine ich sofort! Martin!«
»Als du bei Maria in Italien warst. Es war nur einmal. Ich schwöre. Und es hatte nichts mit echten Gefühlen zu tun.«
»Wer?.......Nicht Anja!..... Sag, dass ich mich irre! Oh, mein Gott!................!!!
»Sie kam morgens einfach zu mir in die Dusche und ich....«
»Sei sofort still!!! Erspare mir die Einzelheiten! Diese Bilder bekomme ich nie wieder aus dem Kopf! Wieso? Martin! Ausgerechnet Anja. Wie konntet ihr nur?«
»Ich habe keine Erklärung.«
»Warum hast du nicht gleich mit mir gesprochen?«
»Wann denn? Etwa als ich dachte, du wärst an Krebs erkrankt oder als du von ihrer Diagnose erfahren hattest und sofort mit ihr zu Linde gereist bist. Dann kam die Zeit, in der wir nicht wussten, ob sie die OP übersteht. Auch während der Reha warst du immer an ihrer Seite. Anja und ich waren uns einig darüber, es für uns zu behalten. Sie wollte eure lange Freundschaft nicht gefährden und ich habe gewusst, dass die Wahrheit unser Ende bedeutet.«
»Über Corinna hast du mal gesagt, dass sie ein feiner Kerl ist und sie es nicht verdient hätte, belogen und betrogen zu werden. Und ich? Habe ich es etwa verdient?«
»Corinna die Wahrheit zu sagen, hatte keine Konsequenzen. Für uns hätte es die Trennung zur Folge gehabt.«
»Warum sagst du es mir jetzt?«
»Jedes Mal, wenn ich euch zusammen sehe, kann ich dir nicht in die Augen sehen. Deshalb habe ich mich auch vor den Besuchen gedrückt, solange sie hier war. Aber ich werde nicht mit dieser Lüge in unsere Ehe gehen. Bitte, Liebling. Es ist fast ein Jahr her und ich bereue es so.«
Ich bekomme keine Luft mehr und habe das Gefühl, dass sich die Wände unserer Küche langsam auf mich zu bewegen. Der Raum wird immer kleiner und ich weiß, dass ich hier sofort raus muss, wenn ich nicht erdrückt werden will. Ich stürze auf die Terrasse und versuche, wieder langsam durchzuatmen. Martin ist mir gefolgt. Er steht hinter mir und legt seine Hand auf meine Schulter. Ich gebe unverständliche Laute von mir, die mir unkontrolliert durch die Nase entweichen. Mein Hirn weigert sich, das soeben Erfahrene zu verarbeiten. Es weiß nicht, in welchen Ordner es diese Ungeheuerlichkeit ablegen soll. Entsetzt ruft es in mir »Das kann doch nicht sein? Nicht Anja. Der Mensch, mit dem ich Jahrzehnte lang durch Dick und Dünn gegangen bin. Sie, die jedes einzelne Geheimnis von mir kennt, der ich alles anvertraut habe und der ich immer treu zur Seite stand. Gibt es einen größeren Verrat?«
Verrat klingt gut, meint mein Hirn und schlägt den Ordner Unverzeihliches für die Ablage vor.
»Lotte, bitte....«, höre ich Martin flehen.
Und du? Du bist eben doch nicht der einmalige, tolle, außergewöhnliche, unvergleichliche Martin Seibert. Du bist auch nur ein einfacher Eberhard. Also komm runter von deinem hohen Podest. Der Platz steht dir nicht mehr zu. Nicht nachdem du meine fettärschige Freundin in unserer Dusche gerammelt hast. Oh, wie gern würde ich dir jetzt wehtun. Dich einfach umschubsen. Aber er hält den Trommelschlägen meiner Fäuste, die auf seiner Brust landen, stand. Der Riese steht fest wie eine deutsche Eiche und greift nach meinen Händen. Er hält mich fest und zieht mich mit ganzer Kraft dicht an seinen Körper. Ich bin in seinen Armen gefangen und kann nichts weiter tun, als seinen schnellen Herzschlag zu hören. Unsere beiden Herzen rasen um die Wette. Ich habe keine Ahnung, welches gewinnt.
»Lass mich los. Ich brauche jetzt etwas zur Beruhigung«, fauche ich ihn an.
»Soll ich uns einen Schnaps einschenken?«
Hat er das wirklich gesagt? Es ist früher Vormittag und Martin Seibert ist bereit, uns ohne seine Parole »Alkohol ist auch keine Lösung!«, einen Schnaps einzuschenken? Ich schaue in sein reumütiges Gesicht und weiß, dass er in diesem Moment alles für mich tun würde. Wirklich alles? Ich stelle ihn auf die Probe.
»Ich will keinen Schnaps. Ich weiß etwas Besseres. Lege die Sitzkissen auf die Stühle. Ich bin gleich zurück.«
In der Küche greife ich in das offene Regal, in dem ich die bunten Emaildosen aufbewahre. Die mit der Aufschrift Kakao nehme ich hervor und öffne sie. Das Gefäß enthält nicht nur das braune Pulver, sondern auch die beiden Joints, die ich am Vorabend auf die Schnelle verschwinden ließ. Aus der Schublade greife ich das lange Feuerzeug, das eigentlich für das Anstecken der vielen Kerzen angeschafft wurde. Heute wird kein Docht damit entzündet, sondern feinstes Marihuana. Von bester Qualität, wie Albert mir versicherte. Ich gehe zurück auf die Terrasse und stelle einen Aschenbecher auf den Tisch. Seit wann ich rauche, will Martin wissen und sein Blick wechselt in ehrliches Erstaunen.
»Seitdem du mit mir Achterbahn fährst.«
»Das ist keine Zigarette«, stellt er richtig fest und will wissen, woher ich das Zeug habe.
»Wo ist eigentlich mein Wagen?«
»Warum ist das jetzt wichtig? Willst du etwa wieder abhauen?«
Ich stecke die Tüte an und nehme einen kräftigen Zug. Beim Ausatmen schaue ich in den blauen Himmel und warte darauf, dass das wohlige Entspannungsgefühl einsetzt. Es stellt sich erst nach dem zweiten Zug ein.
»Ich will deinen Leihwagen zurückgeben. Der kostet jeden Tag 100 Euro, während mein Wagen irgendwo in einer Werkstatt parkt.«
»Warum redest du jetzt über die Wagen? Ich habe dir gerade mein Herz ausgeschüttet.«
»Ich habe es gehört. Ich bin nicht taub.«
»Und? Was wird nun?«
Und nun reiche ich ihm den Joint und fordere ihn auf, kräftig daran zu ziehen und seine moralischen Bedenken zur Seite zu schieben. Dass er das kann, hat er doch schon bewiesen, als er mit Anja unter der Dusche stand und es ihr besorgte. Er schaut mich fassungslos an und nimmt tatsächlich einen kräftigen Zug. Beim Anblick des kiffenden Eberhard Seibert, muss ich das erste Mal lachen. Ach schade, mein Handy liegt im Wohnzimmer. Zu gern würde ich ein Foto davon schießen und es dann posten. Nicht nur bei Facebook, sondern auch auf der Website von Solution Partner. So könnten potentielle Kunden ihren künftigen Schulungsleiter von einer ganz neuen Seite kennenlernen. Ich muss schon wieder lachen. Aber ich will ihm antworten und gluckse mit einem breiten Grinsen im Gesicht »Wir reisen sobald mein Wagen wieder fahrbereit ist mit Jackson nach Hamburg. Dort werden wir das Aufgebot bestellen, unsere Sachen packen, heiraten, mit beiden Fahrzeugen wieder zurückkommen und den Sommer genießen. Ich war bereit, dir Julia zu verzeihen. Also wird es mir mit diesem männerfressenden, hirnamputierten Pferdearsch wohl auch irgendwann gelingen. Und nun Schluss damit! Nur eins lass dir gesagt sein, für den Fall dass du mich noch einmal so demütigen solltest, wirst du diesen Planeten freiwillig verlassen.«
»Du bist einfach unglaublich!«
»Ja, ich bin unglaublich high oder heißt es stoned?«
Nach meinem Schläfchen sind die Gedanken wieder da. Mit über fünfzig mache ich meine ersten Erfahrungen mit Cannabis und erfahre das erste Mal, wie es sich anfühlt, betrogen zu werden. Oder war es gar nicht das erste Mal? Sven war mir angeblich immer treu. Und ich habe ihm geglaubt. Bei näherer Betrachtung, kann ich es mir kaum vorstellen, dass Kapitän Talbach nur im Heimaturlaub Sex mit seiner Ehefrau hatte. Vermutlich wartete in jedem Hafen eine Braut auf ihn. Egal. Ich war immer treu. Mein ganzes Leben lang. Oder war ich einfach nur treu doof?
Martin rennt schon den zweiten Tag mit geneigtem Kopf durchs Haus. Er wird noch einen Buckel bekommen, wenn er sich nicht bald wieder aufrichtet. Seit seiner Beichte habe ich wieder die Alleinherrschaft. Ich will keinen Mann vom Typ Jugendstil. Und einen Mann mit Buckel will ich auch nicht. Also mach dich endlich wieder gerade und sei wieder mein starker Riese! Ich werde ihn bei seiner Rückumwandlung tatkräftig unterstützen. Und ich weiß auch schon wie.
»Martin? Magst du mir den Rücken eincremen?«
Er braucht kein Code Wort. Ihm genügt mein Blick.