Die heilige Elisabeth von Ungarn

Konteradmiral Lord Hornblower, Oberbefehlshaber Seiner Majestät Schiffe und Fahrzeuge in Westindien, hatte sich trotz seiner stolzen Stellung zu seinem offiziellen Besuch in New Orleans auf Seiner Majestät Schooner Crab eingeschifft, einem winzigen, mit zwei Sechspfündern bewaffneten Schiffchen, das ohne das überzählig eingeschiffte Personal nur sechzehn Mann Besatzung fuhr. Mr. Cloudesly Sharpe, Generalkonsul Seiner Britischen Majestät in New Orleans, konnte sich denn auch einer Bemerkung darüber nicht enthalten.

»Ich hatte nicht erwartet«, meinte er mit einem abschätzigen Blick in die Runde, »daß uns Eure Lordschaft mit einem so kleinen Fahrzeug beehren würden.« Er war in seinem Wagen an der Pier vorgefahren, wo die Crab längsseits lag, und hatte seinen livrierten Diener zur Stelling geschickt, um sich anmelden zu lassen. Nach diesem feierlichen Beginn war es etwas ernüchternd für ihn, daß ihn nur zwei Bootsmannsmaate mit ihrem Seitepfiff empfingen, weil es auf der Crab ganz einfach nicht mehr gab, und daß er auf dem Achterdeck außer dem Admiral und seinem Flaggleutnant nur einen einzigen jungen Leutnant, den Kommandanten des Schiffes, zum Empfang vorfand.

»Das bringt der Dienst zuweilen so mit sich, Sir«, erklärte ihm Hornblower, »aber folgen Sie mir doch bitte unter Deck, dort steht Ihnen alles zur Verfügung, was mein derzeitiges Flaggschiff seinen Gästen zu bieten hat.« Mr. Sharpe - selten paßte wohl ein Name so schlecht zu seinem Besitzer, der in unserem Fall ein wahrer Fettkloß von unglaublichem Umfang war - Mr. Sharpe also zwängte sich mühsam in einen Sessel am Tisch der hübschen kleinen Kajüte und meinte auf Hornblowers Einladung zu einem Frühstück, nein, er habe sich schon vor seinem Kommen gestärkt. Man merkte nur zu deutlich, daß er sich auf dieser kleinen Nußschale alles andere als eine genießbare Mahlzeit erwartete. Gerard, der Flaggleutnant, wartete mit gezücktem Bleistift bescheiden im Hintergrund, bis Hornblower den Faden der Unterhaltung wieder aufnahm. »Ja, die Phoebe wurde vor Cap Morant vom Blitz getroffen. Auf ihr wollte ich mich eigentlich einschiffen. Die Clorinda war schon zur Überholung in der Werft, und die Roebuck kreuzt vor Curacao, um die Holländer ein bißchen im Auge zu behalten.

Der Waffenhandel in Venezuela scheint ja gegenwärtig ganz nett zu blühen.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Sharpe.

»Sehen Sie, das sind nun meine drei Fregatten«, fuhr Hornblower fort. »Da schon alles für meinen Besuch vorbereitet war, schien es mir immer noch besser, mit diesem Schooner zu kommen, als überhaupt nicht.«

»Wie sind die Mächtigen gefallen!« zitierte Mr. Sharpe.

»Eure Lordschaft als Oberbefehlshaber mit nur drei Fregatten und einem halben Dutzend Sloops und Schoonern!«

»Vierzehn Sloops und Schoonern, Sir«, verbesserte ihn Hornblower. »Sie sind für meine gegenwärtigen Aufgaben ganz besonders geeignet.«

»Ohne Zweifel, Mylord«, sagte Sharpe, »aber man denkt eben unwillkürlich an die Zeiten, da dem Befehlshaber auf der westindischen Station ein ganzes Linienschiffgeschwader unterstand.«

»Damals waren wir im Krieg, Sir«, belehrte ihn Hornblower und dachte dabei an die Worte des Ersten Seelords, als er ihm dieses Kommando angeboten hatte. »Das Unterhaus«, hatte er gesagt, »würde die Royal Navy lieber an ihren Moorings verrotten lassen, als die verhaßte Einkommensteuer wieder ins Leben rufen.«

»Nun, Eure Lordschaft sind immerhin glücklich angelangt«, sagte Sharpe. »Haben Eure Lordschaft mit Fort St. Philip Salut ausgetauscht?«

»Schuß um Schuß, so wie es nach Ihrer Depesche vereinbart war.«

»Ausgezeichnet!« sagte Sharpe.

Das war ein seltsames kleines Schauspiel gewesen. Alle Mann an Bord der Crab waren längs der Reling angetreten, wie sich das während eines Saluts gehörte, und die Offiziere hatten grüßend auf dem Achterdeck gestanden. Aber »Alle Mann« waren eben doch nur ein sehr bescheidenes Häuflein, da vier Mann Bedienung für das Salutgeschütz, ein Mann an der Flaggleine und der Rudergänger wegfielen. Dazu hatte es auch noch in Strömen geregnet, so daß Hornblower fühlte, wie ihm die schimmernde Gala durch und durch naß am Leib klebte.

»Haben Eure Lordschaft die Dienste eines Dampfschleppers in Anspruch genommen?«

»Weiß Gott, ja!« rief Hornblower aus. »Das war für Eure Lordschaft gewiß ein nicht alltägliches Erlebnis, nicht wahr?«

»Begreiflicherweise«, sagte Hornblower. »Ich...« Er hielt inne und zwang sich, seine Gedanken über jenes aufregende Fahrzeug für sich zu behalten, weil er sich sonst in Erörterungen verloren hätte, die jetzt nicht zur Sache gehörten. Aber es war wirklich unerhört gewesen: Ein Dampfschlepper hatte die Crab ohne weiteres hundert Meilen gegen den Strom von See her nach New Orleans gebracht und dazu nicht länger gebraucht als vom frühen Morgen bis zum Abend des gleichen Tages. Dabei hatte ihm der Kapitän auch noch die Ankunftszeit auf die Minute genau vorausgesagt.

New Orleans! Überall an den Kais drängten sich die ozeangehenden Segelschiffe und dazu eine ganze Flotte langer, schmaler Dampfer, die dank ihrer beiden Paddelräder mit einer Leichtigkeit in den Strom hinaus und dann wieder irgendwo an die Pier manövrierten, die selbst für die Crab mit ihrer handigen Gaffeltakelung nie erreichbar gewesen wäre. Unter den Schlägen dieser Paddelräder flogen sie dann, wann immer sie wollten, mit einer ans Unglaubliche grenzenden Fahrt stromauf.

»Der Dampf hat einen Kontinent erschlossen, Mylord«, sagte Sharpe und sprach damit aus, was Hornblower eben dachte.

»Ein gewaltiges Reich - Tausende und aber Tausende von Meilen schiffbarer Gewässer. Die Bevölkerung des Mississippitals dürfte schon in wenigen Jahren nach Millionen zählen.«

Hornblower fiel wieder ein, wie oft sie damals, als er noch auf Halbsold zu Hause saß und auf seine Beförderung zum Flaggoffizier wartete, über jenen geheimnisvollen »Dampfkessel« gesprochen hatten. Da hatte der oder jener sogar behauptet, man werde eines Tages auch richtige Hochseeschiffe mit Dampf betreiben, aber die Mehrheit hatte solche Phantasten immer noch ausgelacht und war sich darüber einig, daß dann das Ende aller guten Seemannschaft gekommen wäre. Hornblower war durchaus nicht so fest überzeugt, daß diese Auffassung richtig war, ließ aber von seinen wirklichen Ansichten keine Silbe verlauten, da er nicht die geringste Lust hatte, in den Ruf eines gefährlichen Utopisten zu geraten. Nicht einmal hier, im Gespräch mit einem bloßen Zivilisten, wollte er sich auf eine Erörterung dieser heißumstrittenen Probleme einlassen. »Haben Sie Informationen für mich?« fragte er. »Jawohl, eine ganze Menge, Mylord.« Mr. Sharpe brachte aus seinem Rockschoß ein Bündel Papiere zum Vorschein.

»Hier die letzten Meldungen aus New Granada - ich nehme an, daß Sie schon Nachrichten neueren Datums besitzen. Die Aufständischen...«

Der Generalkonsul legte mit kurzen Worten die militärische und politische Lage in Mittelamerika dar. Die spanischen Kolonien schienen im Begriff zu sein, den Endkampf um ihre Unabhängigkeit aufzunehmen. »Die Regierung Seiner Majestät dürfte nicht lange zögern, die neuerrungene Unabhängigkeit anzuerkennen«, meinte Sharpe. »Unser Gesandter in Washington ließ mich bereits wissen, daß die Vereinigten Staaten einen ähnlichen Schritt in Erwägung ziehen. Bliebe also nur noch abzuwarten, wie sich die Heilige Allianz zu dieser Frage verhalten wird.« Europa wurde von absoluten Monarchen regiert und verfolgte darum zweifellos mit scheelen Augen, wie sich mit einem Mal eine ganze Reihe unabhängiger Republiken konstituierte. Aber was verschlug es, wie Europa darüber dachte, solange die Royal Navy - und sei es in magerer Friedensstärke - die See beherrschte und solange die beiden Englisch sprechenden Regierungen in Freundschaft verbunden blieben.

»Auf Kuba sind wieder Anzeichen von Unruhe festzustellen«, fuhr Sharpe fort. »Ich habe ferner zuverlässige Nachricht, daß die spanische Regierung an Schiffe, die von Havanna in See gehen, nach wie vor Kaperbriefe ausstellt.

Diese Kaperbriefe machten Hornblower immer schwer zu schaffen. Sie wurden von den Regierungen der Aufständischen und ihrer Mutterländer gleichermaßen ausgefertigt und gaben ihren Inhabern das Recht, auf Schiffe Jagd zu machen, die unter der alten oder im umgekehrten Fall unter der neuen Flagge segelten. Die Inhaber solcher Kaperbriefe wurden natürlich im Handumdrehen zu ganz gewöhnlichen Piraten, wenn es einmal keine rechtmäßigen Prisen und kein abschreckendes Prisengericht gab. Von Hornblowers vierzehn kleinen Fahrzeugen waren dreizehn über das ganze Karibische Meer verteilt, um die Unternehmungen der Kaperschiffe zu überwachen. »Ich habe Abschriften von allen vorliegenden Meldungen vorbereitet«, schloß Sharpe seinen Bericht. »Sie stehen Eurer Lordschaft zur genaueren Information zur Verfügung. Hier sind sie - und hier, ebenfalls in Abschrift, die Beschwerden der betroffenen Kapitäne.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Hornblower, während Gerard die Papiere in Verwahr nahm.

»Wenn Eure Lordschaft gestatten, komme ich nun auf den Sklavenhandel zu sprechen«, fuhr Sharpe fort und schlug wieder andere Papiere auf. Der Sklavenhandel war ein ebenso brennendes Problem wie die Seeräuberei, ja, in mancher Hinsicht konnte man es sogar für noch wichtiger halten. Die Gesellschaft zur Bekämpfung des Sklavenhandel verfügte in beiden Häusern des Parlaments über die mächtige und vor allem lautstarke Unterstützung von Leuten, die sich womöglich noch wilder gebärdeten als eine von Piraten heimgesuchte Reederei, wenn einmal eine Ladung Sklaven unangefochten nach Havanna oder Rio de Janeiro gelangte. »Zur Zeit zahlt man in Havanna für einen ungelernten, frisch importierten Mann von der Sklavenküste volle achtzig Pfund - drüben in Widah ist er schon für gewöhnliche Handelsware im Wert von einem Pfund zu haben. Diese Riesengewinne sind natürlich eine Versuchung, Mylord.«

»Das ist klar«, sagte Hornblower.

»Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß auch Schiffe britischer und amerikanischer Registerzugehörigkeit an diesem Handel teilnehmen.«

»Davon bin ich fest überzeugt.«

Als der Erste Seelord Hornblower seinerzeit die letzten dienstlichen Anweisungen gab, hatte er bei diesem Punkt nachdrücklich auf den Tisch geklopft. Nach dem neuen Gesetz konnten britische Staatsangehörige, die sich am Sklavenhandel beteiligten, gehenkt, ihre Schiffe beschlagnahmt werden. Bei Schiffen unter amerikanischer Flagge hieß es dagegen Vorsicht.

Wenn sie auf See nicht beidrehen wollten, um sich untersuchen zu lassen, dann erforderte die Lage größten Takt. Schoß man eine amerikanische Spiere ab, oder kam gar ein amerikanischer Staatsbürger ums Leben, dann gab es unter allen Umständen die ärgsten Schwierigkeiten. Erst neun Jahre zuvor hatte Amerika wegen ganz ähnlicher Vorfälle England den Krieg erklärt. »Wir möchten auf keinen Fall Schwierigkeiten heraufbeschwören, Mylord«, sagte Sharpe. Er hatte ein Paar harte, kluge, graue Augen, die tief in seinem aufgequollenen Gesicht saßen.

»Darüber bin ich mir durchaus im klaren, Sir.«

»Es liegt mir daran, diesen Wunsch besonders im Hinblick auf ein Fahrzeug zu betonen, das zur Stunde hier in New Orleans seeklar macht, und das ich der besonderen Aufmerksamkeit Eurer Lordschaft empfehlen möchte.«

»Was ist das für ein Schiff?«

»Man sieht es von Deck aus, Mylord, und ich meine...«

Sharpe quälte sich mühsam aus seinem Stuhl und trat ans Heckfenster der Kajüte: »Ja richtig, dort liegt es! Was halten Eure Lordschaft von diesem Fahrzeug?« Hornblower blickte neben Sharpe zum Fenster hinaus. Dort lag ein wunderschönes Schiff von achthundert oder mehr Tonnen Wasserverdrängung.

Die feinen Linien des Rumpfes, der elegante Fall der Masten, die weitausladenden Rahen deuteten unverkennbar auf große Geschwindigkeit hin, der zuliebe man augenscheinlich sogar einen kleineren Laderaum in Kauf genommen hatte. Dem Typ nach handelte es sich um einen Glattdecker, mit sechs gemalten Geschützpforten an jeder Seite. Amerikanische Schiffbauer hatten von jeher mit Vorliebe solche schnellen Schiffe gebaut, aber dieses hier war gewiß eines der schönsten und schnellsten.

»Stehen hinter diesen Pforten auch Geschütze?« fragte Hornblower.

»Jawohl, Zwölfpfünder, Mylord.«

Auch in jenen Friedenszeiten traf man nicht selten bewaffnete Handelsschiffe, sei es nun, daß sie nach Westindien oder nach dem Fernen Osten segelten. Aber so schwere Geschütze waren denn doch nicht üblich. »Das Fahrzeug ist offenbar als Kaperschiff gebaut«, sagte Hornblower.

»Ganz recht, Mylord, es ist die Daring, sie wurde während des Krieges gebaut, machte eine einzige Reise und nahm uns vor dem Frieden von Cent noch sechs gute Prisen ab. Und jetzt, Mylord, was treibt sie wohl jetzt?«

»Sklavenhandel, schätze ich.«

»Mylord ziehen durchaus den richtigen Schluß.« Ein Sklavenhändler wußte die schwere Bewaffnung zu schätzen, wenn er in einem westafrikanischen Fluß vor Anker lag und jeden Augenblick mit einem Überfall zu rechnen hatte. Das durchgehende Oberdeck bot die beste Möglichkeit, ein Sklavendeck einzurichten, die hohe Geschwindigkeit trag dazu bei, die Zahl der Todesfälle unter den Sklaven während der Überfahrt auf ein Minimum herabzudrücken. Umgekehrt war das geringe Fassungsvermögen an Schwergut für einen Sklavenhändler ohne Belang.

»Ist sie denn wirklich ein Sklavenhändler?«

»Anscheinend ist sie es trotz allem äußeren Anschein nicht, Mylord. Und doch ist sie zum Transport einer erheblichen Menge Menschen gechartert worden.«

»Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie sich etwas deutlicher erklären würden, Mr. Sharpe.«

»Ich kann Eurer Lordschaft nur berichten, was ich selbst in Erfahrung brachte. Der Charterer ist ein französischer General, der Graf Cambronne.«

»Cambronne? Cambronne? Ist das nicht der Mann, der bei Waterloo die Kaiserliche Garde führte?«

»Eben der ist es, Mylord.«

»Der Mann, der damals das Wort prägte: Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht?«

»Jawohl, Mylord, man sagt allerdings, er hätte sich nicht so gewählt ausgedrückt. Damals wurde er verwundet und gefangengenommen, blieb aber am Leben.«

»Richtig, davon habe ich gehört. Aber was will er jetzt mit diesem Schiff?«

»Allzu schwer ist das nicht zu erraten. Nach dem Kriege tat sich die alte Garde zu einer Organisation zusammen, die sich gegenseitige Hilfe zur Aufgabe machte. 1816 faßten diese Männer den Plan, hier in der Neuen Welt eine Kolonie zu gründen. Eure Lordschaft haben doch sicher von diesem Vorhaben gehört?«

»Nur ganz beiläufig.«

»Nun, sie kamen herüber und nahmen ein Stück Land an der Küste von Texas in Besitz, es handelte sich um jene Provinz von Mexiko, die an unseren Staat Louisiana grenzt.«

»So wurde berichtet, aber damit sind meine Kenntnisse in dieser Sache auch erschöpft.«

»Der Anfang war nicht schwer, denn Mexiko trug eben seine Revolte gegen das Mutterland Spanien aus. Begreiflicherweise machte ihnen in dem allgemeinen Durcheinander zunächst niemand Schwierigkeiten, aber diese stellten sich dann später ganz von selbst ein. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß Soldaten der alten Garde je gute Landwirte abgeben können - und noch dazu an dieser fieberverseuchten, kaum bewohnten Küste, die nur aus einer Reihe trostloser Lagunen besteht.«

»Das Vorhaben ist also gescheitert?«

»Es kam nicht, wie es kommen sollte, Mylord. Die Hälfte starb an Malaria und Gelbem Fieber, von den Übriggebliebenen ist dann noch jeder zweite elend verhungert. Zuletzt kam Cambronne von Frankreich herüber, um die Überlebenden dieser Katastrophe in die Heimat zurückzubringen. Es sollen ihrer fünfhundert sein. Eure Lordschaft können sich wohl vorstellen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten von den Plänen der Franzosen wenig begeistert war. Und die Insurgentenregierung Mexikos sitzt nun ebenfalls schon fest im Sattel und braucht daher nicht mehr mit anzusehen, daß sich ein ganzes Regiment fremder ausgebildeter Soldaten an ihrer Küste niederläßt - mögen ihre Absichten noch so friedlich sein. Eure Lordschaft werden zugeben, daß diese Darstellung Cambronnes einen durchaus glaubwürdigen Eindruck macht.«

»Ja.«

Ein als Sklaventransporter eingerichtetes Achthundert-Tonnen-Schiff faßte mit Leichtigkeit fünfhundert Soldaten und bot alle Möglichkeiten, sie auch während einer längeren Seereise ausreichend zu ernähren.

»Cambronne nimmt eine Menge Reis und Wasser an Bord - Sklavenkost, Mylord, aber eben darum für den gedachten Zweck am besten geeignet.« Die Sklavenhändler wußten aus langer Erfahrung, wie man eine auf engstem Raum zusammengedrängte Masse Menschen am Leben erhielt.

»Wenn Cambronne seine Leute nach Frankreich zurückbringen will«, meinte Hornblower, »so werde ich ihn nicht daran hindern - im Gegenteil...«

»Das ist ganz meine Ansicht, Mylord.« Die beiden Männer maßen einander mit einem ausdruckslosen Blick ihrer grauen Augen. Fünfhundert ausgebildete Soldaten, die auf einem Schiff im Golf von Mexiko schwammen, mußten dem britischen Kommandierenden Admiral schwere Sorgen bereiten, wenn im Golf und in der Karibischen See so viel Aufruhr und Unruhe herrschten, wie das zur Zeit der Fall war. Bolivar und die anderen spanischamerikanischen Aufständischen boten sicherlich hohe Preise, um sich im gegenwärtigen Kriegszustand ihrer Dienste zu versichern. Andere mochten etwa die Eroberung von Haiti oder einen richtigen Piratenüberfall auf Havanna im Schilde führen. Jede Art von Raubzug lag im Bereich der Möglichkeiten. Sogar die Bourbonen-Regierung in Frankreich intrigierte nach Kräften mit, um womöglich irgendeine Kolonie zu erhaschen und die Englisch sprechenden Mächte vor vollendete Tatsachen zu stellen.

»Ich werde die Burschen im Auge behalten, bis sie in sicherer Entfernung sind«, sagte Hornblower. »Ich habe Eure Lordschaft pflichtgemäß über den Fall unterrichtet«, bemerkte Sharpe.

Hornblowers ohnedies schwache Sicherungsstreitkräfte im Karibischen Meer wurden damit aufs neue dezimiert. Er überlegte schon, welches seiner wenigen Schiffe er zur Beobachtung der Golfküste detachieren sollte. »Und nun«, fuhr Mr. Sharpe fort, »ist es meine Pflicht, den Aufenthalt Eurer Lordschaft hier in New Orleans im einzelnen durchzusprechen.

Ich habe eine Liste offizieller Besuche für Eure Lordschaft aufgestellt. Darf ich fragen, ob Eure Lordschaft der französischen Sprache mächtig sind?«

»Ja«, sagte Hornblower und hätte ums Haar wie unter einem Zwang hinzugefügt, ›Seine Lordschaft sind des Französischen mächtig‹ .

»Ausgezeichnet«, sagte Sharpe. »In der guten Gesellschaft spricht man nämlich hier allgemein Französisch. Eure Lordschaft werden wohl in erster Linie den Spitzen der Marine und dem Gouverneur Ihren Besuch abstatten. Außerdem ist Eurer Lordschaft zu Ehren ein Abendempfang geplant. Mein Wagen steht Eurer Lordschaft natürlich zur Verfügung.«

»Das ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, Sir.«

»Eine Selbstverständlichkeit, Mylord. Ich freue mich aufrichtig, dazu beitragen zu können, daß der Aufenthalt Eurer Lordschaft in New Orleans in jeder Hinsicht angenehm verläuft.

Hier ist eine Liste der hiesigen Prominenz, die Eure Lordschaft kennen lernen werden. Ich habe bei jedem Namen kurz das Wissenswerte über die betreffende Persönlichkeit vermerkt. Die mündlichen Erläuterungen dazu gebe ich wohl am besten dem Flaggleutnant Eurer Lordschaft, nicht wahr?«

»Bitte tun Sie das«, sagte Hornblower und war froh, daß er eine Weile nicht so aufmerksam zuzuhören brauchte. Gerard war ein guter Flaggleutnant, er hatte seinen Admiral während der zehn Monate, die Hornblower jetzt schon in seiner Stellung war, zur vollen Zufriedenheit unterstützt. Vor allem verlieh er ihrem gemeinsamen Auftreten immer jenen unverkennbaren Flair gehobener Geselligkeit, den sich Hornblower nie zu eigen machen wollte, weil ihm dieses ganze Getue viel zu gleichgültig war. Die Liste war bald durchgesprochen.

»Damit wäre meine Aufgabe erfüllt, Mylord«, sagte Sharpe, »ich darf mich also jetzt wohl beurlauben. Heute Abend habe ich ohnedies die Ehre, Eure Lordschaft wieder begrüßen zu dürfen.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Dienste außerordentlich verbunden, Sir.«

New Orleans war eine bezaubernde Stadt, und Hornblower brannte schon darauf, sie näher kennen zulernen. Es sollte sich bald herausstellen, daß er nicht der einzige war, dem es so ging, denn Sharpe hatte sich kaum empfohlen, als Leutnant Harcourt, der Kommandant der Crab, auf dem Achterdeck zu Hornblower hintrat.

»Verzeihen Mylord die Störung«, sagte er und hob grüßend die Hand an den Hut. »Haben Mylord Befehle für mich?«

Jedermann wußte, was Harcourt mit seiner Frage bezweckte.

Vor dem Großmast hatte sich der größte Teil der Besatzung der Crab zusammengeschart, und alles starrte voll Erwartung achteraus. Auf einem so kleinen Fahrzeug wußte eben jeder, was der andere trieb, daher beruhte auch die unerläßliche Zucht und Ordnung auf ganz anderen Voraussetzungen als auf einem großen Schiff. »Können Sie sich darauf verlassen, daß Ihre Leute an Land keinen Unfug treiben?« fragte Hornblower den Kommandanten.

»Jawohl, Mylord.«

Hornblower warf einen Blick nach vorn. Die Männer sahen wirklich tadellos aus, sie hatten während der ganzen Reise von Kingston hierher wie wild geschuftet, um sich neue Päckchen zu schneidern. Das hatte schon angefangen, als sie erfuhren, daß die Crab die unerwartete Ehre haben sollte, die Flagge ihres Admirals zu führen. Jetzt trugen sie alle hübsche blaue Hemden, schneeweiße Hosen und breitkrempige Strohhüte. Hornblower sah, wie sie sich gleich selbstbewußt aufbauten, als sie seinem Blick begegneten. Sie wußten natürlich ganz genau, wovon auf dem Achterdeck eben die Rede war. Diese Männer waren alle Friedens-Seeleute, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten. Hornblower hatte zwanzig Jahre Kriegsdienst mit gepreßten Besatzungen hinter sich, Leuten, von denen man nie wußte, ob sie nicht desertierten. Darum mußte er sich auch jetzt noch geradezu zwingen, der veränderten Lage Rechnung zu tragen.

»Wenn Sie mir sagen könnten, wann Sie beabsichtigen, in See zu gehen, Sir - Verzeihung, Mylord«, sagte Harcourt. »Bis Hellwerden morgen früh bleiben wir auf jeden Fall hier liegen«, sagte Hornblower kurz entschlossen. Bis dahin war für ihn jede Stunde besetzt. »Aye, aye, Mylord.«

Ob sich die Hafenkneipen von New Orleans von den Hafenkneipen in Kingston oder in Port of Spain unterschieden?

»Könnte ich jetzt mein Frühstück bekommen, Mr. Gerard«, sagte Hornblower, »oder haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

»Sofort, Mylord«, sagte Gerard und überhörte geflissentlich den sarkastischen Ton der gestellten Frage, wußte er doch längst, daß sein Admiral nichts in der Welt weniger leiden konnte als Dienstgeschäfte auf nüchternen Magen. Später, als Hornblower eben fertig gefrühstückt hatte, kam ein barfüßiger Neger die Pier entlang, der einen Korb mit herrlichen Früchten auf dem Kopf trug. Im Augenblick, da der Admiral die Runde seiner offiziellen Besuche beginnen wollte, machte er an der Stelling halt, um seine Bürde abzuliefern.

»Es ist ein Brief dabei, Mylord«, sagte Gerard, »darf ich ihn öffnen?«

»Ja.«

»Von Mr. Sharpe«, meldete Gerard, als er das Siegel erbrochen hatte, und dann einige Sekunden später: »Es ist wohl besser, Mylord lesen das Schreiben selbst.« Hornblower griff voll Ungeduld nach dem Brief.

Mylord, (stand da zu lesen)

Ich mache mir ein besonderes Vergnügen daraus, Eurer Lordschaft einen Korb mit frischen Früchten zu übersenden.

Pflichtgemäß möchte ich Eure Lordschaft ferner davon in Kenntnis setzen, daß die Ladung, die der Graf Cambronne aus Frankreich mit hierher brachte und die zur Zeit noch beim Zoll der Vereinigten Staaten unter Verschluß liegt, nach den letzten mir zugegangenen Meldungen schon in nächster Zeit durch einen vereidigten Spediteur mit einem Leichter an Bord der Daring gebracht werden soll. Das kann wohl auch in den Augen Eurer Lordschaft nur bedeuten, daß die Daring bald in See gehen wird. Nachdem, was mir berichtet wurde, soll es sich bei der vom Zoll unter Verschluß gehaltenen Ladung um ganz erhebliche Mengen von Gütern handeln. Ich bin natürlich bemüht, herauszufinden, woraus diese Ladung besteht.

Vielleicht könnten Eure Lordschaft von dero günstigem Beobachtungsposten aus selbst Gelegenheit nehmen, sich von der Zusammensetzung der Ladung zu überzeugen.

In aufrichtiger Verehrung zeichne ich als Eurer Lordschaft untertänigster und gehorsamster Diener Cloudesley Sharpe

Seiner Britischen Majestät Generalkonsul zu New Orleans

Was konnte Cambronne in so großen Mengen aus Frankreich mitgebracht haben, weil er es offenbar brauchte - für die gleiche Aufgabe brauchte, zu der er die Daring gechartert hatte? Gewiß kein persönliches Eigentum. Auch Nahrungsmittel und Getränke konnten es nicht sein - die waren doch in New Orleans für billiges Geld zu haben. Was war es also? Warme Kleidung vielleicht? Das wäre plausibel gewesen. Die Gardisten konnten sie gewiß gut brauchen, wenn sie vom Golf von Mexiko nach Frankreich zurückkehrten. Diese Möglichkeit war also immerhin gegeben. Ein französischer General mit fünfhundert Mann der Kaiserlichen Garde mußte auf alle Fälle schärfstens überwacht werden, wenn er sich zwischen all den Unruheherden hier im Karibischen Meer herumtrieb. Dazu wäre es natürlich recht wertvoll gewesen, zu wissen, welche Ladung der Mann an Bord nahm. »Mr. Harcourt!«

»Sir - Mylord?«

»Ich möchte Sie auf einen Augenblick zu mir in die Kajüte bitten.«

Der junge Leutnant stand in dem kleinen Gelaß in militärischer Haltung vor seinem Admiral und wartete etwas ängstlich, was er ihm eröffnen wollte. »Ich habe nichts an Ihnen auszusetzen, Mr. Harcourt«, sagte Hornblower kurz angebunden, »nicht einmal belehren will ich Sie.«

»Gehorsamsten Dank, Mylord«, sagte Harcourt und atmete sichtlich auf.

Hornblower zog ihn ans Kajütenfenster und wies ebenso nach draußen, wie es Mr. Sharpe heute morgen getan hatte. »Das Schiff dort ist die Daring«, sagte er, »früher war sie ein Kaperschiff, jetzt fährt sie unter Charter eines französischen Generals.«

Harcourts Miene verriet sein ungläubiges Staunen. »Ja, so ist das«, fuhr Hornblower fort, »und heute Abend soll sie irgendwelche Ladung nehmen, die aus dem Zollverschluß kommt. Die Ladung wird mit einem Leichter vom Zollager längsseits gebracht.«

»Jawohl, Mylord.«

»Ich interessiere mich für diese Ladung und möchte so viel wie möglich darüber wissen.«

»Jawohl, Mylord.«

»Natürlich soll nicht alle Welt wissen, daß mich das Zeug interessiert. Niemand, verstehen Sie, niemand soll unnötigerweise davon erfahren.«

»Jawohl, Mylord. Ich könnte einen Kieker nehmen und von hier aus beobachten. Wenn ich etwas Glück habe, kann ich dabei eine ganze Menge sehen.«

»Richtig. Sie würden sehen, ob die Ladung aus Ballen, Kisten oder Säcken besteht. Sie würden zählen, wie viel von jeder Sorte an Bord kommt, das angewandte Ladegeschirr würde Ihnen einen Rückschluß auf das Gewicht der einzelnen Stücke erlauben. Das alles können Sie tun.«

»Aye, aye, Mylord.«

»Schreiben Sie alles, was Sie sehen, sorgfältig auf.«

»Aye, aye, Mylord.«

Hornblower blickte seinem jugendlichen Flaggkapitän eine ganze Weile prüfend in die Augen und fragte sich, ob er auf seine Verschwiegenheit bauen konnte. Er erinnerte sich nur zu genau, mit welchem Nachdruck der Erste Seelord immer wieder betont hatte, daß angesichts der nationalen Empfindlichkeit der Amerikaner größter Takt und äußerste Zurückhaltung geboten seien. Am Ende kam er zu dem Ergebnis, daß er dem jungen Mann sein volles Vertrauen schenken durfte.

»Hören Sie genau zu, Mr. Harcourt«, sagte er, »was ich Ihnen jetzt noch zu sagen habe. Je mehr ich über diese Ladung erfahre, desto besser ist es. Aber gehen Sie mir ja nicht drauflos wie der Stier auf ein rotes Tuch. Sollte sich eine Gelegenheit bieten, herauszufinden, woraus die Ladung besteht, so packen Sie sie beim Schopf. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine solche Gelegenheit aussehen könnte, aber die Zufälle kommen immer zu dem, der auf sie wartet.«

Wie lange war es schon her, daß Barbara zu ihm gesagt hatte, das Glück falle immer dem zu, der es verdiene. »Ich bin im Bilde, Mylord.«

»Wehe Ihnen, wenn die Geschichte herauskommt. Wenn die Amerikaner oder die Franzosen Wind davon bekommen, was Sie hier treiben - dann werden Sie Ihr Leben lang bereuen, daß Sie geboren sind.«

»Jawohl, Mylord.«

»Einen jungen Draufgänger kann ich bei dieser Sache nicht brauchen. Hier hilft nur ein findiger, gerissener Kopf. Haben Sie jetzt wirklich begriffen, was ich meine, Mr. Harcourt?«

»Jawohl, Mylord.«

Endlich ließ Hornblowers durchdringender Blick den armen Harcourt los. War er nicht selbst einmal so ein junger Draufgänger gewesen? Heute hatte er mehr Verständnis als je zuvor für jene Männer in vorgerückten Jahren, die ihn damals mit irgendwelchen Unternehmungen betraut hatten. Der Vorgesetzte war einfach darauf angewiesen, seinen jungen Untergebenen volles Vertrauen zu schenken, und trug dabei doch selbst die letzte Verantwortung. Wenn Harcourt Unfug machte, wenn ihm ein unvorsichtiges Wort entschlüpfte, das einen diplomatischen Protest zur Folge hatte - gewiß, dann sollte er es bereuen, daß er geboren war, dafür wollte er, Hornblower, schon sorgen. Aber ihm selbst drohte in einem solchen Falle bestimmt das gleiche Los, auch ihm würde es leid tun, daß er geboren war. Hatte es Sinn, dem anderen, dem Jüngeren das klar zu machen? Nein.

»Mehr ist dazu nicht zu sagen, ich danke Ihnen, Mr. Harcourt.«

»Aye, aye, Sir.«

»Kommen Sie, Mr. Gerard, es ist schon reichlich spät.«

Mr. Sharpes Wagen war mit grünem Atlas gepolstert und so wunderbar gefedert, daß er zwar schwankend und taumelnd, aber ohne zu stoßen oder zu springen über die arg löcherigen Straßen rollte. Dennoch war es Hornblower nach fünf Minuten des Taumelns und Schwankens zumut, als wäre er selbst so grün wie die Wagenpolster, wozu allerdings zu bemerken wäre, daß der Wagen eine ganze Weile in der glühend heißen Maisonne gestanden hatte. Der Rue Royale, der Place d'Armes, der Kathedrale gönnte Hornblower kaum einen Blick. Sooft der Wagen hielt, atmete er auf, obwohl jeder solche Aufenthalt ein steifes Gespräch mit wildfremden Menschen bezweckte, jene Art von Geselligkeit, die ihm ein wahrer Greuel war. In den kurzen köstlichen Augenblicken zwischen dem Verlassen des Wagens und dem Durchschreiten der zu seinem Willkomm errichteten Ehrenpforten schnappte er in der feuchten Hitze gierig nach Luft. Noch nie zuvor war ihm der Gedanke gekommen, daß man eine Admiralsuniform vorteilhafterweise auch aus dünnerem Stoff als dem schweren, doppeltbreiten Uniformtuch machen könnte. Das breite rote Ordensband und den glitzernden Stern dazu hatte er auch schon viel zu oft getragen, als daß es ihm noch das geringste abgegeben hätte, sie zur Schau zu stellen. Im Stationskommando der Marine bekam er einen ausgezeichneten Madeira, der General bewirtete ihn mit einem schweren Marsala, und in der Villa des Gouverneurs wurde ihm ein Drink serviert, der so erstaunlich tief gekühlt war, daß sich auf dem hohen Glas eine richtige Frostschicht gebildet hatte. (Das Eis dazu kam wahrscheinlich im Winter von Neu-England und wurde in Eiskellern aufbewahrt, bis es um die Mittsommerzeit mit Gold aufgewogen wurde.) Der wunderbar kalte Inhalt des Glases rann ihm allzu rasch durch die Kehle und wurde ebenso rasch wieder nachgefüllt. Plötzlich riß er sich zusammen, weil er merkte, daß er in irgendeiner belanglosen Frage seinen Standpunkt etwas zu laut und dogmatisch vertrat.

Er war froh, daß er Gerards Blick erhaschte und zusammen mit ihm einen leidlich würdevollen Rückzug zuwege brachte. Er war auch froh, daß Gerard seinen kühlen Kopf bewahrt zu haben schien und einen völlig nüchternen Eindruck machte. Gerard hatte die Tasche mit den Visitenkarten in seiner Obhut und legte jeweils die erforderliche Anzahl Karten auf die silbernen Tabletts, die ihm die dunkelhäutigen Haushofmeister entgegenhielten. Als sie endlich vor Sharpes Haus anlangten, war Hornblower ehrlich froh, wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen - bekannt, obwohl ihm auch dieses Gesicht am Morgen des heutigen Tages zum erstenmal begegnet war.

»Die Gäste werden erst in einer Stunde erwartet, Mylord«, sagte Sharpe. »Haben Eure Lordschaft das Bedürfnis, sich noch ein wenig auszuruhen? »Ja, das wäre mir sehr willkommen.«

In Mr. Sharpes Haus gab es eine vielbewunderte Einrichtung, ein sogenanntes ›Douchebad‹ . - Hornblower kannte nur die französische Bezeichnung dafür. Der Apparat befand sich in einer Ecke des Badezimmers, deren Decke und Boden aus besonders ausgesuchtem Teakholz bestand. Von der Decke herab hing eine unten geschlossene und mit Löchern durchsiebte Glocke aus Zinn mit einer langen Messingkette. Als Hornblower unter diesem Apparat stand und an der Kette zog, stürzte eine Sintflut köstlich kühlen Wassers aus irgendeinem unsichtbaren, darüber gelegenen Behälter auf ihn herab. Das war ebenso schön und erfrischend wie draußen auf See seine geliebte und gewohnte Deckwaschpumpe, nur daß man hier überdies Frischwasser zur Verfügung hatte. Bei Hornblowers augenblicklichem Zustand und nach den Erlebnissen dieses langen Tages empfand er das Bad als eine doppelte Wohltat. Er stand lange Zeit unter dem strömenden Regen und wurde von Sekunde zu Sekunde munterer. Wenn er eines Tages wieder zu Hause in Smallbridge war, wollte er dort bestimmt die gleiche Einrichtung einbauen lassen.

Ein farbiger Diener in Livree stand mit Handtüchern bereit, damit er sich durch das Abtrocknen nicht neuerlich zu erhitzen brauchte. Während ihn der Neger noch abtupfte, kündete ihm ein Klopfen an der Tür Gerards Kommen.

»Ich habe ein frisches Hemd für Sie von Bord holen lassen, Sir.«

Dieser Gerard dachte wirklich an alles. Hornblower fuhr dankbar in das reine Hemd, dann legte er mit Widerwillen die enge Halsbinde an und schlüpfte wieder in den schweren Uniformrock. Zuletzt hängte er sich noch das rote Ordensband um, nestelte den Stern zurecht und war nun wieder für alle kommenden Ereignisse gerüstet. Schon dämmerte der Abend, aber die Dunkelheit brachte keine Erlösung von der Hitze des Tages. Der Salon im Hause Mr. Sharpes war jetzt vielmehr hell mit Wachskerzen erleuchtet, die eine solche Hitze ausstrahlten, daß man sich in der Tat im Inneren eines Ofens wähnen konnte.

Sharpe erwartete ihn, er trug jetzt einen schwarzen Rock mit einem weißen gefältelten Hemd und sah darin noch dicker und massiger aus, als er ohnedies war. Mrs. Sharpe rauschte ganz in Türkisblau herein und hatte fast den gleichen Leibesumfang wie ihr Mann. Als dieser ihr Hornblower vorstellte, antwortete sie auf seine Verbeugung mit einem tiefen Knicks und hieß ihn dann in einem Französisch bei sich willkommen, dessen weicher Klang seinem Ohr wohltat.

»Eine kleine Erfrischung, Mylord?« erkundigte sich Sharpe.

»Danke, Sir, jetzt nicht«, wehrte Hornblower hastig ab. »Wir erwarten achtundzwanzig Gäste, Eure Lordschaft und Mr. Gerard nicht mitgerechnet. Einige von ihnen haben Eure Lordschaft bei Ihren offiziellen Besuchen bereits kennen gelernt. Außer diesen erscheinen noch…« Hornblower gab sich Mühe, die Namen, jeden mit dem dazugehörigen Etikett versehen, im Kopf zu behalten. Gerard kam herein, setzte sich etwas abseits und hörte ebenfalls eifrig zu.

»Natürlich kommt auch Cambronne«, sagte Sharpe. »Was Sie nicht sagen!«

»Ja, ich könnte kaum eine so große Gesellschaft geben ohne den nach Eurer Lordschaft gewiß vornehmsten Gast unserer Stadt einzuladen.«

»Da haben Sie allerdings recht«, gab Hornblower zu. Sechs Jahre Frieden hatten es noch kaum vermocht, mit den Vorurteilen aufzuräumen, die sich während der zwanzig Kriegsjahre in die Gemüter eingefressen hatten. Eine freundschaftliche Begegnung mit einem französischen General war für einen Engländer immer noch eine ausgefallene Vorstellung, insbesondere, wenn dieser General der Befehlshaber der Kaiserlichen Garde gewesen war. Man konnte sich schon im voraus denken, wie steif da die Unterhaltung verlaufen mußte, sintemalen Bonaparte in St. Helena hinter Schloß und Riegel saß und darüber bittere Klagen führte.

»Der französische Generalkonsul wird ihn begleiten«, sagte Sharpe.

»Es erscheinen ferner: Der holländische Generalkonsul, der schwedische...«

Die Liste wollte kein Ende nehmen. Sie waren eben erst damit fertig geworden, als auch schon die ersten Gäste angekündigt wurden: Gewichtige Bürger mit ihren gewichtigen Frauen, die See- und Armeeoffiziere, die sie schon kennen gelernt hatten, mit ihren Damen, die Herren der Diplomatie. Bald wimmelte es in dem riesigen Salon von Menschen; wohin man blickte, verbeugten sich die Herren, knicksten die Damen. Hornblower richtete sich eben von einer Verbeugung auf, als Sharpe wieder neben ihn trat. »Ich habe die Ehre, zwei berühmte Soldaten miteinander bekannt zumachen«, sagte er auf französisch. »Son Excellence Contre-Admiral Lord Hornblower, Chevalier de l'Ordre militaire du Bain - Son Excellence le Lieutenant-General Comte de Cambronne, Grand Cordon de la Legion d'Honneur.«

Hornblower war selbst in diesem aufregenden Moment von der gewandten Art beeindruckt, in der Sharpe dem dornigen Problem aus dem Wege ging, wer von den beiden dem anderen zuerst vorzustellen war, der französische General und Graf, oder der englische Admiral und Peer. Cambronne war lang wie eine Bohnenstange, über seine Raubvogelnase und die eine seiner hageren Wangen lief eine purpurrote Narbe - vielleicht die Wunde, die er bei Waterloo empfangen hatte, vielleicht eine Erinnerung an Austerlitz oder Jena oder eine andere von den vielen Schlachten, durch die das französische Heer ganze Nationen zu Boden geschlagen hatte. Er trug eine blaue, reich mit Gold bestickte Uniform mit dem roten Moireband der Ehrenlegion und einem riesigen Ordensstern auf der linken Brust.

»Ich bin hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir«, sagte Hornblower in seinem besten Französisch. »Ihre Freude über unsere Begegnung kann nicht größer sein als die meine, Mylord«, antwortete ihm Cambronne. Er hatte kalte, graugrüne, unablässig zwinkernde Augen, seine Oberlippe zierte ein grauer Katerschnurrbart. »Madame la Baronne de Vautour«, stellte Sharpe vor, »Monsieur le Baron de Vautour, Generalkonsul Seiner Allerchristlichsten Majestät.«

Hornblower verbeugte sich und versicherte wieder, daß er hocherfreut sei. Seine Allerchristlichste Majestät war Ludwig XVIII. von Frankreich. Er hatte sich kurzerhand einen päpstlichen Titel zugelegt, der seinem Haus Jahrhunderte zuvor verliehen worden war.

»Der Graf liebt boshafte Scherze«, bemerkte Vautour und zeigte dabei auf Cambronnes Ordensstern, »er trägt den Großen Adler, der ihm unter der letzten Regierung verliehen wurde, obwohl der ›Grand Cordon‹ als Ersatz dafür eingeführt wurde, was unser Gastgeber sehr richtig zum Ausdruck brachte.«

Vautour wies dabei auf seinen eigenen, wesentlich bescheideneren Stern. Der Orden Cambronnes zeigte einen gewaltigen goldenen Adler, das Wappentier des gestürzten französischen Kaisertums.

»Ich habe mir diesen Adler auf dem Feld der Ehre verdient«, sagte Cambronne bissig.

»Don Alphonso de Versage«, sagte Sharpe, »Generalkonsul Seiner Allerkatholischsten Majestät.« Das war also der Vertreter Spaniens. Es wäre vielleicht von Nutzen gewesen, ein paar Worte über die bevorstehende Abtretung Floridas mit ihm zu wechseln, aber Hornblower hatte noch kaum Zeit gefunden, die von der Etikette vorgeschriebenen Höflichkeitsfloskeln mit ihm auszutauschen, als ihm schon die nächsten Gäste vorgestellt wurden. So verging eine ganze Weile, bis Hornblower endlich eine Atempause fand und einen Blick auf die prächtige Szene werfen konnte, die sich um ihn her im warmen Licht der vielen Kerzen entrollte. Überall sah man bunte Uniformen und Röcke aus feinstem Tuch und dazu die nackten Arme und Schultern juwelengeschmückter Damen in ihren kostbaren bunten Abendkleidern. Mitten durch dieses Gedränge bewegten sich gewandt und unauffällig die beiden Sharpes, um die Gäste nach Rang und Würden zu ordnen. Nach der Ankunft des Gouverneurs und seiner Gattin wurde feierlich verkündet, daß das Dinner serviert sei. Der Speisesaal war mindestens ebenso groß wie der Salon, die Tafel mit ihren zweiunddreißig Gedecken fand bequem darin Platz und ließ ringsum noch so viel Raum, daß sich die zahlreiche Dienerschaft frei bewegen konnte. Die Beleuchtung war hier etwas gedämpfter als im Salon, aber das flackernde Licht der Kerzen spiegelte sich eindrucksvoll in dem schweren Silber, das in Mengen die lange Tafel schmückte. Hornblower saß zwischen der Gattin des Gouverneurs und Mrs. Sharpe und ermahnte sich, ja gut bei der Sache zu sein und vor allem auf seine Tischsitten zu achten. Daß er seine Gedanken beisammenhielt war schon deshalb so wichtig, weil er nach der einen Seite auf französisch, nach der anderen auf englisch zu konversieren hatte. Angesichts dieser Anforderungen an seinen klaren Kopf warf er einen etwas unsicheren Blick auf die sechs verschiedenen Weingläser, die vor jedem Gedeck aufgebaut waren, und deren erstes soeben mit Sherry gefüllt wurde. Drüben saß Cambronne zwischen zwei hübschen Mädchen und machte offenbar beiden mächtig den Hof. Es sah nicht so aus, als ob ihn irgendeine Sorge bedrückte, und wenn er sich wirklich mit dem Gedanken trug, einen Freibeuterzug zu unternehmen, dann lag ihm sein Plan gewiß nicht schwer auf der Seele.

Ein dampfender Teller dicker Schildkrötensuppe mit grünlichen Fettstückchen darin eröffnete die Speisenfolge. Das Dinner wurde nach europäischer Festlandsmanier serviert, die seit Waterloo auch in England immer mehr Anhänger fand. Da gab es kein Durcheinander von Schüsseln und Platten, die einfach auf den Tisch gesetzt wurden, damit sich die Gäste selbst daraus bedienten. Er löffelte vorsichtig seine heiße Suppe und bemühte sich zugleich um ein leichtes, unverbindliches Geplauder mit seinen beiden Damen. Gang folgte auf Gang, und er sah sich in dem heißen Raum nur zu bald vor die knifflige Frage gestellt, welche von zwei verschiedenen Verhaltensweisen weniger unfein war: Den Schweiß mit dem Taschentuch abzutrocknen oder ihn unangefochten und für alle sichtbar über Stirn und Wangen herunter perlen zu lassen. Da ihm das Letztere bald zu lästig wurde, entschied er sich am Ende doch für den verstohlenen Gebrauch seines Taschentuchs. Jetzt blickte Sharpe unmerklich nickend zu ihm herüber. Das hieß, daß er sich erheben und seine wirren Gedanken ordnen mußte, während der Lärm der Unterhaltung langsam verebbte. Er hob sein Glas.

»Ich gedenke des Präsidenten der Vereinigten Staaten«, begann er und wäre um ein Haar gedankenlos fortgefahren: ›Möge er lange und segensreich regieren‹, aber er fing sich im letzten Augenblick mit einem sichtbaren Ruck und sagte statt dessen: »Möge sich die große Nation, deren Präsident er ist, einer langen, ungetrübten Blüte erfreuen und immerdar jene Freundschaft aller anderen Nationen genießen, die in unserer heutigen Zusammenkunft ihren Ausdruck findet.«

Der Trinkspruch fand allgemeinen Beifall, niemand verlor ein Wort darüber, daß auf dem halben Kontinent Spanier und Hispano-Amerikaner einander haßerfüllt nach dem Leben trachteten. Hornblower setzte sich und trocknete abermals den Schweiß von der Stirn. Jetzt erhob sich Cambronne:

»Es lebe Seine Britische Majestät Georg IV., König von Großbritannien und Irland!«

Alles nippte an den Gläsern, und dann war Hornblower erneut an der Reihe, wie ihm Sharpes Blick eindeutig verriet. Er erhob sich mit dem Glas in der Hand und begann eine lange Litanei herunterzubeten:

»Es lebe Seine Allerchristlichste Majestät, Seine Allerkatholischste Majestät und Seine allergläubigste Majestät!«

Das betraf die Könige von Frankreich, Spanien und Portugal.

»Es lebe Seine Majestät der König der Niederlande...« Er hätte sich ums Sterben nicht daran erinnern können, wer als nächster an der Reihe war, aber Gerard erhaschte seinen verzweifelten Blick und stieß unmißverständlich mit dem Daumen nach oben.

»... Seine Majestät der König von Schweden« - Hornblower mußte schlucken - »und Seine Majestät der König von Preußen.«

Gerards befriedigtes Nicken sagte ihm, daß er nun alle vertretenen Nationen erwähnt hatte, also brauchte er seinem konfusen Kopf nur noch einen passenden Schlußsatz abzuringen:

»Möge Ihren Majestäten eine lange ruhm- und ehrenvolle Regierung beschieden sein!«

Gott sei Dank, das war überstanden, er durfte sich wieder setzen. Aber schon war der Gouverneur als nächster auf den Beinen und begann in wohlgesetzten rhetorischen Wendungen zu sprechen. Hornblower war in seinem benebelten Zustand eben noch in der Lage zu erfassen, daß jetzt auf sein eigenes Wohl getrunken wurde. Er spürte, wie ihn von allen Seiten gespannte Blicke trafen, als der Gouverneur auf die Verteidigung der Stadt New Orleans gegen jene ›irregeleiteten Horden‹ anspielte, die vergeblich versucht hätten, sich ihrer zu bemächtigen. Möglich, daß sich diese Anspielung nicht vermeiden ließ, obwohl seit jener Schlacht schon über sechs Jahre ins Land gegangen waren. Hornblower nahm jedenfalls die bösen Worte gelassen hin und zwang sich sogar zu einem dünnen Lächeln. Endlich kam der Gouverneur zum Schluß seiner Rede. »Ich trinke auf Seine Lordschaft Admiral Hornblower und mit ihm auf die ganze britische Marine.«

Als das Beifallsgemurmel der Tafelrunde langsam erstarb, stemmte sich Hornblower abermals hoch. »Ich danke Ihnen für diese unerwartete Ehrung«, begann er und suchte verlegen schluckend nach einer passenden Fortsetzung. »Daß Sie meinen Namen in Verbindung mit dem jener ruhmreichen Marine nannten, in deren Dienst zu stehen ich so lange Jahre die Ehre hatte, verpflichtet mich zu ganz besonderem Dank.«

Als er sich wieder gesetzt hatte, erhoben sich sämtliche Damen, und er mußte von neuem stehen, bis sie sich zurückgezogen hatten. Die ausgezeichnet geschulten Diener hatten die Tafel im Nu abgeräumt, die Herren rückten an einem Ende des Tisches zusammen und reichten die Kristallkaraffe von Hand zu Hand. Als die Gläser gefüllt waren, zog Sharpe einen der anwesenden Kaufleute mit einer Frage über die Baumwollernte ins Gespräch. Das war ein unverfängliches Thema, von dem man überdies leicht auf das weit gefährlichere Gebiet der internationalen Lage abschweifen konnte. Kaum waren jedoch fünf Minuten im Zuge, als ein Butler herbeigeeilt kam und Sharpe etwas ins Ohr flüsterte, worauf dieser die eben gehörte Neuigkeit sofort an den französischen Generalkonsul weitergab. Vautour erhob sich sogleich mit besorgter Miene von seinem Platz.

»Entschuldigen Sie mich bitte, meine Herren«, sagte er. »Ich bedaure unendlich, daß ich Sie so plötzlich verlassen muß.«

»Wir bedauern gewiß noch mehr, daß wir Ihre Gesellschaft missen müssen, Baron«, sagte Sharpe. »Hoffentlich handelt es sich um nichts Ernstes.«

»Das nehme ich auf keinen Fall an«, sagte Vautour. »Die Baronin ist etwas indisponiert«, erklärte Sharpe den Anwesenden. »Sicherlich hegen Sie alle gleich mir die Hoffnung, die ich eben zum Ausdruck brachte, daß es sich um eine harmlose Sache handelt, und sicherlich bedauern Sie ebenso wie ich, daß uns dieses Mißgeschick der bezaubernden Gesellschaft des Barons beraubt.« Alle drückten murmelnd ihr Mitgefühl aus, und Vautour wandte sich an Cambronne: »Soll ich Ihnen den Wagen zurückschicken, Monsieur le Comte?« fragte er. Cambronne zupfte an seinem Katerschnurrbart.

»Vielleicht ist es besser, ich schließe mich Ihnen gleich an«, meinte er, »so schwer es mir fällt, diese angenehme Gesellschaft zu verlassen.«

Die beiden Franzosen rüsteten sich unter vielen höflichen Abschiedsworten zum Aufbrach.

»Es war mir eine besondere Freude, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte Cambronne zu Hornblower mit einer Verbeugung, die durch seinen zwinkernden Blick etwas von ihrer steifen Förmlichkeit verlor. »Die persönliche Begegnung mit einem der größten Soldaten des ehemaligen Kaiserreichs ist für mich ein unvergeßliches Erlebnis«, versicherte ihm Hornblower. Sharpe geleitete die beiden aus dem Saal und drückte ihnen dabei nochmals in überschwenglichen Worten sein Bedauern aus. Als er wiederkam, forderte er die Zurückgebliebenen auf: »Bitte schenken Sie sich doch ein, meine Herren!«

Hornblower schätzte nichts weniger, als in einem überhitzten, von Feuchtigkeit geschwängerten Raum große Gläser Portwein trinken zu müssen. Obwohl er jetzt endlich Gelegenheit fand, mit dem spanischen Generalkonsul über die Floridafrage zu sprechen, war er doch herzlich froh, als Sharpe den Anwesenden vorschlug, sich wieder zu den Damen zu begeben. In einem Nebenraum, aber so, daß es im Salon noch zu hören war, spielte ein Streichorchester. Glücklicherweise klang das Spiel so gedämpft herüber, daß es Hornblower nicht so auf die Nerven ging, wie das im allgemeinen der Fall war, wenn er mit seinen tontauben Ohren Musik anhören mußte. Er fand neben einer der beiden hübschen jungen Damen Platz, die bei Tisch zu beiden Seiten Cambronnes gesessen hatten. Auf ihre Fragen mußte er gestehen, daß er an diesem ersten Tag seines Aufenthalts in New Orleans noch so gut wie nichts von der Stadt gesehen hatte. Sein Eingeständnis führte zu einem zwanglosen Gespräch über diesen und jenen Ort, den er kannte. Zwei Tassen Kaffee, serviert von einem Diener, der im Salon die Runde machte, verschafften ihm wieder einen klaren Kopf, die junge Dame war sichtlich interessiert, sie verstand sich gut aufs Zuhören und nickte voll ehrlicher Anteilnahme, als sie im Lauf der Unterhaltung erfuhr, daß Hornblower seine Frau und seinen zehnjährigen Sohn in England zurückgelassen hatte, um dem Ruf der Pflicht zu folgen.

Die Stunden vergingen, das Fest nahm seinen weiteren Verlauf. Endlich erhoben sich der Gouverneur und seine Gattin und gaben damit das Zeichen zum Aufbruch. Die letzten Minuten, während die Kutschen eine nach der anderen gemeldet wurden, schleppte sich die Unterhaltung müde dahin, aber endlich hatte Sharpe auch die letzten Gäste zum Tor geleitet und kehrte nun in den Salon zurück.

»Ein gelungener Abend«, sagte er. »Eure Lordschaft haben gewiß den gleichen Eindruck gewonnen.« Dann fuhr er, zu seiner Frau gewandt, fort. »Bitte vergiß doch nicht, Grover wegen der Omelette soufflee unser Mißfallen auszusprechen.«

Mrs. Sharpe fand keine Zeit zu einer Antwort, weil der Butler hereingeeilt kam und seinem Herrn abermals eine Nachricht zuflüsterte.

»Ich bitte Eure Lordschaft, mich einen Augenblick zu entschuldigen«, sagte Sharpe. Er machte einen bestürzten Eindruck, hastete in größter Eile davon und überließ es Hornblower und Gerard, der Hausfrau in wohlgesetzten Worten für den schönen Abend zu danken. »Cambronne ist uns durch die Lappen gegangen!« rief Sharpe, als er mit raschen, watschelnden Schritten wieder zurückkam. »Die Daring hat vor drei Stunden von ihrer Mooring losgeworfen! Cambronne muß von hier aus unmittelbar an Bord gegangen sein.«

Zu seiner Frau gewandt fragte er: »War denn die Baronin wirklich krank?«

»Sie schien sich jedenfalls nicht wohl zu fühlen«, gab Mrs. Sharpe zur Antwort.

»Das Ganze war nur Theater«, sagte Sharpe, »sie spielte dir etwas vor. Cambronne hatte die Vautours nur dazu angestiftet, um sich einen unauffälligen Abgang zu verschaffen.«

»Und was wird er Ihrer Meinung nach unternehmen?« fragte Hornblower.

»Weiß der Himmel. Ich nehme an, daß ihn die unerwartete Ankunft eines englischen Kriegsschiffs aus der Fassung brachte.

Wenn er sich daraufhin heimlich davonmachte, so heißt das doch, daß er nichts Gutes im Sinn hat. Wo wird er seine Kaiserliche Garde an Bord nehmen? In San Domingo? - In Cartagena?«

»Ich will auf jeden Fall hinter ihm her«, sagte Hornblower und stand im nächsten Augenblick auf den Beinen. »Sie werden ihn nicht so leicht einholen«, meinte Sharpe. Seine Erregung verriet sich darin, daß er statt des förmlichen ›Eure Lordschaft‹ schlicht und einfach ›Sie‹ sagte. »Er hat zwei Schlepper genommen, die Lightning und die Star, bei der guten Befeuerung des Stroms mit den neuen Leuchttürmen könnte ihn nicht einmal ein galoppierendes Pferd einholen, ehe er die Mündung erreicht. Bei Tagesanbruch ist er schon ein ganzes Stück draußen in See. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich heute nacht noch einen Schlepper für Sie auftreibe, Mylord.«

»Ich will dennoch sofort die Verfolgung aufnehmen«, sagte Hornblower.

»Ich habe den Wagen vorfahren lassen, Mylord«, sagte Sharpe. »Verzeih uns, meine Liebe, daß wir dich so formlos verlassen.«

Die drei Männer verneigten sich in aller Eile vor Mrs. Sharpe, der Butler hielt schon ihre Hüte bereit, der Wagen stand vor der Tür, und sie nahmen unverzüglich darin Platz.

»Cambronnes vom Zoll verwahrte Ladung kam bei Dunkelwerden an Bord«, sagte Sharpe. »Mein Mann erwartet mich auf Ihrem Schiff mit seinem Bericht.«

»Das dürfte uns helfen, die richtige Entscheidung zu treffen«, bemerkte Hornblower.

Der Wagen schwankte gefährlich durch die stockdunklen Straßen.

»Darf ich mir einen Hinweis erlauben, Mylord?« fragte Gerard.

»Ja, und der wäre?«

»Was Cambronne auch im Schilde führt, Mylord, Vautour wirkt dabei mit. Und Vautour steht im Dienst der französischen Regierung.«

»Sie haben recht«, stimmte ihm Sharpe nachdenklich bei, »die Bourbonen möchten überall die Hand im Spiele haben und benutzen jede Gelegenheit, sich in Szene zu setzen. Man möchte fast meinen, wir hätten nicht Boney, sondern sie bei Waterloo geschlagen.«

Das Hufgeklapper hörte sich plötzlich anders an, als der Wagen die Pier erreichte. Sie hielten. Sharpe hatte den Schlag aufgerissen, ehe der Diener vom Bock springen konnte, aber bis die drei Männer herausgeklettert waren, stand er mit dem Hut in der Hand an der Klinke, der Schein der Kutschlaternen fiel auf sein dunkles Negergesicht. »Warten!« befahl ihm Sharpe in barschem Ton. Sie rannten fast im Laufschritt die Pier entlang, dorthin, wo ihnen der Schimmer einer Lampe die Stelling der Crab verriet. Die zwei Mann der Ankerwache erwiesen ihnen im Dunkel ihre Ehrenbezeugung, als sie eiligen Schrittes an Bord anlangten.

»Mr. Harcourt«, rief Hornblower, kaum daß sein Fuß das Deck betreten hatte - für Zeremoniell war jetzt keine Zeit. Auf dem Achterdeck brannte Licht, und Harcourt hielt sich dort auf.

»Hier, Mylord!«

Hornblower eilte geradewegs in die Kajüte. Am Deckbalken hing eine brennende Laterne, und Gerard brachte gleich darauf eine zweite herein. »Was haben Sie mir zu melden, Mr. Harcourt?«

»Die Daring ging um fünf Glasen auf der Abendwache in See, Mylord«, sagte Harcourt. »Sie war im Tau von zwei Schleppern.«

»Weiß ich. Was gab es sonst?«

»Der Leichter mit der Ladung kam während der Wache von sechs bis acht Uhr längsseit, kurz nach Dunkelwerden, Mylord.«

Während er sprach, hatte ein kleiner, dunkelhäutiger Mann die Kajüte betreten und hielt sich bescheiden im Hintergrund.

»Und?«

»Dieser Herr, Mylord, den Mr. Sharpe gesandt hatte, achtete mit mir darauf, was alles an Bord kam.«

»Was war es denn?«

»Ich zählte die Hieven, die sie übernahmen, Mylord. Sie hatten Lampen am Kreuzstag aufgehängt, so daß man alles sehen konnte.«

»Schön, weiter!«

Harcourt hatte einen Zettel in der Hand und machte sich daran, abzulesen: »Da waren zunächst fünfundzwanzig Holzkisten, Mylord«, fuhr Harcourt fort und kam damit noch einem ungeduldigen Zwischenruf Hornblowers zuvor. »Ich erkannte diese Kisten sofort wieder, es waren jene, die gewöhnlich zur Verschickung von Musketen benutzt werden.

Jede Kiste faßt vierundzwanzig Stell Handwaffen.«

»Macht zusammen sechshundert Musketen und Bajonette«, warf Gerard, der Schnellrechner, ein. »Ganz wie ich erwartet hatte«, bemerkte Sharpe. »Weiter, was war sonst noch dabei?« fragte Hornblower. »Dann kamen zwölf große Ballen, Mylord.

Sie waren von ovaler Form. Ihnen folgten zwanzig weitere Ballen, die länger und dünner waren.«

»Konnten Sie nicht feststellen...?«

»Wollen Mylord die Meldung des Mannes hören, den ich dazu losgeschickt hatte?«

»Schön, lassen Sie ihn kommen.«

»Kommen Sie, Jones!« rief Harcourt den Niedergang hinauf und wandte sich dann wieder an Hornblower: »Jones ist ein guter Schwimmer, Mylord. Ich habe ihn und einen zweiten Mann mit dem Dingi weggeschickt, und Jones schwamm dann zum Leichter. So, Jones, nun erzählen Sie Seiner Lordschaft, was Sie herausgefunden haben.«

Jones war ein hagerer, alles andere als kräftiger junger Mann, er blinzelte geblendet ins Licht, als er hereinkam, und fühlte sich unter all den vornehmen Herren offenbar recht unbehaglich.

Sobald er den Mund auftat, verriet sein Dialekt, daß er aus dem Londoner Stadtviertel Seven Dials stammte.

»Das in den großen Ballen waren alles Uniformen, Sir.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin an den Leichter herangeschwommen, Sir, und habe über die Seite gelangt. Da habe ich gefühlt, was drin war.«

»Hat Sie jemand gesehen?« Die Frage kam von Sharpe.

»Nein, Sir, kein Mensch hat mich gesehen. Sie waren alle dabei und hievten die Kisten über. Das in den Ballen waren, wie gesagt, Uniformen. Die Knöpfe waren durch den Rupfen gut zu fühlen. Keine flachen Knöpfe, Sir, so wie die Ihren, Sir. Sie waren kugelrund, Sir, ganze Reihen davon auf jedem Rock. Mir war, als ob ich auch Stickereien fühlen könnte, kann sein, daß es goldene Litzen waren, Sir. Das waren ganz bestimmt Uniformen, Sir, da gibt es für mich keinen Zweifel.«

In diesem Augenblick kam der Dunkelhäutige ein paar Schritte näher. Er trug ein aufgeweichtes schwarzes Etwas in der Hand, das man auf den ersten Blick für eine ertrunkene Katze halten konnte. Jones deutete auf dieses Ding und fuhr dann fort:

»Ich konnte um die Welt nicht herauskriegen, was in den anderen Ballen war, ich meine in den langen, Sir. Da holte ich mein Messer heraus »Und dabei hat Sie bestimmt niemand gesehen?«

»Nein, mich hat bestimmt keiner gesehen, Sir. Ich hole, wie gesagt, mein Messer heraus und trenne an einem Ende die Naht auf. Wenn sie das sehen, Sir, dann denken sie bestimmt, daß es auf dem Transport passiert sein muß. Ich lange mir das oberste Stück aus dem Sack heraus und schwimme damit wieder zu unserem Dingi zurück. Hier ist das Ding, Sir.«

Der Dunkelhäutige hielt es so, daß es alle sehen konnten, aber Hornblower nahm ihm das vollgesogene, schwarze, haarige Etwas sogleich wißbegierig aus der Hand. Als er es in den Fingern drehte, fühlte er unter den Haaren Metall. »Ein Adler, Sir«, bemerkte Jones.

Richtig, da war eine Messingkette und darüber ein großes Abzeichen, ebenfalls aus Messing, das gleiche, wie es am Abend Cambronne an der Brust trug. Was er hier in der Hand hielt, war eine richtige Bärenmütze der Kaiserlichen Garde, durchnäßt zwar von dem eben überstandenen Bad, aber in der vollen Pracht ihrer messingenen Zierate. »Solche Mützen trug doch die französische Garde, nicht wahr, Mylord«, fragte Gerard. »Ja«, sagte Hornblower.

Er hatte oft genug Drucke gesehen, die den letzten Widerstand der Garde bei Waterloo darstellten. Außerdem sah man in letzter Zeit auch bei der britischen Garde Bärenmützen, die dieser, die er in den Händen hielt, ganz ähnlich sahen. Sie waren ihr dafür verliehen worden, daß sie auf dem Höhepunkt der Schlacht die Kaiserliche Garde in die Flucht geschlagen hatte.

»Damit hätten wir eigentlich alles erfahren, was wir wissen müssen«, sagte Sharpe.

»Ich muß ihm unbedingt nach«, stieß Hornblower hervor.

»Mr. Harcourt! Alle Mann auf, klar zum Manöver!«

»Aye, aye, Mylord.« Nach dieser automatischen Antwort auf Hornblowers Befehl tat Harcourt noch einmal den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Laut hervor, »Ach, richtig«, erinnerte sich Hornblower und fühlte zugleich, wie sich der bittere Kelch seines Elends bis zum Rande füllte, »ich habe Ihnen ja gesagt, ich brauchte die Besatzung nicht vor dem Morgen.«

»Jawohl, Mylord. Aber die Leute werden nicht weit sein. Ich schicke die Wache am Hafen entlang und lasse sie suchen. In einer Stunde habe ich sie alle an Bord.«

»Danke, Mr. Harcourt, tun Sie, was Sie können. Mr. Sharpe, wir müssen uns bis zum Paß schleppen lassen. Wollen Sie bitte veranlassen, daß wir so bald wie möglich einen Schlepper bekommen.«

Sharpe warf einen fragenden Blick auf den dunkelhäutigen Mann, der die Bärenfellmütze gebracht hatte. »Ich bezweifle sehr, ob vor der Mittagszeit einer aufzutreiben ist«, meinte der Dunkelhäutige. »Die Daring nahm gleich zwei - und ich weiß jetzt auch, warum. Die Präsident Madison liegt in der Werft.

Die Toueur ist mit Binnenschiffen stromauf nach Baton Rouge unterwegs. Die Ecrevisse, die dieses Schiff heraufgebracht hat, ist am Nachmittag wieder stromab gefahren. Wenn ich mich nicht irre, ist die Temeraire von der Mündung hierher unterwegs. Vielleicht bringen wir sie dazu, daß sie gleich nach ihrer Ankunft wieder kehrtmacht. Andere als diese Schlepper gibt es nicht.«

»Erst um die Mittagszeit«, sagte Hornblower, »das bedeutet dreizehn Stunden Vorsprung. Die Daring ist schon in See, wenn wir hier endlich loswerfen können.«

»Dabei ist sie auch noch eines der schnellsten Schiffe, die je gebaut wurden«, sagte Sharpe. »Als sie während des Krieges von der Tenedos gejagt wurde, lief sie nach dem Log fünfzehn Meilen.«

»Wie heißt der mexikanische Hafen, wo sie die Soldaten an Bord nehmen soll?«

»Corpus Christi, ein kleines Nest an einer Lagune, Mylord.

Fünfhundert Meilen und rauher Wind.« Hornblower malte sich aus, wie die Daring mit ihren herrlichen Linien und ihrer gewaltigen Segelfläche vor dem Nordostpassat nur so dahinflog.

Die kleine Crab, in deren Kajüte er stand, war nicht für schnelle Überseereisen bestimmt. Sie war klein und handig gebaut und getakelt, um bei ihren polizeilichen Aufgaben im Westindischen Archipel jeden unbekannten Schlupfwinkel sicher befahren zu können. Auf der raumen Strecke nach Corpus Christi gewann also die Daring bestimmt noch mehrere Stunden, vielleicht sogar einen Tag und mehr zusätzlich zu den dreizehn Stunden Vorsprung, deren sie sich ohnehin schon erfreute. Wie lange konnte es schon dauern, fünfhundert disziplinierte Soldaten, sei es an der Pier, sei es mit Leichtern, an Bord zu nehmen? Und dann ging sie natürlich gleich wieder in See. Aber wohin?

Hornblower schwirrte der Kopf, wenn er sich die unvorstellbar verworrene politische Lage in all den Ländern vor Augen führte, die von Corpus Christi aus leicht zu erreichen waren. Erriet er, was Cambronne im Schild führte, dann bestand immerhin die Möglichkeit, die Daring vor ihrer Ankunft am eigentlichen Gefahrenpunkt abzufangen, begnügte er sich dagegen damit, sie nach Corpus Christi zu verfolgen, dann langte er mit aller Bestimmtheit erst dort an, wenn sie samt ihren Soldaten längst wieder ausgelaufen und in der weglosen Weite der See verschwunden war, um wer weiß wo wieder aufzutauchen und Unheil anzuzetteln. »Die Daring ist ein amerikanisches Schiff, Mylord«, sagte Sharpe und machte Hornblower damit das Herz noch schwerer, als es ohnedies schon war.

Das war nämlich ein wichtiger, ein sehr wichtiger Umstand.

Die Daring segelte dem Augenschein nach in durchaus rechtmäßigem Auftrag und führte das Sternenbanner als Flagge.

Hornblower konnte sich keinen Grund oder Vorwand denken, der ihn berechtigt hätte, sie zur Untersuchung in einen Hafen zu beordern. Abgesehen davon hatte man ihn in England mit besonderem Nachdruck darüber belehrt, wie die amerikanische Flagge zu behandeln sei. Erst neun Jahre zuvor hatte Amerika wegen des Verhaltens der Royal Navy gegen amerikanische Kauffahrer der größten Seemacht der Welt tollkühn den Krieg erklärt. »Die Daring ist schwer bewaffnet und hat eine Unzahl Menschen an Bord, Mylord«, sagte Gerard. Das war ein zweiter, sehr wichtiger Umstand und noch dazu einer, an dem nicht zu deuteln war. Mit ihren Zwölfpfündern und ihren fünfhundert ausgebildeten Soldaten, ganz abgesehen von der starken amerikanischen Besatzung, konnte sie sich über jede Drohung der Crab mit ihren paar Sechspfündern und ihren ganzen sechzehn Mann lachend hinwegsetzen. Die Daring war durchaus im Recht, wenn sie Signalen der Crab den Gehorsam verweigerte, und die Crab besaß keine Möglichkeit, sich Achtung zu verschaffen. Sollte sie dem anderen Schiff etwa eine Spiere wegschießen?

Das war mit einem Sechspfünder alles andere als einfach, und selbst wenn dabei niemand zu Schaden kam, gab es sofort einen schrecklichen diplomatischen Wirbel, weil er auf das geheiligte Sternenbanner geschossen hatte. Konnte er sie etwa so beschatten, daß er wenigstens zur Hand war, wenn ihre wahre Absicht ans Licht kam? Ausgeschlossen! Draußen auf See, wo immer es war, brauchte die Daring nur ihre weißen Schwingen zu breiten und mit raumem Wind abzulaufen, dann war sie für die arme Crab in ein paar kurzen Nachmittagsstunden hinter dem Horizont außer Sicht und konnte fortan wieder unbeobachtet und unverfolgt den Kurs steuern, der sie ihrem wirklichen Ziel näher brachte. Hornblower schwitzte in der erstickenden Hitze dieser Nacht am ganzen Körper, er fühlte sich wie ein von einem Lasso gefangenes Tier der Wildnis.

Jeden Augenblick legte sich eine neue Schlinge um ihn und verschlimmerte seine ohnedies hilflose Lage. Wie ein Tier in der Wildnis war er schon drauf und dran, alle Selbstbeherrschung zu verlieren, in sinnlose Raserei zu verfallen und seine besten Kräfte in einem wilden Wutausbruch zu vergeuden. Während seiner langen Dienstzeit hatte er bei älteren Stabsoffizieren nicht selten solche Ausbrüche erlebt. Aber dieses törichte Getue hatte natürlich nicht den geringsten Wert. Er sah sich der Reihe nach die Gesichter an, auf die das Licht der beiden Deckenlampen fiel. Alle diese Gesichter zeigten den nüchternen, unbeteiligten Ausdruck von Männern, die unfreiwillig Zeugen eines Fehlschlags geworden sind, von Männern, die sehr genau wußten, daß sie hier einem Admiral gegenüberstanden, der seine erste wichtige Aufgabe gründlich verhauen hatte. Dieser Gedanke allein war geeignet, ihn vor Wut vollends wahnsinnig zu machen.

Aber sein Stolz kam ihm zu Hilfe, er durfte diesen Leuten beileibe kein Schauspiel menschlicher Schwäche bieten. »Ich gehe auf jeden Fall in See«, sagte er kalt, »sobald die Besatzung an Bord ist und ein Schlepper zur Verfügung steht.«

»Darf ich fragen, was Eure Lordschaft zu unternehmen gedenken?« fragte Sharpe.

Hornblower mußte rasch überlegen, um eine vernünftige Antwort auf diese Frage zu finden - er hatte ja noch keine Ahnung, was nun werden sollte. Einstweilen wußte er nur, daß er seine Sache nicht ohne Kampf verloren gab. Hatte Zuwarten je dazu geholfen, eine Krise zu überwinden? »Ich werde die Zeit, die mir hier noch geblieben ist, zur Ausgabe von Befehlen an meinen Verband benutzen. Mein Flaggleutnant wird diese Befehle nach meinem Diktat niederschreiben, und Sie, Mr. Sharpe, möchte ich bitten, mit allen geeigneten Mitteln für ihre Verteilung an die Empfänger zu sorgen.«

»Zu Diensten, Mylord.«

Hornblower entsann sich in diesem Augenblick einer Aufgabe, die er längst hätte erledigen müssen. Aber noch war es dazu nicht zu spät, also galt es, das Versäumte schleunigst nachzuholen. Jedenfalls half ihm diese lebhafte Tätigkeit, seine Seelenqualen vor den anderen zu verheimlichen. »Mr. Harcourt«, sagte er, »Sie haben meinen Befehl in ausgezeichneter Weise ausgeführt, ich spreche Ihnen für diese Leistung meine volle Anerkennung aus. Die Aufgabe, die Daring zu beobachten, wurde von Ihnen in beispielhafter Art gelöst, verlassen Sie sich darauf, daß ich Ihr vorbildliches Verhalten den Herren Lords der Admiralität gegenüber gebührend hervorheben werde.«

»Besten Dank, Mylord.«

»Und was den Matrosen Jones betrifft«, fuhr Hornblower fort, »so kann man wohl sagen, daß er ausnehmend klug gehandelt hat. Sie, Mr. Harcourt, haben den richtigen Mann an den richtigen Platz gestellt, und Jones hat Ihr Vertrauen gerechtfertigt. Ich beabsichtige, den Mann für seine Leistung würdig zu belohnen. Das kann dadurch geschehen, daß ich ihm sofort einen Interimsdienstgrad verleihe und die Beförderung so bald wie möglich bestätige.«

»Besten Dank, Mylord. Darf ich dazu melden, daß der Mann schon befördert war und wieder degradiert wurde.«

»Trunkenheit außer Dienst? Hatten Sie ihm darum den Urlaub gestrichen?«

»Leider war ich dazu gezwungen, Mylord.«

»Was schlagen Sie mir also vor?« Harcourt war um eine passende Antwort verlegen. »Sie könnten ihm selbst sagen, Mylord, was Sie mir eben gesagt haben - und Sie könnten ihn dabei mit einem Händedruck belohnen.« Hornblower lachte.

»Daß es in der ganzen Navy heißt, ich sei der filzigste Admiral, der je auf einem Schiff seine Flagge setzte? Nein, so geht das nicht. Eine goldene Guinee ist das mindeste, was der Mann haben muß - besser gleich zwei. Die drücke ich ihm persönlich in die Hand, und Sie geben ihm drei Tage Urlaub, sobald wir wieder in Kingston sind. Soll er sich einmal richtig austoben, das ist für einen Burschen wie ihn die einzig wahre Belohnung. Mir geht es bei solchen Dingen immer um die Stimmung im ganzen Geschwader.«

»Aye, aye, Mylord.«

»Mr. Gerard, ich möchte jetzt meinen Befehl aufsetzen.« Es wurde wirklich Mittag, bis die Crab loswarf und von der Temeraire in Schlepp genommen wurde. Daß dieser ruhmvolle Name Hornblower heute trotz aller damit verbundenen Erinnerungen so gar nichts sagen wollte, war bezeichnend für die Gemütsverfassung, in der er sich befand. Die Zeit bis zum Auslaufen, dieser ganze, lange, erstickend heiße Vormittag war durch das Diktieren des Befehls ausgefüllt, der an alle Schiffe des Geschwaders gelangen sollte. Dazu war eine unendliche Anzahl von Abschriften erforderlich. Sharpe sollte nämlich jedem britischen Schiff, das von New Orleans nach Westindien auslief, eine solche Kopie versiegelt mitgeben, weil man hoffen durfte, daß auf diese Art die eine oder andere Ausfertigung unmittelbar und ohne den langen, amtlichen Umweg über Kingston ans Ziel gelangte, wenn eines dieser Schiffe zufällig einem englischen Kriegsschiff begegnete. Alle Schiffe des Westindien-Geschwaders erhielten durch diesen Befehl den Auftrag, scharfen Ausguck nach dem amerikanischen Schiff Daring zu halten. Jedes Schiff sollte die Daring nach ihrem Woher und Wohin fragen und womöglich zu ermitteln suchen, ob sie Truppen an Bord hatte. Zugleich - Hornblower fühlte, wie ihm der Schweiß beim Diktieren dieses Satzes doppelt heftig aus den Poren brach - wurden die Kommandanten Seiner Majestät Schiffe jedoch mit allem Nachdruck auf den Absatz der allgemeinen Dienstanweisung des unterzeichneten Oberbefehlshabers hingewiesen, der das Verhalten gegen Schiffe unter amerikanischer Flagge betraf. Wenn keine Truppen an Bord waren, dann sollte der Versuch unternommen werden, festzustellen, wo sie an Land gesetzt worden waren, befanden sich Truppen an Bord, dann galt es, die Daring in Sicht zu halten, bis sie gelandet wurden. Zum Schluß wurde den Kommandanten nochmals nahegelegt, mit größter Umsicht und Besonnenheit zu handeln und insbesondere alle Maßnahmen zu vermeiden, die als unberechtigte Einmischung in die Operationen der Daring gedeutet werden konnten. Angesichts der Tatsache, daß dieser Befehl New Orleans nicht vor dem folgenden Morgen verlassen konnte und auch dann nur mit langsamen Kauffahrern reiste, durfte man kaum annehmen, daß er ein Schiff des Westindien-Geschwaders erreichte, ehe die Daring ihre Absichten, welche immer es waren, ausführen konnte. Und doch war es nötig, allen nur denkbaren Möglichkeiten Rechnung zu tragen. Mit schweißnasser Hand unterzeichnete Hornblower zwanzig Abschriften seines Befehls, überzeugte sich, daß sie richtig versiegelt wurden, und übergab sie Sharpe. An der Stelling schüttelten sie einander zum Abschied noch einmal die Hände.

»Ich meine, Mylord«, sagte Sharpe, »Cambronne wird Port au Prince oder Havanna anlaufen.«

Diese beiden Häfen waren rund tausend Meilen voneinander entfernt.

»Könnte er nicht ebenso gut Cartagena oder La Guayra ansteuern?« fragte Hornblower ironisch. Diese Plätze lagen ebenfalls tausend Meilen auseinander und mehr als tausend Meilen von Havanna.

»Das könnte ebenfalls möglich sein«, sagte Sharpe.

Hornblowers Ironie hatte augenscheinlich ihre Wirkung ganz verfehlt. Dennoch konnte man nicht sagen, daß Sharpe kein Gefühl für Hornblowers schwierige Lage hatte, denn er fuhr alsbald fort: »Wie es auch kommen mag, meine besten Wünsche begleiten Sie, Mylord. Ich bin überzeugt, daß der Erfolg Eurer Lordschaft auch diesmal treu bleiben wird.«

Die Crab warf die Leinen los, die Temeraire hatte sie im Schlepp und spuckte aus ihrem Schornstein so viel Rauch und Funken, daß Harcourt entsetzt die Hände rang. Er fürchtete nicht nur die Feuersgefahr, sondern auch die unvermeidlichen Rußflecken auf seinem makellosen Deck. Darum ließ er alle Mann Wasser von außenbords überpumpen und ohne Unterlaß Deck und Takelage benetzen.

»Frühstück, Mylord?« fragte Gerard, der neben Hornblower stand.

Frühstück? Es war jetzt ein Uhr nachmittags, er war seit gestern nicht in der Koje gewesen, er hatte gestern Abend viel zuviel getrunken, er hatte einen arbeitsreichen, einen aufregenden Vormittag hinter sich und war auch in diesem Augenblick noch voll nervöser Ungeduld. Für den Bruchteil einer Sekunde lag ihm ein barsches »Nein« auf der Zunge, aber dann fiel ihm ein, wie er sich gestern (erst gestern? War es nicht mindestens eine Woche her?) über die kurze Verspätung des Frühstücks beklagt hatte. Nein, er wollte sich seine Erregung nicht zu deutlich anmerken lassen. »Selbstverständlich. Es hätte längst serviert werden können, Mr. Gerard«, sagte er und hoffte, daß es ihm einigermaßen gelang, den immer noch nüchternen und darob gereizten Mann zu spielen.

»Aye, aye, Mylord«, sagte Gerard. Er war nun schon seit mehreren Monaten Hornblowers Flaggleutnant und kannte sich fast so gut mit seinen Launen und Stimmungen aus wie eine gute Ehefrau. Vor allem wußte er um die unter einer rauhen Schale verborgene Herzensgüte dieses Mannes. Er selbst war der Sohn eines alten Freundes und hatte diesen Posten erhalten, obwohl sich die Söhne von Admiralen und Herzögen darum gerissen hätten, als Flaggleutnant unter dem sagenhaften Hornblower zu dienen.

Hornblower zwang sich mit Gewalt, seine Früchte und seine weichen Eier aufzuessen und trotz der Hitze seinen Kaffee zu trinken. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er wieder an Deck kam, und während dieser Zeit war es ihm weiß Gott gelungen, sein Problem ganz - oder sagen wir lieber fast ganz - zu vergessen. Kaum stand er aber wieder an Deck, da stürzte auch dieses Problem mit aller Wucht von neuem über ihn herein. Es quälte und beunruhigte ihn so, daß er weder der ungewöhnlichen neuen Art der Flußschiffahrt Interesse abgewann, noch einen Blick für die flachen Ufer übrig hatte, die so ungewöhnlich rasch vorüberglitten. War dieser überstürzte Aufbruch von New Orleans nicht nur ein Ausdruck seiner ohnmächtigen Wut? Er konnte ja nicht hoffen, die Daring jemals einzuholen. Was immer sie im Sinn hatte, sie landete ihren Streich sozusagen vor seiner Nase und machte ihn damit zum Gespött der Welt - zum mindesten seiner Welt. Dann war dies sein letztes Kommando, dann war für ihn Schluß für immer. Hornblower dachte an die Jahre seit Waterloo, die Jahre auf Halbsold. Man mochte meinen, sie seien für ihn glücklich und lebenswert gewesen: Ein Sitz im Oberhaus, eine einflußreiche Rolle in der Grafschaft, eine liebende Frau, ein heranwachsender Sohn - war das etwa nicht genug des Guten? Und doch war es für ihn eben nicht das richtige Dasein. Die fünf Jahre seit Waterloo, bis nach dem natürlichen Verlauf der Dinge endlich die Beförderung zum Flaggoffizier kam, waren ihm in ihrer friedlichen Ruhe gründlich auf die Nerven gegangen. Eigentlich hatte ihm dies erst die überschwengliche Freude verraten, die ihn überfiel, als er von seiner Kommandierung nach Westindien erfuhr.

Was konnte er von den Jahren, die ihm noch bevorstanden, bis er ins Grab sank, denn anderes erwarten, als die gleiche traurige Öde, die er schon in den verflossenen fünf Jahren so gründlich ausgekostet hatte? Nein, dieser Stumpfsinn, diese Langeweile mußten noch schlimmer werden, weil er nun alle Hoffnung auf eine neue Verwendung zur See zu begraben hatte.

Er schalt sich bitter, als er sich bei diesen Gedankengängen ertappte. Hier stand er nun und schwelgte in Mitleid mit sich selbst, statt sich in die Aufgabe hineinzuknien, die ihm nun einmal vom Schicksal gestellt war. Was hatte Cambronne im Sinn? Gelang es ihm, jenem Mann zuvorzukommen, schon dort zu sein, wo der andere zuschlagen wollte, dann war sein guter Name gerettet. Hatte er so viel Glück, dann mochte es ihm sogar gelingen, entscheidend in die Ereignisse einzugreifen. Aber in Spanisch-Amerika ging es eben zur Zeit überall drunter und drüber und in Westindien, mit Ausnahme der britischen Kolonien, nicht minder. Ein Ort kam da als Ziel der Daring ebenso in Frage wie der andere, und überdies war es höchst zweifelhaft, ob er, wo auch immer, einen Vorwand zum Eingreifen fand. Cambronne hatte höchstwahrscheinlich eine ordnungsmäßige Bestallung von Bolivar oder irgendeinem anderen Volkstribunen in der Hand - andererseits verriet allerdings seine Heimlichtuerei, daß es ihm das liebste war, wenn die Royal Navy keine Gelegenheit bekam, rechtzeitig einzugreifen. Einzugreifen? Mit sechzehn Mann Besatzung (ohne die überplanmäßigen Leute) und mit einem einzigen Sechspfünder als Bewaffnung? Lächerlicher Unfug! War er nicht doch ein Narr? Aber jetzt gab es für ihn nichts anderes als denken, denken, denken. »Die Sonne geht unter, ehe wir St. Philip in Sicht bekommen, Mylord«, meldete Harcourt, die Hand zum Gruß erhoben.

»Dank, Mr. Harcourt.«

Also wurde kein Salut geschossen, er machte sich sozusagen mit eingezogenem Schwanz aus den Vereinigten Staaten davon.

Es konnte nicht ausbleiben, daß man über die Kürze seines Aufenthalts allerlei dummes Zeug redete und schrieb. Sharpe mochte sich alle Mühe geben, zu erklären, warum er so eilig wieder ausgelaufen war, aber es gab wohl kaum jemand, der sich mit solchen Erklärungen abfand. Kurzum, dieses Kommando, das er sich so brennend ersehnt hatte, erwies sich nachgerade als hohnvolles Fiasko. Selbst dieser Besuch hier, dem er so gespannt entgegensah, hatte mit einer Enttäuschung geendet. Nicht nur, daß er von New Orleans, von Amerika und den Amerikanern so gut wie nichts gesehen hatte, er fand nicht einmal Zeit, sich mit dem gewaltigen Mississippi zu befassen.

Sein Problem nahm ihm jedes Interesse an seiner Umgebung, und die Umgebung hielt ihn ihrerseits davon ab, sich mit gehöriger Sammlung dem alles beherrschenden Problem zu widmen. Das galt zum Beispiel von dieser märchenhaften Art, sich fortzubewegen. Die Crab lief gute fünf Knoten Fahrt durchs Wasser, und dazu kam dann noch der Strom. Davon kam es, daß ihm jetzt eine ganz nette Brise um die Ohren wehte. Es war gelinde gesagt ungewöhnlich, bei Wind recht von vorn ohne Überliegen und ohne Stampfen eine Menge Fahrt über Grund zu machen und dabei nur ein leises Summen in den Wanten und Stagen zu hören, während das laufende Gut überhaupt keinen Laut von sich gab. »Ihr Dinner ist angerichtet, Mylord«, meldete Gerard, als er wieder an Deck erschien.

Die Nacht senkte sich über die Crab, als Hornblower unter Deck ging. Unten in der Kajüte war es unerträglich schwül.

»Schottische Suppe, Mylord«, meldete Giles und setzte den dampfenden Teller vor ihm auf den Tisch. Hornblower tauchte teilnahmslos den Löffel ein und führte ihn nur ein paar Mal zum Mund, dann legte er ihn wieder weg. Giles schenkte ihm Wein ins Glas, aber er wollte jetzt weder Wein noch Suppe. Dennoch zwang er sich, noch etwas von der Suppe zu sich zu nehmen, wenigstens so viel, daß der Schein gewahrt blieb.

»Huhn á la Marengo, Mylord«, meldete Giles und setzte ihm den zweiten Gang vor.

Bei Huhn ließ sich der Schein leichter wahren, Hornblower schnippelte die Gelenke auseinander, aß ein paar Bissen und legte Messer und Gabel wieder weg. Konnte nicht doch einmal ein Wunder geschehen? Wie, wenn man ihm von Deck herunter meldete, die Maschinen der beiden Schlepper der Daring seien zusammengebrochen oder die Daring selbst sei auf Grund gelaufen, so daß sie triumphierend vorüberrauschen konnten?

Dumme Hirngespinste! Weiß Gott, er war wirklich ein Narr.

Giles räumte den Tisch ab und brachte die Käseplatte und den Käseteller herein. Dazu füllte er ein Glas mit Portwein. Noch ein Scheibchen Käse und ein Schlückchen Wein, und das Dinner konnte als beendet gelten. Giles brachte die silberne Spirituslampe, die silberne Kaffeekanne und die Tasse aus Porzellan - Barbaras Abschiedsgeschenke. Selbst in seinem grenzenlosen Elend bot ihm der Kaffee etwas Trost, den einzigen in einer von undurchdringlichem Dunkel verhangenen Welt.

Als er wieder an Deck erschien, herrschte rabenschwarze Nacht. An Steuerbord voraus schimmerte ein Licht, das stetig weiter querab wanderte; das war gewiß einer der berühmten Leuchttürme, die die Amerikaner aufgestellt hatten, damit der Mississippi bei Nacht ebenso leicht zu befahren war wie bei Tage, ebenso ein Beweis für die Bedeutung des aufstrebenden Handelsverkehrs auf diesem Strom wie die Tatsache, daß nicht weniger als sechs Dampfschlepper ohne Unterbrechung in Betrieb waren. »Mylord«, kam die Stimme Harcourts aus dem Dunkel neben ihm, »wir haben gleich den Paß erreicht. Ich bitte um weitere Befehle, Mylord.«

Was konnte er tun? Das verlorene Spiel bis zum bitteren Ende weiterspielen. Das war das einzige, was ihm blieb. Weit, weit hinter der Daring hersegeln, in der Hoffnung, daß vielleicht doch noch ein Wunder geschah, ein Glücksfall eintrat. Die Aussichten standen hundert zu eins, daß der Vogel ausgeflogen, auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, wenn er Corpus Christi erreichte. Und doch konnten ihm vielleicht die mexikanischen Behörden, sofern es dort welche gab, oder der Klatsch und Tratsch der Einwohner, sofern er etwas davon aufschnappte, irgendwelche Anhaltspunkte geben, aus denen sich das nächste Ziel der Kaiserlichen Garde erraten ließ.

»Sobald wir in See sind, nehmen Sie bitte Kurs auf Corpus Christi.«

»Aye, aye, Mylord, Corpus Christi.«

»Studieren Sie das Segelhandbuch für den Golf von Mexiko wegen der Einfahrt in die dortige Lagune.«

»Aye, aye, Mylord.«

So, das war geschehen, die Entscheidung war gefallen.

Dennoch blieb er an Deck und rang weiter mit dem Problem, das ihm mit seinen vielen Unbekannten und seiner aufreibenden Vielschichtigkeit immer neue Rätsel aufgab.

Er fühlte Regentropfen im Gesicht, und bald stürzte ein Wolkenbruch vom Himmel, daß die Deckplanken dröhnten und Hornblowers beste Uniform im Nu durchnäßt war. Sein Zweispitz wog auf dem Kopf wie Blei, weil in der aufgebogenen Krempe das Wasser stand. Als er gerade im Begriff war, unter Deck Schutz zu suchen, begannen seine Gedanken wieder um das alte Problem zu kreisen, so daß er seine Absicht ganz vergaß und blieb. Gerard tauchte mit seinem Ölzeug samt Südwester aus dem Dunkel auf, aber er achtete nicht auf ihn. Sollte alles falscher Alarm gewesen sein? Hatte Cambronne etwa doch nur den Wunsch, die Garde nach Frankreich zurückzubringen? Nein und noch einmal nein! Wenn er das wollte, wozu holte er dann sechshundert Musketen und ganze Ballen mit Uniformen an Bord? Vor allem aber hätte er es in diesem Fall niemals nötig gehabt, sich so übereilt und heimlich davonzustehlen.

»Bitte, Mylord«, sagte Gerard, der noch immer geduldig mit seinem Ölzeug bereitstand.

Hornblower mußte daran denken, wie Barbara vor seinem Abschied von England Gerard beiseite genommen und lange mit ernster Miene auf ihn eingeredet hatte. Zweifellos hatte sie ihm damals eingeschärft, auf alle Fälle dafür zu sorgen, daß er nicht naß wurde und daß er pünktlich seine Mahlzeiten bekam.

»Sie kommen etwas zu spät, Mr. Gerard«, meinte er lachend.

»Ich bin schon naß bis auf die Haut.«

»Dann, Mylord, möchte ich Ihnen dringend nahelegen, sich unter Deck zu begeben und trockene Sachen anzuziehen.« Aus Gerards Worten sprach ehrliche Besorgnis um die Gesundheit seines Admirals. Das Prasseln des Regens auf Gerards Ölzeug hörte sich an wie ein Salpeter-Quetschwerk in einer Pulvermühle.

»Also schön, wenn Sie meinen«, sagte Hornblower. Er kletterte den engen Niedergang hinunter. Gerard folgte ihm auf dem Fuß und rief sofort mit lauter Stimme: »Giles!«

Hornblowers Bursche war im Augenblick zur Stelle. »Legen Sie trockene Sachen für Seine Lordschaft bereit.« Giles begann in der kleinen Kajüte herumzuhantieren und kniete zuletzt an Deck, um ein frisches Hemd aus der Seekiste zu fischen. Als Hornblower seinen Hut abnahm, klatschten ein paar Liter Wasser neben ihn an Deck. »Kümmern Sie sich darum, daß die Sachen Seiner Lordschaft sachgemäß getrocknet werden«, befahl Gerard. »Aye, aye, Sir«, sagte Giles mit so viel gespielter Geduld, daß Gerard auf jeden Fall merken mußte, wie überflüssig er diesen Befehl fand. Hornblower wußte, daß ihm diese beiden Männer ehrlich ergeben waren. Bis jetzt hatten ihre Gefühle für ihn sogar einen offenkundigen Mißerfolg überdauert - wie lange blieb es noch dabei? »Es ist gut«, sagte er, weil ihm die beiden plötzlich auf die Nerven gingen, »ich werde jetzt schon allein fertig.« Vornübergebeugt, daß er mit dem Kopf nicht an die Deckbalken stieß, stand er in seiner Kajüte und ging daran, den durchweichten Uniformrock aufzuknöpfen. Dabei merkte er, daß er immer noch das Ordensband und den Stern trug. Er zog das Band über den Kopf, es triefte wie alles andere vor Nässe. Ihm schien, als höhnten ihn Band und Stern gerade zur rechten Zeit ob seines dummen Versagens, denn just im gleichen Augenblick war er ohnedies voll Zorn über sich selbst, weil er wieder einmal mit dem Gedanken spielte, die Daring könnte auf ihrer Schleppfahrt zur Mündung vielleicht doch noch irgendwo auf Grund geraten sein.

Es klopfte an der Tür, und Gerard trat wieder ein. »Ich habe doch gesagt, daß ich mich allein umziehen kann«, fuhr ihn Hornblower an.

»Meldung von Mr. Harcourt, Mylord«, sagte Gerard mit unbeirrbarer Ruhe: »Der Schlepper wird bald loswerfen, der Wind ist günstig, es weht ziemlich kräftig aus Ost zu Nord.«

»Danke.«

Die kräftige Brise, die günstige Windrichtung, das alles kam der Daring zugute. Bei widrigen, unbeständigen Winden hätte die Crab vielleicht Aussicht gehabt, sie einzuholen. Das Schicksal spielte ihm diesmal wirklich jeden erdenklichen Streich.

Giles hatte die Gelegenheit benutzt, um wieder in die Kajüte zu schlüpfen. Eben nahm er Hornblower den nassen Rock aus der Hand.

»Habe ich dich nicht hinausgeschickt? Scher dich zum Teufel!« brüllte Hornblower erbarmungslos. »Aye, aye, Mylord«, antwortete Giles mit unerschütterlichem Gleichmut.

»Da ist noch dieses Ding hier - diese Mütze. Was soll ich damit anfangen?« Er hatte die Bärenmütze der Kaiserlichen Garde in der Hand, die unten im Schrank gelegen hatte. »Weg damit!« schrie ihn Hornblower an. Er hatte gerade die Schuhe ausgezogen und schälte sich eben mühsam die nassen Socken von den Füßen, als ihm blitzartig die Erleuchtung kam. Ohne sich erst aufzurichten, dachte er fieberhaft nach.

Eine Bärenmütze - Ballen über Ballen, alle vollgepackt mit Bärenmützen. Wozu sollten die gut sein? Musketen, Bajonette, ja, die konnte man sich erwarten, Uniformen vielleicht auch.

Aber welcher vernünftige Mensch rüstet ein Regiment Soldaten für den Dienst im tropischen Amerika ausgerechnet mit Bärenmützen aus?

Jetzt kam er langsam aus seiner gebückten Stellung hoch, rührte sich aber, immer noch tief in Gedanken, nicht von der Stelle, wo er stand. Schon die Uniformen mit ihren Messingknöpfen und ihrer Goldstickerei waren unter den zerlumpten Horden Bolivars fehl am Platze, die Bärenmützen waren in solcher Umgebung schlechterdings eine Narrheit.

»Giles!« schrie er, und als Giles die Nase durch die Tür hereinsteckte: »Sofort die Mütze her!« Er drehte sie um und um und fühlte dabei immer deutlicher, daß er den Schlüssel zu Cambronnes Geheimnis in Händen hielt. Da war die schwere Kette aus poliertem Messing, da der bronzene Kaiserliche Adler.

Cambronne war doch ein alter Feldsoldat mit zwanzig Jahren Kriegserfahrung. Undenkbar, daß er seinen Leuten zumuten würde, in dieser Aufmachung in den verseuchten Sümpfen Mittelamerikas oder in dem hitzeflimmernden Röhricht Westindiens Krieg zu führen. Wo lag also des Rätsels Lösung?

Die Kaiserliche Garde in ihrer nun schon in die Geschichte eingegangenen Uniform mit der hohen Bärenmütze war in der Vorstellung aller Welt aufs engste mit der bonapartischen Tradition verbunden, die noch bis zur Stunde als politische Kraft weiterwirkte. Drohte also irgendwo eine bonapartistische Bewegung? Etwa in Mexiko? Ausgeschlossen! Oder gar in Frankreich?

Hornblower fühlte, wie ihm unter seinen nassen Sachen plötzlich warm wurde, weil ihm aus Freude über die gefundene Lösung das Blut heiß durch die Adern schoß. St. Helena! Dort war Bonaparte, ein Gefangener, ein Verbannter auf einer der einsamsten Inseln der Welt. Eine fünfhundert Mann starke, ausgebildete Truppe, die überraschend von einem Schiff unter amerikanischer Flagge an Land geworfen wurde, konnte ihn leicht befreien. Und was weiter? Es gab in der ganzen Welt nur wenige Schiffe, die schneller waren als die Daring. Segelte sie ohne Verzug nach Frankreich, dann langte sie dort an, ehe irgendeine Warnung die zivilisierte Welt erreichen konnte.

Bonaparte konnte also mit seiner Garde unangefochten landen - darum die Bärenmützen, darum die Uniformen! Jeder, der sie sah, dachte voll Wehmut an den Ruhm und die Größe des Kaiserreichs zurück, und schon eilte die Armee wieder zu ihren alten Fahnen, wie sie es bei seiner Rückkehr von Elba schon einmal getan hatte. Die Bourbonen hatten sich die freundliche Gesinnung des Volks schon wieder verscherzt - Sharpe hatte ihm erzählt, daß sie sich jetzt überall als internationale Drahtzieher betätigten, weil sie hofften, ihr Volk durch eine erfolgreiche Außenpolitik zu blenden. Bei der augenblicklich herrschenden Stimmung konnte Bonaparte zum zweitenmal auf Paris marschieren, ohne Widerstand zu finden. Und Europa geriet von neuem in den blutigen Teufelskreis von Sieg und Niederlage. Nach Elba mußte ein Feldzug von hundert Tagen geführt werden, bis sich das Schicksal Bonapartes bei Waterloo erfüllte. Aber diese kurzen hundert Tage kosteten hunderttausend Männern das Leben und verschlangen Millionen und aber Millionen an Geld. Diesmal war es vielleicht noch nicht einmal mit solchem Aufwand getan. Allzu leicht nur konnte es geschehen, daß Bonaparte in dem zerrissenen, von Leidenschaften aufgewühlten Europa sogar Bundesgenossen fand, und daß dann ein Krieg von nochmals zwanzig Jahren Dauer drohte, der dem armen alten Kontinent wohl den Rest gegeben hätte. Hornblower hatte schon zwanzig Jahre Kampf hinter sich, der bloße Gedanke, daß sich dieses Unglück für die Welt wiederholen könnte, machte ihn körperlich krank. Die Vorstellung war so ungeheuerlich, daß er seine Schlußfolgerungen noch einmal kritisch überprüfte, aber es war nicht daran zu rütteln, das Ergebnis blieb unweigerlich das gleiche. Cambronne war Bonapartist, wer einmal Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Garde gewesen war, konnte nichts anderes sein. Hatte er seine Gesinnung nicht sogar selbst verraten, indem er Bonapartes Großen Adler der Ehrenlegion trug, statt den Grand Cordon der Bourbonen anzulegen, der an die Stelle des früheren Ordens getreten war? Er hatte das mit Vautours Wissen und Einverständnis getan. Vautour war wohl bourbonischer Beamter, aber er sann allen Anzeichen nach auf Verrat. Die Charterung der Daring, die Übernahme jener verhängnisvollen Ladung, all das konnte nur im Einverständnis und unter Mitwirkung der französischen Vertretung ins Werk gesetzt werden. Wahrscheinlich schwelte unter den Franzosen wieder eine neue bonapartistische Verschwörung. War das Verhalten der Baronin nicht der beste Beweis, daß es so etwas gab?

Mittelamerika und Westindien waren in Aufruhr, gewiß, aber es gab hier nirgendwo einen strategischen Punkt, der einem Angriff der Kaiserlichen Garde in voller Uniform und Bärenmütze ein lohnendes Ziel geboten hätte. (Hornblower hatte über dieses Problem lange genug nachgegrübelt, um zu wissen, daß es so war.) Nein, das Ziel hieß St. Helena und dann Frankreich. Davon war er jetzt felsenfest überzeugt. Das Leben von Millionen, der Friede der ganzen Welt hingen von dem Entschluß ab, den er in diesem Augenblick zu fassen hatte.

An Deck, grade über seinem Kopf, hörte er jetzt das Getrappel eiliger Füße, Tauwerk klatschte auf die Planken, Befehle wurden gegeben, die Crab knackte laut in ihren Verbänden. Die Kajüte neigte sich beim Segelsetzen unversehens tief nach der Seite. Da er nicht darauf gefaßt war, taumelte er nach Lee und ließ dabei die Bärenmütze fallen. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan und blieb unbeachtet zu seinen Füßen liegen.

Mit dem Wind von achtern kam der Schooner alsbald wieder auf ebenen Kiel. Aber das Deck unter Hornblowers Füßen schien jetzt zu atmen, als wäre es plötzlich zu richtigem Leben erwacht. Sie waren in See, sie hatten bereits Kurs auf Corpus Christi. Bei Wind aus Ost zu Nord konnte die Crab auf diesem Kurs vielleicht sogar Schmetterling fahren. Jetzt mußte er rasch überlegen, jetzt war jede Sekunde kostbar. Er konnte es sich nicht leisten, weiter mit solcher Fahrt nach Lee abzulaufen, wenn er seinen Plan umstoßen wollte.

Und er war sich darüber klar, daß eben dies unmittelbar bevorstand. Bis zur Stunde hatte er verzweifelt nach einem Anhaltspunkt gesucht, der ihm zu erraten erlaubte, wohin sich die Daring nach dem Anlaufen von Corpus Christi wenden würde. Jetzt endlich konnte er ihr den Weg verlegen. Jetzt hatte er es in der Hand, der Welt den Frieden zu bewahren. Den Blick in unendliche Fernen gerichtet, ohne zu sehen, was ihn umgab, stand er in der schwankenden Kajüte und breitete im Geist die Karten des Golfs von Mexiko und der Karibischen See vor sich aus. Der Nordostpassat wehte quer darüber hin, er war um diese Jahreszeit nicht ganz so zuverlässig wie im Winter, aber doch so stetig, daß man ihn getrost in Rechnung stellen konnte. Ein Schiff, das von Corpus Christi in den Südatlantik - nach St. Helena - segeln wollte, mußte zwangsläufig den Kanal von Yucatan als Durchfahrt benutzen. Von dort aus nahm es höchstwahrscheinlich gleich Kurs auf die vorspringende Schulter von Südamerika - besonders, wenn ihm daran lag, nicht aufzufallen -, denn dieser Kurs führte es mitten durch die Karibische See, wo es an Steuerbord und Backbord Dutzende von Meilen freien Wassers fand. Zuletzt aber mußte es noch irgendwo die Kette der Antillen passieren, ehe es den offenen Atlantik erreichte. Es gab wohl an die hundert Durchfahrten zwischen den verschiedenen Inseln, aber doch nur eine, deren Benutzung sich eigentlich von selbst verstand, nur eine, die ein nach St. Helena bestimmter Kapitän wählen mußte, weil er mit dem Passat zu rechnen hatte. Er rundete Galera Point, den nördlichsten Ausläufer der Insel Trinidad, und blieb dabei natürlich möglichst weit von Land ab. Aber er konnte den Abstand doch nicht allzu groß wählen, weil nördlich von Galera Point die Insel Tobago lag und der Tobago-Kanal zwischen den beiden Inseln nicht mehr als - Hornblower wußte es nicht genau zu sagen, aber sicherlich nicht mehr als fünfzig Meilen breit war. Unter günstigen Wetterverhältnissen konnte auch ein einzelnes Schiff diesen Kanal überwachen und sicherstellen, daß ihn niemand ungesehen passierte. Das Ganze war ein Schulbeispiel für Seestrategie im kleinsten Maßstab. Seemacht übte zwar überall in der Weite der Weltmeere ihren Einfluß aus, aber die eigentlichen Entscheidungen zur See fielen doch stets in der Enge küstennaher Gewässer und an Brennpunkten wie diesem. Der Kanal von Yucatan eignete sich längst nicht so gut zur Überwachung, weil er mehr als hundert Meilen breit war.

Die Crab konnte den Tobago-Kanal als erste erreichen, dessen durfte er sicher sein, denn die Daring hatte ja zwei Seiten eines Dreiecks abzusegeln, wenn sie zuerst Corpus Christi anlief, und mußte überdies von jenem weit in Lee gelegenen Hafen aus eine lange Strecke gegenankreuzen. Es war sicher das beste, wenn er sich diesen Vorteil zunutze machte und ohne Verzug nach dem Tobago-Kanal eilte. Er konnte dort grade zur rechten Zeit eintreffen, um die Daring abzufangen - ja, grade noch zur rechten Zeit, und hatte überdies die begründete Aussicht, unterwegs eines der Schiffe seines Geschwaders zu treffen, das er zu seinem Ziel mitnehmen konnte. Jetzt eine Fregatte! Dann besaß er die Kampfkraft, die er brauchte. In diesem Augenblick faßte er seinen Entschluß und fühlte, wie ihm das Herz dabei rascher schlug. »Giles!« rief er.

Giles trat wieder in Erscheinung und gab beim Anblick Hornblowers, der immer noch klatschnaß in Hemd und Hose dastand, seine entsetzte Mißbilligung so deutlich kund, wie das einem verwöhnten Diener erlaubt ist. »Meine Empfehlung an Mr. Harcourt, und ich wäre ihm verbunden, wenn er sich so schnell wie möglich bei mir einfinden möchte.«

Wenn ein Admiral einen Leutnant zu sprechen wünscht, bedeutet das natürlich höchste Eile.

»Mr. Harcourt, ich habe mich zu einer Änderung meines ursprünglichen Planes entschlossen. Es gilt jetzt vor allem, keine Zeit zu verlieren. Bitte, setzen Sie sofort Kurs auf Cap San Antonio ab.«

»Cap San Antonio, aye, aye, Sir.«

Harcourt war ein guter Offizier, seine Stimme verriet weder Überraschung noch Zweifel, als er den unerwarteten Befehl entgegennahm.

»Sobald wir auf dem neuen Kurs sind, werde ich Ihnen meine Absichten erklären, wenn Sie die Güte haben wollen, sich mit den Karten wieder bei mir zu melden. Bringen Sie bitte auch Mr. Gerard mit.« "Aye, aye, Sir.«

Jetzt konnte er endlich sein nasses Zeug ausziehen und sich mit einem Handtuch trockenreiben. Aus irgendeinem Grunde erschien ihm die Hitze in seiner kleinen Kajüte nicht mehr so drückend, vielleicht, weil sie jetzt draußen auf See waren, vielleicht auch, weil er endlich zu einem handfesten Entschluß gekommen war. Er fuhr eben in seine trockene Hose, als Harcourt das Ruder in Lee legen ließ. Die Crab drehte auf wie ein Kreisel, kräftige Arme holten dabei die Schoten ein. Auf dem neuen Kurs legte sie sich mit halbem Wind weit nach Steuerbord über. Hornblower, der grade ein Bein in der Hose hatte, suchte mit einem krampfhaften Satz das Gleichgewicht zu halten, fiel aber doch quer über seine Koje auf die Nase und zappelte mit den Beinen in der Luft. Mühsam rappelte er sich wieder hoch, die Crab holte immer noch nach Steuerbord über, bald weiter, bald weniger weit, so wie die querein kommenden Seen unter ihr hinwegrollten. Hornblower wurde durch dieses Überholen jedes Mal überrascht, wenn er grade mit dem anderen Bein in die Hose fahren wollte, so daß er sich noch zweimal unfreiwillig auf seine Koje setzte, ehe er damit zu Rande kam.

Es war gut, daß Harcourt und Gerard erst erschienen, als das schwierige Werk gelungen war. Die beiden hörten Hornblower aufmerksam zu, als er ihnen auseinander setzte, welche Absichten die Daring nach seinen zwingenden Schlußfolgerungen verfolgte, und ihnen dann erklärte, daß er sie im Tobago-Kanal abfangen wollte. Harcourt nahm seinen Zirkel zur Hand, griff die Entfernungen ab und nickte, als er damit zu Ende war.

»Bis San Antonio können wir vier Tage Vorsprung gewinnen.

Den augenblicklichen Vorsprung der Daring abgerechnet, heißt das, daß wir drei Tage vor ihr dort sind.« Diese drei Tage Vorsprung mochten der Crab für die lange, lange Wettfahrt über die ganze Breite der Karibischen See gerade eben genügen.

»Könnten wir nicht unterwegs Kingston anlaufen, Mylord?« fragte Gerard.

Das war ein verlockender Vorschlag, aber Hornblower schüttelte energisch den Kopf. Es hatte keinen Sinn, noch den Stützpunkt anzulaufen, um die Nachricht bekannt zugeben und vielleicht Verstärkung mitzunehmen, wenn ihnen die Daring unterdessen unbehindert entschlüpfte. »Das Einlaufen würde viel zuviel Zeit kosten«, sagte er, »auch wenn wir die Seebrise ausnützen könnten. Und im Hafen gibt es ebenfalls wieder unerwünschten Aufenthalt. Ich meine, so wie die Dinge liegen, haben wir keinen Augenblick zu verlieren.«

»Das läßt sich allerdings nicht in Abrede stellen, Mylord«, mußte ihm Gerard zugeben. Er spielte die Rolle des Admiralstabsoffiziers, dessen Pflicht es ist, jeden Plan seines Admirals kritisch unter die Lupe zu nehmen. »Wie verhalten wir uns, wenn wir mit der Daring zusammentreffen?« Hornblower blickte Gerard eine Weile unverwandt in die Augen. Sein Flaggleutnant hatte die Frage gestellt, die er sich ebenfalls vorgelegt hatte und auf die er noch keine Antwort wußte.

»Ich bin noch damit beschäftigt, wirksame Maßnahmen für dieses Zusammentreffen zu planen«, sagte Hornblower. Das klang so abweisend, daß es Gerard wohlweislich vermied, noch ein Wort über dieses Thema zu verlieren. »Die schiffbare Rinne im Tobago-Kanal ist nur zwanzig Meilen breit«, sagte Harcourt, der immer noch eifrig mit dem Zirkel hantierte.

»Dann kann uns die Daring auch bei Nacht kaum unbemerkt entkommen«, sagte Hornblower. »Ich bin jedenfalls überzeugt, meine Herren, daß unser Plan der denkbar beste ist. Vielleicht ist es überhaupt der einzige, der in diesem Falle in Frage kommt.«

»Jawohl, Mylord«, sagte Harcourt und malte sich schon aus, was alles geschehen konnte. »Wenn uns die Daring wieder entkäme...« Er stockte. Die bloße Vorstellung raubte ihm vor Entsetzen die Sprache.

»Wir, meine Herren, haben dafür zu sorgen, daß dieses Unglück nicht eintritt. Und da wir jetzt das menschenmögliche getan haben, scheint es mir am Platze, daß wir uns zur Ruhe begeben. Wir haben alle zusammen in letzter Zeit nicht allzu viel Schlaf bekommen.« Das war zweifellos richtig. Jetzt, da sich Hornblower für einen klar umrissenen Plan entschieden hatte und entschlossen war, auf Gedeih und Verderb daran festzuhalten, merkte er, wie ihm die Lider schwer wurden und wie ihn der Schlaf übermannen wollte. Als ihn seine Offiziere verlassen hatten, sank er todmüde in seine Koje. Da der Wind von Backbord querein kam und die Koje am Steuerbord-Schott lag, konnte er seine Glieder richtig entspannen und brauchte nicht zu fürchten, daß er womöglich herausfiel. Er schloß die Augen, und schon kreisten seine Gedanken um die Antwort auf jene Frage, die ihm Gerard gestellt hatte. Diese Antwort war scheußlich, es war eine entsetzliche Aufgabe, sich mit ihr auseinander zusetzen. Aber sie schien sich nicht vermeiden zu lassen. Er hatte seine Pflicht zu tun und war jetzt überzeugt, daß er sie wirklich nach bestem Vermögen tat. Er hatte ein reines Gewissen, er hatte das beruhigende Bewußtsein, alles bis ins einzelne sorgfältig durchdacht zu haben; eben darum aber wußte er auch um das unvermeidliche Schicksal, das ihm aus seiner Pflichterfüllung erwachsen mußte. Vor diesem schauerlichen Wissen gab es einstweilen nur eine Rettung, die Flucht in den Schlaf. So schlief er denn, bis der Morgen dämmerte, ja, er blieb noch darüber hinaus eine Weile im Halbschlummer liegen, bis er bei zunehmendem Tageslicht so klar zu denken begann, daß ihm seine grausame Idee wieder zum Bewußtsein kam.

So nahm die historische Wettfahrt der Crab nach dem Tobago-Kanal ihren Anfang. Sie führte über eine Strecke, die fast der Breite des Atlantiks entsprach. Der unermüdliche Passat drückte das kleine Schiff bis zur Reling weg, während es sich krachend und stampfend den Weg durch die rollenden Brecher bahnte. Da auf einem so kleinen Fahrzeug nichts geheim bleiben konnte, wußte bald jeder Mann an Bord, daß ein Rennen im Gange war, und jeder legte sich denn auch mit solcher Begeisterung ins Zeug, daß es eine helle Freude war. Die ergebenen Blicke der Männer richteten sich immer wieder auf die einsame Gestalt ihres Admirals, der breitbeinig auf dem winzigen Achterdeck stand, wo ihm der Passat sausend um die Ohren wehte. Jeder wußte um das Wagnis, das er eingegangen war, jeder wünschte ihm, daß er gewann, aber niemand ahnte etwas von dem, was ihn in Wahrheit zur Verzweiflung trieb, von jener bereits zur Gewißheit gewordenen Erkenntnis, daß seine Laufbahn mit dieser Fahrt ihr Ende fand, gleichgültig ob er das Rennen gewann oder ob er es verlor. Die Crab sollte alles hergeben, was an Fahrt in ihr steckte, und das bedeutete natürlich eine unausgesetzte Inanspruchnahme ihrer Besatzung.

Dennoch wäre es niemand eingefallen, sich darüber zu beklagen. Die Männer holten und fierten willig die Schoten, wenn die Segelstellung auch den kleinsten Änderungen in der Windrichtung angepaßt werden mußte, sie waren jedes Mal blitzschnell bei der Hand, wenn die Segel erst im allerletzten Augenblick vor dem Einfallen einer Bö gekürzt wurden, und waren ebenso rasch dabei, sie wieder zu setzen, wenn das Unwetter abgezogen war. Alle Mann taten freiwillig Ausguckdienst, und der Admiral hätte es wirklich nicht nötig gehabt, dem, der die Daring als erster sah, eine goldene Guinee zu versprechen - die Möglichkeit, ihr zu begegnen, war ja schon jetzt, längst vor Erreichen des Tobago-Kanals, nicht ganz von der Hand zu weisen. Wen scherte es schon, daß die Hemden und Kojen naß wurden, wenn der Gischt wie ein funkelnder Regenbogen über das Vorschiff fegte und seinen Weg unter Deck fand, wer fragte danach, daß der hartgepreßte Schooner in der schweren Dünung so heftig zu Kehr ging, daß er durch die klaffenden Nähte Wasser machte? Der allstündliche Logwurf, die tägliche Errechnung des zurückgelegten Etmals wurden selbst von jenen mit Spannung erwartet, die diesen nautischen Künsten sonst mit der fatalistischen Gleichgültigkeit des Mannes vor dem Mast zu begegnen pflegten.

"Ich muß die Wasserrationen kürzen, Mylord«, sagte Harcourt zu Hornblower gleich am ersten Tag. »Wie viel können Sie ausgeben?« fragte Hornblower und versuchte, sich den Anschein zu geben, als ob er die Antwort mit Spannung erwartete, damit man ihm seine Verzweiflung über die andere Sache auf keinen Fall anmerkte.

»Zwei Liter pro Tag, Mylord.«

Zwei Liter pro Tag und Mann - das war für schwer arbeitende Männer hier in den Tropen bitter wenig.

»Ihre Maßnahme ist durchaus richtig, Mr. Harcourt«, sagte Hornblower. Es war in der Tat unerläßlich, jede Möglichkeit in Rechnung zu stellen. Niemand konnte wissen, wie lange diese Reise dauerte, wie lange sie im Tobago-Kanal patrouillieren mußten, ohne ihre Wasserfässer auffüllen zu können. Es wäre der Gipfel der Torheit gewesen, wenn sie wegen sinnloser Verschwendung in die Zwangslage gekommen wären, vorzeitig einen Hafen anlaufen zu müssen.

»Ich werde Giles anweisen«, fuhr Hornblower fort, »für mich das gleiche Quantum zu empfangen.« Harcourt war darüber etwas erstaunt. Er hatte bisher wenig mit Admiralen zu tun gehabt und bildete sich darum ein, daß sich diese hohen Herren stets jeden Luxus erlauben konnten. Er hatte außerdem nicht bedacht, daß alle Freunde von Giles ebenfalls so viel Frischwasser bekamen, wie sie wollten, wenn dieser für seinen Admiral nach Belieben empfangen durfte. Hornblower hatte auch kein Lächeln für ihn gehabt, als er seine Absicht kundgab, er tat es mit dem gleichen verschlossenen und unnahbaren Ausdruck, den er gegen jedermann zur Schau trug, seit er nach dem Inseegehen seine neue Entscheidung getroffen hatte. Eines Nachmittags sichteten sie Cap San Antonio und konnten daraus entnehmen, daß sie den Yucatan-Kanal hinter sich hatten. Die Landmarke gab ihnen einen neuen Abgangspunkt für den zweiten Teil ihrer Fahrt, außerdem war es von diesem Punkt an nicht mehr gar so unwahrscheinlich, daß sie die Daring überraschend in Sicht bekamen, da beide Schiffe jetzt etwa den gleichen Kurs steuern mußten. In der übernächsten Nacht passierten sie Grand Cayman, - zwar bekamen sie es nicht in Sicht, wohl aber hörten sie das Donnern der Brandung auf einem der vorgelagerten Riffe. Man konnte daraus entnehmen, wie scharf Harcourt die Ecken schrammte. Hornblower fand das falsch, er wäre unter allen Umständen weiter von Grand Cayman abgeblieben, und es fiel ihm in diesem Augenblick noch schwerer als sonst, sich an das ungeschriebene Gesetz zu halten, wonach sich ein Admiral nicht in die Schiffsführung seines Flaggschiffs einmischen durfte. In der folgenden Nacht gelang es ihnen, die Pedro-Bank anzuloten, woraus sich ergab, daß Jamaika und Kingston kaum hundert Meilen zu luward lagen. Von diesem neuen Abgangspunkt aus konnte Harcourt den Kurs nach dem Tobago-Kanal absetzen, aber er war nicht imstande, ihn zu halten. Dem Passat fiel es nämlich ein, bis südlich von Ost auszuschießen, was jetzt, zu Beginn des Hochsommers, nicht einmal so verwunderlich war, aber er kam damit für die Crab so ziemlich recht von vorn. Harcourt ging sofort auf Backbord-Bug - kein Kapitän, der einen Schuß Pulver wert war, hätte in der Karibischen See auch nur einen Meter Nordbreite verschenkt - und legte sein Schiff mit dichtgeholten Schoten so hoch wie möglich an den Wind.

»Wie ich sehe, haben Sie die Marssegel weggenommen, Mr. Harcourt«, bemerkte Hornblower und rührte damit an die empfindliche Stelle eines jeden Kommandanten. »Jawohl, Mylord«, gab Harcourt zur Antwort und ließ sich erst zu weiteren Erklärungen herbei, als er den Blick seines Admirals immer noch fragend auf sich gerichtet sah. »Ein breitgebauter Schooner wie dieser hat schlechte Segeleigenschaften, wenn er zu weit überliegt, Mylord. Wir machen mit verkleinerter Segelfläche weniger Leeweg, Mylord, wenn wir bei so kräftiger Brise am Wind segeln.«

»Hm, natürlich, Sie kennen Ihr eigenes Schiff ja wohl am besten, Mr. Harcourt«, gab ihm Hornblower widerwillig zu.

Es war auch wirklich schwer einzusehen, daß die Crab mit kahlen Rahen, ohne ihre stolzen Marssegel, bei dieser Brise besser vorankam. Gewiß hatte die Daring jetzt jeden Quadratmeter Segel stehen, über den sie verfügte - wenn es hoch kam, fuhr sie vielleicht ein Reff. Die Crab stampfte unterdessen tapfer gegenan, ab und zu nur kam über den Steuerbord-Bug grünes Wasser an Deck, dann galt es für jedermann, irgendwo Halt zu suchen und auf keinen Fall loszulassen. Als der nächste Morgen dämmerte, lag recht voraus in zarten blauen Umrissen Land - die Berge der Insel Haiti. Harcourt hielt noch bis zum Mittag durch, so daß sie beim Näherkommen immer höher über die Kimm emporwuchsen, dann erst ging er über Stag.

Hornblower war diesmal mit Harcourt durchaus einverstanden, in einer oder zwei Stunden mochte ihnen die Landbrise zugute kommen, und sie brauchten auf alle Fälle genügend Luv, um von Beata-Point freizukommen. Die Vorstellung, daß sie auf diesem Kreuzschlag etwas von ihrem Vorsprung einbüßten, konnte in der Tat verbittern. War es nicht durchaus möglich, daß die Daring, wo immer sie sich aufhielt, den Wind um einen oder zwei Strich raumer fand und daher ihren Kurs weiter anliegen konnte? Es war erstaunlich zu beobachten, wie sogar die Männer vor dem Mast mit genetztem Finger die Windrichtung prüften, den Luvhorizont absuchten und den Rudergänger mit ihren kritischen Bemerkungen bedachten, der nach bestem Können jeden Meter Luv zu ertrotzen suchte. Eineinhalb Tage lang wehte der Wind von vorn; mitten in der zweiten Nacht wurde Hornblower, der schlaflos in seiner Koje lag, plötzlich durch den Allemannruf aufgeschreckt. Im Nu war er hoch und langte nach seinem Schlafrock, während von Deck bereits lautes Fußgetrappel zu ihm herabdrang. Die Crab tanzte auf einmal wie wild in der See.

»Alle Mann auf, klar zum Reffen!«

»Drei Reff ins Großsegel!!« tönte Harcourts helle Stimme aus dem Dunkel, als Hornblower eben das Deck betrat. Der Wind riß ihm den Schlafrock und das Nachthemd hoch, als er abseits vom allgemeinen Getriebe an der Reling stand und in die brüllende Finsternis starrte. Mitten in der Nacht hatte sie eine jener wilden Mittsommerböen überfallen, aber irgendwer hatte offenbar die Augen gut offengehalten und ihr Kommen rechtzeitig bemerkt. Die Bö war von Süden heraufgezogen.

»Abfallen!« schrie Harcourt, »Schoten klar zum Fieren!« Die Crab kam in einem wahren Hexenkessel wild durcheinanderlaufender Seen stampfend und rollend herum, dann wurden ihre Bewegungen ruhiger, und schon im nächsten Augenblick flog sie durch die brausende Finsternis, als ob sie ihren häßlichen Namen Lügen strafen wollte. So gewann sie kostbaren Seeraum nach Norden. Diese Bö war in der Tat ein unbezahlbares Glück, solange sie ihnen erlaubte, den nördlichen Kurs zu halten. Die Zeit verging, der nächtliche Sturm brauste mit unverminderter Gewalt und schlug Hornblower den Schlafrock immer wieder klatschend um die Beine. Er stand immer noch an seinem Platz an der Reling und fühlte, wie ihm das Herz vor Freude unwillkürlich höher schlug. Wie konnte es auch anders sein, wenn man die Elemente in seinen Dienst zwang, wenn man dem Wind ein Schnippchen schlug und seiner hinterlistigen Überraschung zuvorkam? »Ausgezeichnet, Mr. Harcourt!« schrie Hornblower gegen den Wind, als Harcourt herbeikam und im Dunkeln neben ihm stehen blieb.

»Danke, Sir - Mylord. Zwei Stunden diesen Wind, und wir haben es geschafft.«

Das Schicksal gewährte ihnen wenigstens deren eineinhalb, dann flaute die Bö ab, und der Passat setzte starrköpfig aus seiner alten Richtung Ost zu Süd wieder ein. Aber am Morgen brachte Giles beim Frühstück gute Kunde: »Der Wind krimpt nach Norden«, meldete er. Giles verfolgte den Verlauf des Unternehmens ebenso eifrig wie alle anderen.

»Ausgezeichnet«, sagte Hornblower, aber schon Sekunden später packte ihn wieder jene dumpfe Qual, die ihn nur noch so selten verließ. Dieser Wind trug ihn nur um so rascher seinem Verhängnis entgegen.

Im Lauf des Tages gab ihnen der Passat seine sommerliche Launenhaftigkeit gründlich zu kosten. Er wurde flauer und immer flauer, bis er zuletzt nur noch in kaum fühlbaren Puffs in die Segel fiel, so daß die Crab zeitweise ganz ohne Fahrt in der glasigen blauen Dünung trieb. Steuerlos drehte sie ihren Bug reihum in alle Richtungen der Kompaßrose, während die Sonne senkrecht auf ihr Deck hernieder brannte, so daß das Pech in den Nähten schmolz. Fliegende Fische hinterließen dunkle Spuren auf der emailleblanken Oberfläche der See. Niemand nahm davon Notiz, aller Augen spähten nach der Kimm, um die nächste Katzenpfote zu entdecken, die ihnen langsam, langsam näher kam. Vielleicht steuerte die Daring nicht einmal allzuweit entfernt unter dem Druck aller Segel mit rauschender Fahrt ihren Kurs durch dieses launische Karibenmeer. Der Tag ging zu Ende, die Nacht verstrich, aber der Passat wollte immer noch nicht wieder einsetzen, nur dann und wann bewirkte ein vorübergehender Hauch, daß die Crab lautlos wie ein Geisterschiff durchs Wasser glitt und dem Tobago-Kanal wieder ein kleines Stück näher kam. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, die Männer dürsteten bei ihren kümmerlichen Wasserrationen von zwei Litern am Tag, sie dürsteten alle die Tage und Nächte hindurch. Nur wenige Schiffe kamen während dieser Zeit in Sicht, und die paar, denen sie begegneten, waren nicht geeignet, Hornblower in seinen Plänen zu unterstützen - ein Inselschooner, unterwegs nach Belize, ein Holländer auf der Heimreise von Curaçao, kein Kapitän, dem Hornblower einen Brief anvertrauen konnte, kein Schiff seines eigenen Geschwaders - aber das lag ohnedies kaum im Bereich der Möglichkeit. Hornblower blieb nichts anderes übrig als zu warten, mit verbissener Geduld zu warten, während ein Tag um den anderen, eine Nacht um die andere dahinging.

Endlich begann der launenhafte Passatwind wieder zu wehen, diesmal glücklicherweise aus Ost zu Nord, so daß sie wieder imstande waren, Kurs zu halten. Die Marssegel wurden gesetzt, damit liefen sie Stunde um Stunde ihre sechs Meilen Fahrt und hielten die Antillen ständig recht voraus. Je näher sie den Inseln kamen, desto mehr Segel kamen in Sicht, aber das waren alles nur Inselsloops, die zwischen den ›Inseln unter dem Wind‹ und Trinidad Schiffahrt trieben. Einmal löste ein Rahschiff an der Kimm allgemeine Aufregung aus, aber es war nicht die Daring.

Es führte die rotgoldene Flagge Spaniens - eine spanische Fregatte, unterwegs nach der Küste Venezuelas, wahrscheinlich zu einem Schlag gegen die dortigen Insurgenten. Das Ziel war nun fast erreicht. Hornblower hörte, wie der Ausguck im Vortopp »Land in Sicht« aussang, und dann vergingen nur noch Sekunden, bis Gerard die Kajüte betrat:

»Grenada ist in Sicht, Mylord.«

»Danke.«

Jetzt hatten sie also die Gewässer erreicht, in denen sie die Daring aller Voraussicht nach treffen mußten. Für das Gelingen des Plans spielte fortan die Windrichtung eine größere Rolle als je zuvor. Zur Zeit wehte es aus Nordost, was Hornblower insofern sehr zustatten kam, als es die an sich schon kaum bestehende Möglichkeit vollends ausschloß, daß die Daring nicht den Tobago-Kanal, sondern die Durchfahrt nördlich der Insel Tobago benutzte. »Die Daring muß an der gleichen Stelle Land machen wie wir, Mylord«, sagte Gerard, »und das, wenn möglich, bei Tage.«

»Das dürfen wir zum mindesten hoffen«, sagte Hornblower.

Wenn die Daring bei den unstetigen Winden und unberechenbaren Stromverhältnissen des Karibischen Meeres ebenso lange außer Sicht von Land gewesen war wie die Crab, dann konnte man damit rechnen, daß ihr Kapitän bei der Ansteuerung von Land die größte Vorsicht walten ließ.

»Mr. Harcourt«, wandte sich Hornblower an den Kommandanten, »ich meine, wir können jetzt ohne Bedenken Point Galera ansteuern.«

»Aye, aye, Mylord.«

Nun kam die schlimmste Zeit des Wartens, der immer wiederholten Frage, ob sich dieses ganze Unternehmen nicht am Ende doch als blamable Irrfahrt erwies. Dabei galt es erst noch zu patrouillieren, am Wind bis in Sicht von Trinidad durchzuliegen, dann über Stag zu gehen und mit raumem Wind an Tobago vorbei wieder bis Grenada zurückzulaufen. Dieses Warten war schon schlimm genug, und wenn sich die Reise nicht als törichte Fehlrechnung erwies, dann zeitigte sie gar noch eine Katastrophe, die Hornblower, und nur ihm allein, allzudeutlich vor Augen stand. Gerard kam wieder auf seine Frage zurück:

»Wie wollen Sie den Mann zur Aufgabe seines Vorhabens zwingen, Mylord?«

»Es gibt Mittel und Wege«, antwortete Hornblower dunkel und versuchte dabei jede Schroffheit im Ton zu vermeiden, die seine Angst vor dem Unabwendbaren verraten hätte. An einem jener strahlenden, ganz in Blau und Gold getauchten Sommertage glitt die Crab vor einem kaum fühlbaren Lufthauch lautlos über die glatte See, als der Ausguckposten vom Topp aus das Deck anrief, weil er etwas zu melden hatte: »Segel in Sicht!

Genau zu luward, Sir!« ›Ein Segel‹ konnte natürlich alles mögliche bedeuten, als aber die Crab allmählich näher kam, ergab sich aus den weiteren Meldungen doch bald die Vermutung, daß dieses fremde Segel wirklich die Daring war.

Drei Masten - schon diese erste ergänzende Beobachtung ließ mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen, da es nicht oft vorkam, daß ein großes Schiff aus der Karibischen See in den südlichen Atlantik segelte. Daß das Schiff alle Segel, sogar Skysegel und Leesegel an den Royals führte, hatte dagegen nicht so viel zu bedeuten.

»Das Schiff scheint ein Amerikaner zu sein, Sir!« Darüber bestand schon deshalb kaum noch ein Zweifel, weil es die typischen Skysegel führte. Jetzt enterte Harcourt, mit seinem Glas bewaffnet, in den Großtopp. Als er wieder nach unten kam, glänzten seine Augen vor Erregung.

»Es ist die Daring, Mylord. Ich bin meiner Sache sicher.«

Durch zehn Seemeilen Wasser voneinander getrennt, lagen die beiden Schiffe in der blitzblauen tropischen See, über ihnen wölbte sich in strahlendem Blau der südliche Himmel, nur ein dunkler Streifen an der fernen Kimm verriet, daß dort Land war.

Die Crab hatte das Rennen mit vierundzwanzig Stunden Vorsprung gewonnen. Die Daring drehte sich unter ihren gewaltigen Segelpyramiden steuerlos im Kreis herum, dort wehte offenbar kein Lüftchen mehr, das ihr weiterhalf. Die Crab zog noch eine Weile langsam und immer langsamer ihre Bahn, dann lag auch sie bewegungslos in der brennenden Sonne. Aller Augen richteten sich auf den Admiral, der stumm und steif, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, auf dem Achterdeck stand und starren Blicks nach den weißen Rechtecken Ausschau hielt, die ihm den Ort wiesen, wo sich sein Schicksal erfüllen sollte. Das mächtige Großsegel des Schooners flappte ein zweites Mal, und dann begann der Großbaum langsam herumzuschwingen. »An die Schoten!« rief Harcourt über das Deck. Das Lüftchen war so schwach, daß sie es nicht einmal auf ihrer schweißtriefenden Gesichtshaut fühlten, aber es genügte doch, die Bäume hinauszudrücken, und gleich darauf fühlte auch der Rudergänger etwas Druck auf dem Ruderblatt, so daß sich das Schiff wieder steuern ließ. Das Bugspriet der Crab zeigte genau auf die Daring, und der Wind kam dabei von Steuerbord achtern, man konnte sagen, fast platt von achtern.

Das heißt, daß ihn die Daring nahezu von vorn bekommen mußte, wenn er überhaupt bis zu ihr hingelangte, denn vorläufig lag sie noch in einer Totenflaute. Der leise Hauch verstärkte sich, bis er im Gesicht zu fühlen war und weiter, bis man vom Bug her sogar das muntere Geplätscher vernahm, das von der Fahrt des Schooners Kunde gab. Dann war mit einem Male wieder alles vorbei, so daß die Crab träge rollend in der Dünung liegenblieb. Wieder meldete sich ein leichter Zug, er kam zunächst von Backbord achtern ein und räumte dann noch so weit auf, daß die Marssegel Vierkant gebraßt und der Schoonerbaum nach Backbord übernommen werden konnten.

Zehn unbezahlbare Minuten lief die Crab mit ›Schmetterling‹ vor dem Wind auf ihr Ziel los, dann verflüchtigte sich auch diese Brise, und es trat von neuem leblose, hitzeflimmernde Stille ein.

Jetzt konnte man beobachten, daß auch die Daring einen Hauch Wind bekam. Sie braßte sofort ihre Rahen, aber das Glück dauerte nur einen Augenblick, eben lange genug, um ihre Absicht zu verraten, dann lag sie wieder steuerlos in der Flaute.

Trotz ihrer riesigen Segelfläche sprach sie auf diese kaum fühlbaren Lüftchen ihrer größeren Masse wegen nicht so gut an wie die Crab.

»Gott sei Dank!« sagte Gerard, mit dem Glas am Auge, als er sie wieder steuerlos herumschwojen sah. »Sie scheint uns außer Kanonenschußweite passieren zu wollen, Mylord.«

»Das würde mich nicht überraschen«, stimmte Hornblower bei.

Wieder setzte ein Luftzug ein, wieder verringerte sich der Abstand, wieder wurde es totenstill.

»Mr. Harcourt, vielleicht ist es das beste, wenn Sie jetzt Essen ausgeben lassen.«

»Aye, aye, Mylord.«

Salzfleisch und Erbsenbrei in der tropischen Mittagssonne - wen hätte wohl danach gelüstet, zumal jedermann voller Spannung nach dem Wind Ausschau hielt? Als die Leute erst halb gegessen hatten, wurden sie ohnedies wieder einmal an die Schoten und Brassen geholt, weil es einen neuen Windhauch zu nutzen galt.

»Wann soll ich Ihr Dinner servieren, Mylord?« fragte Giles.

»Jetzt nicht«, gab Hornblower kurz und bündig zur Antwort, ohne erst das Glas vom Auge zu nehmen. »Er hat seine Flagge gesetzt, Mylord«, bedeutete ihm Gerard, »es ist die amerikanische.«

Das Sternenbanner, dem er seinen Befehlen entsprechend mit aller erdenklichen Rücksicht zu begegnen hatte! Für ihn verbot sich jedes andere Verhalten ohnedies von selbst, wenn er sich vor Augen hielt, daß die Daring Zwölfpfünder führte und voll Bewaffneter stak.

Jetzt hatten beide Fahrzeuge wieder etwas Wind. Die Crab lief dabei tapfer ihre zwei Knoten, während die Daring kaum von der Stelle kam, als sie versuchte, hart am Wind einen südlichen Kurs zu steuern. Bald darauf lag sie wieder vollkommen still und drehte sich ziellos in einer Brise, die zu schwach war, um ihr den zum Steuern nötigen Ruderdruck zu geben.

»Ich kann nur ganz wenige Leute an Deck ausmachen, Mylord«, sagte Harcourt. Er hatte mit dem rechten Auge so lange durch sein Glas hinübergestarrt, daß es jetzt, vom Sonnenglast auf dem Wasser geblendet, heftig tränte.

»Sie werden ihre Leute unter Deck und außer Sicht halten«, meinte Gerard.

Das war so gut wie sicher. Was immer die Daring und Cambronne von der Crab und ihren Absichten halten mochten, sie mußten auf jeden Fall ängstlich bedacht sein, nicht zu verraten, daß sie mit fünfhundert Mann an Bord in den südlichen Atlantik segeln wollten. Zwischen der Daring und jenem Südatlantik lag jetzt die Crab als einziges und letztes Hindernis - ein Hindernis, das, sollte man meinen, kaum eines war. Hatte die Daring einmal den Kanal durchsegelt und die offene See gewonnen, dann gab es kein Mittel mehr, sie aufzuhalten. Kein Schiff durfte hoffen, sie zu überholen. Sie erreichte unangefochten St. Helena und versetzte Cambronne in die Lage, den geplanten Handstreich auszuführen, da jede Warnung davor zu spät kommen mußte. Es hieß also: Jetzt oder nie, wenn das Schlimmste doch noch verhütet werden sollte, und es war Hornblowers Schuld, daß es so weit gekommen war. Er hatte sich in New Orleans gründlich nasführen lassen, er hatte Cambronne durch seine Unachtsamkeit einen unbezahlbaren Vorsprung in die Hand gespielt. Darum war es ihm jetzt auferlegt, jedes Opfer zu bringen, das die Umstände von ihm verlangten, jedes noch so schwere Opfer, um der Welt den Frieden zu erhalten. Die kleine Crab war natürlich nicht imstande, die schwerbewaffnete Daring aufzuhalten und zur Aufgabe ihres Unternehmens zu zwingen. Das ließ sich nur dadurch erreichen, daß er persönlich seinen ganzen Einfluß in die Waagschale warf. »Mr. Harcourt«, sagte Hornblower in seiner schroffen, unpersönlichen Art, »bitte lassen Sie mir das Heckboot klar zum Fieren machen. Teilen Sie dazu eine so starke Bootsbesatzung ab, daß jeder Riemen doppelt besetzt ist.«

»Aye, aye, Mylord.«

"Wer soll mit dem Boot hinüber, Mylord?« fragte Gerard.

»Ich fahre selbst«, war Hornblowers kurze Antwort. Das Großsegel schlug, der Großbaum schwang ächzend binnenbords, schwang wieder aus, schwang wieder ein. Die Brise schlief wieder einmal ein, die Crab hielt noch einige Minuten Kurs, dann begann ihr Bugspriet langsam von der Daring abzudrehen.

»Ich kann nicht mehr Kurs halten, Sir«, meldete der Rudergänger.

Die Nachmittagssonne brannte heiß vom Himmel, Hornblower ließ den Blick in die Runde wandern, nirgends waren Anzeichen einer neuen Brise zu entdecken. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen, er schob seinen Kieker mit einem Klick zusammen. »Ich möchte jetzt das Boot, Mr. Harcourt«, sagte er. »Lassen Sie mich mitkommen, Mylord«, bat Gerard in schüchtern aufbegehrendem Ton.

»Nein«, war Hornblowers kurze Antwort. Für den Fall, daß während der nächsten halben Stunde doch wieder Brise aufkommen sollte, wollte er das Boot für die immerhin zwei Meilen weite Strecke vom einen Schiff zum anderen nicht unnötig belasten. »Legt euch kräftig in die Riemen«, sagte er zur Bootsbesatzung, als sie ablegten. Die Blätter der Riemen tauchten in das durchsichtige Blau und schimmerten darin, als wären sie aus Gold. Von besorgten Blicken verfolgt, rundete das Boot das Heck der Crab, Hornblower legte die Pinne und hielt geradewegs auf die Daring zu. Auf und ab, auf und ab schwebten sie über die spiegelglatten Rücken der Dünung, und sooft sie einen Kamm erreichten, erschien die Crab wieder ein bißchen kleiner und die Daring wieder ein bißchen größer als zuvor. Die Daring bot im Licht dieses sonnigen Nachmittags einen berückend schönen Anblick, und Hornblower gab sich dabei unwillkürlich Rechenschaft, daß dies wohl die letzten Stunden seiner Seemannslaufbahn waren. So kamen sie der Daring immer näher, bis endlich der erwartete Anruf, von der heißen Luft getragen, zu ihnen herüberdrang. »Boot ahoi!«

»Ich komme längsseit!« rief Hornblower zurück. Zugleich erhob er sich in der Achterpflicht des Bootes von seinem Platz, so daß seine goldbestickte Admiralsuniform deutlich zu sehen war.

»Wegbleiben!« antwortete die Stimme, aber Hornblower hielt unbeirrbar seinen Kurs.

Wenn eine unbewaffnete Bootsbesatzung einen Admiral ohne Begleitung auf ein in Flaute liegendes Schiff übersetzt, so war das gewiß kein genügender Anlaß für einen internationalen Zwischenfall. Er hielt jetzt auf die Kreuzrüsten zu.

»Wegbleiben!« ertönte es nochmals in unverkennbar amerikanischem Tonfall.

Hornblower drehte auf. »Riemen ein!« befahl er. Mit der restlichen Fahrt schor das Boot auf- und niedertanzend längsseit.

Hornblower berechnete vorsichtig jede seiner Bewegungen, weil er seine Schwerfälligkeit nur zu gut kannte. Genau im richtigen Augenblick sprang er nach den Rüsten, einer seiner Schuhe füllte sich mit Wasser, aber er hielt eisern fest und zog sich an der Bordwand hoch.

»Legen Sie ab und warten Sie auf mich«, befahl er der Bootsbesatzung und schwang sich ohne Zögern über die Reling an Deck.

Der große, hagere Mann mit der Zigarre im Mund war sicher der amerikanische Kapitän und der stämmige Bursche neben ihm einer seiner Seeleute. Die Geschütze waren zwar nicht ausgerannt, aber schußklar, und die amerikanischen Matrosen standen klar zum Feuern neben ihnen. »Haben Sie nicht gehört, Mister, daß ich Sie aufforderte wegzubleiben?« fragte der amerikanische Kapitän. »Ich bitte Sie, meine Aufdringlichkeit zu entschuldigen, Sir«, sagte Hornblower. »Ich bin Konteradmiral Lord Hornblower im Dienste Seiner Britannischen Majestät und habe mit dem Grafen Cambronne eine äußerst dringende Angelegenheit zu besprechen.«

Eine Sekunde lang standen sich die beiden auf dem sonnigen Deck gegenüber und maßen einander mit Blicken, dann entdeckte Hornblower Cambronne, der offenbar im Begriff war, herbeizukommen.

»Ah, Monsieur le Comte!« rief er ihm entgegen und zwang sich, sein bestes Französisch zu sprechen. »Es ist mir ein besonderes Vergnügen, Sie wiederzusehen.« Zugleich nahm er seinen Zweispitz ab, hielt ihn vor die Brust und knickte zu einer Verbeugung zusammen, die nach seinem eigenen Empfinden recht ungeschickt ausfiel.

»Welchem Umstand verdanke ich dieses unerwartete Vergnügen, Mylord?« fragte Cambronne. Er stand stocksteif und aufrecht vor seinem Besucher, sein Katerschnurrbart starrte nach beiden Seiten, als ob er sich sträubte. »Leider führt mich ein trauriger Anlaß zu Ihnen«, sagte Hornblower. »Ich habe eine schlechte Nachricht zu überbringen.«

Er hatte sich diese Sätze in vielen schlaflosen Nächten immer wieder eingeprägt, jetzt gab er sich alle erdenkliche Mühe, sie in möglichst ungezwungenem Tone zu sprechen. »Mein Kommen hat aber auch den Zweck, Ihnen, Herr Graf, einen Dienst zu erweisen.«

»Was haben Sie mir mitzuteilen, Mylord?«

»Wie ich schon sagte, ist es eine schlechte Nachricht.«

»Und die wäre?«

»Ich bedaure zutiefst, Herr Graf, Sie von dem Tode Ihres Kaisers in Kenntnis setzen zu müssen.«

»Das kann nicht sein, das...«

»Kaiser Napoleon ist im vergangenen Monat auf St. Helena gestorben. Darf ich Ihnen, Herr Graf, mein aufrichtiges Mitgefühl zum Ausdruck bringen.«

Hornblower gab sich die größte Mühe, diese Lüge so überzeugend vorzubringen, als ob er die reine Wahrheit sagte.

»Das kann nicht wahr sein!«

»Herr Graf, ich versichere Ihnen: Es ist wahr.« Unter der Wange des Grafen, neben der purpurroten Narbe, zuckte unablässig ein Muskel. Seine harten, etwas vorstehenden Augen bohrten sich wie spitze Dolche in Hornblowers Blick. »Ich erhielt die Nachricht erst vor zwei Tagen in Port of Spain«, log Hornblower weiter. »Daraufhin hob ich sofort alle Maßnahmen auf, die ich bereits angeordnet hatte, um dieses Schiff aufzuhalten.« Cambronne konnte nicht wissen, daß die Crab nicht so schnell gewesen war, wie man nach Hornblowers Worten annehmen mußte. Aber Cambronne ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Ich glaube Ihnen nicht«, erwiderte er. Lag es nicht allzu nahe, ihm dieses Märchen aufzutischen, wenn man ihn und die Daring von ihrem Vorhaben abbringen wollte?

»Sir!« parierte Hornblower sehr von oben herab, und seine Haltung wurde womöglich noch steifer und förmlicher. Er spielte jetzt nach bestem Können die Rolle eines Ehrenmannes, dessen Wort in Zweifel gezogen wird - und hätte damit fast Erfolg gehabt.

»Bitte versuchen Sie doch zu verstehen, Mylord, was Ihre Nachricht für mich bedeutet«, sagte Cambronne so, daß es fast wie eine Entschuldigung klang. Aber dann ließ er sofort jene entsetzliche, schicksalsträchtige Frage folgen, die Hornblower von Anfang an kommen sah: »Mylord, geben Sie mir Ihr Ehrenwort als Gentleman, daß das, was Sie mir sagten, die reine Wahrheit ist?«

»Sie haben hiermit mein Ehrenwort als Gentleman«, sagte Hornblower. Tag um Tag hatte er sich diesen qualvollen Vorgang in allen Einzelheiten ausgemalt, also war er gründlich darauf vorbereitet. Er zwang sich, seine Antwort so zu geben, wie es einem Ehrenmann anstand, so unbewegt, so aufrichtig, daß niemand etwas von seiner Verzweiflung ahnen konnte.

Hatte er doch von Anfang an gewußt, daß ihm Cambronne sein Ehrenwort abverlangen würde. Dies war das letzte, das größte Opfer, das er bringen konnte. In zwanzig Jahren Kriegsdienst hatte er für England freudig sein Leben eingesetzt, Gefahren, Nöte, Hunger auf sich genommen - aber seine Ehre zu opfern, das hätte wohl niemand von ihm verlangt. Heute war es soweit, es war der höchste Preis, den er zu entrichten hatte. Durch seine Schuld war der Weltfriede in Gefahr gekommen. Was wog die Ehre eines einzelnen Mannes am Ende gegen den Frieden der ganzen Welt, gegen die Rettung Englands vor der Wiederkehr jener tödlichen Bedrohung, der es nach zwanzigjährigem Ringen mit knapper Not entgangen war? In diesen letzten glücklichen Jahren, als er nach langem, hartem Kampf heimgekehrt war, hatte er sich im Lande umgesehen, hatte er englische Luft geatmet und dabei immer wieder begeistert empfunden, daß für sein geliebtes England wahrlich kein Opfer zu groß war. Also war dieses England wohl auch die Ehre eines Mannes wert.

Gewiß, daran gab es keinen Zweifel. Aber es war eben doch herzzerreißend, es war viel, viel schlimmer als das Sterben, daß es gerade seine Ehre war, deren Opferung das Schicksal von ihm verlangte.

Inzwischen hatte sich eine Anzahl Offiziere an Deck eingefunden, sie scharten sich um Cambronne und lauschten gespannt auf jedes seiner Worte. Auch der amerikanische Kapitän und sein Steuermann waren herzugetreten. Ihnen allen stand Hornblower ganz allein gegenüber und wartete, seine reichbestickte Admiralsuniform glitzerte in der Sonne. Der Offizier zu Cambronnes Rechten nahm als nächster das Wort. Er war eine Art Adjutant oder Generalstabsoffizier, einer von jener Menschensorte, die Hornblower am wenigsten ausstehen konnte. Natürlich, wie konnte es auch anders sein? Der mußte die Frage wiederholen, der mußte das Eisen noch in der Wunde herumdrehen. »Ihr Ehrenwort, Mylord?«

»Mein Ehrenwort«, wiederholte Hornblower, immer noch voll Gleichmut, immer noch wie ein Mann von Ehre. Wer hätte es sich einfallen lassen, an dem Ehrenwort eines englischen Admirals zu zweifeln, an dem Ehrenwort eines Mannes, der seit mehr als zwanzig Jahren ein Offizierspatent seiner Britischen Majestät besaß? Er brachte jetzt alle anderen Argumente vor, die er sich noch zurechtgelegt hatte.

»Ihre Unternehmung, Herr Graf, kann jetzt der Vergessenheit anheimfallen. Mit dem Tode des Kaisers hat ja wohl alle Hoffnung, das Reich wiederaufzurichten, ein Ende. Kein Mensch braucht zu wissen, welche Absichten Sie verfolgten. Sie selbst, diese Herren hier und die Kaiserliche Garde können unbelastet unter dem Regime verbleiben, das zur Zeit Herr über Frankreich ist. Sie können alle diese Männer nach Hause bringen und damit die von Ihnen ursprünglich bekundete Absicht verwirklichen. Es steht Ihnen frei, Ihre militärische Ausrüstung unterwegs in aller Stille über Bord zu werfen. Aus diesem Grunde habe ich Sie allein, ohne jeden Zeugen dieser Unterredung, aufgesucht. Unsere beiden Länder wünschen, jeden Zwischenfall zu vermeiden, der die Freundschaft unter den Völkern der Welt aufs neue gefährden könnte. Niemand braucht zu erfahren, was hier vorging, dieses Treffen mag für immer unser Geheimnis bleiben.«

Cambronne hörte, was Hornblower sagte, und nahm es wohl auch auf, aber die erste Nachricht war für ihn ein solcher Schlag gewesen, daß er für andere Dinge noch keine Worte fand.

»Der Kaiser ist tot!« sagte er.

»Ich habe Sie, Herr Graf, bereits meiner Teilnahme versichert«, sagte Hornblower, »und möchte dies auch Ihren Herren gegenüber tun. Mein wärmstes, aufrichtigstes Beileid, meine Herren.«

Der amerikanische Kapitän unterbrach das halblaute Gemurmel der Offiziere.

»Sehen Sie die Katzenpfoten dort? Sie kommen auf uns zu.

Das gibt etwas Wind. In fünf Minuten machen wir wieder Fahrt.

Kommen Sie mit uns, Mister, oder wollen Sie noch von Bord?«

»Warten Sie noch«, sagte Cambronne, der offenbar etwas Englisch verstand. Dann wandte er sich wieder zu seinen Offizieren und begann lebhaft mit ihnen zu debattieren. Wenn sie alle zugleich sprachen, reichte Hornblowers Französisch nicht aus, um ihren Reden in allen Einzelheiten zu folgen. Aber er konnte aus den aufgeschnappten Gesprächsfetzen doch entnehmen, daß sie alle von der Wahrheit seiner Nachricht überzeugt waren. Darüber hätte er sich freuen können, wäre es für ihn nicht mit aller Freude endgültig aus gewesen. Einer der Offiziere trennte sich von der Gruppe und rief etwas den Niedergang hinunter. Im nächsten Augenblick erschien die Kaiserliche Garde Mann für Mann an Oberdeck. Die alte Garde, Bonapartes alte Garde, alle in voller Uniform. Sie waren offenbar gefechtsbereit, für den Fall, daß die Crab so töricht gewesen wäre, den Kampf zu wagen. Es waren ihrer fünfhundert, alle in Uniform, auf dem Kopf die Bärenmütze, in der Hand die Muskete. Auf einen lauten Befehl hin traten sie an Deck in tadelloser Ordnung an, Glied hinter Glied, alles stämmige, bärtige Männer, die schon in jede Hauptstadt Europas, London allein ausgenommen, als Sieger einmarschiert waren. Sie hielten alle ihre Gewehre bei Fuß und standen in militärischer Haltung still, nur wenige blickten nicht starr geradeaus, sondern schielten neugierig nach dem britischen Admiral. Die Tränen rannen Cambronne über die gefurchten Wangen, als er vor sie hintrat, um zu ihnen zu sprechen. Er konnte ihnen die traurige Nachricht nur in kurzen, abgerissenen Sätzen übermitteln, da er in seinem Schmerz kaum Worte fand.

Sie knurrten wie wilde Tiere, als sie begriffen, was er ihnen sagte. Ihre Gedanken waren bei ihrem Kaiser, der in seinem einsamen Inselgefängnis unter den Händen seiner herzlosen englischen Büttel leiden und nun gar sterben mußte. Die Blicke, die sich auf Hornblower richteten, verrieten jetzt nicht mehr Neugier, sondern blanken Hass. Aber Cambronne hatte ihre Aufmerksamkeit gleich wieder gewonnen, als er jetzt auf die Zukunft zu sprechen kam. Er sprach von Frankreich und vom Frieden. »Der Kaiser ist tot!« sagte er abermals, als ob er damit zum Ausdruck bringen wollte, daß nun das Ende dieser Welt gekommen sei. Die Glieder lösten sich auf, die aufwühlende Nachricht hatte sogar die eiserne Disziplin der alten Garde gebrochen. Cambronne zog seinen Degen und hob den Griff mit prachtvollem Schwung wie zum Salut an die Lippen, daß die stählerne Klinge im Licht der sinkenden Sonne blitzte.

»Ich führte diese Waffe für den Kaiser«, sagte Cambronne, »ich werde sie nie mehr für einen anderen ziehen.« Er nahm die Klinge unter dem Griff in beide Hände, legte sie quer über das gehobene Knie und brach sie mit einem einzigen Ruck seines schlanken, kräftigen Körpers mittendurch. Dann wandte er sich um und schleuderte die beiden Stücke über Bord. Die Laute, mit denen die Garde diese Szene begleitete, hörten sich an wie ein langgezogenes Stöhnen. Einer der Männer nahm seine Muskete bei der Mündung, schwang sie über seinen Kopf und hieb sie krachend an Deck, so daß sie am Ansatz des Kolbens entzweibrach. Andere folgten alsbald seinem Beispiel, Hunderte von Musketen flogen über die Reling und versanken in der Tiefe.

Der amerikanische Kapitän wohnte dem ganzen Geschehen so gleichmütig bei, als ob ihn nichts mehr erschüttern könnte, nur die kalte Zigarre in seinem Mund wurde im Verlauf des Vorgangs ein ganzes Stück kürzer, weil er ihr Ende zwischen den Zähnen zerkaute. Jetzt suchte er Hornblowers Nähe, offenbar um zu erfahren, was das Ganze zu bedeuten habe, aber der französische Adjutant trat dazwischen. »Nach Frankreich«, sagte er zu ihm, »wir fahren nach Frankreich.«

»Nach Frankreich?« wiederholte der Kapitän überrascht.

»Also nicht?« Er sprach den Namen St. Helena gar nicht aus, aber sein Ausdruck verriet, daß er ihm auf der Zunge lag. »Ja, nach Frankreich«, wiederholte der Adjutant mit Nachdruck.

Jetzt kam auch Cambronne herbei, er hielt sich steifer und aufrechter denn je, um sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. »Ich möchte Sie in dieser schmerzlichen Stunde nicht weiter belästigen, Herr Graf«, sagte Hornblower. »Nur eins noch, denken Sie immer daran, daß es einen Engländer gibt, der aufrichtig mit Ihnen fühlt.« Wenn Cambronne erst herausfand, daß ihn dieser ehrlose Engländer schnöde hinters Licht geführt hatte, dann dachte er bestimmt an seine Worte. Dennoch mußten sie in diesem Augenblick gesprochen werden.

»Ich werde daran denken«, sagte Cambronne. Er zwang sich sichtlich dazu, die gebotene Form zu wahren. »Ich habe Ihnen für Ihren Takt und Ihr Verständnis zu danken, Mylord.«

»Und ich habe nur meine Pflicht gegenüber der Welt erfüllt«, sagte Hornblower.

Er wollte Cambronne lieber nicht die Hand hinreichen. Der würde sich später beschmutzt fühlen, wenn er ihn jetzt berührte.

»Leben Sie wohl, Herr Graf«, sagte er. »Ich hoffe, wir sehen uns unter glücklicheren Umständen wieder.«

»Leben Sie wohl, Mylord«, erwiderte Cambronne ernst und gemessen. Hornblower stieg in die Kreuzrüsten, das Boot pullte zu ihm heran, und man konnte eher sagen, daß er sich in die Achterpflicht fallen ließ, als daß er hineingeklettert wäre.

»Ruder an!« befahl er. Niemand konnte sich so sterbensmüde, niemand so todunglücklich fühlen wie er. An Bord der Crab wurde er von Harcourt, Gerard und der übrigen Besatzung mit Spannung erwartet. Er hatte eisern seine Haltung zu wahren, als er an Bord ging, denn noch gab es für ihn Pflichten zu erfüllen.

»Sie können die Daring passieren lassen, Mr. Harcourt«, sagte er. »Es ist alles geregelt.«

»Geregelt, Mylord?« fragte Gerard aufgeregt. »Ja, Cambronne hat sein Unternehmen aufgegeben. Jetzt segeln sie friedlich nach Frankreich.«

»Wohin? Nach Frankreich? Mylord »Haben Sie nicht gehört, was ich sagte?« Ihre Blicke wanderten über die See, die in der sinkenden Sonne purpurn schimmerte, zur Daring hinüber. Dort braßte man eben die Rahen rund, um die leichte Brise auszunutzen, die soeben aufgekommen war. »Passieren lassen!

Bleibt es wirklich bei diesem Befehl, Mylord?«

»Ja, in drei Teufels Namen!« fuhr ihn Hornblower an. Im gleichen Augenblick tat es ihm schon wieder leid, daß er in einem Anfall plötzlicher Wut so losgepoltert hatte. Er wandte sich rasch an den Kommandanten: »Mr. Harcourt, wir können jetzt nach Port of Spain einlaufen. Ich nehme an, daß Sie auch bei günstigem Wind nicht gern nachts durch den Dragon's Mouth segeln. Es sei Ihnen also anheimgestellt, damit bis Hellwerden zu warten.«

»Aye, aye, Mylord.«

Er wandte sich zum Niedergang, um unter Deck zu gehen, aber man ließ ihn immer noch nicht in Ruhe. »Dinner, Mylord?« fragte Gerard. »Ich werde sofort veranlassen, daß es Ihnen serviert wird.« Sollte er schroff ablehnen, sagen, er wolle kein Dinner? Nein. Das Hin- und Hergerede, das er dann kommen sah, wäre noch schlimmer gewesen, als dieses Dinner auf sich zu nehmen und der Form halber über sich ergehen zu lassen.

Allerdings war auch das schon schlimm genug. Es hieß, daß er sich wieder nicht gehen lassen durfte, daß es ihm verwehrt war, beim Betreten der Kajüte gleich auf seine Koje zu sinken, das Gesicht in die Hände zu vergraben und sich ganz seiner Verzweiflung hinzugeben. Nein, er hatte wieder steif und förmlich auf seinem Stuhl zu sitzen, während Giles deckte und servierte und wieder abtrug, während der tropische Sonnenuntergang den Himmel in Flammen setzte und schwarze Nacht auf das kleine Schiff in der purpurnen See herabsank. Erst als Giles endlich sein letztes »Gute Nacht, Mylord« gesprochen hatte, durfte er wieder denken, durfte er das namenlose Grauen vor sich ausbreiten, das ihm bevorstand.

Er war kein Gentleman mehr, er war entehrt. Damit hatte alles, was bisher gewesen war, ein Ende - er mußte von seinem Kommando zurücktreten, sein Offizierspatent zur Verfügung stellen. Und Barbara? Wie sollte er ihr je wieder unter die Augen treten? Wie stand er vor seinem Richard da, wenn der Junge einmal größer war und begriff, was sein Vater getan hatte? Barbaras adelige Verwandte tauschten gewiß ein vielsagendes Grinsen aus, wenn in ihrer Gegenwart einmal sein Name fiel. Nie mehr durfte er auf einem Achterdeck auf und ab gehen, nie mehr mit der Hand am Hut, begleitet vom zwitschernden Salut der Bootsmannsmaatenpfeifen, ein Schiffsdeck betreten. Nie mehr! Sein Beruf war ausgelöscht - für ihn war alles zu Ende. Er hatte dieses Opfer bewußt und kalten Blutes auf sich genommen, aber das nahm ihm nichts von seiner furchtbaren Härte.

Seine Gedanken schlugen einen Bogen in die Vergangenheit.

Hätte er anders handeln können? Wäre er von seinem Kurs abgewichen, um nach Kingston oder Port of Spain einzulaufen, so wäre ihm die Daring entwischt, das ergab sich aus dem Zeitpunkt ihres Eintreffens vor Tobago. Alle Verstärkung, die er sich auf diese Art noch verschaffen konnte - sofern ihm das überhaupt gelungen wäre -, hätte sich dann als nutzlos erwiesen.

Oder wäre es vielleicht besser gewesen, in Kingston zu bleiben und eine Depesche nach London zu senden? Gewiß, damit hätte er sich persönlich den Seelords und der Regierung gegenüber gedeckt. Aber was wäre am Ende dabei herausgekommen?

Welche Frist wäre den Herren in London nach dem Eintreffen der Depesche bestenfalls geblieben, bis die Daring Frankreich erreichte? Höchstens vierzehn Tage, wahrscheinlich sogar noch weniger. Und die Beamten in der Admiralität hätten in seinem Schriftstück bestimmt zunächst nichts anderes erblickt als die Ausgeburt eines kranken Gehirns. Wie lange hätte es gedauert, bis der Brief wirklich den Ersten Lord erreichte, wie lange noch, bis er im Kabinett zur Vorlage kam? Dann kostete es wieder Zeit, die nötigen Maßnahmen zu beraten, Zeit, den französischen Botschafter zu unterrichten, und abermals kostbare Zeit, zur Einigung über ein gemeinsames englischfranzösisches Vorgehen zu gelangen.

Wie aber sah dieses gemeinsame Vorgehen bestenfalls aus - wenn es nicht überhaupt unterblieb, weil das Kabinett seine Warnung als überspannte Scharfmacherei auffaßte und in den Wind schlug? Die Friedensmarine Englands konnte auf keinen Fall rechtzeitig und in genügender Stärke seeklar sein, um alle Küsten Frankreichs so wirkungsvoll zu überwachen, daß es der Daring nicht gelang, ihre tödliche Fracht zu landen. Und Frankreich? Dort genügte schon das unvermeidliche Einsickern des Gerüchts, daß Bonaparte in See sei und demnächst landen werde, um das Land in eine neue Revolution zu stürzen.

Darüber gab es keinen Zweifel, und in Italien gärte es ebenfalls.

Durch einen Bericht nach London hätte er sich also, wie er schon festgestellt hatte, allenfalls persönlich gegen spätere Vorwürfe von Seiten der Regierung gesichert. Durfte er sich damit zufrieden geben? Nein, niemals! Wahres Pflichtbewußtsein darf sich nicht darin erschöpfen, dem Tadel und der Kritik der dazu Berufenen ängstlich aus dem Wege zu gehen. Er hatte hier eine klar umrissene Pflicht zu erfüllen und hatte sie auf die einzig denkbare Art erfüllt. Cambronne war nur auf diese Art von seinem Vorhaben abzubringen. Es gab kein anderes Mittel, das zu erreichen. Er hatte seine Pflicht erkannt, dieses Mittel anzuwenden, obwohl er wußte, welcher Preis darauf stand. Jetzt mußte er diesen Preis bezahlen. Der Weltfrieden war erkauft - er kostete ihn seine Ehre. Er hatte aufgehört, ein Gentleman zu sein... damit schloß sich der Kreis, er stand wieder am Beginn seiner qualvollen Grübelei.

Aber die Hölle ließ ihn nicht los. Er rang weiter mit dem Grauen wie ein Mann, der in finsterer Nacht bis an die Hüften im Sumpf steckt. Wie lange noch, dann wußte alle Welt, daß er ein ehrloser Wicht war. Cambronne sorgte schon dafür, daß es bekannt wurde, und die anderen Franzosen nicht minder. Dann erzählte man sich in aller Welt von einem britischen Admiral, der sein feierliches Ehrenwort gab, obwohl er wußte, daß jedes seiner Worte gelogen war. Aber ehe es soweit kam, war er längst aus dem Dienst ausgeschieden, hatte er längst sein Kommando und sein Offizierspatent zur Verfügung gestellt. Das mußte unverzüglich geschehen, seine beschmutzte Flagge durfte nicht länger wehen, er hatte nicht mehr das Recht, Männern von Ehre Befehle zu geben. Port of Spain war Sitz des Gouverneurs von Trinidad. Diesem wollte er morgen eröffnen, daß das Westindiengeschwader ohne Geschwaderchef war. Der Gouverneur konnte dann alle dienstlichen Schritte unternehmen, die nötig waren: Das Geschwader durch ein Rundschreiben unterrichten, vor allem aber die Regierung von dem Ausfall in Kenntnis setzen - nicht anders, als ob ihn das Gelbe Fieber oder ein Herzschlag dahingerafft hätte.

Auf diese Art konnte am leichtesten ein Kommandowechsel bewerkstelligt und der führerlose Zustand in seinem Befehlsbereich tunlichst abgekürzt werden. Das war der letzte, der allerletzte Dienst, den er England noch zu bieten hatte. Der Gouverneur hielt ihn bestimmt für verrückt - vielleicht stak er morgen schon in einer Zwangsjacke, wenn er sich nicht entschloß, seine Schande offen zu bekennen. Tat er das aber, beichtete er dem Gouverneur, dann wurde sogleich dessen Mitleid rege, das erste von all dem Mitleid, aber auch der Anfang all der heimlichen Verachtung, die er nun bis an das Ende seiner Tage hinnehmen mußte. Barbara - Richard - seine verlorene Seele fand keinen Ausweg aus dem stinkenden Sumpf des Grauens und der finsteren Nacht der Verzweiflung. Am Ende dieser dunklen Schreckensnacht klopfte es an der Tür, und Gerard betrat die Kajüte. Die Meldung, die er überbringen wollte, erstarb ihm auf den Lippen, als er Hornblower hohläugig und trotz aller Sonnenbräune totenblaß in seiner Koje liegen sah.

»Sind Sie krank, Mylord?« fragte er erschrocken. »Nein, mir fehlt nichts. Was ist los?«

»Mr. Harcourt läßt Ihnen melden, Mylord, wir stünden vor dem Dragon's Mouth. Der Wind sei günstig aus Nordnordost, und wir könnten bei Hellwerden einlaufen. Das wäre in einer halben Stunde, Mylord. Um zwei Glasen auf der Vormittagswache würden wir vor Port of Spain ankern.«

»Danke, Mr. Gerard.« Er sprach langsam und mechanisch, weil er sich jedes Wort abzwingen mußte. »Meine Empfehlung an Mr. Harcourt, ich sei mit seinen Dispositionen einverstanden.«

»Aye, aye, Mylord. Da Sie Ihre Flagge in Port of Spain zum ersten Male zeigen, wird Salut geschossen werden.«

»Schön.«

»Der Gouverneur genießt seiner Dienststellung zufolge den Vorrang vor Eurer Lordschaft. Daraus ergibt sich für Eure Lordschaft die Verpflichtung, ihm als erster Ihren offiziellen Besuch abzustatten. Darf ich das diesbezügliche Flaggensignal setzen lassen?«

»Danke, Mr. Gerard. Ich wäre Ihnen dafür besonders verbunden.«

Es blieb ihm nichts erspart, das Grauen mußte weiter ertragen werden. Er mußte mit aller Sorgfalt Toilette machen, es ging nicht an, daß er unrasiert, schmutzig und ungepflegt an Deck erschien. Und beim Rasieren galt es obendrein, Giles' unermüdliches Geschwätz anzuhören. »Frischwasser, Mylord«, sagte Giles, als er mit der dampfenden Kanne hereinkam, »der Kommandant hat es erlaubt, weil wir heute noch Wasser übernehmen.« Rasieren mit Frischwasser! Sonst hätte ihm das einen köstlichen Genuß bedeutet, heute spürte er nichts davon.

Wie schön könnte es sein, an Deck zu stehen und zu beobachten, wie die Crab durch den Dragon's Mouth einsegelte, die unbekannte Landschaft ringsum zu betrachten, in einen neuen Hafen einzulaufen - heute ließ ihn das alles kalt. Früher freute er sich wohl über frische Wäsche, eine neue gestärkte Halsbinde, ja sogar über das Ordensband, den Stern und den Säbel mit dem vergoldeten Griff. Ja, er hätte sich sogar bestimmt gefreut zu hören, wie die dreizehn Schuß Salut für ihn gefeuert und beantwortet wurden. Heute war von Freude keine Spur - nur Schmerz und Bitterkeit, nur das bedrückende Bewußtsein, daß es für ihn in Zukunft keinen Salut mehr gab, daß ihn nie mehr eine ganze Schiffsbesatzung militärisch grüßte, wenn er von Bord ging. Er mußte sich mit Gewalt zu einer steifen, aufrechten Haltung zwingen, damit er nicht wie ein Schwächling zusammensank. Ja, er mußte sogar krampfhaft mit den Augen zwinkern, damit ihm die Tränen nicht hemmungslos über die Wangen liefen wie einem sentimentalen Franzosen. Wäre der strahlend blaue Himmel schwarz gewesen, er hätte kaum davon Notiz genommen. Der Gouverneur war ein gewichtiger Generalmajor, der wie er das rote Band mit dem Stern trug. Er blieb steif und förmlich, bis der offizielle Empfang vorüber war; erst als sie allein und ungestört waren, taute er auf. »Ich freue mich aufrichtig über Ihren Besuch, Mylord«, sagte er. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Hoffentlich finden Sie den Stuhl auch bequem. Ich habe einen Sherry, den Sie vielleicht nicht ganz von der Hand weisen werden.« Er machte sich sogleich mit der Karaffe und den Gläsern zu schaffen, ohne erst eine Antwort abzuwarten. »Daß ich nicht vergesse, Mylord, haben Sie das Allerneueste schon gehört? Boney ist tot.«

Hornblower hatte sich noch nicht gesetzt. Er hatte den Sherry zurückweisen wollen. Der Gouverneur legte bestimmt keinen Wert darauf, mit einem Mann ohne Ehre anzustoßen. Jetzt ließ er sich in den Sessel fallen und griff automatisch nach dem gebotenen Glas. Seine Antwort auf die Mitteilung des Gouverneurs bestand nur aus einem unartikulierten Gekrächze.

»Ja«, fuhr der Gouverneur fort, »er starb vor drei Wochen auf St. Helena. Dort hat man ihn auch begraben, und so ist denn nun endgültig Schluß mit ihm. Was ist denn? Fehlt Ihnen etwas, Mylord?«

»Oh, nein, danke, mir geht es ausgezeichnet«, erwiderte Hornblower. Das kühle, dämmerige Zimmer schien sich um ihn zu drehen. Als er sich wieder etwas gefaßt hatte, kam ihm die heilige Elisabeth von Ungarn in den Sinn. Eines Tages brachte diese, dem ausdrücklichen Befehl ihres Gemahls zuwider, den Armen zu essen - eine ganze Schürze voll Brot - und wurde dabei von ihm überrascht. »Was hast du in deiner Schürze?« fragte er sie. »Rosen«, log die heilige Elisabeth. »Zeige sie mir«, verlangte ihr Gemahl. Die Heilige öffnete ihre Schürze - sie war bis zum Rand voller Rosen.

›Das Leben kann also wieder beginnen‹, sagte sich Hornblower.