Die kopflosen Piraten
Franzosenmädels sind lieb und fein Und flämische Lippen so heiß...
Das war der junge Spendlove, der im Admiralitätsgebäude, nur zwei Zimmer von Hornblower entfernt, ein lustiges Lied sang. Er hätte ebenso gut im gleichen Raum singen können, da alle drei Fenster weit offenstanden, um die kühle Seebrise von Jamaika hereinzulassen.
In Italien schmecken die Küsse wie Wein...
Das war Gerard, der in ebenso fröhlicher Laune einfiel.
»Meine Empfehlung an Mr. Gerard und Mr. Spendlove«, sagte Hornblower brummig zu Giles, der ihm beim Anziehen half, »sie möchten sofort mit ihrer Katzenmusik Schluß machen.
Wiederholen Sie, was ich gesagt habe, damit ich weiß, daß Sie richtig verstanden haben.«
»Seine Lordschaft läßt sich den Herren empfehlen, und sie möchten sofort mit ihrer Katzenmusik Schluß machen«, wiederholte Giles pflichtgetreu. »Los, richten Sie ihnen das schleunigst aus.« Giles verschwand, und Hornblower hörte mit Genugtuung, daß der Gesang plötzlich verstummte. Offenbar waren die beiden jungen Männer in sehr gehobener Stimmung, sonst hätten sie nicht gesungen, sonst hätten sie vor allem nicht vergessen, daß er, ihr Chef, in Hörweite war. Da sie sich eben für einen Ball zurechtmachten, war ihre laute Fröhlichkeit wohl zu erklären. Dennoch hatten sie keine Entschuldigung für ihr Verhalten, wußten sie doch nur zu genau, daß alles, was Musik hieß, ihrem tontauben Oberbefehlshaber von Grund auf zuwider war. Sie hätten außerdem wissen müssen, daß er eben wegen dieses bevorstehenden Balles ohnedies in gereizter Stimmung war, weil er sich gezwungen sah, einen ganzen Abend hindurch diese langweiligen Geräusche anzuhören, die ihn anwiderten und zugleich an seinen Nerven zerrten. Zwar durfte er erwarten, daß an einigen Tischen Whist gespielt wurde, weil Mr. Hough bestimmt schon wußte, womit er seinem Ehrengast eine Freude machen konnte, aber daß man im Spielzimmer die Musik nicht hört, war wohl mehr, als man sich erhoffen durfte. Die Aussicht auf einen Ball stimmte also Hornblower keineswegs so froh und glücklich wie seinen Flaggleutnant und seinen Sekretär.
Hornblower knüpfte die weiße Halsbinde und zog sie mit peinlicher Sorgfalt zurecht, bis sie genau symmetrisch saß, dann half ihm Giles in seinen schwarzen Frack. Als er fertig war, musterte er sich im Kerzenlicht der rund um den Rahmen des Spiegels brennenden Kerzen. ›Nicht übel‹, sagte er zu sich selbst.
Jetzt im Frieden setzte sich bei Armee- und Marineoffizieren immer mehr der Brauch durch, bei gesellschaftlichen Anlässen in Zivil zu erscheinen, was ebensoviel für sich hatte wie die wachsende Vorliebe der Herrenwelt für den neumodischen schwarzen Frack. Barbara hatte diesen hier für ihn ausgesucht und dem Schneider bei den Anproben auf die Finger gesehen.
Hornblower drehte sich vor dem Spiegel und fand, daß er tadellos saß und daß ihm dieses Schwarz und Weiß überhaupt gut zu Gesicht stand. ›Nur ein Gentleman kann Schwarz und Weiß tragen‹, hatte Barbara gesagt, und das tat ihm in der Seele wohl.
Giles reichte ihm den Zylinder, er setzte ihn auf und prüfte, wie er sich damit ausnahm. Dann griff er nach den weißen Handschuhen, dachte eben noch rechtzeitig daran, den hohen Hut wieder abzunehmen, und trat endlich auf den Gang hinaus, wo ihn Gerard und Spendlove in ihren besten Uniformen bereits erwarteten. »Ich möchte in meinem und Spendloves Namen wegen unseres Gesangs vorhin um Entschuldigung bitten, Mylord«, sagte Gerard.
Der schwarze Abendanzug wirkte offenbar besänftigend auf das Gemüt, denn Hornblower verzichtete auf jedes harte Wort.
»Was würde Miss Lucy von Ihnen halten, Spendlove«, fragte er, »wenn sie das Lied von den französischen Mädels aus Ihrem Munde hörte?«
Spendlove antwortete mit einem entwaffnenden Lächeln:
»Darf ich Eurer Lordschaft Nachsicht abermals in Anspruch nehmen - und bitten, ihr nichts davon zu erzählen?«
»Das hängt ganz von Ihrem künftigen Benehmen ab.« Der offene Wagen wartete vor dem Haupteingang des Admiralitätsgebäudes, vier Matrosen standen mit Laternen bereit, die zusammen mit den Lampen in der Vorhalle den Weg erhellten. Hornblower kletterte in die Kutsche und nahm Platz.
Hier an Land waren die Vorschriften der Etikette ganz anders als an Bord: Er vermißte die schrillen Töne der Pfeifen, die für sein Empfinden dieses Zeremoniell begleiten sollten, so wie es der Fall war, wenn er ein Boot bestieg. Außerdem bestieg der älteste Offizier einen Wagen zuerst und nicht zuletzt, darum mußten Spendlove und Gerard auf die andere Seite rennen und schleunigst von drüben einsteigen, als er seinen Platz eingenommen hatte. Gerard saß links neben ihm und Spendlove gegenüber mit dem Rücken zu den Pferden. Der Schlag klappte zu, die Gäule zogen an und trabten zwischen den Laternen der Einfahrt hindurch hinaus in die pechrabenschwarze Nacht Jamaikas. Hornblower füllte seine Lungen mit der warmen tropischen Nachtluft und gestand sich widerstrebend ein, daß ein Ball am Ende doch keine so lästige Sache war.
»Sie möchten wohl eine gute Partie machen, Spendlove?« fragte er. »Soviel ich weiß, ist Miss Lucy Alleinerbin. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich doch noch genau erkundigen, ob es nicht irgendwelche Neffen von Vaters Seite gibt.«
»Eine gute Partie wäre gewiß zu wünschen, Mylord«, ertönte Spendloves Stimme aus dem Dunkel, »aber ich muß Ihnen leider sagen, daß ich in Herzensangelegenheiten von Geburt an - oder genauer gesagt, seit meiner Taufe arg benachteiligt bin.«
»Seit Ihrer Taufe? Was wollen Sie damit sagen?«
»Jawohl, Mylord. Sie erinnern sich vielleicht meines Vornamens.«
»Erasmus, nicht wahr?« sagte Hornblower. »Gewiß, Mylord, das ist es eben. Mein Name ist beim Austausch von Zärtlichkeiten einfach nicht am Platz. Können Sie sich vorstellen, daß sich eine Frau in einen Mann verliebt, der Erasmus heißt? Daß sich eine Frau dazu herbeiließe ›Razzy-Liebling‹ zu hauchen?«
»Ich könnte mir das durchaus denken«, sagte Hornblower.
»Wie schön, wenn ich es eines Tages doch noch erlebte«, seufzte Spendlove.
Es war bei Gott nicht übel, hinter zwei guten Pferden und in Gesellschaft zweier netter junger Männer durch das nächtliche Jamaika zu rollen, zumal wenn man sich sagen konnte, daß man die kleine Erholung durch gute Arbeit redlich verdient hatte. Der Befehlsbereich war in bester Ordnung, die Seepolizei im Karibischen Meer wirkte sich segensreich aus. Schmuggel und Piraterie waren im wesentlichen unterbunden. Heute Abend war er einmal frei von jeder Verantwortung, es gab weit und breit keine Gefahr. Alles Bedrohliche lag irgendwo in der Ferne, weit hinter den Horizonten von Raum und Zeit. Er durfte sich ruhig und entspannt in die weichen Lederpolster des Wagens lehnen und brauchte nur ein bißchen achtzugeben, daß er den schwarzen Frack nicht beschmutzte und die sorgfältig gefaltete Hemdbrust nicht zerknitterte. Der Empfang bei Hough war dann natürlich wieder recht turbulent, und es schwirrte nur so von ›Mylord‹ und ›Eure Lordschaft‹ . Hough war ein großer, schwerreicher Pflanzer, der den englischen Winter so wenig schätzte, daß er nicht wie seine Kollegen den größeren Teil des Jahres durch Abwesenheit glänzte. Trotz seines Reichtums war er sehr stolz darauf, daß er heute einen Peer, einen Admiral und einen Oberbefehlshaber in einer Person zu Gast bei sich sah - wobei ihm der Gedanke nicht ganz fern lag, daß ihm dieser Mann durch seinen Einfluß irgendwann einmal nützen konnte.
Er und Mrs. Hough begrüßten Hornblower mit einer Wärme, die auch auf Gerard und Spendlove ausstrahlte. Vielleicht dachte Hough insgeheim, daß er sein gutes Einvernehmen mit dem Oberbefehlshaber am wirksamsten festigen konnte, indem er auch mit dem Flaggleutnant und dem Sekretär angenehme Beziehungen pflegte. Lucy Hough war ein hübsches siebzehn-oder achtzehnjähriges Mädchen, aber sie war schließlich noch ein Kind, das gerade erst der Schule, um nicht zu sagen der Kinderstube entwachsen war, darum hatte er sich trotz ihrer netten Erscheinung nie so recht für sie interessiert. Als er sie jetzt mit einem Lächeln begrüßte, schlug sie schüchtern die Augen nieder, sah ihn wieder kurz an und wandte den Blick abermals zur Seite. Viel weniger schüchtern gab sie sich, als sie sich gleich darauf zu den jungen Männern wandte und ihre Verbeugungen entgegennahm. Die beiden schienen sie vom ersten Augenblick an lebhaft zu interessieren.
»Wie ich höre, tanzen Eure Lordschaft nicht?« sagte Hough.
»Beim Anblick von so viel Schönheit empfinde ich es schmerzhaft, an meine Mängel erinnert zu werden«, entgegnete Hornblower und warf abermals einen lächelnden Blick auf Mrs. Hough und Lucy.
»Würden Sie an einem Rubber Whist Gefallen finden?«
»Gut, kehren wir der Muse der Musik bedauernd den Rücken« - Hornblower versuchte immer so zu tun, als ob ihm die Musik etwas bedeutete - »und verehren wir statt ihrer die Göttin des Glücks.«
»Nach dem, was ich über die Spielstärke Eurer Lordschaft gehört habe«, meinte Hough, »haben Eure Lordschaft von den Launen der Glücksgöttin wenig zu fürchten.« Der Ball hatte offenbar schon einige Zeit vor Hornblowers Eintreffen begonnen. Ein paar Dutzend junger Leute bevölkerten den großen Saal, an den Wänden entlang saßen die Ballmütter, und in der Ecke spielte ein Orchester. Hough führte seinen Gast in ein anderes Zimmer, Hornblower entließ seine beiden jungen Leute mit einem Nicken und setzte sich dann mit Hough und zwei stattlichen alten Damen zum Whist. Als sich die schwere Tür geschlossen hatte, hörte man glücklicherweise fast nichts mehr von dem scheußlichen Lärm der Musik; außerdem stellte sich heraus, daß die beiden alten Damen sehr gut spielten, so daß die nächste Stunde in angenehmster Weise verging. Dann machte Mrs. Hough dem Fluß des Spiels ein Ende. »Es ist Zeit zur Polonaise«, verkündete sie, »damit wir nachher zum Souper gehen können. Ich möchte Ihnen nahe legen, das Spiel zu unterbrechen und dem Tanz beizuwohnen.«
»Ich stelle Eurer Lordschaft anheim...«, sagte Hough verbindlich.
»Der Wunsch Mrs. Houghs ist mir Befehl.« Im Ballsaal herrschte natürlich eine erstickende Hitze. Die jungen Leute hatten rote, schweißglänzende Gesichter, aber man merkte ihnen nichts von Müdigkeit an, als sie, aufgepeitscht von dem geheimnisvollen Lärm der Musik in Doppelreihe zur Polonaise antraten. Spendlove führte Lucy an der Hand und tauschte verliebte Blicke mit ihr. Hornblower konnte von der olympischen Höhe seiner sechsundvierzig Jahre gelassen auf diese unreife Jugend herabblicken, die die Zwanzig noch nicht erreicht oder kaum erst hinter sich hatte, und nahm mit nachsichtiger Überlegenheit von dem Überschwang der Gefühle Notiz, der sich in ihrem Gehaben offenbarte. Der Lärm des Orchesters wurde immer lauter und verwirrender, aber das Jungvolk fand anscheinend doch irgendeinen Sinn in dem Getöse. Mit schwenkenden Locken und fliegenden Frackschößen hopsten sie im Saal umher, überall sah man lachende, fröhliche Gesichter. Aus der Doppelreihe bildeten sich Kreise, die alsbald wieder zu Reihen verschmolzen, man wandte sich und wechselte die Richtung, man trennte sich und fand sich wieder, bis bei einem abschließenden Höllenkrach der Musik die Damen knicksend niedersanken und die Herren in tiefer Verbeugung vor ihnen verharrten. Nachdem die Lärmmacher endlich schwiegen, war das sogar ein ausgesprochen hübscher Anblick. Unter Beifall und Gelächter lösten sich die Reihen. Die Damen suchten einander mit verstohlenen Blicken und verschwanden zu Zweien und Dreien unauffällig aus dem Saal.
Sie zogen sich zurück, um die Schäden auszubessern, die in der Hitze des Tanzes an ihren Toiletten entstanden waren.
Hornblower begegnete wieder Lucys Blick, und wieder sah sie rasch weg und dann nach ihm zurück. War sie nur schüchtern? Oder wollte sie etwas von ihm? Bei diesen halben Kindern war das nicht so leicht zu sagen. Jedenfalls hatte sie Spendlove mit ganz anderen Blicken bedacht. »In etwa zehn Minuten begeben wir uns zum Souper, Mylord«, sagte Hough.
»Würden Eure Lordschaft die Güte haben, Mrs. Hough zu Tisch zu führen?«
»Es ist mir eine Freude und eine Ehre«, antwortete Hornblower. Jetzt kam Spendlove herbei. Er trocknete sich mit seinem Taschentuch das erhitzte Gesicht. »Ich hätte gern noch ein wenig frische Luft geschnappt, Mylord«, sagte er. »Darf ich mir die Frage erlauben...«
»Sehr schön, ich komme mit«, fiel ihm Hornblower ins Wort.
Es paßte ihm, die zähflüssige Unterhaltung mit Mr. Hough auf diese Art kurz unterbrechen zu können. Sie traten in den stockfinsteren Garten hinaus. Das Kerzenlicht im Ballsaal war so hell gewesen, daß sie anfangs jeden Schritt vorsichtig ertasten mußten. »Der Abend macht Ihnen Spaß, nicht wahr?« sagte Hornblower.
»O ja, Mylord, danke der Nachfrage.«
»Und die Werbung um Ihre Herzensdame? Sind Sie damit vorangekommen?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit behaupten, Mylord.«
»Meiner besten Wünsche können Sie auf jeden Fall versichert sein.«
»Gehorsamsten Dank, Mylord.«
Hornblower hatte sich inzwischen schon etwas an die Dunkelheit gewöhnt, so weit, daß er bereits die Sterne am Himmel unterschied, wenn er den Blick hob. Am schönsten war der helle Sirius, der wie seit Urzeiten hinter dem Orion her vom Aufgang zum Untergang jagte. Die Seebrise war schlafen gegangen, die Luft war warm und still. In diesem Augenblick geschah es. Hornblower hörte ein leises Geräusch, ein Rascheln im Laub hinter seinem Rücken, aber ehe er sich noch darüber Rechenschaft gab, fühlte er sich bei den Armen gepackt. Eine Hand legte sich schwer auf seinen Mund. Als er sich zur Wehr setzen wollte, fühlte er einen scharfen, brennenden Stich unter dem rechten Schulterblatt, so daß er vor Schmerz zusammenzuckte. »Maul halten«, sagte eine Stimme, eine grobe, ungeschlachte Stimme, »Maul halten oder dies.« Da war wieder der Schmerz, es mußte eine Messerspitze sein, die man ihm auf den Rücken setzte, darum hielt er still. Die unsichtbaren Hände zerrten ihn hastig fort, es mußten mindestens drei Mann sein, die sich mit ihm befaßten. Seine Nase verriet ihm, daß sie schwitzten - wahrscheinlich war ihre Aufregung schuld daran.
»Spendlove?« sagte er.
»Willst du ruhig sein!« meldete sich die Stimme wieder. Er wurde in größter Hast durch den langgedehnten Garten gezerrt.
Ein schriller Schrei, der aber sofort erstickt wurde, kam allem Anschein nach von Spendlove, der dicht hinter ihm war.
Hornblower hatte es nicht leicht, sich bei dem eiligen Lauf auf den Beinen zu halten, aber die Arme, die ihn hielten, stützten ihn zugleich, und wenn er stolperte, fühlte er sofort, wie ihm die Messerspitze in seinem Rücken durch den Stoff in die Haut drang. Am Ende des übergroßen Gartens stießen sie auf einen engen Pfad, auf dem man nicht die Hand vor Augen sah. Hier rannte Hornblower ganz unversehens gegen ein Lebewesen, das schnaubte und sich bewegte - es schien ihm ein Maultier zu sein.
»Aufsitzen!« sagte die Stimme neben ihm. Als Hornblower zögerte, fühlte er sofort wieder die Messerspitze an seinen Rippen.
»Los, aufsitzen!« befahl die Stimme, irgendwer drehte das Tier herum, daß es richtig stand. Es gab weder Sattel noch Steigbügel. Hornblower griff mit beiden Händen nach dem Rist des Tieres und zog sich mühsam in den Reitsitz. Obwohl er das Geklirr einer Trense hörte, suchte er vergeblich nach einem Zügel und vergrub daher seine Finger in der dürftigen Mähne.
Rundum hörte er, daß auch die Kerle, die ihn gefangen hatten, ihre Mulas bestiegen. Jetzt setzte sich sein eigenes Tier mit einem so heftigen Ruck in Bewegung, daß er sich verzweifelt an der Mähne festklammern mußte, um nicht herabzufallen. Einer der Kerle hatte die Mula vor ihm bestiegen und zerrte beim Anreiten Hornblowers Tier an einem Leitzügel hinter sich her.
Die ganze Bande war etwa acht Köpfe stark und schien vier Maultiere bei sich zu haben. Die Mulas fielen in Trab, Hornblower wurde heftig umhergestoßen und kam auf dem glatten Rücken des Tieres gefährlich ins Rutschen, aber rechts und links neben ihm liefen zwei Burschen, die ihn immer wieder in den Sitz zurückschoben, wenn er abgleiten wollte. Nach einer kurzen Weile wurde die Gangart wieder mäßiger, weil das Leittier eine schwierige Wegstelle zu überwinden hatte. »Wer seid ihr?« fragte Hornblower, sobald er nach dem wüsten Gehopse wieder etwas zu Atem kam. Der Mann an seinem rechten Knie fuchtelte sofort mit einem Ding herum, das im Licht der Sternennacht blitzte - es war eine Art Entermesser, die westindische Machete. »Halt's Maul«, zischte er, »oder ich säble dir ein Bein ab.« Im nächsten Augenblick fiel das Maultier wieder in Trab, so daß Hornblower ohnedies nicht mehr reden konnte, auch wenn es ihn gedrängt hätte, noch etwas zu sagen.
Die Mulas und die Männer hasteten einen Pfad entlang, der rechts und links von hohem Zuckerrohr gesäumt war, und Hornblower flog auf dem Rücken seines Tieres erbarmungslos auf und nieder. Er versuchte sich durch einen Blick nach den Sternen über die Richtung klar zuwerden, in der sie sich bewegten, aber das erwies sich als recht schwierig, weil sich der Pfad in vielen Windungen durch das Land zog, so daß ihr Kurs in jedem Augenblick ein anderer war. Sie ließen das Zuckerrohrland hinter sich und schienen die offene Savanne erreicht zu haben. Nun führte der Weg unter Bäumen entlang, das Tempo ließ eine Weile nach, da es steil bergan ging, und beschleunigte sich unverzüglich wieder, als auf der anderen Seite der Abstieg begann. Die unberittenen Burschen rannten unermüdlich neben den Mulas her. Schon ging es von neuem einen so steilen Hang hinauf, daß die Maultiere richtig klettern mußten. Dabei bot das Gelände ihren Hufen anscheinend schlechten Halt, da sie des öfteren rutschten und stolperten.
Zweimal wäre Hornblower um ein Haar von seinem Tier gestürzt, aber der Mann an seiner Seite sprang ihm jedes Mal rechtzeitig bei. Natürlich litt er bald an heftigen Sattelschmerzen - wenn man sich bei einem ungesattelten Tier so ausdrücken darf - und das scharfe Rückgrat der Mula schnitt ihm fürchterlich ins Gesäß. Er war in Schweiß gebadet, die Zunge klebte ihm am Gaumen, und zu all dem fielen ihm vor Müdigkeit immer wieder die Augen zu. Trotz seiner Schmerzen geriet er allmählich in einen Zustand dumpfer Gefühllosigkeit.
Mehr als einmal ritten sie patschend und spritzend durch kleine Bäche, die von den Bergen herabrauschten, dann führte der Weg wieder einmal durch eine baumbestandene Zone, und bisweilen hatte es wohl auch den Anschein, als zwängte er sich durch einen Engpaß, der ihm kaum Raum genug bot.
Hornblower hatte längst keine Ahnung mehr, wie lange sie schon unterwegs waren, als sie an ein Gewässer gelangten, das offenbar keine starke Strömung hatte, weil sich die Sterne in seinem glatten Wasser spiegelten. Jenseits unterschied man im Dunkel die Umrisse einer hohen Felskuppe. Hier machte die Bande Halt, und der eine von Hornblowers Trabanten zupfte ihn an der Hose, was offenbar hieß, daß er absteigen sollte.
Hornblower rutschte denn auch gehorsam von seinem Maultier herunter - er mußte sich im ersten Augenblick gegen das Tier lehnen, um nicht zu fallen, da ihm die Beine den Dienst versagten. Als er sich so weit erholt hatte, daß er wieder stehen und einen Blick auf seine Umgebung werfen konnte, entdeckte er zwischen all den dunklen Gesichtern, die ihn umgaben, ein einziges helles. Das war Spendlove, der mit wankenden Knien und hängendem Kopf zwischen zwei Kerlen stand, die ihn mühsam aufrecht hielten. »Spendlove! Sind Sie verwundet?«
»Es ist - nichts - Mylord.«
Hornblower bekam einen heftigen Stoß in den Rücken. »Los, schwimm!« sagte eine Stimme. »Spendlove!«
Hornblower wurde mit Gewalt herumgedreht und taumelte unter ständigem Stoßen und Drängen an den Rand des Wassers hinunter. Es hätte keinen Sinn gehabt, sich zu widersetzen.
Einstweilen konnte er nur vermuten, daß man Spendlove bewußtlos geschlagen hatte und daß er eben erst wieder zu sich gekommen war. Wahrscheinlich hatte man ihn ohnmächtig auf ein Maultier gepackt und hierher geschafft.
»Schwimm!« wiederholte die Stimme, und zugleich schob ihn eine kräftige Hand immer näher zum Wasser. »Nein!« stieß Hornblower krächzend hervor. Das Gewässer kam ihm unermeßlich breit vor und war schwarz wie Tinte. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Kerle, die ihn da hineintreiben wollten, und empfand es zugleich als eine unerträgliche Schmach, daß er, der britische Admiral, sich in seiner Rolle als Gefangener nicht viel anders benahm als ein widerspenstiges Kind. Jetzt führte einer der Leute neben ihm ein Maultier langsam ins Wasser.
»Häng dich an den Schwanz!« sagte die Stimme, und schon fühlte er wieder die Messerspitze in seinem Rücken. Er griff also nach dem Schweif des Tiers und ließ sich verzweifelt vornüber ins Wasser fallen. Die Mula zappelte ein wenig, schwamm dann aber gleich zielbewußt los. Das Wasser war nur um weniges kühler als die warme Luft. Noch schienen kaum ein paar Sekunden vergangen, da patschte das Tier bereits den gegenüberliegenden Uferhang hinauf. Auch Hornblower faßte Grund und watete hinter ihm drein, seine durchnäßten Sachen trieften von Wasser. Der Rest der Bande kam mit den übrigen Tieren spritzend und schnaubend hinter ihm drein. Wieder legte sich eine Hand auf seine Schulter, drehte ihn zur Seite und zwang ihn weiterzugehen. Vor sich hörte er ein seltsames Knarren und Knirschen, dann schlug ihm ein pendelndes Etwas gegen die Brust. Er griff danach und hatte eine glatte Bambussprosse in der Hand, die an den Ranken eines lianenartigen Schlinggewächses hing - das ganze war eine primitive Art Jakobsleiter, die da von oben herabhing.
»Hinauf!« sagte die Stimme. »Los!«
Er konnte nicht, er wollte nicht - aber schon fühlte er wieder die Messerspitze im Rücken, also reckte er gehorsam die Arme, um eine Sprosse zu packen, und angelte mit den Beinen verzweifelt nach einer zweiten. »Hinauf!«
Er begann zu klettern, die Leiter drehte sich unter seinen Füßen auf jene hinterlistige Art, die Jakobsleitern stets an sich haben. In der Finsternis war das eine widerwärtige Aufgabe, man mußte mit den Füßen die Sprossen ertasten, die einem immer wieder entschlüpfen wollten, und sich derweil mit den Händen krampfhaft festhalten, daß man nicht rutschte. Seine Schuhe drohten auf dem glatten Bambus abzugleiten, und die Hände fanden an den Schlinggewächsen keinen sicheren Griff.
Jemand anderer kam hinter ihm hergeklettert, und die Leiter führte unter seinem Gewicht die unwahrscheinlichsten Tänze auf, so daß er wie ein Pendel in der Finsternis hin- und herschwebte. Verbissen strebte er von Sprosse zu Sprosse nach oben, seine Hände griffen so krampfhaft zu, daß es ihn jedes Mal einen Entschluß kostete, sie abwechselnd loszulassen und neuen Halt zu suchen. Endlich ließ das Kreisen und Schwingen nach, und als er wiederum nach oben langte, faßte seine Hand keine neue Sprosse mehr, sondern festen, felsigen Boden. Der nächste Augenblick war kritisch, er hatte keinen sicheren Griff mehr und hielt darum im Klettern inne, da er sich immerhin schon in erheblicher Höhe befand. Der Kerl unter ihm gab einen scharfen Befehl, darauf packte ihn eine Hand von oben beim Handgelenk und zerrte ihn mit aller Kraft weiter hinauf. Seine Füße bekamen die nächste Sprosse zu fassen, und gleich darauf lag er keuchend bäuchlings auf hartem Grund. Aber die Hand zerrte sofort weiter, und er kroch auf allen vieren vorwärts, um dem Mann, der ihm folgte, Platz zu machen. In seinem Elend hätte er am liebsten laut geschluchzt; er, der stolze, selbstbewußte Mann, der sich noch vor wenigen Stunden im Spiegel bewundert hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Er hörte die Schritte der anderen dicht neben sich. »Mylord, Mylord!«
Das war Spendlove, der sich um ihn sorgte. »Spendlove!« antwortete er und setzte sich auf. Spendlove beugte sich zu ihm herab und fragte: »Wie geht es Ihnen, Mylord?«
War es seinem Humor und der augenfälligen Lächerlichkeit ihrer Lage zuzuschreiben, verdankte er es seinem angeborenen Stolz oder nur der Macht der Gewohnheit, daß er sich alsbald wieder in die Gewalt bekam? »Danke«, sagte er, »mir geht es so gut, wie man es nach diesen gewiß ungewöhnlichen Erlebnissen erwarten darf. Aber was ist denn mit Ihnen - wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ich habe einen Hieb auf den Kopf bekommen«, gab Spendlove schlicht zur Antwort.
»Sie sollen nicht stehen, setzen Sie sich doch«, sagte Hornblower, worauf Spendlove neben ihm zusammensackte.
»Haben Sie eine Ahnung, wo wir sind, Mylord?« fragte er.
»Vermutlich irgendwo auf einem Felskamm«, sagte Hornblower.
»Aber wo, Mylord?«
»Irgendwo auf Seiner Majestät treu ergebenen Insel Jamaika.
Mehr kann ich beim besten Willen nicht sagen.«
»Ich nehme an, daß es bald dämmern wird«, sagte Spendlove mit matter Stimme. »Ja, es kann nicht mehr lange dauern.«
Niemand schenkte ihnen auch nur die geringste Beachtung. Im Gegensatz zu dem wortlosen, von scharfer Manneszucht zeugenden Schweigen, das während ihres Anmarsches geherrscht hatte, war jetzt überall ein lebhafter Meinungsaustausch im Gang. Das Stimmengewirr vermischte sich mit dem Rauschen eines kleinen Wasserfalls, das Hornblower schon vernommen zu haben glaubte, ehe die gefährliche Klettertour begonnen hatte. Die Gespräche wurden in einem so undeutlichen englischen Dialekt geführt, daß Hornblower kaum ein Wort davon verstand. Dennoch konnte er nicht daran zweifeln, daß bei seinen Häschern helle Begeisterung herrschte. Er hörte Frauenstimmen, Schattengestalten gingen umher, Leute, die trotz der Anstrengung dieser Nacht offenbar viel zu aufgeregt waren, um ruhig sitzen zubleiben.
»Ich bitte Eure Lordschaft um Vergebung«, sagte Spendlove, »aber ich kann nicht glauben, daß wir uns wirklich oben auf einem Felskamm befinden.«
Er deutete nach oben. Der Himmel war schon hell, die Sterne verblaßten, senkrecht über sich sahen sie die Kante einer überhängenden Felswand. Hornblower entdeckte, daß sich dort oben das Laubwerk von Bäumen gegen den Himmel abhob.
»Seltsam«, meinte er, »wir befinden uns offenbar auf einem Felsband.« Zu seiner Rechten zeigte sich am Himmel eine erste blasse Spur von Morgenrot, links herrschte noch Dunkelheit.
»... das nach Nordnordwest abstürzt«, ergänzte Spendlove.
Bald schon wurde es merklich heller; als Hornblower den Blick wieder nach Osten wandte, hatte sich das Rot in Orange verwandelt, unter dem sich ein grünlicher Streifen zeigte. Es schien, als befänden sie sich in unermeßlicher Höhe, fast zu ihren Füßen - so sah es für die Sitzenden aus - war der feste Boden zu Ende, und tief unten lag in leichtem Dunst eine schattenhafte Welt, die allmählich immer deutlicher Gestalt gewann. Hornblower wurde plötzlich gewahr, daß er durch und durch naß war, und schauderte fröstelnd zusammen.
»Dies dort dürfte die See sein«, sagte Spendlove, in die Ferne deutend. Ja, das war die See. Blau und verlockend dehnte sie sich weit draußen vor ihrem Blick, aber zwischen ihrem Felshang und der Küste erstreckte sich ein mehrere Meilen breiter Streifen Land, das sich immer noch unter dem grauen Dunst der Morgenfrühe verbarg. Hornblower erhob sich, trat einen Schritt vor und beugte sich über eine niedrige, aus losen Felsbrocken bestehende Brustwehr. Unwillkürlich fuhr er im ersten Augenblick zurück und mußte sich richtig zusammennehmen, ehe er einen zweiten Blick über den Rand warf. Unter ihm gähnte das Nichts, sie saßen in der Tat auf einem schmalen Absatz in der Steilwand des Kliffs, etwa in Höhe der Großmarsrah einer Fregatte, also einige zwanzig Meter über dem Boden. Senkrecht unter sich erkannte er den kleinen Fluß, den er am Schweif des Maultiers schwimmend überquert hatte, die Strickleiter hing gleich neben ihm vom Rand des Felsens zum Ufer hinunter. Als er sich mit aller Willenskraft noch weiter vorbeugte, entdeckte er unter sich die Maultiere, die mit müde hängenden Köpfen auf dem schmalen Landstreifen zwischen Bach und Fels zusammenstanden.
Demnach mußte der Überhang dieser Wand ganz beträchtlich sein, und sie befanden sich auf einem Band, das die Wand durchzog, die im Lauf der Äonen vom Hochwasser des Flüßchens unterspült worden war. Hier, wo sie sich befanden, waren sie von oben aus und, wenn die Leiter aufgezogen war, auch von unten her unerreichbar. Das Felsband war an seiner breitesten Stelle etwa acht Meter breit und schätzungsweise neunzig Meter lang. Am einen Ende stürzte der Wasserfall, den er schon in der Nacht gehört hatte, über die Felswand herab. Er hatte sich einen tiefen Einschnitt aus dem Gestein gefressen, schlug hier oben auf einen in triefender Nässe schimmernden Felsblock und sprang von da im Bogen weiter in die Tiefe. Bei seinem Anblick wurde sich Hornblower erst bewußt, daß ihm die Kehle vor Durst ganz ausgetrocknet war, darum zog es ihn gleich zu dem verlockenden Wasser hin. Das war ein schwindelerregendes Unternehmen. Rechts streifte er mit der Schulter an die Felswand, zur Linken gähnte der Abgrund, und um ihn her sprühte der Gischt des Falls. Er aber füllte unbeirrt die hohlen Hände und trank und trank, und als er sich sattgetrunken hatte, netzte er noch Gesicht und Hände mit dem köstlich erfrischenden Naß. Spendlove wartete schon hinter ihm, um ihn abzulösen, sobald er fertig war. In seiner üppigen Haartolle klebte ein Klumpen geronnenen Bluts, dessen Spur sich hinter dem linken Ohr und am Hals entlang herabzog.
Spendlove kniete nieder, um ebenfalls zu trinken und sich zu waschen. Als er fertig war, erhob er sich und tastete vorsichtig seinen Kopf und seine Glieder ab. »Die Burschen haben mir nichts erspart«, sagte er. Auch seine Uniform war über und über mit Blut besudelt, und an der Hüfte baumelte die leere Säbelscheide. Der Säbel selbst war weg. Als sie dem Wasserfall den Rücken kehrten, entdeckten sie ihn - einer der Kerle, die sie gefangengenommen hatten, hielt ihn in der Hand. Er schien sie schon voll Ungeduld zu erwarten. Es war ein kleiner, aber breit und stämmig gebauter Bursche, kein Vollblutneger, vielleicht zur Hälfte von weißer Herkunft. Er trug ein schmutziges weißes Hemd, eine schlotternde, zerfetzte blaue Hose und an den seltsam auswärts gedrehten Füßen ein Paar aus den Nähten geplatzter Schnallenschuhe. »Na, Lord«, sagte er.
Er sprach den Dialekt der Insel mit seinen unklaren Vokalen und schweifenden Konsonanten. »Was willst du eigentlich von mir«, fragte Hornblower mit aller Schärfe, über die er gebot.
»Du uns Brief schreiben«, sagte der Mann mit dem Säbel.
»So? Einen Brief? Und an wen?«
»An den Gouverneur.«
»Soll ich ihn vielleicht auffordern, euch zu hängen?« fragte Hornblower.
Der Mann schüttelte seinen großen Kopf. »Nein, ich will ein Papier, ein Papier mit Siegel. Einen Pardon, verstehst du? Für uns alle. Aber mit Siegel drauf.«
»Wer bist du eigentlich?«
»Ich heiße Ned Johnson.« Der Name sagte Hornblower gar nichts, und ein Blick verriet ihm, daß ihn auch der allwissende Spendlove zum erstenmal hörte.
»Ich war bei Harkness an Bord«, sagte Johnson. »Aha!«
Jetzt wußten die beiden britischen Offiziere Bescheid.
Harkness war einer der letzten kleinen Piraten gewesen. Erst vor einer Woche hatte die Clorinda seiner Sloop Blossom vor Savanna la Mar den Weg verlegt und ihr Entkommen nach Lee vereitelt. Unter dem Geschoßhagel der auf weite Entfernung feuernden Fregatte hatte Harkness in letzter Not sein Schiff an der Mündung des Sweet River auf Grund gesetzt. Die Besatzung hatte sich in die Marschen und Mangrovensümpfe des dortigen Küstenstrichs geflüchtet und war auf diese Art entkommen - vollzählig bis auf den Kapitän, den man tot an Deck seines Schiffes fand. Eine Kugel der Clorinda hatte den Mann buchstäblich in Stücke gerissen. Nun waren diese Leute also hier, führerlos jetzt - wenn man Johnson nicht als ihren Führer gelten ließ. Der Gouverneur hatte zwei Bataillone mobilgemacht, um sie zu fangen, sobald die Clorinda in Kingston gemeldet hatte, was geschehen war. Um eine Flucht der Piraten über See unmöglich zu machen, hatte der Gouverneur auf Hornblowers Ansuchen außerdem in jedes Fischernest der ganzen riesigen Insel Wachen verlegt. Galt es doch, unter allen Umständen zu vermeiden, daß sie ihr altes Spiel von neuem begannen, das mit dem Diebstahl eines Fischerbootes seinen Anfang nahm und mit der Kaperung eines größeren Fahrzeugs fortgesetzt wurde, bis sich das Treiben der Kerle wieder zu einer richtigen Plage für alle Seefahrer aus wuchs.
»Für Seeräuber gibt es keinen Pardon«, sagte Hornblower.
»Schon gut«, sagte Johnson, »schreib du nur den Brief, dann wird uns der Gouverneur laufen lassen.« Er wandte sich zur Seite und hob etwas auf, das am Fuß der aufstrebenden Felswand am Boden lag. Es war ein in Leder gebundenes Buch, der zweite Band von Waverley, wie Hornblower feststellte, als er es in der Hand hielt. Jetzt brachte Johnson auch noch einen Stumpen Blei zum Vorschein und drückte ihn Hornblower in die Hand.
»Da, schreib an den Gouverneur«, sagte er, schlug den Deckel des Buches zurück und wies auf das unbedruckte Vorsatzblatt.
»Was meinst du denn, was ich schreiben soll?« fragte Hornblower.
»Bitt ihn um einen Pardon für uns - mit seinem Siegel drauf.«
Offenbar hatte Johnson im Gespräch mit anderen Piraten etwas von einem ›Pardon unter Brief und Siegel‹ gehört und eine vage Vorstellung davon zurückbehalten. »Der Gouverneur wird sich nie auf ein solches Ansinnen einlassen.«
»Dann schicke ich ihm deine Ohren. Wenn er noch nicht will, schicke ich ihm deine Nase.«
Das war eine schauderhafte Aussicht. Hornblower warf einen kurzen Blick auf Spendlove - der war im Gesicht plötzlich so weiß wie ein Leintuch.
»Du der Admiral«, beharrte Johnson, »du der Lord, der Gouverneur wird es tun.«
»Das möchte ich bezweifeln«, sagte Hornblower. Er versuchte, sich den alten Polterer in Kingston, General Sir Augustus Hooper, vorzustellen und aus dem Bild dieses Mannes den Schluß zu ziehen, wie er reagierte, wenn man ihm mit Johnsons Ansinnen kam. Womöglich platzte ihm ein Blutgefäß, wenn man ihm ernstlich zumutete, zwei Dutzend richtiger Piraten das verwirkte Leben zu schenken. Wenn die Regierung zu Hause von der Geschichte erfuhr, waren ihre maßgebenden Männer gewiß höchst peinlich berührt. Der Ärger, der daraus entstand, richtete sich dann natürlich ganz von selbst gegen den Mann, der so dumm und naiv gewesen war, sich einfach entführen zu lassen und dadurch alle Beteiligten in eine lästige Zwangslage zu bringen. Dieser Gedankengang brachte ihn auf eine Frage: »Was hattet ihr überhaupt in dem Garten zu suchen?«
»Wir haben gewartet, bis du heimgehst, aber du bist schon vorher gekommen.« Also ein vorbereiteter Anschlag...
»Zurück!« schrie Johnson.
Mit einer Fixigkeit, die bei seinem massigen Körper überraschte, tat er einen kurzen Satz nach hinten und stand, in den Knien federnd, mit erhobenem Säbel bereit, einen plötzlichen Angriff zu parieren. Hornblower warf einen überraschten Blick über die Schulter und sah gerade noch, wie Spendlove von seinem Vorhaben abließ. Er hatte schon jeden Muskel gespannt, um Johnson mit einem mächtigen Satz anzuspringen. Wäre es ihm gelungen, seinen Säbel an sich zu reißen und mit der Spitze auf Johnsons Kehle zu richten, so hätte sich ihre Lage mit einem Schlag von Grund auf geändert.
Auf den Schrei kamen sofort ein paar von den Kerlen herbeigestürzt, einer von ihnen schwang eine Stange - anscheinend den Schaft einer ihrer Spitze beraubten Pike - und stieß sie Spendlove grausam mitten ins Gesicht. Spendlove taumelte zurück, der Angreifer holte schon mit seiner Stange aus, um ihn niederzuschlagen, da sprang Hornblower mit einem Satz dazwischen. »Halt!« donnerte er, dann maßen sie einander alle stumm mit den Blicken, und die Hochspannung ließ wieder etwas nach. Einer der Burschen näherte sich Hornblower von der Seite her, er trug ein blankes Entermesser in der Hand. »Ohr abschneiden?« fragte er Johnson über die Schulter hinweg.
»Nein, noch nicht. Setzt euch, ihr beiden!« Als sie nicht gleich gehorchten, brüllte er zornig los: »Setzen, sage ich!«
Das gezückte Entermesser ließ ihnen keine Wahl, sie kauerten sich gehorsam nieder und waren jetzt natürlich vollkommen wehrlos.
»Willst du schreiben?« fragte Johnson. »Wart noch ein bißchen«, sagte Hornblower müde. In der augenblicklichen Lage fiel ihm beim besten Willen nichts Gescheiteres ein. Er suchte jetzt nur noch Zeit zu gewinnen und glich darin fast einem verzweifelten Kind, das sich zur Schlafenszeit dem eisernen Willen der Eltern gegenübersieht.
»Gebt uns erst was zu essen«, sagte Spendlove. Am anderen Ende des Bandes brannte ein kleines Feuer, dessen Rauch sich wie ein dünner bläulicher Faden an der überhängenden Wand emporzog. Unter einem Dreifuß hing an einer eisernen Kette ein Topf über der Glut, daneben kauerten zwei Weiber, die sich um seinen Inhalt zu schaffen machten. An der Rückwand des Felsbandes waren Kisten, Krüge und Fässer gestapelt, in einem Gestell stand eine Reihe Musketen. Hornblower sah sich in eine Lage versetzt, wie sie in spannenden Unterhaltungsromanen mit Vorliebe geschildert wird: Er befand sich im Raubnest der Piraten. Was mochten diese Kisten enthalten? Vielleicht ungeahnte Schätze an Perlen und Gold. Wie alle anderen Seefahrer brauchten auch Piraten einen Stützpunkt an Land, und diese hatten ihn hier weit binnenlands eingerichtet, statt etwa eine kleine, unbewohnte Insel dafür zu wählen. Erst vor Jahresfrist hatte seine Brigg Clement ein solches Inselnest ausgehoben.
»Du schreibst den Brief, Lord«, sagte Johnson. Dabei setzte er den Säbel auf Hornblowers Brust, seine Spitze drang durch das dünne weiße Hemd und stach ihn über dem Brustbein in die Haut.
»Was erwartet ihr euch davon?« fragte Hornblower. »Einen Pardon. Mit einem Siegel.«
Hornblower studierte die dunkelhäutigen Gestalten, die ihn umringten. Für die Piraten im Karibischen Meer hatte bald das letzte Stündlein geschlagen, darüber gab es keinen Zweifel mehr. Die Amerikaner gingen im Norden gegen sie vor, französische Kriegsschiffe operierten von den Kleinen Antillen aus, und sein eigener unermüdlich tätiger Verband saß ihnen hier um Jamaika im Nacken. Kurzum, das Geschäft lohnte nicht mehr, es war zu gefährlich geworden. Und dieser kleine Klüngel hier, der Überrest der Harknessbande, war sogar noch übler dran als alle anderen. Sie hatten erstens ihr Schiff verloren, und zweitens hatte er, Hornblower, ihnen durch seine Maßnahmen ein Entkommen nach See und in die Freiheit unmöglich gemacht. Es war eine kühne Idee dieser Burschen, sich durch seine Entführung vor dem Strick des Henkers retten zu wollen, und man mußte zugeben, daß sie ihre Aktion glänzend geplant und durchgeführt hatten. Wahrscheinlich waren Plan und Ausführung dem Gehirn dieses kleinen Halbnegers entsprungen, der alles andere als intelligent aussah und jetzt, wie er so vor ihm stand, einen verwirrten, fast kopflosen Eindruck machte.
Vielleicht trog der äußere Eindruck, vielleicht auch hatte die nackte Verzweiflung bewirkt, daß sich diesem stumpfen Geist so erstaunliche Pläne entrangen.
»Hast du gehört?« fragte Johnson und riß Hornblower durch einen neuen Stich mit der Säbelspitze aus seinen Gedanken.
»Sagen Sie ja, Mylord«, sagte ihm Spendlove leise ins Ohr.
»Wir müssen Zeit gewinnen.«
Johnson wandte sich gegen den Sekretär und fuchtelte ihm mit dem Säbel vor dem Gesicht herum. »Maul halten!« schrie er ihn an. Dann kam ihm plötzlich eine Idee, er sagte zu Hornblower: »Los, schreiben! Oder ich steche ihm ein Auge aus.«
»Gut, ich werde schreiben«, sagte Hornblower. Im nächsten Augenblick hatte er den Band Waverley mit aufgeschlagenem Deckel auf den Knien und das kurze Stück Bleistift in der Hand.
Johnson zog sich ein paar Schritte von ihm zurück, als wäre er darauf bedacht, seinen Gedankenflug nicht zu stören. Mein Gott, was sollte er nur schreiben? ›Lieber Sir Augustus?‹ Nein, besser war: ›Eure Exzellenz!‹ Dann weiter: ›Ich werde hier mit Spendlove von Überlebenden der Harknessbande als Geisel festgehalten. Der Überbringer dieses Schreibens wird Ihnen die Zusammenhänge im einzelnen erklären. Man verlangt einen Generalpardon als Gegenleistung für...‹ Hornblower hielt im Schreiben inne und überlegte die nächsten Worte: ›Unser Leben‹ ? Nein, dachte er kopfschüttelnd, nur kein Pathos und schrieb dann ›unsere Freiheit. Ich bitte Eure Exzellenz auf Grund Ihrer überlegenen Beurteilung der Lage zu entscheiden. Ihr ergebener Diener...‹ Hornblower zögerte abermals und setzte dann mit fliegender Hand seinen Namen darunter. »Fertig«, sagte er und reichte Johnson das aufgeschlagene Buch. Der nahm es, betrachtete neugierig die Schrift und wandte sich dann zu dem Häuflein seiner Gefolgsleute, die schweigend hinter ihm hockten und dem ganzen Vorgang mit Spannung gefolgt waren.
Jetzt sprangen sie auf und blickten ihm neugierig über die Schulter, um die Schrift zu sehen. Andere kamen herbei und folgten ihrem Beispiel, und schließlich begannen sie alle durcheinanderzureden.
»Keiner von der Gesellschaft kann lesen, Mylord«, meinte Spendlove. »Es scheint so.«
Die Blicke der Piraten wanderten zwischen dem kurzen Schriftstück und ihren Gefangenen hin und her, zugleich redeten sie immer hitziger aufeinander ein. »Es geht darum, wer das Schreiben nach Kingston bringen soll«, sagte Hornblower.
»Offenbar wagt sich niemand in die Höhle des Löwen.«
»Der Kerl hat seine Leute nicht in der Hand«, bemerkte Spendlove. »Harkness hätte schon längst ein paar von ihnen abgeknallt.«
Jetzt trat Johnson wieder herzu und wies mit seinem dicken schwarzen Finger auf die Schrift. »Was hast du da geschrieben?« fragte er. Hornblower las seine kurze Mitteilung laut vor. Da die Kerle kein Wort lesen konnten, wäre es ihm ein leichtes gewesen, sie zu beschwindeln. Johnson starrte ihn ununterbrochen an und suchte in seiner Miene zu lesen; dabei verriet er selbst immer deutlicher, daß er völlig kopflos und durchgedreht war. Hornblower hatte ihm das schon eine ganze Weile angesehen. Der Pirat sah sich offenbar in einer Lage, der er von vornherein nicht gewachsen war, er hatte sich auf einen Plan eingelassen, den er noch keineswegs in allen Einzelheiten durchüberlegt hatte. Keiner der Piraten war bereit, sich als Überbringer einer Nachricht unbekannten Inhalts auf gut Glück den Behörden in die Hand zu liefern. Ganz abgesehen davon, traute jeder der Kerle dem anderen zu, daß er die gemeinsame Sache im Stich ließ, das mühsam erlangte, kostbare Schriftstück einfach fortwarf, um sich als Deserteur auf eigene Faust durchzuschlagen. Weiß Gott, sie waren in einer jammervollen Lage, diese armen, zerlumpten Kerle samt ihrem schlampigen weiblichen Anhang. Keiner von ihnen hatte das Zeug zum Führer, der ihnen einen Ausweg aus ihrer Not hätte zeigen können. Hornblower fand ihre Hilflosigkeit im ersten Augenblick geradezu komisch, aber es wurde ihm sehr rasch anders zumute, als er daran dachte, was sie als Gefangene dieses unberechenbaren Haufens zu erwarten hatten, wenn die Kerle aus irgendeinem Grund rabiat wurden. Die Debatte wurde immer hitziger, aber einer Lösung kam man dabei offenbar nicht näher. »Ob es uns gelingen könnte, die Leiter zu erreichen, Mylord?« fragte Spendlove und fügte alsbald selbst die Antwort hinzu: »Nein, sie hätten uns, ehe wir wegkommen könnten... es ist zum Verzweifeln.«
»Es steht uns aber frei, die Möglichkeit im Auge zu behalten.«
Eine der Frauen, die etwas abseits über dem Feuer kochten, fiel in eben diesem Augenblick den Debattierenden mit heiserem Geschrei ins Wort. Das Essen war fertig und wurde in hölzernen Schalen ausgeteilt. Eine junge Mulattin - fast noch ein Kind - in Fetzen gehüllt, die einst sicherlich gut und teuer gewesen waren, brachte auch den Gefangenen zusammen eine solche Schale, aber keinen Löffel und keine Gabel dazu.
Unwillkürlich spielte ein Lächeln um die Lippen der beiden Männer, als sich ihre Blicke begegneten. Spendlove brachte ein Taschenmesser zum Vorschein, klappte es auf und reichte es seinem Vorgesetzten.
»Vielleicht ist Ihnen damit gedient, Mylord«, sagte er hilfsbereit und fügte nach einem Blick auf den Inhalt der Schüssel hinzu: »Das Souper bei den Houghs wäre besser gewesen, Mylord. Leider haben wir es verpaßt.« Die Mahlzeit bestand aus gekochten Yams und ein paar Stückchen Salzfleisch. Erstere waren wohl Diebesbeute aus dem Beet irgendeines Sklaven, letztere stammten aus einem der Fässer, die an der Felswand gestapelt waren. Das Essen fiel ihnen alles andere als leicht. Hornblower bestand darauf, daß sie das Taschenmesser abwechselnd benutzten, um die heißen Bissen zum Mund zu balancieren, aber das tat dem Heißhunger keinen Eintrag, der ihnen erst während des Essens so recht zum Bewußtsein kam. Die Piraten und ihr Weibervolk hatten sich zum Essen meist auf die Hacken niedergekauert. Kaum hatten sie sich die ersten Bissen einverleibt, fingen sie von neuem an zu streiten, wie mit den Gefangenen weiter zu verfahren sei.
Hornblower warf wieder einmal einen Blick über das Land, das sich zu ihren Füßen dehnte.
»Es muß die Cockpit-Gegend sein«, sagte er. »Jawohl, Mylord, ganz bestimmt.«
Das Cockpit-Gebiet war eine unabhängige Republik im Nordwesten Jamaikas, die noch keines Weißen Fuß betreten hatte. Als die Engländer eineinhalb Jahrhunderte zuvor die Insel den Spaniern entrissen hatten, stellten sie fest, daß sich in diesem Landstrich entsprungene Sklaven und Überreste der indianischen Urbevölkerung niedergelassen hatten.
Verschiedene Versuche, das Gebiet zu unterwerfen, waren kläglich fehlgeschlagen, weil das Gelbe Fieber und die unglaubliche Schwierigkeit des Geländes dem verzweifelten Mut der Verteidiger zu Hilfe kamen. So kam es am Ende zu einem Friedensvertrag, der dem Cockpit die Unabhängigkeit brachte. Als einzige Bedingung wurde darin der Bevölkerung für die Zukunft verboten, entsprungene Sklaven bei sich aufzunehmen. Dieser Vertrag war nun schon seit fünfzig Jahren in Kraft, und es sah ganz so aus, als läge das Ende dieses Zustandes noch in weiter Ferne. Das Versteck der Piraten lag dicht an der Grenze dieses selbständigen Ländchens und kehrte den Bergen den Rücken zu.
»Dort liegt die Montego-Bucht, Mylord«, sagte Spendlove mit ausgestrecktem Arm.
Dort war Hornblower im vergangenen Jahr mit der Clorinda eingelaufen, die verlassene Reede bot guten Ankergrund und ausreichend Landschutz für eine Handvoll Fischerboote.
Hornblower starrte voller Sehnsucht in das unermeßliche Blau des Ozeans hinaus. Er versuchte, sich einen Fluchtweg auszudenken, dann wieder überlegte er, wie man etwa mit diesen Piraten reden müsse, um auf eine annehmbare Art mit ihnen ins reine zu kommen, aber die schlaflose Nacht machte seine Gedanken träge, und nun, da er gegessen hatte, wollten sie erst recht nicht munter werden. Er ertappte sich dabei, daß ihm der Kopf müde auf die Brust sank und riß sich mit einem Ruck zusammen. Jetzt, da er Mitte vierzig war, zeigte eine schlaflose Nacht eben doch schon ernstere Nachwirkungen, noch dazu, wenn sie unter solchen Aufregungen und körperlichen Strapazen verlaufen war.
Spendlove war seine Schläfrigkeit nicht entgangen. »Ich meine, Sie sollten ein wenig ruhen, Mylord«, sagte er leise.
»Ja, vielleicht könnte ich sogar schlafen.« Er streckte sich auf dem harten Boden aus. Es gab kein Kissen für den Kopf, seine Lage war alles andere als bequem.
Da fühlte er, wie ihn zwei Hände an den Schultern faßten und sachte herumschoben, bis sein Kopf auf Spendloves Schenkel ruhte. Einen Augenblick schien sich alles um ihn zu drehen, die Brise flüsterte ihm ins Ohr, das Stimmengewirr der streitenden Piraten und ihrer Weiber verschwamm zu einem eintönigen Geräusch, der Wasserfall gurgelte und rauschte - dann war er eingeschlafen. Erst als Spendlove nach geraumer Zeit seine Schultern berührte, wurde er wieder wach. »Mylord, Mylord.«
Als er die Augen aufschlug, fand er sich im ersten Augenblick überhaupt nicht zurecht. Es dauerte Sekunden, bis ihm wieder einfiel, wo er sich befand und wie er hierher gekommen war.
Vor ihm stand Johnson mit einigen seiner Spießgesellen, eine der Frauen hielt sich mit neugierigen Augen etwas im Hintergrund, ihr Gehabe verriet, daß sie eifrig geholfen hatte, den Beschluß herbeizuführen, der anscheinend mittlerweile zustande gekommen war. »Wir schicken dich zum Gouverneur, Lord«, sagte er.
Hornblower blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf. Obwohl die Sonne schon hinter der Felswand verschwunden war, konnte er gegen den blendend hellen Himmel kaum etwas unterscheiden. »Du«, sagte Johnson, »du gehst. Er bleibt.« Dabei wies er auf Spendlove. »Was soll das heißen?« fragte Hornblower. »Du gehst zum Gouverneur und bringst uns den Pardon«, sagte Johnson. »Wenn du bittest, wird er tun, was du sagst. Er bleibt hier. Wir können ihm die Nase abschneiden, die Augen ausstechen…«
»Großer Gott im Himmel!« stieß Hornblower hervor. Johnson oder seine Ratgeber - vielleicht die Frau dort im Hintergrund - waren offenbar doch gerissener, als es anfänglich schien.
Jedenfalls hatten sie gewisse Vorstellungen von Ehre und von der Verpflichtung, die die Kameradschaft dem Gentleman auferlegte. Irgendeine Ahnung verriet ihnen wohl, daß dieses Band der Kameradschaft auch zwischen Hornblower und Spendlove bestand, vielleicht waren sie erst draufgekommen, als sie sahen, wie Hornblower schlafend mit dem Kopf auf Spendloves Schenkel ruhte. Jedenfalls waren sie fest davon überzeugt, daß es Hornblower niemals über sich bringen würde, Spendlove kaltblütig ihrer Willkür zu überlassen. Sie wußten vielmehr genau, daß er alles Menschenmögliche unternehmen werde, um auch ihm die Freiheit zu verschaffen.
Gewiß, schlimmstenfalls - Hornblowers Phantasie schäumte wie eine Woge über den Wall seiner Schlaftrunkenheit - wenn es ihm nämlich nicht gelang, den gewünschten Pardon zu erwirken, käme er sogar freiwillig hierher zurück, um die Gefangenschaft und alles, was dann noch kam, mit Spendlove zu teilen.
»Wir schicken dich, Lord«, sagte Johnson. Das Weib im Hintergrund schrie mit lauter, keifender Stimme dazwischen.
»Du gehst jetzt - gleich«, sagte Johnson. »Steh auf!«
Hornblower erhob sich langsam vom Boden, er hätte sich auf alle Fälle Zeit dazu genommen, um mühsam noch einen letzten Rest von Würde zu wahren, aber auch wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre, rascher aufzuspringen, er hätte es nicht gekonnt. Seine Gelenke waren steif, er konnte sie fast krachen hören, als er sich bewegte. Alle Glieder taten ihm scheußlich weh.
»Diese zwei Männer begleiten dich«, sagte Johnson.
Spendlove stand auch schon auf den Beinen. »Wie fühlen Sie sich, Mylord?« fragte er besorgt.
»Steif und rheumatisch«, gab Hornblower zur Antwort.
»Und Sie? Was ist mit Ihnen?«
»Ich kann nicht klagen, Mylord. Bitte, machen Sie sich um mich keine Gedanken, Mylord.«
Spendlove sah ihn dabei so durchdringend an, als ob er ihm seine Worte fest auf die Seele binden wollte.
»Kümmern Sie sich nicht um mich, Mylord«, wiederholte Spendlove. Er wollte seinem Admiral damit sagen, daß man ihn ruhig opfern möge, daß nichts geschehen solle, um ihn auszulösen, daß er bereit sei, alle Martern zu erleiden, die ihn erwarten mochten, wenn nur sein verehrter Chef heil davonkam.
»Tag und Nacht werde ich an Sie denken«, sagte Hornblower und erwiderte Spendloves Blick mit gleicher Festigkeit.
»Mach zu!« sagte Johnson.
Am Rande des Felsbandes hing noch die Strickleiter. Es war für Hornblower mit seinen steifen Gelenken alles andere als einfach, sich mit den Beinen voran über den Absatz hinauszuschieben und auf den schlüpfrigen Bambussprossen Fuß zu fassen. Kaum war ihm das gelungen, schwang die Leiter auch schon unter ihm weg, als wäre sie ein Lebewesen, das darauf erpicht war, ihn abzuwerfen. Einen Augenblick klammerte er sich, mit seinem Rücken nach unten hängend, verzweifelt fest, dann riß er alle Kraft zusammen und streckte sich gerade, damit die Leiter wieder zurückschwingen konnte.
Bedächtig tastete er nach der nächsten Sprosse und setzte so den Abstieg fort. Als er sich eben an die Bewegung der Leiter gewöhnt hatte, wurde der Rhythmus ihrer Schwingungen empfindlich gestört, weil sich über ihm der erste seiner beiden Begleiter herabließ. Er mußte sich festhalten und eine Weile warten, ehe er den Weg nach unten wieder aufnehmen konnte.
Eben hatte er aufatmend auf festem Grund Fuß gefaßt, als erst der eine, dann der andere seiner beiden Wächter neben ihm nieder sprang.
»Leben Sie wohl, Mylord, und alles Gute!« Das war Spendlove, der ihm von oben her seinen Abschiedsgruß nachrief. Hornblower stand der Felswand zugewandt unmittelbar am Bachrand und mußte sich weit zurückbeugen, bis er zwanzig Meter über sich den Kopf und die Arme Spendloves sah, der sich winkend über die Brustwehr beugte. Er winkte eifrig zurück, während seine Wächter die Maultiere ans Ufer brachten. Zum zweitenmal galt es nun, das Flüßchen zu durchschwimmen. Es waren ganze fünfzehn Meter, er hätte diese Strecke in der vergangenen Nacht leicht ohne Hilfe zurücklegen können, wenn er geahnt hätte, wie kurz sie war.
Jetzt hatte er keine Hemmung mehr; angezogen wie er war - schade um den schönen schwarzen Frack - warf er sich, plautz, flach ins Wasser, drehte sich auf den Rücken und stieß sich mit den Beinen vorwärts. Sein Zeug, das vorher schon naß gewesen war, hing ihm wie Blei am Körper, so daß er schon zweifeln wollte, ob er es noch schaffte, als seine müden Beine wieder Grund fühlten. Mühsam kroch er auf allen vieren das steinige Ufer hinauf, das Wasser troff aus seinen Kleidern, er stand nicht auf, er rührte sich noch nicht einmal von der Stelle, als schon die Maultiere patschend neben ihm aus dem Wasser stiegen. Jetzt stand ihm die nächste Prüfung bevor: Er mußte eines dieser Tiere besteigen. Seine nassen Sachen hingen ihm immer noch zentnerschwer am Leib. Mühsam quälte er sich hinauf - die nasse Haut des Tiers war so glatt - und als er endlich rittlings zu sitzen kam, befielen ihn sogleich wieder gräßliche Reitschmerzen, weil sein Gesäß von dem Ritt in der vergangenen Nacht noch ganz wund war. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, um diese Qual auszuhalten, die sich ins Unerträgliche steigerte, wenn sein Reittier ab und zu Sprünge machte, um irgendwelche Unebenheiten zu überwinden. Sie folgten jetzt in umgekehrter Richtung dem Pfad, auf dem sie in der Nacht zuvor gekommen waren, soweit man hier überhaupt von einem Pfad reden konnte, denn eigentlich war das kaum eine Spur. Der Weg zog sich ein steiles Bachbett hinan, dann ging es auf der anderen Seite bergab und alsbald wieder bergauf.
Sie patschten spritzend durch rauschende Bäche und wanden sich im Zickzack durch wucherndes Unterholz. Hornblower war körperlich und geistig stumpf und müde, auch sein Tier war schon am Ende seiner Kraft und keineswegs so sicher auf den Beinen, wie man es von einem Maultier erwartet. Mehr als einmal kam es ins Stolpern, so daß sich sein Reiter nur mit größter Anstrengung oben hielt. Die Sonne senkte sich schon gegen Westen, der schmerzhafte Zuckeltrab wollte kein Ende nehmen. Jetzt ging es endlich bergab, der letzte Waldgürtel wurde durchquert, dann tat sich, flimmernd unter den Strahlen der tropischen Sonne, eine weite Ebene vor ihnen auf. Sie waren in der Savanne. Hier gab es kaum noch Felsen, da und dort weideten Rinder, und weiterhin schweifte der Blick über ein weites grünes Meer - die riesigen Zuckerrohrfelder Jamaikas, die sich vor ihnen dehnten, soweit das Auge nur reichte. Nach weiteren tausend Metern erreichten sie einen deutlich erkennbaren Pfad. Hier zügelten seine beiden Begleiter ihre Tiere. »Jetzt findest du allein weiter«, sagte der eine von ihnen und deutete auf den Pfad, der in vielen Windungen nach den Zuckerrohrfeldern führte.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Hornblower in seinem benommenen Zustand begriffen hatte, daß sie ihn freilassen wollten.
»Soll ich dorthin?« fragte er ganz überflüssigerweise. »Ja«, sagten seine Begleiter.
Die beiden Kerle drehten ihre Maultiere herum, Hornblower mußte das seine, dem die Trennung offenbar nicht gefiel, mit Gewalt daran hindern, ihrem Beispiel zu folgen. Erst als ihm einer der Begleiter einen kräftigen Hieb auf sein Hinterteil versetzte, fühlte es sich bemüßigt, den Pfad einzuschlagen.
Dabei fiel es in einen so harten, stoßenden Trab, daß sich Hornblower nur unter heftigsten Schmerzen mühsam in seinem Sitz hielt. Aber damit war es bald vorbei, denn das Maultier zog es vor, wieder in einen müden, langsamen Schritt zu fallen.
Hornblower war es zufrieden, endlich ruhig sitzen zu können, während das Tier Schritt für Schritt den Pfad entlangschlich. Die Sonne versteckte sich hinter Wolken, ein frischer Windstoß kündete das kommende Gewitter an, und gleich darauf rauschte ein so starker Wolkenbruch nieder, daß man kaum noch die Hand vor Augen sah. Die Landschaft war plötzlich wie ausgelöscht, das Maultier bewegte sich auf dem schlüpfrigen Boden noch langsamer fort als zuvor. Hornblower saß ganz erschöpft auf dem steinharten Rückgrat des Tiers, der Regen schlug ihm mit solcher Gewalt ins Gesicht, daß es ihm fast den Atem nahm.
Allmählich ließen die rauschenden Fluten nach, über ihm war der Himmel noch bedeckt, aber im Westen wurde es hell, und schließlich brach sogar die sinkende Sonne durch. Sie zauberte einen prachtvollen Regenbogen an den Himmel, der sich zur Linken Hornblowers über der Ebene wölbte, aber er nahm kaum von diesem Schauspiel Notiz. Jetzt war das erste Zuckerrohrfeld erreicht. Der Pfad, dem er folgte, verwandelte sich in einen schmalen, holprigen Fahrweg, in dem die Räder tiefe Gleise gegraben hatten. Das Maultier schien eine Ewigkeit zwischen den Wänden aus Zuckerrohr weiterzuwandern. Endlich kreuzte sich der Weg mit einem anderen, und hier, mitten auf der Kreuzung, machte das Tier plötzlich halt. Noch ehe sich Hornblower ganz aus seinem Dämmerzustand herausgerissen hatte, um es wieder in Gang zu bringen, hörte er von rechts her einen Zuruf. Als er sich umsah, entdeckte er in einiger Entfernung auf dem Querweg eine Gruppe von Reitern, die sich im Licht der Abendsonne deutlich abzeichneten. Unter eiligem Hufgetrappel kamen sie auf ihn zu galoppiert und rissen ihre Gäule neben ihm zusammen. Der erste der Gruppe war ein Weißer, zwei Farbige ritten dicht hinter ihm.
»Lord Hornblower, nicht wahr?« fragte der Weiße, der offenbar noch recht jung an Jahren war. Trotz aller Benommenheit entging es Hornblower nicht, daß er in festlicher Abendkleidung zu Pferde saß. Seine Halsbinde war ganz zerzaust und beschmutzt. »Ja, der bin ich«, sagte Hornblower.
»Gott sei Dank, daß Sie in Sicherheit sind«, sagte der junge Mann. »Fehlt Ihnen etwas? Sind Sie verletzt, Mylord?«
»Nein«, sagte Hornblower, der sich vor Erschöpfung kaum noch auf seinem Reittier halten konnte. Der junge Mann wandte sich an einen seiner farbigen Begleiter und erteilte ihm in fliegender Hast einen Auftrag. Der Farbige warf sofort seinen Gaul herum und jagte den Weg zurück, den die drei gekommen waren. »Die ganze Insel wurde mobilgemacht, um Sie zu suchen, Mylord«, sagte der junge Mann. »Was ist Ihnen eigentlich zugestoßen? Wir haben schon den ganzen Tag nach Ihnen gesucht.«
Ein Admiral, ein Oberbefehlshaber durfte sich unter keinen Umständen schwach und unmännlich zeigen. Hornblower steifte unter Aufwand aller Willenskraft sein Rückgrat.
»Ich wurde von Piraten entführt«, sagte er. Dabei versuchte er, so sachlich und distanziert zu sprechen, als ob das ein Ereignis wäre, das jedermann täglich zustoßen konnte. Aber diese Haltung erwies sich doch als recht schwierig. Seine Stimme klang wie ein heiseres Krächzen. »Ich muß unverzüglich zum Gouverneur. Wo finde ich seine Exzellenz?«
»Er dürfte in seinem Amtsgebäude sein«, sagte der junge Mann. »Dorthin haben Sie es nicht weit, nur dreißig Meilen.«
Dreißig Meilen! Dabei wären ihm jetzt dreißig Meter schon zuviel gewesen, so elend wie er sich fühlte »Schön«, sagte er steif, »ich muß auf alle Fälle dorthin.«
»Mr. Houghs Haus liegt ganz in der Nähe, nur zwei Meilen von hier an dieser Straße, Mylord«, sagte der junge Mann.
»Soviel ich weiß, ist Ihr Wagen noch dort. Ich habe schon Nachricht hingeschickt.«
»Gut, dann reiten wir zuerst dorthin«, sagte Hornblower mit aller Sachlichkeit, die er aufbringen konnte. Ein Befehl des weißen Mannes veranlaßte den zweiten Farbigen abzusteigen, und zugleich ließ sich auch Hornblower schwerfällig von seinem Maultier gleiten. Es kostete ihn alle Kraft, seinen Fuß in den Steigbügel zu heben, und der Farbige mußte ihn hochstemmen, daß er das rechte Bein überschlagen konnte. Er hatte kaum nach den Zügeln gegriffen - jedenfalls lagen sie ihm noch nicht richtig in der Hand - als der weiße Mann sein Pferd in Trab setzte. Hornblowers Gaul bedurfte keiner Aufforderung, dem anderen zu folgen und warf dabei seinen Reiter erbarmungslos im Sattel umher.
Der andere verlangsamte seine Gangart, so daß Hornblower neben ihn aufrücken konnte, und sagte: »Mein Name ist Colston. Ich hatte gestern Abend beim Ball die Ehre, Eurer Lordschaft vorgestellt zu werden.«
»Gewiß, ich entsinne mich«, sagte Hornblower. »Erzählen Sie mir doch, was sich dort weiter abspielte.«
»Wir warteten eine ganze Weile mit dem Souper, Mylord, da Sie Mrs. Hough an der Spitze des Zuges zu Tisch führen sollten.
Aber Sie blieben verschwunden, Sie und Ihr Sekretär Mr....
Mr....«
»Spendlove«, ergänzte ihn Hornblower. »Ganz recht, Mylord.
Zunächst dachten wir an eine dringende dienstliche Angelegenheit, die Sie unversehens aus unserer Mitte entführt haben mochte, erst als ein, zwei Stunden vergangen waren, kamen Ihr Flaggleutnant und Mr. Hough überein, daß man Sie mit Gewalt fortgeschafft haben mußte. Wir waren darüber alle wie vor den Kopf geschlagen, Mylord.«
»Hm, und was geschah weiter?«
»Es wurde Alarm geschlagen. Alle anwesenden Herren ritten unverzüglich los, um nach Ihnen zu suchen. Beim Morgengrauen wurde die Miliz aufgerufen. Auf der ganzen Insel sind bewaffnete Streifen eingesetzt, und zur Stunde ist das Hochländer-Regiment wahrscheinlich schon im Eilmarsch hierher unterwegs.«
Hornblower nickte nur stumm mit dem Kopf. Tausend Infanteristen legten also seinetwegen dreißig Meilen im Gewaltmarsch zurück, tausend Reiter durchkämmten die ganze Insel.
Jetzt hörte man von vorne Hufgeklapper, dann tauchten aus der Dämmerung des Abends zwei Reiter auf. Hornblower konnte im Halbdunkel eben noch erkennen, daß es Hough mit dem Boten war. »Gott sei Dank, Mylord«, sagte Hough. »Was ist denn geschehen?« Hornblower war schon versucht zu sagen: ›Mr. Colston wird Ihnen darüber Auskunft geben‹, aber er zwang sich im letzten Augenblick doch zu einer passenderen Antwort. Hough drückte ihm darauf mit den erwarteten nichtssagenden Worten sein Bedauern aus.
»Ich muß unverzüglich weiter zum Gouverneur«, sagte Hornblower. »Es geht mir jetzt vor allem anderen um Spendlove.«
»Spendlove, Mylord? Ach richtig, das ist ja Ihr Sekretär.«
»Ja, er ist noch in den Händen der Piraten«, sagte Hornblower.
»So?« war alles, was Hough zu antworten wußte. Der arme Spendlove! Kein Mensch schien sich hier um ihn Gedanken zu machen - höchstens vielleicht die kleine Lucy Hough.
Hier war auch schon das Haus und der geräumige Vorhof, aus allen Fenstern schimmerte Licht.
»Bitte, treten Sie ein, Mylord«, sagte Hough. »Eure Lordschaft bedürfen gewiß dringend einer Erfrischung.«
Hornblower hatte vor geraumer Zeit Yams und Salzfleisch gegessen, aber er verspürte jetzt nicht den geringsten Hunger.
»Ich muß sofort weiter zum Gouverneur«, sagte er. »Jede Minute ist kostbar.«
»Wenn Eure Lordschaft darauf bestehen »Ja«, sagte Hornblower, »es muß sein.«
»... dann werde ich sofort anspannen lassen, Mylord«, sagte Hough und ging hinaus, um den Befehl dazu zu geben.
Hornblower betrat indessen das hellerleuchtete Wohnzimmer.
Wenn er sich jetzt in einen dieser riesigen Polstersessel warf, dann kam er bestimmt nie wieder auf die Beine. »Mylord!
Mylord!« Lucy Hough kam hereingestürmt, daß ihre Röcke flogen. Er sollte ihr über Spendlove berichten. »Gottlob, Sie sind gerettet! Sie sind gerettet!« Was sollte das heißen? Das Mädchen warf sich vor ihm auf die Knie, sie griff mit beiden Händen nach seiner Rechten und bedeckte sie mit leidenschaftlichen Küssen. Er trat zurück, er suchte seine Hand zu befreien, aber sie klammerte sich daran fest, sie rutschte ihm auf den Knien nach und ihre Küsse nahmen kein Ende. »Aber, Miss Lucy!«
»Wenn ich Sie nur in Sicherheit weiß«, stieß sie hervor, »alles andere geht mich nichts an!« Dabei sah sie ganz verzückt zu ihm auf. Sie ließ seine Hand noch immer nicht los, über ihre Wangen strömten Tränen. »Eine Höllenqual habe ich durchgemacht! Sie sind doch nicht verletzt? Sagen Sie mir alles! Bitte, bitte, reden Sie doch mit mir!« Es war entsetzlich. Wieder drückte sie ihre Lippen, ihre Wange auf seine Hand. »Miss Lucy! Bitte, fassen Sie sich doch!« Wie kam ein siebzehnjähriges Mädchen zu dieser Leidenschaft für ihn, den fünfundvierzigjährigen Mann?
Galt denn ihre Liebe nicht Spendlove? Konnte es nicht sein, daß sie auch jetzt mit ihren Gedanken bei ihm war? »Ich werde mein möglichstes tun, daß auch Mr. Spendlove bald befreit wird.«
»Mr. Spendlove? O ja, ich wünsche ihm das Allerbeste. Aber für mich gibt es nur einen Menschen auf der Welt, und das sind Sie - Sie - Sie!«
»Aber Miss Lucy! Das dürfen Sie doch nicht sagen! Und jetzt stehen Sie bitte auf. Ich bitte Sie darum!« Irgendwie brachte er sie endlich wieder auf die Beine. »Oh, es war furchtbar - nicht zu ertragen!« sagte sie. »Ich - ich liebte Sie ja vom ersten Augenblick an.«
»Aber Kind!« sagte Hornblower mit aller väterlicher Güte, deren er mächtig war.
»Der Wagen steht in zwei Minuten bereit«, ließ sich Hough von der Tür her vernehmen. »Darf ich Ihnen vor der Abfahrt wenigstens noch ein Glas Wein und einen kleinen Imbiß anbieten?«
»Sehr freundlich, Sir, besten Dank«, sagte Hornblower und suchte zugleich nach Kräften, seiner Verlegenheit Herr zu werden.
»Meine Kleine war seit heute morgen ganz außer Fassung« sagte Hough mit verständnisvoller Miene. »Ja - diese jungen Leute... sie war wohl der einzige Mensch auf der ganzen Insel, der nicht nur an den Admiral, sondern auch an seinen Sekretär dachte.«
»Hm, ja, sie ist eben jung...«, sagte Hornblower. In diesem Augenblick erschien der Butler mit einem Tablett.
»Ach, Lucy, schenk doch bitte Seiner Lordschaft ein Glas Wein ein«, sagte Hough und wandte sich dann an Hornblower.
»Mrs. Hough war krank vor Aufregung, aber sie wird jetzt jeden Augenblick erscheinen.«
»Doch nicht meinetwegen«, sagte Hornblower. »Lassen Sie sie ungestört, ich bitte Sie darum.«
Seine Hand zitterte, als er das Glas nahm. Hough griff nach Messer und Gabel und machte sich daran, das kalte Huhn zu tranchieren.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, stieß Lucy plötzlich hervor und rannte fassungslos schluchzend davon, so schnell, wie sie zuvor hereingestürzt war.
»Ich hatte keine Ahnung, daß sie so an ihm hängt«, meinte Hough.
»Ich auch nicht«, sagte Hornblower. In seiner Aufregung hatte er das Glas in einem Zug geleert und begann nun, so bedächtig von dem Huhn zu essen, wie es ihm unter den gegebenen Umständen gelingen wollte. »Der Wagen ist vorgefahren«, meldete der Butler. Hornblower griff mit der einen Hand nach einem Hühnerbein, mit der anderen nach einer Scheibe Brot. »Das nehme ich mit«, sagte er. »Ist es unbescheiden, wenn ich Sie bitte, einen Eilboten vorauszuschicken, der Seiner Exzellenz meine bevorstehende Ankunft meldet?«
»Das ist bereits geschehen, Mylord«, gab Hough zur Antwort.
»Ich habe außerdem Boten zu allen Streifen geschickt, um sie zu benachrichtigen, daß Sie in Sicherheit sind.« Hornblower sank aufatmend in die weichen Kissen des Wagens. Der Zwischenfall mit Lucy hatte zum mindesten bewirkt, daß er fürs erste keine Müdigkeit mehr verspürte. Jetzt durfte er sich endlich zurücklehnen und ausruhen. Erst nach fünf Minuten fiel ihm das Huhn und das Brot ein, die er immer noch in den Händen hielt, und er machte sich ohne rechte Lust daran, beides zu verzehren.
Während der langen Fahrt gab es dann ständig Unterbrechungen, so daß er nie richtig zum Schlafen kam. Die Streifen, die noch nicht wußten, daß er wieder erschienen war, hielten den Wagen an. Als sie etwa fünfzehn Kilometer zurückgelegt hatten, trafen sie auf das Hochländer-Bataillon, das am Wegrand Biwak bezogen hatte. Sein Oberst ließ es sich nicht nehmen, herbeizueilen, um sich beim Marinebefehlshaber zu melden und ihm seinen Glückwunsch auszusprechen. Eine Strecke weiter kam ihnen im gestreckten Galopp ein Reiter entgegen und riß neben dem Wagen sein Pferd zusammen. Das war Gerard. Im Licht der Wagenlaterne sah man, daß sein Gaul über und über mit Schaum bedeckt war.
»Gott sei Dank, Mylord, Sie sind in Sicherheit«, war das erste, was er aus seinem Munde zu hören bekam - alle hatten sie wörtlich das gleiche gesagt. Dann war die Reihe an ihm, zu berichten, was ihnen zugestoßen war. Gerard gab sein Pferd ab, sobald sich Gelegenheit dazu bot, und setzte sich zu Hornblower in den Wagen. Er machte sich bittere Vorwürfe, daß er nicht genügend aufgepaßt hatte, um die Entführung seines Chefs zu verhindern, und daß es ihm nicht wenigstens hinterher gelungen wäre, ihn wieder herauszuhauen. ›Als ob ich nicht Manns genug wäre, selbst auf mich aufzupassen‹ dachte Hornblower fast beleidigt, obwohl der Vorfall selbst eben dies zu beweisen schien. »Wir versuchten es mit Bluthunden, die man zum Aufspüren entlaufener Sklaven zu verwenden pflegt, aber leider hatten wir keinen Erfolg.«
»Das ist leicht erklärlich«, sagte Hornblower. »Ich saß ja auf einem Maultier. Und außerdem war die Witterung nach ein paar Stunden nicht mehr frisch genug. Aber lassen wir jetzt das Gewesene, denken wir lieber an die Zukunft.«
»Ehe noch zwei Tage um sind, hängt das ganze Lumpenpack am Galgen, Mylord.«
»So? Und Spendlove? Was, denken Sie, wird dann aus ihm?«
»Hm - ja, gewiß, ich hatte ganz vergessen, Mylord...« Kein Mensch, nicht einmal sein Freund Gerard schien sich groß um Spendlove zu kümmern. Aber Gerard mußte man wenigstens zugute halten, daß er Hornblower voll und ganz begriff, als dieser dargelegt hatte, worum es ging. »Wir müssen unter allen Umständen verhindern, daß ihm etwas zustößt, Mylord.«
»Wie sollen wir das anstellen? Geben wir den Burschen ihren Pardon? - Werden wir Seine Exzellenz dazu bewegen, es zu tun?«
»Ich weiß es nicht, Mylord...«
»Um Spendlove herauszuholen, bin ich zu allem imstande«, sagte Hornblower. »Verstehen Sie mich recht, ich schrecke vor nichts zurück.« Er ertappte sich dabei, daß er in seiner eisernen Entschlossenheit mit den Zähnen knirschte. Sein unausrottbarer Hang zur Selbstanalyse ließ ihn blitzartig erkennen, was in ihm vorging, und er stellte mit zynischer Überraschung fest, welche Wandlungen sich in seinem erregten Gemüt vollzogen. Wilde Wut und ängstliche Sorge lösten einander ab. Wenn es die Kerle wagten, Spendlove ein Haar zu krümmen, dann..., aber wie sollte er das verhindern? Wie sollte es gelingen, Spendlove aus den Händen dieser Menschen zu befreien, die wußten, daß ihr Kopf - ihr Leben und nicht etwa nur ihr Besitz verwirkt war, wenn sie ihn entkommen ließen? Sein Gewissen ließe ihm zeitlebens keine Ruhe mehr, wenn Spendlove etwas zustoßen sollte. Kam es zum Schlimmsten, dann blieb ihm kein anderer Ausweg, als zu den Piraten zurückzukehren und sich auf Gnade und Ungnade in ihre Hände zu geben. Dann mußte er handeln wie Regulus, jener alte Römer, der freiwillig zu den Karthagern zurückkehrte, obwohl er wußte, daß er damit in den sicheren Tod ging. Einstweilen sah es ganz so aus, als ob es wirklich zum Schlimmsten kommen sollte.
»Wir sind am Ziel, Mylord.« Die Meldung Gerards befreite ihn von dem Alpdruck seiner schwarzen Gedanken.
Schildwachen an der Einfahrt, Schildwachen am Tor. Eine hellerleuchtete Halle, Adjutanten, die ihn mit neugierigen Blicken musterten. ›Der Teufel soll sie holen‹, dachte er, und Gerard war ganz seiner Meinung. Er wurde in ein Empfangszimmer geführt, und durch eine zweite Tür erschien gleich darauf Seine Exzellenz. Der begleitende Adjutant zog sich diskret zurück. Seine Exzellenz war ungnädig, so ungnädig, wie ein Mann nur sein kann, wenn man ihm einen bösen Schrecken eingejagt hat. »Was sind denn das alles für Sachen, Mylord?« Hier merkte man nichts von der Ehrerbietung, die alle Welt sonst dem Mann zu zollen pflegte, der als Seeoffizier einen fast legendären Ruf genoß und zum Lohn für seine ruhmvollen Taten zum Peer von England erhoben worden war. Hooper war kommandierender General, er stand unendlich viel höher im Rang als ein gewöhnlicher Konteradmiral. Außerdem war er der Gouverneur und als solcher absoluter Herrscher auf der ganzen Insel. Sein rotes Gesicht und seine hervorquellenden Augen - von seinen raschen Zornausbrüchen ganz zu schweigen - schienen das Gerücht zu bestätigen, daß er ein Enkel aus königlichem Geblüt war. Hornblower erklärte ihm kurz und in aller Ruhe, was sich ereignet hatte. Seine Müdigkeit - oder war es sein gesunder Verstand? - bewahrte ihn vor einer gereizten Antwort. »Wissen Sie denn, was das alles kostet, Mylord?« brüllte Hooper los. »Jeder Weiße, der ein Pferd reiten kann, ist unterwegs. Meine letzten Reserven - die Hochländer - liegen am Straßenrand im Biwak. Ich wage nicht, daran zu denken, was uns dadurch an Malaria und Gelbem Fieber beschert wird.
Außerdem ist ohnedies die ganze Garnison auf Ihr Verlangen hin unterwegs, um alle Fischerfahrzeuge und Landeplätze zu überwachen. Die Krankenlisten wachsen ins Ungemessene. Und nun zu allem Überfluß noch dies!«
»Meine Dienstanweisung fordert mit allem Nachdruck die energische Bekämpfung der Seeräuberei. Ich kann nicht annehmen, daß der Auftrag an Eure Exzellenz anders lautet.«
Jetzt brauste Hooper erst recht auf: »Ich habe es nicht nötig«, schrie er, »mir meine Dienstanweisung von einem jungen Naseweis auslegen zu lassen, der es im Handumdrehen zum Konteradmiral brachte. Was haben Sie denn mit Ihren lieben Piraten ausgehandelt?« Das war der springende Punkt. Es war alles andere als einfach, dem wütenden Mann auseinander zusetzen, worum es ging.
»Ich habe mich zu nichts verpflichtet, Exzellenz.«
»Soviel Verstand hätte ich Ihnen kaum zugetraut.«
»Aber ich habe meine Ehre verpfändet.«
»Ihre Ehre verpfändet? Wem denn? Etwa den Piraten?«
»Nein, Eure Exzellenz, meinem Sekretär Spendlove.«
»Wieso das?«
»Man hielt ihn als Geisel zurück, als ich freigelassen wurde.«
»Was haben Sie ihm denn versprochen?« Ja, was denn? Er hatte gesagt, daß er ihn nicht vergessen werde.
»Ich gab ihm zwar kein ausdrückliches Versprechen, Exzellenz, aber meine Verpflichtung ihm gegenüber ist darum gewiß nicht minder zwingend.«
»Welche Verpflichtung?«
»Ihm zur Freiheit zu verhelfen.«
»So? Und wie glauben Sie das erreichen zu können?« Jetzt gab es nur eins: Er müsse den Stier bei den Hörnern fassen. »Ich wurde entlassen, um von Eurer Exzellenz für die Piraten einen unter Brief und Siegel erlassenen Pardon zu erwirken.«
»Einen Pardon! Einen Par...!«
Hooper brachte das Wort kein zweites Mal über die Lippen.
Er kollerte sekundenlang wie ein Truthahn und mußte ein paar Mal heftig würgen, ehe er die Sprache wiederfand. »Sind Sie wahnsinnig, Mylord?«
»Dazu wurde ich freigelassen. Und darum wird Spendlove noch festgehalten.«
»Da muß dieser Spendlove eben sehen, wie er sich aus der Affäre zieht.«
»Exzellenz!«
»Glauben Sie im Ernst, ich könnte einer Piratenbande so mir nichts dir nichts Pardon geben? Wie stellen Sie sich das vor?
Daß die Burschen herrlich und in Freuden ihre Beute verzehren und in feinen Kutschen rund um die Insel fahren können? Das wäre mir eine schöne Art und Weise, die Seeräuberei zu unterdrücken! Oder wollen Sie etwa, daß diese Pest in ganz Westindien wieder aufflackern soll? Nein, Sie sind wirklich nicht ganz bei Trost.« Hornblower hatte nichts anderes erwartet, er kannte alle die Einwände, die Hooper gegen sein Ansinnen vorzubringen hatte, aber darum trafen sie ihn jetzt nicht minder hart. »Ich bin mir über die Schwierigkeit der entstandenen Lage durchaus im klaren, Exzellenz.«
»Das läßt sich hören. Kennen Sie den Ort, wo sich die Piraten verborgen halten?«
»Jawohl, Eure Exzellenz. Es ist ein sehr sicheres Versteck.«
»Das spielt keine Rolle, jedes Nest läßt sich ausheben. Wenn erst ein paar gehenkt sind, herrscht wieder Ruhe auf der Insel.«
Was ließ sich da noch tun oder sagen? Die Worte, die er sich zurechtlegte, kamen ihm selbst überspannt vor, ehe er sie noch ausgesprochen hatte.
»Ich werde zu den Piraten zurück müssen, ehe sie Spendlove etwas antun, Exzellenz.«
»Was soll das heißen? Zurück?« Die Augen quollen Hooper förmlich aus den Höhlen, als ihm das eben Gehörte in seiner ganzen Tragweite klar wurde. »Wollen Sie uns einen neuen Narrenstreich liefern?«
»Wenn sich Eure Exzellenz nicht in der Lage sehen, den Pardon zu geben, dann muß ich unbedingt zu Spendlove zurück.«
»Ach was, Unsinn! Ich kann Seeräubern keinen Pardon geben. Ich kann es nicht, und ich will es nicht.«
»Dann bleibt mir kein anderer Ausweg, Exzellenz.«
»Unsinn, sagte ich, Unsinn! Sie haben kein Versprechen gegeben! Sagten Sie nicht selbst, daß Sie sich zu nichts verpflichtet hatten?«
»Das zu beurteilen steht allein bei mir, Exzellenz.«
»In Ihrer augenblicklichen Verfassung sind Sie überhaupt nicht in der Lage, etwas zu beurteilen - wenn Sie es je gewesen sind. Wie können Sie sich auch nur eine Sekunde lang einbilden, ich ließe mir von Ihnen durch solche Mätzchen die Hände binden?«
»Niemand bedauert diese Zwangslage mehr als ich, Exzellenz.«
»Was heißt hier Zwangslage? Wollen Sie mir Vorschriften machen? Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß ich sowohl auf Grund meines Ranges wie auch als Gouverneur dieser Insel Ihr Vorgesetzter bin. Noch ein Wort, und ich nehme Sie fest, Mylord. Ich will von diesem Unfug ein für allemal nichts mehr hören.«
»Euer Exzellenz...«
»Kein Wort weiter, sagte ich. Dieser Spendlove steht in Diensten des Königs, er muß die Gefahren auf sich nehmen, die seine Stellung mit sich bringt, auch wenn er nur Sekretär ist.«
»Aber…«
»Schweigen Sie, Mylord! Ich warne Sie zum letzten Mal.
Morgen, wenn Sie ausgeruht sind, wollen wir darangehen, dieses Wespennest auszuräuchern.«
Hornblower enthielt sich aller weiteren Einwände, die sich ihm immer noch über die Lippen drängen wollten. Hooper hatte es zweifellos ernst gemeint, als er ihm mit Festnahme drohte.
Die straffe Disziplin der bewaffneten Macht der Britischen Krone hielt einen Hornblower so eisern in ihrem Griff wie den letzten Matrosen. Einem Befehl nicht zu gehorchen war von Anfang an ein hoffnungsloses Beginnen. Die Stimme des Gewissens trieb ihn mit unwiderstehlicher Kraft voran, aber die starre Mauer der Disziplin gebot seinem Drängen Einhalt.
Morgen? Morgen war wieder ein Tag.
»Wie Eure Exzellenz befehlen.«
»Eine geruhsame Nacht wird Ihnen guttun, Mylord. Es wird das beste sein, wenn Sie gleich hier im Hause übernachten, ich werde sofort die nötigen Anordnungen treffen. Wenn Sie Ihren Flaggleutnant veranlassen wollen, für frische Wäsche und Kleidung zu sorgen, dann werde ich die Sachen vom Admiralitätsgebäude holen lassen, so daß sie morgen früh für Sie bereit sind.«
Kleidung? Hornblower blickte an sich hinunter. Er hatte ganz vergessen, daß er immer noch seinen schwarzen Frack trug. Ein Blick genügte, um ihm zu verraten, daß dieser Anzug für immer ausgedient hatte. Danach war es nicht schwer zu erraten, welchen Anblick er bot. Er wußte, daß auf seinen eingefallenen Wangen die Bartstoppeln sprossen und daß seine Halsbinde nur noch ein schmutziger Fetzen war. Kein Wunder, daß ihn die Leute im Vorzimmer neugierig angestarrt hatten. »Eure Exzellenz sind zu gütig.«
Was verschlug es, wenn man angesichts des Unvermeidlichen, das man wenigstens zeitweise auf sich zu nehmen hatte, den Formen der Höflichkeit Genüge tat? Hoopers Ausdrucksweise verriet, daß seine Einladung nicht viel anderes war als ein Befehl. Im Endeffekt saß also Hornblower hier im Regierungsgebäude genauso gefangen, als ob Hooper seine Drohung wahrgemacht und ihn richtiggehend festgenommen hätte. Da man sich nun einmal - wenigstens für den Augenblick - zu fügen hatte, war es immer noch das beste, man tat es mit Grazie. Morgen war schließlich wieder ein Tag.
»Gestatten Sie mir, daß ich Sie auf Ihr Zimmer führe, Mylord?« sagte Hooper.
Als er einen Blick in den Schlafzimmerspiegel warf, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er sah in der Tat fürchterlich aus. Das Bett mit seinem riesigen Moskitonetz war breit und einladend. Seine schmerzenden Glieder wollten ihn verleiten, sich quer darüber hinzuwerfen und ihnen endlich Ruhe zu gewähren. Sein müdes Gehirn legte ihm nahe, sich im Dunkel des Nichts versinken zu lassen, um seinen Kummer im Schlaf zu vergessen, so wie ein Trinker im Schnapsrausch über sein Elend hinwegzukommen sucht. Es tat ihm wohl, sich im lauen Badewasser abseifen zu können, obgleich ihm dabei die wundgerittenen Stellen seines Körpers höllisch brannten. Das Bad hatte seine Spannung gelockert, das weite Nachthemd aus dem Besitz Seiner Exzellenz flatterte ihm lose um die mageren Glieder, aber er brachte es auch jetzt noch nicht über sich, dem müden Körper sein Recht zu geben. Sein innerstes Wesen lehnte sich gegen solche Nachgiebigkeit auf, so begann er denn rastlos auf bloßen Füßen im Zimmer umherzuwandern, weil es ja hier kein Achterdeck gab, das er seiner Gewohnheit gemäß hätte abschreiten können. In der tropischen Hitze des Zimmers, die durch die Wärme der brennenden Kerzen noch gesteigert wurde, strömten die Gedanken und Einfälle nicht so leicht wie in der frischen, belebenden Seeluft. Moskitos tanzten singend um ihn herum, sie stachen ihn in den Hals und in die bloßen Füße und rissen ihn dadurch immer wieder aus seinen Überlegungen. Die entsetzliche Nacht wollte kein Ende nehmen, mitunter ließ seine innere Spannung so weit nach, daß er sich auf einen Stuhl niederließ, aber Sekunden später riß ihn ein neuer Gedanke wieder hoch und zwang ihn, rastlos weiter umherzuhumpeln. Es machte ihn rasend, daß es ihm nicht gelingen wollte, sich ganz auf Spendloves Lage und alles, was damit zusammenhing, zu konzentrieren. Sooft er sich bei diesem offenkundigen Mangel ertappte, kam er sich verächtlich vor, weil er das Gefühl hatte, daß er seinen Sekretär durch solches Abschweifen geistig im Stiche ließ. Es gab da nämlich noch einen anderen Gedankenzug, der den ersten oft genug verdrängte und sogar mehr zu fesseln vermochte als jener. Ehe die Nacht um war, hatte er sich zurechtgelegt, wie er das Piratennest ausheben wollte, wenn er nur erst die Hände freigehabt hätte. Er empfand ein grimmiges Behagen, wenn er seinen Plan in der Vorstellung immer und immer wieder abrollen ließ, aber dieses Behagen schlug in würgendes Elend um, wenn ihm dann wieder einfiel, daß sich Spendlove in der Gewalt dieser Burschen befand.
Manchmal drehte es ihm buchstäblich den Magen herum, wenn er an Johnsons Drohung dachte, ihm die Augen auszustechen.
Am Ende übermannte ihn trotz allem unversehens der Schlaf.
Er hatte sich wieder einmal gesetzt und stützte den müden Kopf auf die Hand. Dabei mußte er eingenickt sein, denn plötzlich fuhr er erschrocken hoch, weil er im Sessel vornüber gekippt war. Aber er war dabei doch nicht ganz wach geworden. Ohne zu wissen, was er tat, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und war in dieser Stellung sofort wieder eingeschlafen. Das riesige, bequeme Bett blieb unbenutzt, bis ihn ein Klopfen weckte. Er sah sich blinzelnd um und mußte sich erst besinnen, wo er sich befand. Dann riß er sich vollends aus dem Schlaf und tat, als ob es die natürlichste Sache von der Welt wäre, auf einem Sessel zu schlafen, obwohl ein Bett in nächster Nähe bereitstand.
Inzwischen war Giles ins Zimmer getreten, - er brachte reine Unterwäsche, eine Uniform und das Rasierzeug. Das Rasieren und die hundert kleinen Handgriffe, die die Sorgfalt beim Anziehen verlangte, lenkten ihn ab und bewirkten sogar, daß er das Problem, das es in wenigen Minuten zu lösen galt, etwas ruhigeren Sinnes erwog. »Seine Exzellenz würden sich freuen, wenn ihm Eure Lordschaft beim Frühstück Gesellschaft leisten wollten.« Giles hatte von Hooper durch dessen Tür den Auftrag bekommen, dies seinem Herrn zu bestellen. Die Einladung mußte natürlich angenommen werden, da sie einem königlichen Befehl gleichkam. Hooper aß zum Frühstück offenbar gern ein Beefsteak, denn Hornblower hatte ihm kaum in aller Form guten Morgen gewünscht, als dieses Gericht auf silberner Platte, mit Zwiebeln garniert, aufgetragen wurde. Hooper streifte Hornblower mit einem abschätzigen Blick, als sich dieser auf die Frage des Butlers Papaya und ein gekochtes Ei erbat. Denn das war kein guter Anfang. Daß Hornblower diese ausländischen, aus Frankreich importierten Eßgewohnheiten angenommen hatte, statt dem handfesten englischen Frühstück treu zu bleiben, bestärkte ihn in seiner Überzeugung, daß bei ihm eine Schraube los war. Aber Hornblower hatte eben frische Eier in der Schale in Jahrzehnten auf See besonders schätzen gelernt und war dieser Vorliebe auch während eines jahrelangen Landlebens treu geblieben. Hooper tupfte Senf auf sein Steak und machte sich mit herzhaftem Appetit ans Essen. »Haben Sie gut geschlafen?«
»Danke, ganz gut, Exzellenz.«
Hoopers Verzicht auf die förmliche Anrede Mylord hatte die unmißverständliche Bedeutung, daß er die Auseinandersetzung vom Abend zuvor vergessen wollte und großzügig bereit war, so zu tun, als wäre Hornblower ein völlig normaler Mensch, der nur gelegentlich einmal aus der Rolle fiel.
»Wir wollen den Dienst beiseite lassen, bis wir gegessen haben.«
»Wie Eure Exzellenz wünschen.«
Aber selbst ein Gouverneur weiß nicht, was die nächste Sekunde bringt. Draußen vor der Tür hörte man plötzlich lebhaftes Hin und Her, dann kam eine ganze Anzahl Menschen auf einmal hereingestürmt - außer dem Butler noch zwei Adjutanten, dann Gerard und - und - wer war denn das? Bleich, abgerissen und müde, kaum noch imstande, sich auf den zitternden Beinen zu halten? »Spendlove!« stieß Hornblower hervor. Sein Löffel fiel klirrend zu Boden, als er aufsprang und ihm entgegeneilte.
Er strahlte über das ganze Gesicht, als er dem jungen Mann die Hände drückte, nie in seinem Leben war ihm so froh ums Herz gewesen. »Spendlove!«
Fürs erste vermochte er nur immer wieder den Namen auszusprechen.
»Wir erleben hier wohl die Rückkehr des verlorenen Sohnes«, ließ sich Hooper vom Tisch her vernehmen. Nun erst fiel Hornblower wieder ein, was sich geziemte. »Eure Exzellenz«, sagte er, »darf ich mir erlauben, Ihnen meinen Sekretär Mr. Erasmus Spendlove vorzustellen?«
»Freut mich, Sie kennen zulernen, junger Mann. Bitte nehmen Sie Platz. Man bringe Mr. Spendlove etwas zu essen. Er sieht mir ganz so aus, als ob ihm ein Glas Wein nicht unwillkommen wäre. Bitte die Karaffe und ein Glas dazu.«
»Sind Sie verwundet?« frage Hornblower. »Fehlt Ihnen sonst etwas?«
»Nein, Mylord«, sagte Spendlove und streckte unter dem Tisch bedächtig die Beine aus. »Ich bin nur von dem siebzig Meilen langen Ritt noch etwas steif. Leider sind eben meine Glieder nicht an derartiges gewöhnt.«
»Siebzig Meilen?« fragte Hooper. »Woher kommen Sie denn?«
»Von der Montego-Bucht, Exzellenz.«
»Dann müssen Sie schon in der Nacht geflohen sein.«
»Kurz nach Dunkelwerden, Exzellenz.«
»Wie brachten Sie das fertig, Mann?« fragte Hornblower.
»Wie sind Sie denn weggekommen?«
»Ich sprang ins Wasser, Mylord.«
»Ins Wasser?«
»Jawohl, Mylord. Das Flüßchen am Fuße der Felswand war anderthalb Meter tief. Das reichte aus, um einen Sturz aus jeder beliebigen Höhe abzufangen.«
»Ja, so tief war es dort. Aber - aber im Dunkeln?«
»Das war nicht schwer, Mylord. Bei Tage warf ich einen Blick über die Brustwehr, Mylord. Das war, als ich Eurer Lordschaft noch zum Abschied nachwinkte. Dabei merkte ich mir genau die richtige Stelle und schätzte die Entfernung nach Augenmaß.«
»Und dann?«
»Dann sprang ich, als es ganz dunkel geworden war und grade ein schwerer Regenguß niederging.«
»Und wie verhielten sich die Piraten?« fragte Hooper.
»Sie hatten vor dem Regen Schutz gesucht, Exzellenz. Auf mich gaben sie nicht weiter acht. Sie hatten ja die Leiter aufgezogen und rechneten nicht damit, daß ich ihnen entkommen könnte.«
»Und Sie?«
»Ich nahm einen Anlauf, Exzellenz, und sprang, wie gesagt, über die Brustwehr. Unten schlug ich mit den Füßen voran ins Wasser.«
»Unverletzt?«
»Unverletzt, Exzellenz.«
Hornblower war dank seiner lebhaften Einbildungskraft in der Lage, sich den Vorgang in allen Einzelheiten auszumalen, die fünf bis sechs Schritte Anlauf durch Dunkelheit und strömenden Regen, den Absprung, den endlosen Fall. Er fühlte, wie sich in seinem Nacken die Haare sträubten.
»Ihre Handlungsweise verdient höchstes Lob«, bemerkte Hooper.
»In meiner verzweifelten Lage fiel mir der Entschluß nicht schwer, Exzellenz.«
»Das mag sein. Und wie ging es weiter, als Sie im Wasser angelangt waren? Wurden Sie verfolgt?«
»Soweit ich feststellen konnte, nein, Exzellenz. Vielleicht dauerte es eine Weile, bis sie mein Verschwinden bemerkten, und dann mußten sie erst die Leiter hinunterlassen und hinunterklettern. Ich hörte nichts dergleichen, als ich mich davonmachte.«
»Welchen Weg schlugen Sie ein?« fragte Hornblower. »Ich hielt mich an den Bach, Mylord, und folgte ihm flußabwärts. Er mündet in die Montego-Bucht, Sie werden sich vielleicht erinnern, daß wir das vermuteten, als wir unsere ersten Beobachtungen anstellten.«
»Kamen Sie denn leicht voran?« fragte Hornblower. Trotz aller stürmischen Gefühle war ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, der ihn nicht mehr losließ. »In der Dunkelheit war es nicht ganz einfach, Mylord. Stellenweise gab es Stromschnellen, und die großen Kiesel auf dem Grund waren glatt und schlüpfrig. Ich hatte den Eindruck, als ob ich durch eine enge Schlucht gekommen wäre, obwohl ich nichts davon sehen konnte.«
»Und wie war es in der Montego-Bucht?« fragte Hooper.
»Dort traf ich ein Wachkommando bei den Fischerbooten, eine halbe Kompanie des Westindischen Regiments, Exzellenz. Ich ließ den Offizier wecken, der sie führte, er verschaffte mir ein Pferd, dann ritt ich auf der Straße über Cambridge und Ipswich hierher.«
»Konnten Sie sich unterwegs frische Pferde verschaffen?«
»Jawohl, Exzellenz. Ich sagte, ich sei in einer Angelegenheit von größter Tragweite unterwegs.«
»Sie sind auch so noch bemerkenswert rasch vorangekommen.«
»Die Streife in Mandeville meldete mir, Seine Lordschaft seien unterwegs zu Eurer Exzellenz, darum ritt ich gleich durch bis hierher.«
»Das war sehr vernünftig von Ihnen.« Spendloves schauerlicher Sprung ins Dunkle war jetzt nicht mehr das einzige Bild, das Hornblower lebendig vor Augen stand, er malte sich unwillkürlich die ganze gespenstische Wanderung des jungen Mannes aus, wie er über die glitschigen Steine stolperte, unversehens in Wasserlöcher fiel, blindlings am Fluß entlangeilte, und wie er zuletzt das Pferd bestieg, um den endlosen, anstrengenden Ritt zu beginnen.
»Ich werde den bevollmächtigten Lords der Admiralität über Ihr vorbildliches Verhalten berichten«, sagte er in dienstlichem Ton.
»Darf ich Eurer Lordschaft meinen gehorsamsten Dank aussprechen.«
»Und ich werde dem Staatssekretär im gleichen Sinne berichten«, fügte Hooper hinzu. »Eure Exzellenz sind zu gütig.«
In Hornblowers Augen hatte sich Spendlove (wie ihm ein Blick auf seinen Teller verriet) neben allen anderen Heldentaten nicht zuletzt dadurch ausgezeichnet, daß es ihm irgendwie gelungen war, während seines Berichts ein respektables Steak mit Zwiebeln bis zum letzten Bissen zu vertilgen. Offenbar verstand sich der junge Mann darauf, zu essen, ohne dabei zu kauen.
»Genug der anerkennenden Worte«, meinte Hooper und tunkte mit einem Stück Brot genüßlich den Saft seines Beefsteaks auf. »Jetzt gilt es, diese Piratenbande zu vernichten.
Was halten Sie von ihrem Lager? Wäre es zu nehmen?«
Hornblower überließ Spendlove die Antwort auf diese Frage.
»Im direkten Angriff auf keinen Fall, Exzellenz.«
»Hm - glauben Sie, daß sie dort standhalten?« Hornblower hatte sich während der letzten Minuten schon mit dieser Frage beschäftigt. Was konnte man jetzt von diesen führerlosen Kerlen erwarten, nachdem ihr Plan so kläglich gescheitert war - was mochten sie tun? »Es wäre immerhin denkbar, daß sie sich über das Land zerstreuen, Exzellenz«, sagte Spendlove. »Nicht ausgeschlossen. Dann müßte ich sie einzeln zur Strecke bringen.
Das bedeutet Streifen auf allen Straßen, bewegliche Abteilungen in den Bergen. Dabei ist unser Krankenstand ohnedies schon kaum noch tragbar.« In Westindien starben die Soldaten wie die Fliegen, wenn sie längere Zeit der Nachtluft und den Unbilden des Wetters ausgesetzt waren. Und eine solche Jagd auf die einzelnen Verbrecher mochte wochenlang dauern. »Es kann sein, daß sie auseinanderlaufen«, meinte Hornblower, bekannte sich jedoch sogleich zu einer anderen Ansicht. »Ich meine allerdings, daß sie es nicht tun werden, Exzellenz.«
Hooper warf ihm einen scharfen Blick zu. »Sie meinen nicht?«
»Nein, Exzellenz.«
Die Burschen waren verzweifelt, aber auch zum Letzten entschlossen, soviel war ihm klargeworden, während er sich bei ihnen befand. Führerlos wie sie waren, benahmen sie sich fast wie große Kinder. Auf ihrem Felsband fanden sie Schutz und Nahrung - sie hatten dort eine Art Heim, wenn man diesen Unterschlupf so nennen durfte. Freiwillig gingen sie von dort bestimmt nicht weg.
»Und Sie sagen, man könnte den Platz nicht nehmen? Heißt das, daß mit einer langen Belagerung zu rechnen wäre?«
»Mit Kampfmitteln der Marine könnte ich die Bande vermutlich rasch zur Strecke bringen, Exzellenz. Wenn mir Eure Exzellenz die Erlaubnis geben, möchte ich es versuchen.«
»Jeder Versuch Eurer Lordschaft ist mir willkommen, wenn er mir hilft, Menschenleben zu schonen.« Hooper blickte Hornblower neugierig an. »Dann werde ich sofort meine Vorbereitungen treffen«, meinte dieser.
»Sie wollen von See her die Montego-Bucht anlaufen?«
»Jawohl, Eure Exzellenz.«
Hornblower hätte beinahe ›selbstverständlich‹ gesagt. Diesen Landsoldaten fiel es immer wieder schwer, zu begreifen, wie gut sich der Seeweg für rasche und geheimzuhaltende Unternehmungen eignete.
»Ich werde meinen Streifendienst aufrechterhalten, für den Fall, daß sie ausrücken sollten, während Sie ihr Nest ausräuchern.«
»Eine sehr weise Maßnahme, um gegen alle unerwarteten Zufälle gewappnet zu sein, Exzellenz. Ich bin im übrigen überzeugt, daß die Durchführung meines Plans nur kurze Zeit in Ansprach nehmen wird. Wenn Eure Exzellenz jetzt gestatten...«
Hornblower erhob sich von seinem Platz. »Sie wollen schon gehen?«
»Jede Stunde ist kostbar, Exzellenz.« Hoopers Blick verriet wachsende Neugier. »Die Navy gibt wieder einmal ihre üblichen Rätsel auf«, sagte er. »Nun, wie Sie wollen. Bestellen Sie den Wagen Seiner Lordschaft, Butler. Sie haben meine Erlaubnis, Ihren Versuch durchzuführen. Melden Sie mir das Ergebnis durch Boten.«
Eine Minute später saßen alle drei, Hornblower, Spendlove und Gerard, zusammen im Wagen und genossen die Strahlen der warmen Morgensonne.
»Zur Werft«, befahl Hornblower kurz. Dann wandte er sich an Spendlove: »Von der Werft aus fahren Sie an Bord der Clorinda und übermitteln Kapitän Fell meinen Befehl, sofort seeklar zu machen. In einer Stunde werde ich meine Flagge setzen. Und dann befehle ich Ihnen persönlich, sich sofort zur Ruhe zu begeben.«
»Aye, aye, Mylord.«
Der Oberwerftdirektor gab sich alle Mühe, seine Überraschung über den unangemeldeten Besuch seines Admirals zu verbergen, der doch den neuesten Meldungen nach entführt worden war.
Als er sein freudiges Staunen zum Ausdruck bringen wollte, schnitt ihm Hornblower kurz das Wort ab. »Ich brauche einen Bootsmörser, Holmes«, sagte er. »Einen Bootsmörser, Mylord? - Ja - jawohl, Mylord. Wir haben einen auf Lager.«
»Er soll sofort an Bord der Clorinda gebracht werden. Haben Sie auch Granaten dafür?«
»Gewiß, Mylord. Aber sie sind natürlich ungeladen.«
»Der Feuerwerker der Clorinda kann sie laden, während wir unterwegs sind. Ich glaube, sie wiegen zwanzig Pfund das Stück. Schicken Sie zweihundert Stück - mit Zündern dazu.«
»Aye, aye, Mylord.«
»Außerdem brauche ich einen Prahm - nein, zwei Prähme. Ich habe die gesehen, die Ihre Leute zum Kalfatern benutzen. Sie sind wohl etwa sechs Meter lang, nicht wahr?«
»Sieben Meter, Mylord«, antwortete Holmes. Er war heilfroh, daß er diese Frage beantworten konnte und daß der Admiral vorhin nicht darauf bestanden hatte, über eine so dunkle Angelegenheit wie das Gewicht von Bootsmörsergranaten nähere Auskunft zu verlangen. »Ich möchte, wie gesagt, zwei von diesen Prähmen. Schicken Sie sie gleich an Bord, sie sollen an Deck genommen werden.«
»Aye, aye, Mylord.«
Kapitän Sir Thomas Fell hatte sich in seine beste Uniform geworfen, um seinen Admiral zu begrüßen. »Ich habe Ihren Befehl empfangen, Mylord«, sagte er, als das Gezwitscher der Bootsmannsmaatenpfeifen in einem letzten Wimmern erstarb.
»Gut, Sir Thomas. Ich möchte sofort in See gehen, wenn die Sachen an Bord sind, die ich in der Werft bestellt habe. Sie können Ihr Schiff aus dem Hafen warpen. Wir segeln nach der Montego-Bucht, um gegen ein Seeräubernest vorzugehen.«
»Aye, aye, Mylord.«
Fell gab sich alle Mühe, sein Mißfallen über die beiden schmutzigen Prähme zu verbergen, die er auf sein makelloses Deck setzen sollte - es waren eigentlich nur schwimmende Plattformen, wie sie von der Werft für Außenbordsarbeiten benutzt wurden - und die zwei Tonnen schmieriger Mörsergranaten, für die er irgendwie Platz schaffen mußte, gefielen ihm um kein Haar besser. Er war auch nicht gerade erbaut, als ihm befohlen wurde, mehr als die Hälfte seiner Besatzung - im ganzen zweihundertvierzig Mann - und dazu die Seesoldatenabteilung als Landungskorps abzustellen. Die Männer selbst waren natürlich begeistert, daß einmal Abwechslung in ihr eintöniges Dasein kam und daß vielleicht sogar ein Gefecht in Aussicht stand. War es nicht schon aufregend genug, zu sehen, wie der Feuerwerker Pulver auswog und je zwei Pfund davon in die Granaten füllte? Und wie der Waffenmeister mit dem Admiral durchs Schiff ging, um die Enterpiken zu überprüfen - von dem Bootsmörser ganz zu schweigen, der an der Achterkante der Back dick und unheimlich drohend in seiner Lafette hing? Ihre freudige Erwartung wuchs noch, als sie dann unter jedem Fetzen Leinwand nach Westen jagten, Portland-Point passierten und bei Sonnenuntergang Negril Point rundeten. Dort erlaubten ihnen ein paar günstige Puffs der Seebrise, dem Passat ein Schnippchen zu schlagen, so daß sie wie von Geisterhand getrieben durch die tropische Finsternis glitten, während die Lotgasten von den Rüsten her unermüdlich die Wassertiefen aussangen. Als dann der neue Morgen anbrach und die aufgehende Sonne die grünen Berge Jamaikas mit ihrer Glut übergoß, fiel zwischen den Untiefen der Montego-Bucht der Anker.
Hornblower war beim Ankern schon an Deck, er hatte seit Mitternacht wachgelegen, da er schon bei Dunkelwerden zur Ruhe gegangen war - die beiden fast schlaflosen Nächte hatten seine Lebensgewohnheiten völlig über den Haufen geworfen.
Während die Landungsabteilung in heller Aufregung auf dem Mitteldeck antrat, schritt er auf dem Achterdeck auf und ab und überwachte mit scharfem Blick alle Vorbereitungen. Der Bootsmörser wog nicht mehr als vier Zentner, es war daher eine Kleinigkeit, ihn mit dem Rahtakel in den längsseit liegenden Prahm zu fieren. Die mit Musketen ausgerüsteten Leute wurden noch einmal mit aller Sorgfalt gemustert, damit ihnen nichts fehlte. Die Mannschaft konnte sich keinen Reim darauf machen, daß außer den Musketenträgern noch Männer mit Piken und Äxten, ja sogar mit Holzschlegeln und mit Kuhfüßen abgeteilt wurden. Als die Sonne höher stieg und heißer vom Himmel brannte, kletterte die ganze Schar Mann für Mann in die Boote.
»Die Gig liegt längsseit, Mylord«, meldete Gerard. »Danke.«
An Land erwiderte Hornblower den Gruß des erstaunten Leutnants, der mit einer Abteilung des Westindischen Regiments die Fischerboote überwachte - er hatte seine ganze Truppe alarmiert, weil ihm anscheinend das Schreckgespenst einer französischen Landung vor Augen stand - und entließ ihn ohne weitere Befehle. Dann schritt er die Front der Seesoldaten ab, die in ihren scharlachroten Röcken und ihrem weißen Koppelzeug tadellos ausgerichtet vor ihm standen. Wenn dieser Tag um war, sahen sie bestimmt nicht mehr so blitzsauber und ordentlich aus. »Sie können abrücken, Herr Hauptmann«, sagte er. »Mr. Spendlove, halten Sie mich bitte unterrichtet.«
»Aye, aye, Mylord.«
Mit Spendlove als Führer traten die Seesoldaten den Marsch an. Sie bildeten die Vorhut, die das Gros vor Überraschungen schützen sollte. Nun war es an der Zeit, dem Ersten Offizier der Clorinda den Befehl zum Abmarsch zu geben.
»Mr. Sefton, wir können uns in Bewegung setzen.« Vor dem Flüßchen lag eine kleine Barre, aber die beiden Prähme mit dem Mörser und der Munition konnten seitlich daran vorbeigelangen.
Die erste Strecke lief sogar ein Pfad neben dem Wasser her, so daß sie die Prähme leicht flußaufwärts treideln konnten und eine Weile rasch vorankamen. Dabei rückten die grünen Mauern des Dschungels von beiden Seiten her immer näher zusammen.
Anfangs genossen sie den Schatten, bald aber fanden sie die Luft dumpf, feucht und stickig. Je weiter sie kamen, desto schlimmer wurde es damit. Die Moskitos fielen mit verbissener Wut über sie her, die Männer rutschten auf heimtückischen Schlammbänken unversehens aus und stürzten, daß der Schmutz weit umherspritzte. Dann gelangten sie an die ersten flachen Stellen, wo das Wasser im Dämmerlicht des dichten Laubdachs zwischen steilen Ufern gluckernd bergab eilte.
Zum mindesten hatten sie durch den Wassertransport bis hierher eine Meile, wenn nicht mehr gespart. Hornblower nahm die auf Grund geratenen Prähme, die Bodenbeschaffenheit und die Bäume genau in Augenschein. Er hatte sich schon überlegt, was sich da tun ließ, es lohnte sich auf jeden Fall, einen Versuch damit zu machen, ehe man den Männern zumutete, den Mörser mit Muskelkraft weiterzuschaffen.
»Wir wollen es hier mit einem Damm versuchen, Mr. Sefton.«
»Aye, aye, Mylord. Alle Leute mit Piken, Äxten und Schlegeln hierher!«
Die Männer waren immer noch so voll Tatendrang, daß die Unteroffiziere alle Mühe hatten, ihren Übermut zu zügeln. Eine Reihe Piken, die mit der Spitze voran in den Boden getrieben wurden, wo es dessen Beschaffenheit zuließ, bildete das erste Gerippe des Staudamms. Die Axtträger fällten mit kindlicher Zerstörungswut kleine Bäume, die Leute mit Kuhfüßen hebelten Steine und Baumstrünke los. Eine kleine Lawine prasselte den Hang herab ins Flußbett. Das Wasser strömte noch wirbelnd um das Hindernis, aber die bisher geleistete Arbeit reichte doch schon hin, es aufzustauen. Hornblower sah, wie der Wasserstand vor seinen Augen stieg. »Mehr Steine hierher!« rief Sefton.
»Passen Sie auf die Prähme auf, Mr. Sefton«, sagte Hornblower.
Die schwerfälligen Fahrzeuge waren schon freigekommen.
Gefällte Stämme und Steingeröll verbreiterten, erhöhten und festigten den Damm immer mehr. Noch strömte Wasser durch seine Lücken, aber es war nicht so viel, wie er zurückbehielt.
»Holt die Prähme weiter stromauf«, befahl Hornblower.
Vierhundert willige Hände hatten viel erreicht. Das Wasser war so hoch gestaut, daß die Prähme zwei Drittel der Untiefe schwimmend überwanden.
»Mr. Sefton, bitte bauen Sie hier einen zweiten Damm.« Jetzt wußten sie schon ganz gut, wie man behelfsmäßige Dämme baute. Diesmal hatten sie noch kaum begonnen, da war das Flußbett auch schon verstopft, so daß sie die Prähme, knietief im Wasser watend, wieder ein Stück aufwärts schaffen konnten.
Wohl kamen sie zuletzt noch einmal kurz auf Grund, aber ein Pull mit vereinten Kräften brachte sie über die letzte flache Stelle hinweg in tieferes Wasser, wo es wieder leicht und rasch voranging. »Ausgezeichnet, Mr. Sefton.«
Bis zu der nächsten flachen Stelle waren damit glatt fünfhundert Meter gewonnen.
Als sie eben die Arbeit an einem weiteren Damm aufnehmen wollten, hörten sie von ferne den Knall einer Muskete, dessen Echo in der heißen Luft hallend fortklang, und dem gleich darauf noch ein Dutzend weitere folgten. Es dauerte noch eine Weile, bis sie von einem atemlosen Boten erfuhren, was sich ereignet hatte.
»Meldung von Hauptmann Seymour, Sir: Die Vorhut ist von oben her beschossen worden. Der Schütze saß auf einem Baum, Sir, er wurde gesehen, ist aber entkommen.«
»Danke.«
Die Piraten hatten also flußabwärts Späher ausgestellt. Sie mußten jetzt wissen, daß eine Truppe gegen sie im Anmarsch war. Nur die Zeit konnte lehren, was sie daraufhin unternahmen.
Inzwischen waren die Prähme wieder freigekommen, es war also an der Zeit, weiter vorzudringen. Der Fluß wand sich hin und her, bespülte senkrecht abfallende Ufer und blieb erstaunlicherweise für einige Zeit so tief, daß die Prähme flott blieben und nur dann und wann über eine leichte Schnelle hinweggeholt werden mußten. Hornblower hatte allmählich das Gefühl, als ob er sich schon seit Tagen so vorangequält hätte, bald im blendenden Sonnenschein, bald im Schattendunkel der Bäume, immer bis an die Knie im wirbelnden Wasser, immer in Gefahr, auf den schlüpfrigen Felsen auszugleiten. Beim nächsten Damm gab er der Versuchung nach, sich ein wenig zu setzen und den Schweiß ungehemmt strömen zu lassen. Er hatte das noch kaum getan, als von der Vorhut wieder ein Melder eintraf.
»Meldung von Hauptmann Seymour, Sir: Er läßt melden, die Piraten hätten sich verschanzt. Sie befänden sich in einer Höhle hoch oben in einer Felswand.«
»Wie weit ist es noch bis dorthin?«
»Oh, nicht besonders weit, Sir.«
Hornblower mußte sich sagen, daß er von dem Mann kaum eine bessere Antwort erwarten durfte. »Sie schossen auf uns, Sir«, fügte der Melder seinem Bericht hinzu. Daraus konnte man schon eher auf die Entfernung schließen, denn sie hatten schon seit langem keinen Schuß mehr gehört. Das hieß, daß das Piratennest noch weiter entfernt war, als der Schall trug.
»Schön, Mr. Sefton, machen Sie bitte weiter. Ich begebe mich jetzt nach vorn. Kommen Sie, Gerard.« Bald kletternd, bald auf allen vieren kriechend strebte er weiter am Wasser entlang. Zu seiner Linken wurde das Ufer allmählich immer steiler und höher, und zuletzt war es eine richtige Felswand. Noch ein paar Schnellen, noch eine Biegung, dann bot sich dem Auge überraschend ein ganz neues Bild. Ja, hier war es gewesen! Er fand auf den ersten Blick alles wieder, wie er es im Gedächtnis hatte: Die hohe, überhängende Wand mit dem rauschenden Wasserfall, der sich hier unten in den Fluß ergoß, das lange, waagerechte Band auf halber Höhe der Felswand, zur Rechten offenes Grasland mit einzelnen Bäumen, ja sogar die paar Maulesel auf dem schmalen Grasstreifen zwischen Felswand und Fluß. Rotberockte Seesoldaten waren über das Grasland ausgeschwärmt, sie bildeten einen weiten Halbkreis, dessen Mittelpunkt die Höhle war. Hornblower dachte nicht mehr an Hitze und Müdigkeit. So rasch er konnte, eilte er der Stelle zu, wo Seymour unter seinen Männern stand und unverwandt nach der Felswand starrte. Spendlove stand neben ihm. Die beiden kamen ihm entgegen und begrüßten ihn. »Dort oben sind sie, Mylord«, sagte Seymour. »Sie schossen ein paar Mal auf uns, als wir eintrafen.«
»Danke, Herr Hauptmann. Na, Spendlove, wie gefällt es Ihnen hier unter den veränderten Umständen?«
»Nicht besser und nicht schlechter als zuvor, Mylord.«
»Spendloves Sprung«, sagte Hornblower. Er strebte am Ufer weiter nach vorn, um sich der Höhle so weit wie möglich zu nähern, und blickte gespannt nach oben.
»Vorsicht, Mylord!« sagte Spendlove beschwörend. Die Warnung war noch nicht verklungen, als es dicht über Hornblowers Kopf hinwegpfiff. Vor der Brustwehr der Höhle wölkte sich Mündungsqualm, und gleich darauf hallte ein scharfer Knall von der Felswand wider. Dann tauchten hinter der Brustwehr Gestalten auf, die sich von weitem wie winzige Puppen ausnahmen. Sie schwangen drohend die Arme, und ihr haßerfülltes Geschrei drang schwach zu denen herab, für die es bestimmt war. »Einer von den Burschen hat anscheinend ein gezogenes Gewehr«, sagte Seymour.
»Meinen Sie? Da machen wir am besten, daß wir außer Schußweite kommen, ehe er neu geladen hat.« Bis zu diesem Augenblick hatte sich Hornblower nicht viel aus dem Vorfall gemacht. Jetzt aber fiel ihm plötzlich ein, daß dieser Schuß der sagenhaften Laufbahn des großen Lord Hornblower ums Haar ein höchst unrühmliches Ende bereitet hätte. Seinem künftigen Biographen wäre dann die Aufgabe zugefallen, die Ironie des Schicksals zu beklagen, daß es zugelassen hatte, daß er, der Held so vieler Schlachten, in einem unbekannten Winkel Westindiens durch die Kugel eines namenlosen Verbrechers den Tod fand. Er machte kehrt und zog sich zurück, die anderen folgten seinem Beispiel. Dabei spürte er deutlich, wie er den Nacken steif und die Muskeln gespannt hielt - es war eben doch schon recht lange her, seit er zum letzten Mal in Lebensgefahr gewesen war. Um so eifriger war er jetzt darum bemüht, sich möglichst gelöst und ungezwungen zu geben.
»Sefton wird mit dem Mörser nicht mehr lange auf sich warten lassen«, bemerkte er, nur um ja einen ruhigen, gleichmütigen Eindruck zu machen. Er hoffte nur, daß seine Worte auf die anderen nicht so gezwungen wirkten, wie er sie selbst empfand. »Das ist zu hoffen, Mylord.«
»Wo wollen wir das Ding aufstellen?« Er drehte sich um sich selbst und schätzte die Entfernungen nach Augenmaß. »Wir tun auf alle Fälle gut daran, außer Schußweite dieses Gewehrs zu bleiben.«
Das Gebot des Augenblicks nahm ihn so in Anspruch, daß die Gefahr von vorhin alsbald völlig vergessen war. Wieder puffte von der Brustwehr herunter Mündungsqualm, wieder krachte ein Schuß.
»Hat einer der Herren die Kugel pfeifen hören? Nein? Dann dürfen wir annehmen, daß wir außer Schußweite sind.«
»Darf ich mir eine Frage erlauben, Mylord?« meldete sich Spendlove. »Wie weit kann man mit einem Bootsmörser schießen?«
»Muß der allwissende Spendlove doch einmal zugeben, daß es auch bei ihm Lücken gibt? Mit einem Pfund Pulver ist die Reichweite siebenhundert Meter bei einer Flugzeit von fünfzehn Sekunden. Aber in unserem Fall müssen wir die Granate zwanzig Meter über der Abschußstelle zur Detonation bringen.
Eine nette ballistische Rechenaufgabe.« Hornblower sagte das so beiläufig hin, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Wie sollte auch jemand ahnen, daß er die Daten erst heute nacht um ein Uhr aus dem Handbuch entnommen hatte? »Die Bäume dort werden uns gute Dienste tun, wenn wir den Mörser an Land holen. Sechs bis sieben Meter um sie herum ist noch dazu schöner ebener Boden. Es gibt keinen besseren Platz.«
»Dort kommen sie, Mylord.«
Die Spitze der Hauptmacht kam soeben um den Vorsprung der Felswand herum, die Männer eilten so rasch sie konnten am Ufer entlang. Als sie die Lage überblickten, brachen sie in lautes Gebrüll aus und sprangen oder krochen womöglich noch schneller über alle Hindernisse des Geländes. Hornblower dachte unwillkürlich an eine Meute, die bellend herbeigestürzt kommt, wenn sie ihre Beute gestellt sieht.
»Ruhe da!« schrie er. »Der Fähnrich dort! Können Sie Ihre Leute nicht im Zaum halten? Schreiben Sie ihre Namen auf und melden Sie sie zur Bestrafung, ich selbst werde Mr. Sefton den Ihren nennen.«
Still und beschämt schlossen die Matrosen so gut es ging ihre Reihen. Jetzt erschienen auch die Prähme. Im Schlepp von Arbeitsgruppen, die am Ufer mühsam stromauf strebten, glitten sie wie das Schicksal selbst über das stille Wasser.
»Weitere Befehle, Mylord?« fragte Sefton. Hornblower sah sich noch einmal im Gelände um, ehe er seine Entscheidung traf. Die Sonne hatte längst den Zenit überschritten, als eine Anzahl tatenlustiger Matrosen auf die Bäume kletterte, um dort Taljen anzuschlagen. Bald darauf hing der Mörser baumelnd an einem starken Ast, bis seine Bettung ebenfalls aus dem Prahm geheißt war und auf einem ebenen Fleckchen Platz gefunden hatte. Der Stückmeister ging sofort daran, mit Hilfe einer Alkoholwaage sicherzustellen, daß sie auch genau waagerecht stand. Dann wurde der Mörser selbst unter großem Kraftaufwand ans Ufer eingeschwungen und wieder auf seine Bettung gehoben. Als letztes trieb der Stückmeister die haltenden Splinte durch die Augbolzen der Überfälle. »Soll ich das Feuer eröffnen, Mylord?« Hornblower blickte nach dem fernen Felsband, das sich mitten durch die Wand zog. Er war überzeugt, daß die Piraten ihr Tun genau verfolgten. Ob sie wohl wußten, was dieses kurze dicke Etwas war, das so formlos und unscheinbar aussah und doch Tod und Verderben für sie bedeutete? Wahrscheinlich erkannten sie es nicht und peilten jetzt alle gespannt über die Brustwehr, um herauszufinden, was die vielen Menschen da unten so eifrig trieben. »Welche Erhöhung haben Sie gewählt, Stückmeister?«
»Sechzig Grad, Sir - Mylord.«
»Versuchen Sie es einmal mit fünfzehn Sekunden Brenndauer.«
Der Stückmeister lud den Mörser mit aller Sorgfalt, er maß das Pulver ab und preßte es mit dem Ladepfropfen fest in die Kammer. Dann säuberte er das Zündloch mit dem Zünddraht und füllte es mit feinkörnigem Pulver aus seinem Horn. Als nächstes nahm er eine Vorstechahle zur Hand und bohrte sie vorsichtig an der richtigen Stelle durch das hölzerne Rohr des Zünders - es handelte sich nämlich um einen Zünder allerneuester Konstruktion, auf dem die gewünschten Brennzeiten im vorhinein mit Tuschestrichen bezeichnet waren.
Jetzt schraubte er den fertigen Zünder in die Granate und setzte das Geschoß von der Mündung her auf den Pulverpfropfen.
»Die Luntenstöcke!« befahl er.
Ein anderer Mann hatte inzwischen eifrig mit Stahl- und Feuersteinen hantiert, bis es ihm gelungen war, einen Funken auf die langsam brennende Lunte zu übertragen. An ihr entzündete er jetzt zwei Luntenstöcke, von denen er einen dem Stückmeister reichte. Dieser beugte sich vor und prüfte noch einmal kurz die Seitenrichtung des Mörsers. »Zünden!« kommandierte er dann. Sein Maat senkte den zweiten Luntenstock, und die Zünderlunte begann zu sprühen. Dann stieß der Stückmeister selbst seine glühende Lunte in das Zündloch. Der Mörser brüllte auf und stieß dicken Pulverqualm aus.
Hornblower stand in einiger Entfernung hinter dem Mörser und blickte bereits in den Himmel, um die Granate auf ihrem Flug zu verfolgen. Gegen das helle Blau war aber nichts zu erkennen - doch, grade im Scheitelpunkt der Bahn ein kurzer, dunkler Strich, der aber sofort wieder verschwunden war. Es hieß noch warten, unwillkürlich stellte sich die Befürchtung ein, der Zünder könnte versagt haben, dann aber krachte doch am Fuß der Klippe und etwas rechts von der Höhle die Detonation.
Die Spannung der Seeleute löste sich in einem allgemeinen Stimmengewirr. »Ruhe da!« brüllte Sefton dazwischen.
»Versuchen Sie es noch einmal, Stückmeister«, sagte Hornblower.
Der Mörser wurde auf seiner Bettung ein klein wenig gedreht, sein Lauf wurde ausgewaschen, und als dann die neue Ladung eingefüllt war, holte der Stückmeister ein kleines Quartmaß aus der Tasche und goß noch eine kleine Menge Pulver dazu.
Wieder durchbohrte er den Zünder, setzte die Granate ein, gab die letzten Befehle und löste den Schuß. Wieder galt es zu warten, dann hing plötzlich ein Ballen Rauch in der Luft, allem Anschein nach genau vor dem Band, das den Felsen durchzog.
Die armen Teufel dort oben mußten mit ansehen, wie ihnen das grausame Ende unerbittlich näherrückte.
»Die Brenndauer ist ein wenig zu kurz«, sagte Hornblower.
»Die Schußweite wahrscheinlich auch, Mylord«, sagte der Stückmeister.
Beim nächsten Schuß löste sich hoch über dem Band eine Staubwolke und eine kleine Steinlawine aus der Felswand, gleich darauf barst die Granate unten am diesseitigen Ufer des Flusses, wo sie aufgeschlagen war.
»Schon besser«, sagte Hornblower. Er hatte vor fast zwanzig Jahren bei der Belagerung von Riga die Kunst des Mörserschießens in ihren Grundzügen kennengelernt - damals hatten sie sich allerdings eines gewaltigen Dreizehnzöllers bedient.
Noch zwei weitere Schüsse, und beide umsonst. Das eine wie das andere Mal krepierte die Granate im Scheitelpunkt ihrer Flugbahn, hoch, hoch in der Luft. Offenbar waren diese neumodischen Zünder doch nicht ganz zuverlässig. Als die Sprengstücke in den Fluß herabfielen, spritzten überall kleine Fontänen auf. Die Piraten mußten sich jetzt nachgerade darüber klar sein, was der Mörser zu bedeuten hatte.
»Geben Sie mir einmal Ihren Kieker, Gerard.« Er richtete das Glas auf das Band im Felsen. Jetzt unterschied er dort jede Einzelheit, die aus groben Steinen aufgeschichtete Brustwehr und am einen Ende den Wasserfall - aber kein Lebenszeichen von der Besatzung. Die Leute hielten sich im hintersten Winkel der Höhle verborgen, oder aber sie kauerten unsichtbar hinter der Brustwehr. »Noch einen Schuß.«
Nach dem Knall vergingen wieder fünfzehn lange Sekunden, dann sah er unter dem Überhang Felsbrocken fliegen.
»Gut so!« rief er, immer noch das Glas am Auge. Die Granate hatte offenbar genau in die Höhle getroffen. Während er noch sprach, erschien eine dunkle Gestalt mit hochgeschwungenen Armen hinter der Brustwehr. Er sah, wie die Granate vor dem Hintergrund der Felswand als winzige schwarze Scheibe niederfiel und wie unten am Fuß der Wand im nächsten Augenblick ein Rauchpilz emporschoß. Einer der Kerle hatte die heiße Granate mit beiden Händen gepackt und im Bruchteil einer Sekunde über die Brustwehr geschleudert. Nur nackte Verzweiflung konnte einen Menschen dazu bringen, solches zu wagen. »Noch einen Schuß an die gleiche Stelle und die Brenndauer eine Sekunde kürzer, dann ist alles vorbei«, sagte er und gleich darauf: »Nein, warten Sie noch.«
Die armen Kerle sollten sich doch endlich ergeben und nicht so lange zuwarten, bis sie in Stücke gerissen wurden. Was war zu tun, um sie dazu zu bringen? Er wußte es ganz genau.
»Möchten Sie einen Unterhändler mit weißer Flagge vorschicken, Mylord?« sagte Spendlove und sprach damit aus, was Hornblower eben durch den Kopf ging. »Ja, ich hatte es ins Auge gefaßt.«
Ein solcher Auftrag war bestimmt sehr gefährlich. Wenn die Piraten entschlossen waren, sich nicht zu ergeben, dann war ihnen auch eine Waffenstillstandsflagge gleichgültig, dann schossen sie natürlich sofort auf den, der sie trug. Es gab dort oben gewiß ein Dutzend Musketen und allermindestens ein gezogenes Gewehr. Hornblower konnte sich nicht dazu durchringen, einen Mann nach vorn zu schicken oder einen Freiwilligen dafür aufzurufen. »Ich werde gehen«, sagte Spendlove. »Sie kennen mich.« Das war der Preis, den er für seinen hohen Rang zu bezahlen hatte, ging es Hornblower durch den Kopf. Er durfte nicht davor zurückschrecken, seine Freunde in den Tod zu schicken. Und doch... »Einverstanden«, sagte Hornblower.
»Gib mir dein Hemd und deine Pike, mein Junge«, sagte Spendlove zu einem Matrosen. Das Hemd, mit den Ärmeln an den Schaft der Pike gebunden, gab eine brauchbare weiße Flagge. Als Spendlove damit durch die Kette der rotröckigen Seesoldaten nach vorn ging, fühlte sich Hornblower versucht, ihn zurückzurufen. Unter den gegebenen Umständen kam natürlich nur eine bedingungslose Übergabe in Frage. Er öffnete schon den Mund, aber die Worte, die er rufen wollte, kamen ihm nicht über die Lippen. Spendlove schritt unterdessen dem Flußufer zu, alle paar Sekunden machte er kurz halt und schwenkte seine Flagge. Hornblower konnte durch sein Glas oben in der Höhle nichts Auffälliges bemerken. Erst nach einer Weile blitzte es dort metallisch auf, und zugleich erschien am Rande der Brustwehr eine Reihe von Köpfen und Schultern. Ein Dutzend Musketen richteten sich auf Spendlove, aber dieser hatte sie ebenfalls gesehen, er blieb wieder stehen und schwenkte kräftig die Flagge. Die Spannung währte endlose Sekunden, endlich kehrte Spendlove den drohenden Musketen den Rücken und trat den Rückzug an. Kaum hatte er die ersten Schritte getan, da puffte Mündungsqualm von der Brustwehr herab: Der Gewehrschütze hatte geschossen, als er sah, daß keine Aussicht bestand, Spendlove bis in die Reichweite der Musketen zu locken. Spendlove kam unverrichteter Dinge zurück, er zog die Pike mit dem Hemd hinter sich her.
»Er hat mich gefehlt, Mylord«, sagte er. »Gott sei Dank«, sagte Hornblower. »Stückmeister, Feuer eröffnen.« Vielleicht hatte der Wind ein wenig gedreht, vielleicht entwickelte das Pulver nicht genau die gleiche Kraft, jedenfalls krepierte die Granate diesmal unterhalb der Höhle in der Luft - der Zünder hatte also richtig funktioniert, aber ein beträchtliches Stück vor der Felswand. »Noch ein Schuß«, sagte Hornblower. Da war es geschehen: Ein Rauchpilz und eine Fontäne aufspritzender Trümmer mitten in der Höhle! Man konnte sich nur mit Schaudern vorstellen, was sich dort abspielen mochte.
»Der nächste Schuß!«
Wieder barst die Granate mitten in der Höhle. »Noch ein Schuß - nein, warten Sie!« Auf der Brustwehr zeigten sich einige Gestalten - es gab also trotz der beiden Treffer noch Überlebende. Zwei von ihnen - sie nahmen sich im Gesichtsfeld des Fernrohrs wie winzige Puppen aus - schienen plötzlich in der Luft zu hängen. Sie waren abgesprungen und sausten in die Tiefe. Das Glas folgte ihnen, bis sie unten waren. Der eine fiel ins Wasser, das bei seinem Aufschlag wie eine Fontäne in die Höhe spritzte. Der andere stürzte auf das felsige Ufer und blieb, schauerlich zugerichtet, regungslos liegen. Hornblower richtete das Glas wieder nach oben. Soeben wurde die Leiter über die Brustwehr herabgeworfen. Eine Gestalt - dann noch eine - kletterten langsam daran nieder. Hornblower schob den Kieker mit einem Ruck zusammen.
»Hauptmann Seymour, senden Sie eine Abteilung nach vorn, um die Leute gefangen zunehmen.« Er selbst durfte sich den grauenhaften Anblick der getroffenen Höhle, der verstümmelten Toten und der schreienden Verletzten ersparen, es genügte, daß Seymour die Leiter hinaufstieg. Als er wiederkam, um zu melden, was er vorgefunden hatte, konnte sich Hornblower nur zu gut vorstellen, wie es dort oben aussah. Die Piraten waren vernichtet. Die Verwundeten wurden verbunden und auf Tragbahren zur Küste gebracht, wo sie der Tod von Henkershand erwartete. Die Unverletzten wurden mit gefesselten Händen neben ihnen hergetrieben. Der Gouverneur erhielt durch einen Kurier Kenntnis, daß die Seeräuberbande aufgerieben war, damit er die Streifen einziehen und die Miliz nach Hause schicken konnte. Glücklicherweise brauchte Hornblower sich nicht selbst mit den Jammergestalten zu befassen, die er so gründlich geschlagen hatte. Sein Jagdfieber war erloschen. Er hatte sich einfach eine Aufgabe gestellt - wie wenn er sich etwa vorgenommen hätte, aus Monddistanzen eine Länge zu errechnen - und hatte das selbstgestellte Problem erfolgreich gelöst. Aber das Ausmaß seines Erfolges drückte sich hier in der Zahl der Erhängten, der Toten und der Verwundeten aus, am sinnfälligsten in jenem zerschmetterten Menschenleib, der mit gebrochenem Rückgrat dort auf dem Felsen lag. Dabei hatte er sich, ehrlich gestanden, nur dazu gedrängt, weil es sein Stolz von ihm verlangte, weil er nach der unwürdigen Entführung seine Selbstachtung wiedergewinnen wollte. Was nutzte es, wenn er sich sagte, daß sonst nur andere angetreten wären, um den schrecklichen Auftrag an seiner Stelle auszuführen, und daß in einem solchen Fall erhebliche Verluste durch Krankheit und wesentlich höhere Kosten entstanden wären? Solche Überlegungen führten doch nur dazu, daß er sich wegen seiner Haarspalterei höhnische Selbstvorwürfe machte.
Hornblower war es eben nur in den seltensten Fällen gegeben, so zu handeln, daß sein Tun vor Hornblowers eigenen Augen Gnade fand.
Dennoch verhalf ihm seine hohe Stellung wenigstens zu einem zynisch genossenen Vorteil: Er konnte das ganze Nachspiel nach ein paar kurzen Befehlen Sefton und Seymour überlassen und die Landungsabteilung ohne Verzug und ohne unnötige Gefährdung durch die Nachtluft wieder an die Küste bringen. Er durfte sich ohne Aufenthalt wieder an Bord begeben, um in aller Ruhe - wenn auch in Fells langweiliger Gesellschaft - sein Dinner zu verzehren und sich danach zu einem ausgiebigen Schlaf zurückzuziehen. Später, an Bord, war er noch besonders angenehm berührt, als er hörte, daß Fell schon gegessen hatte. So durfte er sich ganz nach seinem Wunsch nur mit dem Flaggleutnant und dem Sekretär zum Dinner setzen.
Aber unter den Rosen, auf denen er gebettet lag, fand sich unerwarteterweise doch eine verdorrte Blüte. Er mußte sie ausgerechnet in dem Augenblick entdecken, da er besten Willens war, ein gutes Werk zu tun.
»Ich werde meinem Bericht an Ihre Lordschaften, was Ihr Verhalten betrifft, noch einiges hinzufügen müssen, Spendlove«, sagte er. »Sie haben Ihre Tapferkeit erneut unter Beweis gestellt, als Sie mit der Parlamentärflagge vorgingen.«
»Besten Dank, Mylord«, sagte Spendlove. Er blickte eine Weile vor sich hin und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, ehe er, immer noch gesenkten Blicks und seltsam aufgeregt, fortfuhr: »Darf ich hoffen, daß Eure Lordschaft auch an anderer Stelle ein Wort für mich einlegen?«
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Hornblower in aller Unschuld. »Und wo wäre das?«
»Danke, Mylord. Ich hatte diese meine Bitte im Auge, als ich das Wenige tat, dessen Wert Eure Lordschaft so gütig zu würdigen geruhen. Ich wäre nun Eurer Lordschaft zutiefst verbunden, wenn Sie sich herbeilassen wollten, Miss Lucy einige wohlmeinende Worte über mich zu sagen.« Lucy!
Hornblower hatte überhaupt nicht mehr an das Mädchen gedacht und war darum außerstande, seine Bestürzung zu verbergen. Sie entging auch Spendlove nicht, als er endlich den Blick vom Tischtuch erhob.
»Sie sprachen mit mir in scherzenden Worten über eine reiche Heirat, Mylord«, sagte Spendlove und verriet durch die sorgfältige Wahl seiner Worte, daß er zuinnerst aufgewühlt war.
»Darf ich Ihnen jetzt versichern, daß es mir nichts verschlüge, wenn Miss Lucy keinen roten Heller ihr eigen nennte. Meine Zuneigung, Mylord, ist tief und ohne Falsch.«
»Ja, sie ist auch wirklich ein reizendes junges Ding«, sagte Hornblower, weil ihm arg darum zu tun war, Zeit zu gewinnen.
»Mylord, ich liebe sie!« rief Spendlove, der plötzlich alle Hemmungen fallen ließ. »Meine Liebe kennt keine Grenzen.
Beim Ball versuchte ich, ihr Interesse für mich zu wecken - leider hatte ich keinen Erfolg.«
»Das tut mir aufrichtig leid«, sagte Hornblower. »Ich konnte aber nicht umhin zu bemerken, daß Ihnen, Mylord, ihre ganze Bewunderung galt. Jedenfalls sprach sie wiederholt von Ihnen.
Schon damals kam ich zu der Überzeugung, daß ein Wort von Ihnen bei ihr mehr ins Gewicht fallen würde als eine lange Rede von mir. Wären Sie wohl bereit, dieses Wort zu sprechen, Mylord...?«
»Es will mir scheinen, daß Sie meinen Einfluß überschätzen«, sagte Hornblower. Er wählte seine Worte mit der gleichen Sorgfalt wie eben Spendlove, hoffte jedoch, daß es nicht so auffiel. »Aber ich will natürlich für Sie tun, was in meinen Kräften steht.«
»Ich brauche Sie meiner aufrichtigen Dankbarkeit kein zweites Mal zu versichern, Mylord«, sagte Spendlove. War dieser bescheidene Bittsteller, dieser arme, liebeskranke Junge, wirklich der gleiche Spendlove, der mit eiskaltem Entschluß jenen nächtlichen Sprung in einen zwanzig Meter tiefen Abgrund gewagt hatte? Hornblower erinnerte sich an Lucys stürmische Handküsse und dachte wieder daran, wie sie ihm auf den Knien nachgerutscht war. Aber die Leidenschaft eines kaum der Schule entwachsenen Kindes für einen Mann in reifen Jahren war doch höchstwahrscheinlich nichts als ein Strohfeuer, das ebenso rasch erlosch, wie es aufgeflammt war. Wenn erst alles vorüber war, dann war ihr die Erinnerung an ihr unbeherrschtes Benehmen gewiß nicht minder peinlich wie ihm selbst. In dieser Lage mußte sie das Bedürfnis fühlen, in die Abwehr zu gehen und dem anderen klarzumachen, daß er für sie nicht der einzige Mann auf der Welt war. Wie aber hätte sie das besser erreichen können als dadurch, daß sie einen anderen nahm? Kurzum, es bestand durchaus die Möglichkeit, daß sie Spendlove, wenn auch sozusagen im ›Rückprall‹, doch noch für sich einfing. »Wenn Ihnen gute Wünsche helfen können«, sagte er, »soll es an mir gewiß nicht fehlen.«
Auch ein Admiral sollte seine Worte stets sorgfältig wählen.
Zwei Tage später sprach er beim Gouverneur vor, um sich abzumelden.
»Ich gehe morgen früh mit meinem Geschwader in See, Exzellenz«, sagte er.
»Können Sie nicht wenigstens so lange warten, bis die Todesurteile vollstreckt sind?«
»Tut mir leid, Eure Exzellenz«, gab Hornblower zur Antwort und fügte höchst unnötigerweise hinzu: »Hängen ist nichts für mich.«
Diese erklärenden Worte waren nicht nur unnötig, sondern im höchsten Maße töricht, was ihm sofort klar wurde, als er Hoopers erstauntes Gesicht sah. Zu hören, daß Hängen nichts für Hornblower sei, brachte ihn kaum weniger aus der Fassung, als wenn er vernommen hätte, Hornblower sei nicht für Hängen - was im übrigen beinahe ebenso richtig gewesen wäre.