Der Stern des Südens
Wo in aller Welt konnte es schöner sein, mit einer Yacht zur See zu fahren, als hier in der freien Weite des Atlantik, am Rande der Tropen, wo der Passat am frischesten wehte? So mußte sich Hornblower unwillkürlich fragen, denn das, was sie hier trieben, war ja wirklich nicht mehr als eine Lustfahrt mit einer Yacht. Vor kurzem erst hatte er eine harte seelische Prüfung durchgestanden, in deren Verlauf der Friede der ganzen Welt von seinen Entschlüssen abhing. Gemessen an jenen schweren Tagen dünkten ihm die Alltagspflichten eines Oberbefehlshabers der Westindischen Station so leicht wie ein fröhliches Spiel.
Jetzt stand er auf dem Achterdeck Sr. Britannischen Majestät Fregatte Clorinda und hielt sich dort federnd im Gleichgewicht, während das Schiff mit gekürzten Segeln luvwärts strebte. Der Passatwind sauste ihm um die Ohren, und die Morgensonne durchströmte ihn mit ihrer köstlichen Wärme. Sooft sich die Clorinda stampfend und rollend über eine See hinweghob, wanderten die Schatten der Luvriggen hin und zurück über das Deck; rollte sie nach Luv auf die tiefstehende Morgensonne zu, dann huschten die Schattenstriche der Webeleinen der Kreuzwanten jedes Mal in rascher Folge über seine Augen, was sein Wohlbefinden durch eine Art hypnotischer Wirkung noch erhöhte. Ein Oberbefehlshaber zu sein, der sich um nichts zu kümmern brauchte als um die Unterdrückung des Sklavenhandels, die Bekämpfung der Seeräuberei und die Ausübung der Polizeigewalt im Karibischen Meer, das war schöner als alle Herrlichkeit eines Kaisers, schöner selbst als die kühnsten Träume eines Poeten. Die barfüßigen Matrosen spülten unter Lachen und Scherzen die Decks, die Morgensonne zauberte funkelnde Regenbogen in den Gischt, der am Bug zu luward immer wieder hoch aufspritzte, und - was das allerschönste war - er konnte sein Frühstück haben, wann immer es ihm gefiel. Aber einstweilen blieb er noch auf dem Achterdeck und ließ sich mit dem Frühstück noch etwas Zeit, um die Vorfreude richtig auszukosten.
Seine gute Stimmung erhielt einen kleinen Stoß, als der Kommandant, Kapitän Sir Thomas Fell, auf dem Achterdeck erschien. Sir Thomas, ein hohlwangiger, verdrossen dreinschauender Mensch, fühlte sich natürlich verpflichtet, sofort herbeizueilen, um seinem Admiral Gesellschaft zu leisten, weil er wegen seines Mangels an Feingefühl völlig außerstande war zu bemerken, daß er im Augenblick unerwünscht war.
»Guten Morgen, Mylord«, sagte er und hob dabei grüßend die Hand an den Hut. »Guten Morgen, Sir Thomas«, gab Hornblower zur Antwort und erwiderte den Gruß. »Ein schöner frischer Morgen heute, Mylord.«
»Ja, wunderbar.«
Sir Thomas musterte sein Schiff mit dem kritischen Blick des Kommandanten. Seine Augen wanderten das Deck entlang, dann in die Takelage und zuletzt achteraus, wo sich die Berge von Puerto Rico als dunkle Schatten über die Kimm erhoben.
Hornblower hatte plötzlich das Gefühl, daß ihm sein Frühstück wichtiger war als irgend etwas anderes auf der Welt, zugleich aber gab er sich darüber Rechenschaft, daß er diesem Verlangen nicht so unverzüglich nachgeben konnte, wie es einem Oberbefehlshaber eigentlich zugestanden hätte. Die Regeln des guten Benehmens legten eben selbst einem Kommandierenden Admiral ihre Fesseln an - er zum mindesten fühlte sich dadurch gebunden. Er brachte es einfach nicht fertig, sich abzuwenden und unter Deck zu gehen, ohne noch ein paar Worte mit Fell zu sprechen.
»Vielleicht machen wir heute noch einen Fang, Mylord«, meinte Fell. Dabei wanderten die Blicke beider Männer unwillkürlich nach oben, wo in schwindelnder Höhe ein Ausguckposten in der Großbramsaling hockte. »Wir wollen's hoffen.« Er hatte für Fell beim besten Willen noch nie Sympathie aufbringen können, und überdies waren ihm dienstliche Gespräche auf nüchternen Magen gründlich zuwider.
Um sich von all dem nichts anmerken zu lassen, fügte er leichtsinnigerweise hinzu: »Man kann fast sagen, wir können damit rechnen.«
»Die Spanier«, fiel Fell sofort ein, »werden bestrebt sein, vor der Unterzeichnung des Abkommens noch so viele Ladungen herüberzubringen, wie sie irgend können.«
»Darüber waren wir uns schon einig geworden«, stimmte ihm Hornblower bei. Vor dem Frühstück verstaubte Gedankengänge wiederzukäuen, war ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Aber es sah Fell ähnlich, daß er dieses längst erledigte Thema wieder aufgriff. »Und hier werden sie auf jeden Fall Land ansteuern«, fuhr Fell erbarmungslos fort und warf dabei abermals einen Blick achteraus, wo Puerto Rico eben noch über der Kimm lag.
»Ja«, sagte Hornblower. Noch ein paar Minuten dieser sinnlosen Unterhaltung, dann konnte er sich mit Anstand unter Deck zurückziehen.
Fell griff zum Megaphon und richtete den Trichter nach oben.
»Topp, Paß mir gut auf, sonst kannst du was erleben!«
»Aye, aye, Sir«, kam die Antwort von oben. »Es geht immerhin um das Kopfgeld, Mylord«, meinte Fell, als ob er sich wegen seiner Drohung entschuldigen wollte.
»Ja, ja, das käme uns allen gelegen«, gab Hornblower höflich zur Antwort.
Kopfgeld wurde von der britischen Regierung für Sklaven gezahlt, die auf hoher See befreit wurden. Es stand den Schiffen der Royal Navy zu, die an der Aufbringung von Sklavenhändlern beteiligt waren, und wurde genau wie andere Prisengelder unter der Besatzung des Schiffes verteilt. Im Vergleich zu den gewaltigen Summen, die während der großen Kriege auf diese Art erworben werden konnten, handelte es sich hierbei um recht bescheidene Beträge, aber fünf Pfund pro Kopf brachten bei einem größeren Fang dem betreffenden Schiff doch schon eine ganz beachtenswerte Summe Geldes ein. Der Kommandant erhielt ein Viertel dieser Summe, der Admiral, ganz gleich ob er an Bord war oder nicht, ein Achtel. Es war ein Verteilungsschlüssel, der es begreiflich macht, warum die Admirale, die während der großen Kriege die Kanalflotte oder die Streitkräfte im Mittelmeer führten, Millionäre werden konnten, wofür Lord Keith als Beispiel gelten mag. »Niemand käme es gelegener als mir, Mylord«, sagte Fell. »Das mag sein«, meinte Hornblower. Hornblower glaubte zu wissen, daß Fell ständig in Geldschwierigkeiten war. Er war seit Waterloo, also schon recht lange Zeit, auf Halbsold gewesen und bezog jetzt als Kommandant eines fünftrangigen Schiffes weniger als zwanzig Pfund im Monat an Gehalt und Zulagen. Dabei war es noch ein Glück für ihn, daß er in Friedenszeiten überhaupt das Kommando über ein Schiff erhielt, und wenn es auch nur ein fünftrangiges war. Hornblower wußte aus eigener Erfahrung, was es hieß, ein armer Kommandant zu sein, baumwollene statt seidene Strümpfe zu tragen und Achselstücke aus Messing statt aus Gold auf die Schultern heften zu müssen. Aber er hatte nicht die geringste Lust, vor dem Frühstück die Gehaltstabellen durchzuackern. »Lady Fell, Mylord«, fuhr Fell unerbittlich fort, »hat immerhin eine Position in der großen Welt zu wahren.«
Hornblower hatte schon gehört, daß sie das Geld zum Fenster hinauswarf.
»Hoffen wir also, daß uns heute das Glück hold ist«, sagte Hornblower und dachte dabei immer noch lebhaft an sein Frühstück. Es wirkte geradezu melodramatisch, daß ausgerechnet in diesem Augenblick aus dem Topp der Ruf erscholl: »Segel in Sicht! Segel recht zu luward!«
»Vielleicht ist es das ersehnte, Sir Thomas«, bemerkte Hornblower.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht, Mylord. Ausguck, welchen Kurs steuert das Schiff? Mister Sefton, gehen Sie hart an den Wind!«
Hornblower zog sich an die Luvreling zurück. Es fiel ihm immer wieder schwer, sich in die Stellung eines Admirals an Bord zu finden, der sich mit der Rolle eines interessierten Zuschauers zu begnügen hatte, wenn die Schiffsführung im entscheidenden Augenblick ihre Anordnungen traf. Untätig zuschauen zu müssen war ihm schon peinlich genug, und doch war es ihm immer noch lieber, als einfach unter Deck zu gehen und nichts von dem zu sehen, was sich begab. So zog er es denn vor, sein Frühstück noch eine Weile warten zu lassen.
»An Deck! Das Schiff ist ein Zweimaster, hält recht auf uns zu. Führt alle Segel bis zu den Royals. Ein Schooner, Sir! Ein großer Schooner! Hält immer noch auf uns zu!« Der junge Gerard, Hornblowers Flaggleutnant, war auf den ersten Ruf des Ausgucks hin an Deck gestürzt und pflichtbewußt zu seinem Admiral geeilt.
»Ein Marssegelschooner«, sagte er, »ein großer noch dazu.
Das könnte einer von denen sein, auf die wir warten, Mylord.«
»Hm, er könnte auch alles mögliche andere sein«, sagte Hornblower, ängstlich darauf bedacht, seine alberne Aufregung zu verbergen. Gerard hob den Kieker und suchte die Luvkimm ab.
»Da ist er! Ja, er hält auf uns zu! Der Fall der Masten! Der Schnitt der Marssegel! Nein, Mylord, das ist kein Inselschooner.«
Wenn sie wirklich einen Sklavenhändler vor sich hatten, so war das nicht einmal zu verwundern. Hornblower hatte ja die Clorinda hier in Luv von San Juan kreuzen lassen, weil er nicht daran zweifelte, daß die Sklavenschiffe mit ihren Ladungen eiligst diesem Hafen zustrebten. Spanien stand vor dem Entschluß, sich an der Unterdrückung des Sklavenhandels zu beteiligen, das war für alle Sklavenhändler das Signal, ihre Ladungen möglichst rasch ans Ziel zu bringen und die erhöhten Preise für ihre Ware einzuheimsen, ehe das Verbot in Kraft trat.
Der Hauptsklavenmarkt für die spanischen Kolonien war Havanna, tausend Meilen weiter in Lee, aber man konnte dennoch damit rechnen, daß spanische Sklavenschiffe, von der Sklavenküste kommend, zuerst Puerto Rico anliefen, um ihren Wasservorrat aufzufüllen und vielleicht sogar einen Teil ihrer Ladung loszuschlagen. Es war also nur das Ergebnis nüchterner Überlegung, wenn er die Clorinda hier kreuzen ließ, um ihnen den Weg zu verlegen. Hornblower nahm nun selbst den Kieker zur Hand und richtete ihn auf den rasch näherkommenden Schooner. Er fand bestätigt, was Gerard eben gesagt hatte. Der Rumpf war nun schon über der Kimm, man sah, daß dieses Schiff ganz auf Schnelligkeit gebaut war und daß es ungewöhnlich schwere Spieren besaß. Ein Fahrzeug mit so scharfen Linien machte sich nur bezahlt, wenn es hochverderbliche Ladungen - Menschenfracht - transportierte.
Während er noch beobachtete, sah er, wie die weißen Rechtecke der Rahsegel plötzlich schmäler wurden und wie sich zugleich der Abstand zwischen den Masten erweiterte. Man drehte also ab, um der wartenden Clorinda auszuweichen - ein weiterer, endgültiger Beweis, wenn es noch eines solchen bedurft hätte, daß der erste Eindruck richtig gewesen war. Der Schooner ging mit Steuerbordhalsen an den Wind, um in sicherer Entfernung zu bleiben und den Abstand so rasch wie möglich noch zu vergrößern.
»Mister Sefton«, schrie Fell, »voll und bei! Mit Steuerbordhalsen hinter ihm her! Setzen Sie die Royals!« Rasch und doch in Ordnung und Disziplin eilte eine Anzahl Männer an die Brassen, während andere in die Toppen enterten, um mehr Segel zu setzen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Clorinda die Verfolgung aufgenommen hatte und hart am Wind liegend gegenanstampfte. Die Rahen waren scharf angebraßt, jeder Quadratmeter Segel, den der frische Passat zu setzen erlaubte, stand, so wühlte sie sich hart überliegend durch die Seen. Eine Woge um die andere brach sich an ihrem Vorsteven, so daß der Gischt in ganzen Wolken achteraus flog. In den brechend steifen Luvwanten heulte der Wind. Mit der friedlichen Ruhe, die eben noch geherrscht hatte, war es mit einem Schlage vorbei.
»Die Flagge setzen«, befahl Fell. »Jetzt werden wir wohl gleich sehen, wen wir da vor uns haben.« Hornblower beobachtete durch sein Glas, wie nun auch der Schooner seine Flagge setzte - es war das Rot und Gelb Spaniens.
»Haben Sie gesehen, Mylord?« fragte Fell. »Verzeihung, Sir«, unterbrach Sefton, der wachhabende Offizier, »ich kenne dieses Schiff. Während meines letzten Kommandos habe ich es zweimal gesehen. Es ist die Estrella.«
»Die Australia?« rief Fell überrascht, weil er Seftons spanische Aussprache nicht richtig verstanden hatte. »Die Estrella, Sir. Die Estrella del Sur - der Stern des Südens, Sir.«
»Über die Estrella weiß ich Bescheid«, warf Hornblower ein.
»Ihr Kapitän heißt Gomez - er bringt von jeder Reise vierhundert Sklaven mit, vorausgesetzt, daß er nicht zu viele Verluste hat.«
»Vierhundert...«, wiederholte Fell.
Hornblower sah ihm an, wie er kurz überschlug. Fünf Pfund pro Kopf, das machte zweitausend Pfund, ein Viertel davon waren fünfhundert Pfund - das Gehalt von zwei Jahren mit einem einzigen Schlag. Fell schoß rasche Blicke nach oben und nach der Estrella.
»Luv halten!« schrie er den Rudergänger an. »Mister Sefton, lassen Sie die Fock-Buliens nachsetzen!«
»Sie liegt höher als wir«, sagte Gerard mit dem Glas am Auge. Das war nicht anders zu erwarten. Ein gut gebauter Schooner kreuzte immer besser als eine noch so hoch am Wind liegende rahgetakelte Fregatte.
»Sie läuft uns außerdem weg«, sagte Hornblower, der laufend den Seitenwinkel und die Entfernung schätzte. Die Estrella lag also nicht nur höher am Wind, sie lief außerdem auch noch mehr Fahrt durchs Wasser. Nur um ein Weniges mehr, so viel stand fest, eine Meile, höchstens zwei, aber eben doch genug, um sie vor der Clorinda in Sicherheit zu bringen.
»Und ich kriege sie doch!« rief Fell. »Mister Sefton! Alle Mann auf! Lassen Sie die Luvgeschütze ausrennen! Mister James! Holen Sie Mister Noakes! Sagen Sie ihm, er soll das Frischwasser ablassen. Besetzen Sie die Pumpen, Mister Sefton!
Lassen Sie das Schiff lenz pumpen.« Die Besatzung quoll aus den Niedergängen an Deck. Die Geschützpforten wurden geöffnet, die Bedienungen warfen sich mit aller Kraft in die Geschütztakel und holten die schweren Kanonen der Luvseite Zoll für Zoll den steilen Hang des geneigten Decks hinauf. Die hölzernen Lafettenräder rumpelten dröhnend über die Plankennähte und verursachten wieder einmal jenes erregende Geräusch, das in früheren Jahren so mancher verzweifelten Schlacht vorausgegangen war. Heute wurden die Geschütze nur ausgerannt, um das Schiff durch die Verlagerung ihres Gewichts etwas aufzurichten, damit sich der seitliche Widerstand des Rumpfs im Wasser erhöhte und die Abdrift entsprechend geringer wurde. Hornblower sah sich an, wie die Pumpen bemannt wurden. Die Leute warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die Griffe und das rasche Klickklack der Pumpen verriet, mit welchem Eifer sie am Werk waren. Sie pumpten die zwanzig Tonnen Trinkwasser über Bord, die sonst so eifersüchtig gehütet wurden, weil sie das Lebensblut eines kreuzenden Schiffes auf See bedeuteten. Aber die kleine Verringerung des Tiefgangs, die sich durch ihre Opferung erzielen ließ, mochte zusammen mit dem Ausrennen der Luvgeschütze doch vielleicht ein paar Meter mehr Fahrt einbringen.
Der Allemannpfiff hatte auch Mister Erasmus Spendlove, Hornblowers Sekretär, an Deck gelockt. Er betrachtete das wohlgeordnete Getümmel mit jener olympischen Überlegenheit, die Hornblower immer wieder entzückte. Spendlove gefiel sich in der Rolle eines Mannes, den nichts aus der Fassung brachte, womit er gewisse Leute zur Raserei bringen konnte, während andere ihren Spaß daran fanden. Dabei war er ein besonders tüchtiger Sekretär, und Hornblower hatte noch keinen Augenblick bereut, daß er der Empfehlung von Lord Exmouth gefolgt war und ihm den Posten gegeben hatte.
»Sie sehen die misera plebs hart an der Arbeit, Mister Spendlove«, sagte Hornblower.
»Gewiß, man müht sich offenbar gewaltig, Mylord.« Er warf einen Blick nach Luv auf die Estrella. »Ich hoffe, die Arbeit wird ihre Früchte tragen.«
Fell kam mit hastigen Schritten vorüber, seine Blicke wanderten immer noch zwischen den eigenen Toppen und der Estrella hin und her.
»Mister Sefton, rufen Sie den Zimmermann. Ich möchte die Keile am Großmast gelockert haben. Wenn der Mast mehr Spiel hat, laufen wir vielleicht etwas besser.« Hornblower merkte, wie Spendlove plötzlich einen veränderten Ausdruck zeigte. Ihre Blicke begegneten sich. Spendlove war tief in die Theorie der Schiffskonstruktion eingedrungen, und Hornblower besaß eine lebenslange Erfahrung. Der Blick, den sie miteinander tauschten, so kurz wie er war, genügte, um ihnen zu verraten, daß sie sich in ihrem Urteil über diese bedenkliche Maßnahme einig waren. Hornblower beobachtete aufmerksam die Luvwanten, die jetzt um so mehr Zug auszuhalten hatten. Es war nur gut, daß die Clorinda eben erst mit neuem stehenden Gut ausgerüstet worden war.
»Man kann nicht behaupten, daß wir schneller geworden sind, Mylord«, sagte Gerard, ohne den Kieker abzusetzen.
Die Estrella war merklich davongelaufen und stand jetzt obendrein weiter in Luv. Wenn sie wollte, konnte sie bis Mittag aus Sicht sein. Jetzt sah Hornblower, daß Spendlove plötzlich seltsame Grimassen schnitt. Er hatte die Nase in die Luft gesteckt und sog schnuppernd den vorüberstreichenden Wind ein. Da entsann er sich, daß auch ihm schon ein paar Mal so gewesen war, als ob der saubere Passat plötzlich eine Wolke von unglaublichem Gestank herangetragen hätte, ohne daß es ihm eingefallen wäre, sich über diese seltsame Wahrnehmung Rechenschaft zu geben. Jetzt folgte er Spendloves Beispiel und bekam abermals diesen Gestank in die Nase. Zugleich war ihm wieder gegenwärtig, was das war. Hatte er nicht vor zwanzig Jahren den gleichen Gestank gerochen, als eine mit Sklaven vollgepackte spanische Galeere in Luv passierte? Der Passat, der von der Estrella genau in Richtung der Clorinda wehte, trug den üblen Geruch der Menschenfracht zu ihnen hinüber und verpestete die Luft bis weit nach Lee über die makellos blaue See hinweg.
»Jetzt wissen wir wenigstens, daß sie eine volle Ladung an Bord hat«, sagte er.
Fell war noch immer mit verbissenem Eifer bemüht, die Segeleigenschaften der Clorinda zu verbessern. »Mister Sefton, lassen Sie alle Geschosse nach Luv schaffen.«
»Die Estrella ändert Kurs!« Ein halbes Dutzend Stimmen sang diese Nachricht gleichzeitig aus. »Belege den Befehl, Mister Sefton!«
Fells Kieker richtete sich wie alle anderen auf die Estrella.
Die hatte ihr Ruder ein wenig aufgelegt und fiel mit frecher Stirn ab, um der Clorinda vor dem Bug vorüber zu laufen.
»Dieser unverschämte Hund!« schrie Fell. Jedermann verfolgte gespannt, wie die beiden Schiffe auf konvergierenden Kursen dahinjagten. »Sie schert uns noch außer Schußweite vor dem Bug vorbei«, prophezeite Gerard. Mit jeder Sekunde des Zögerns konnte man deutlicher sehen, daß es so kommen mußte.
»An die Brassen!!« brüllte Fell. »Rudergänger! Backbordruder!
Komm auf! Komm auf! Recht so, wie's jetzt geht!«
»Wir sind zwei Strich abgefallen«, sagte Hornblower. »Damit haben sich unsere Aussichten gebessert.« Der Bug der Clorinda wies jetzt auf einen mehrere Meilen vorausliegenden Schnittpunkt mit dem Kurs der Estrella. Da jetzt beide Schiffe mit raumerem Kurs liefen, konnte man überdies annehmen, daß die Estrella aus ihren Schratsegeln und ihren scharfen Linien nicht mehr so viel Vorteil zog.
»Nehmen Sie einmal eine Peilung, Gerard«, befahl Hornblower.
Gerard trat an den Kompaß und las die Peilung sorgfältig ab.
Spendlove ließ seinen Blick über das blitzblaue Wasser wandern und meinte: »Ich weiß nicht, aber mir scheint, sie läuft uns immer noch weg.«
»Wenn das stimmt«, sagte Hornblower, »dann können wir nur noch hoffen, daß ihr etwas von oben kommt.«
»Gewiß, Mylord, diese Hoffnung bleibt uns noch«, sagte Spendlove. Der Blick, den er dabei nach oben sandte, verriet seine Angst, daß die Takelage der Clorinda noch vor der des Sklavenschiffs zu Bruch gehen könnte. Die Clorinda hatte jetzt Wind und See nahezu querein. Sie führte jeden Fetzen Leinwand, den sie tragen konnte, und lag unter dem gewaltigen Druck ihrer Segel so weit auf der See, daß sie sich nur mit Widerstreben über die anrollenden Seen hinwegzuwälzen schien, die gurgelnd durch ihre offenen Geschützpforten rauschten. Hornblower merkte, daß er keinen trockenen Faden mehr am Leib hatte, aber unter diesen Umständen war wohl niemand an Bord besser daran. »Mylord haben immer noch nicht gefrühstückt«, sagte Gerard.
Hornblower suchte zu verbergen, daß ihn diese Erinnerung irgendwie irritierte. Er hatte das Frühstück ganz vergessen, obwohl er sich noch vor kurzem so lebhaft darauf gefreut hatte.
»Ganz recht, Mr. Gerard«, sagte er scherzend, aber nicht eben geistreich, weil ihm die Frage zu überraschend gekommen war.
»Und was, meinen Sie, soll nun werden?«
»Ich fühle mich verpflichtet, Sie daran zu erinnern, Mylord«, sagte Gerard, »Ihre Ladyschaft...«
»Ihre Ladyschaft hat Ihnen ans Herz gelegt, mich zu geregelten Tischzeiten anzuhalten«, entgegnete Hornblower.
»Das weiß ich wohl. Aber ihre Ladyschaft konnte auf Grund mangelnder Erfahrung natürlich nicht wissen, daß einem ausgerechnet zur Tischzeit ein schnellsegelnder Sklavenhändler in die Quere kommen kann.«
»Darf ich Ihnen dennoch nahelegen, jetzt etwas zu sich zu nehmen, Mylord?«
Da er nun wieder an das Frühstück erinnert worden war, lockte es ihn mehr als je zuvor, aber es fiel ihm doch allzu schwer, ausgerechnet während dieser spannenden Verfolgungsjagd unter Deck zu gehen.
»Nehmen Sie noch eine Peilung, ehe ich mich entscheide«, sagte er, um noch etwas Aufschub zu gewinnen. Gerard trat wieder an den Kompaß.
»Die Peilung wird stetig spitzer, Mylord«, meldete er. »Wir werden sie bald recht voraus haben.«
»Das stimmt«, sagte Spendlove, der seinen Kieker dauernd auf die Estrella gerichtet hielt.
»Es scheint - ja wirklich, es sieht so aus, als holten sie an ihren Schoten. Vielleicht...«
Hornblower riß sofort sein Glas ans Auge. »Sie halst!« rief er.
»Weiß Gott, sehen Sie nur, wie sie herumkommt!« Die Estrella hatte offenbar einen schneidigen Kapitän und eine gut ausgebildete Mannschaft. Sie hatte ihre Schoten dichtgeholt, und die Besatzung stand klar an den Marsbrassen. Das Ruder wurde hart aufgelegt, so daß sie in rascher Drehung herumkam. Jetzt zeigte sie sich vor Hornblowers bewaffnetem Auge in ihrer ganzen Schönheit von der Seite. Ihr neuer Kurs führte von Steuerbord nach Backbord quer vor dem Bug der Clorinda vorbei und das nicht einmal in allzu großer Entfernung.
»Ein unverfrorener Bursche!« rief Hornblower, aber er konnte doch nicht umhin, den Wagemut und die hervorragende Seemannschaft des Kapitäns da drüben zu bewundern.
Fell stand dicht neben ihm und starrte nach dem unverschämten Schooner hinüber. Er war wie erstarrt, nur seine Rockschöße schlugen ihm im Wind um die Beine.
Sekundenlang hatte es den Anschein, als ob die beiden Fahrzeuge einem Punkt zustrebten, an dem sie sich treffen mußten, aber dieser Eindruck hielt nicht lange vor. Auch ohne Kompaßpeilungen zeigte es sich nur allzubald, daß die Estrella mit Leichtigkeit vor der Fregatte vorbeikam.
»Geschütze einrennen!« schrie Fell. »Klar zum Halsen! Die Buggeschütze klar!«
Es konnte sein, daß der Schooner eben noch in den Schußbereich der Buggeschütze kam, aber es war doch ein höchst unsicheres Unterfangen, bei diesem schweren Seegang auf große Entfernung zu schießen. Erzielte man dabei überhaupt einen Treffer, so schlug die Kugel womöglich nicht in die Takelage, sondern in den Rumpf und richtete unter den armen Sklaven ein Blutbad an. Hornblower wollte sich darum auf jeden Fall ins Mittel legen, wenn Fell mit dem Feuern Ernst machte.
Die Geschütze waren eingerannt, Fell sah sich die Entwicklung der Dinge noch eine Minute lang an, dann ließ er Backbord Ruder legen und brachte das Schiff platt vor den Wind. Hornblower beobachtete durch sein Glas, daß der Schooner jetzt mit halbem Winde segelte und dabei hart überlag, so hart, daß sich beim Überholen sogar sein gekupferter Boden wie ein rötlicher Strich aus der blauen See hob. Es lag jetzt auf der Hand, daß er weit vor dem Bug der Fregatte vorüberzog.
Auch Fell hatte es offenbar stillschweigend eingesehen, da er den Kurs um weitere zwei Strich nach Backbord ändern ließ.
Die Estrella hatte es ihren zwei Meilen Fahrtüberschuß, ihrer größeren Beweglichkeit und ihren besseren Amwind-Eigenschaften zu danken, daß sie buchstäblich in einem Halbkreis um die Clorinda herumsegeln konnte.
»Sie ist eben ein ausgesprochener Schnellsegler - ganz auf Geschwindigkeit gebaut, Mylord«, bemerkte Spendlove hinter seinem Kieker hervor.
Das war die Clorinda auch, nur mit dem Unterschied, daß sie eben ein Kriegsschiff war, das siebzig Tonnen Artillerie und vierzig Tonnen Pulver und Geschosse mit sich schleppen mußte.
Darum war es auch keine Schande, wenn sie von einem Fahrzeug wie der Estrella ausgesegelt und ausmanövriert wurde.
»Ich nehme an, Sir Thomas, daß sie in San Juan einlaufen wird«, sagte Hornblower. Als sich Fell seinem Admiral zuwandte, stand ihm seine ohnmächtige Wut deutlich genug im Gesicht geschrieben. Er zügelte mit sichtlicher Mühe den Drang, seinen Gefühlen hemmungslos und vor allem in wüsten Schimpfreden Luft zu machen.
»Das ist... das ist...«, stammelte er. »Ja, das könnte sogar einen Heiligen zur Raserei bringen.«
Die Clorinda hatte zwanzig Meilen zu luward von San Juan in einer geradezu idealen Position gelegen, und die Estrella war ihr sozusagen in die Arme gelaufen. Und doch hatte sie es am Ende fertiggebracht, ihrem Verfolger elegant auszuweichen und sich auf diese Art freie Bahn zu ihrem Hafen zu verschaffen.
»Ich kriege den Kerl noch, Mylord!« knirschte Fell.
»Rudergänger!« Jetzt kam noch die lange Raumstrecke nach San Juan mit dem Wind einen Strich achterlicher als querein.
Das gab sozusagen eine Wettfahrt mit fliegendem Start.
Fell setzte den Kurs nach San Juan ab, man sah auf den ersten Blick, daß die Estrella, die Steuerbord querab gut außer Schußweite lag, dem gleichen Ziel zustrebte. Beide Schiffe hatten den Wind ungefähr von der Seite, die lange Strecke, die vor ihnen lag, mußte endgültig zeigen, welches das schnellere war. Im Augenblick liefen sie nebeneinander her wie zwei Yachten, die bei einer Wettfahrt auf dem Solent ihre Dreiecksbahn absegelten. Hornblower dachte wieder daran, daß er diese Reise der Clorinda noch vor wenigen Stunden mit einer Yachtfahrt verglichen hatte. Sein Flaggkapitän sah die Dinge allerdings mit anderen Augen an, das verriet sein verbissener Ausdruck. Fell trug einen grimmigen Ernst zur Schau, aber nicht etwa, weil er sich als Menschenfreund über das traurige Los der Sklaven empörte - o nein, ihm ging es um das heißbegehrte Kopfgeld.
»Ihr Frühstück, Mylord?« erkundigte sich Gerard. Ein Offizier trat grüßend zu Fell und meldete, es sei Zeit für acht Glasen - Mittag. »Gut, lassen Sie pfeifen«, sagte Fell. Gleich darauf erklang im ganzen Schiff der willkommene Ruf:
»Antreten zum Schnapsempfang!«
»Frühstück, Mylord?« fragte Gerard abermals. »Wir wollen noch ein bißchen warten«, sagte Hornblower. »Ich möchte gern wissen, wie sich die Clorinda auf diesem Kurs benimmt.« Er sah Gerards enttäuschte Miene und lachte: »Mir scheint, Ihnen geht es in erster Linie um Ihr eigenes Frühstück, wie? Haben Sie auch noch nichts im Magen?«
»Nein, Mylord.«
»Ich lasse meine jungen Leute grausam verhungern«, sagte Hornblower und ließ seinen Blick von Gerard zu Spendlove wandern, aber dieser tat merkwürdigerweise ganz unbeteiligt.
Da wußte Hornblower gleich Bescheid: »Ich wette eine Guinee«, sagte er, »daß Spendlove nicht den ganzen Vormittag gefastet hat.«
Sein Angebot fand nur ein breites Grinsen als Antwort. »Ich bin zwar kein Seemann, Mylord«, sagte Spendlove schließlich, »aber eines habe ich bei meinen Seefahrten doch gelernt: Sobald eine Mahlzeit in Erscheinung tritt, gilt es zuzugreifen. Die Gelegenheit zum Essen schwindet an Bord so rasch und unwiederbringlich dahin wie ein goldenes Traumschloß.«
»Sie sind also mit vollem Bauch an Deck spazieren gegangen, während Ihr Admiral Hunger litt? Pfui, schämen Sie sich!«
»Ich schäme mich so gründlich, wie es im vorliegenden Falle geboten scheint, Mylord.«
Offenbar war Spendlove so taktvoll und wortgewandt, wie es sich für den Sekretär eines Admirals gehörte. »An die Großbrassen!« brüllte Fell.
Die Clorinda rauschte mit halbem Wind durch die blaue See, sie lief bei dieser Windrichtung am besten, und Fell tat überdies sein möglichstes, um auch das letzte an Fahrt aus ihr herauszuholen. Hornblower warf einen Blick nach der Estrella.
"Ich fürchte, wir fallen zurück«, sagte er. "Mir scheint es auch so, Mylord«, sagte Gerard nach kurzer Beobachtung und ging wieder zum Kompaß, um eine Peilung zu nehmen. Fell verfolgte sein Tun mit gereizter Miene und wandte sich dann an Hornblower. »Ich hoffe«, sagte er, »Sie werden zugeben, Mylord, daß die Clorinda alles geleistet hat, was man von einem Schiff billigerweise verlangen kann.«
»Gewiß, Sir Thomas«, sagte Hornblower. Im Grunde wollte Fell damit zum Ausdruck bringen, daß ihn und seine Schiffsführung kein Vorwurf treffen könne. Hornblower glaubte zwar zu wissen, daß ihm manches besser gelungen wäre, dennoch konnte er nicht daran zweifeln, daß die Estrella so oder so entwischt wäre.
»Dieser Schooner läuft wie behext«, sagte Fell. »Sehen Sie nur hin, Mylord!«
Die wundervollen Linien und der meisterhafte Segelriß der Estrella bestachen sogar auf diese Entfernung. »Es ist ein wunderbares Schiff«, bestätigte Hornblower. »Sie läuft uns weg, soviel steht fest«, verkündete Gerard vom Kompaß her. »Und mir scheint, sie luvt uns dabei noch aus.«
»Damit sind meine fünfhundert Pfund beim Teufel«, sagte Fell verbittert. Er hätte das Geld doch so dringend gebraucht.
»Rudergänger! Einen Strich luven. An die Brassen!« Er brachte die Clorinda etwas höher an den Wind und beobachtete eine Weile, wie sie sich dabei verhielt. Dann wandte er sich wieder an Hornblower: »Ich werde die Jagd erst aufgeben, wenn es nicht mehr anders geht.«
»Da haben Sie vollkommen recht«, stimmte ihm Hornblower zu.
In Fells Miene mischten sich Resignation und Verzweiflung.
Hornblower war sich darüber klar, daß ihn außer dem Verlust des Geldes auch noch eine ganz andere Sorge bedrückte. Die Lords der Admiralität erfuhren natürlich aus dem einzureichenden Bericht von Fells Versuch, die Estrella zu kapern, und von dem beinahe lächerlichen Fehlschlag, den er dabei erlitten hatte. Selbst wenn Hornblowers eigener Bericht diesen Mißerfolg in möglichst mildem Licht erscheinen ließ, der Mißerfolg als solcher blieb. Das bedeutete, daß Fell nach Ablauf seines zweijährigen Kommandos nie mehr Verwendung fand, da ja auf jeden Kapitän im aktiven Dienst der Royal Navy mindestens zwanzig andere kamen, die nach einem Kommando lechzten. Unter diesen Umständen wurde schon das kleinste Versagen eines Mannes zum Anlaß genommen, seiner Laufbahn ein Ende zu setzen, es konnte ja gar nicht anders sein. Fell sah also schon mit banger Sorge dem Los entgegen, den Rest seiner Tage auf Halbsold verbringen zu müssen. Und Lady Fell war eine teure und ehrgeizige Frau. Kein Wunder, daß die gewohnten roten Wangen Fells plötzlich grau und eingefallen wirkten. Die kleine Kursänderung, die Fell befohlen hatte, bedeutete nicht mehr und nicht weniger als das endgültige Eingeständnis seiner Niederlage. Die Clorinda hielt jetzt zwar ihre Luvposition, mußte aber zusehen, wie die Estrella nur um so schneller davonzog. »Ich fürchte, daß Sie uns bis San Juan leicht schlagen wird, Mylord«, nahm Fell den Faden wieder auf.
Sein Stoizismus war in der Tat bewundernswert.
Der purpurne Dunst, der recht voraus die Berge von Puerto Rico verriet, erhob sich immer höher und nahm immer festere Umrisse an.
»Was befehlen Sie für diesen Fall, Mylord?« "Wie viel Wasser haben Sie noch an Bord?« fragte Hornblower seinerseits.
»Fünf Tonnen, Mylord, für sechs Tage bei kleinen Rationen.«
»Sechs Tage«, wiederholte Hornblower mehr zu sich selbst.
Das war unangenehm. Die nächste britische Besitzung lag hundert Meilen zu luward.
»Ich mußte versuchen, das Schiff zu entlasten, Mylord«, sagte Fell, als ob er sich gegen einen Vorwurf rechtfertigen müßte.
»Ich weiß, ich weiß«, Hornblower war immer gereizt, wenn ihm jemand mit Entschuldigungen kam. »Wenn wir die Estrella nicht mehr fangen, laufen wir nach ihr in den Hafen ein.«
»Zu einem offiziellen Besuch, Mylord?« fragte Gerard sofort.
»Mit meiner Flagge im Topp geht es nicht gut anders«, sagte Hornblower. Offizielle Besuche waren nicht nach seinem Geschmack. »Aber wir schlagen hier gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Es ist ohnedies an der Zeit, daß ich den Spaniern mein Kompliment mache, und wir können dabei gleich unseren Wasservorrat ergänzen.«
»Aye, aye, Mylord.«
Ein repräsentativer Besuch in einem ausländischen Hafen brachte seinem Stab natürlich eine Menge Arbeit - aber der Hauptleidtragende, so sagte er sich ärgerlich, war doch auf jeden Fall er selbst.
»Ich möchte jetzt mein Frühstück haben, ehe wieder etwas dazwischenkommt«, sagte er. Die glänzende Stimmung von heute morgen war ihm gründlich vergangen. Hätte er sich jemals erlaubt, seinen menschlichen Schwächen nachzugeben, so wäre seine Laune jetzt auf dem Nullpunkt gewesen.
Als er wieder an Deck kam, zeigte es sich nur zu deutlich, daß ihnen die Estrella endgültig entkommen war. Der Schooner lag jetzt volle drei Meilen voraus und hatte dabei überdies so viel Luv gewonnen, daß die Clorinda schon fast in ihrem Kielwasser segelte. Die Küste von Puerto Rico war bereits deutlich auszumachen, die Estrella lief soeben in die Hoheitsgewässer ein und war damit gegen jeden Angriff gesichert. Im ganzen Schiff waren alle Mann eifrig an der Arbeit, um überall jenen Zustand höchster Vollkommenheit hervorzuzaubern, der an Bord eigentlich schon zum Alltag gehörte, aber auf jedem britischen Schiff besonders eindringlich zur Schau gestellt werden mußte, wenn es in einen fremden Hafen einlief und die kritischen Blicke der Ausländer auf sich gerichtet sah. Das Deck war so weiß, daß es in der Tropensonne blendete, das Messingwerk blitzte, daß dem Betrachter die Augen schmerzten.
Blanke Entermesser und Piken wurden in zierlichen Mustern am achteren Querschott aufgereiht, überall wurden weiße Baumwolleinen geschoren, die in kunstvollen Türkenbunden endeten.
»Ausgezeichnet, Sir Thomas«, sagte Hornblower anerkennend.
»Die spanische Regierung ist in San Juan durch einen Generalkapitän vertreten, Mylord«, meldete Spendlove. »Der hat den Vorrang. Ich werde ihm also meinen Besuch abstatten müssen«, sagte Hornblower. »Sir Thomas, ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich begleiten wollten.«
»Aye, aye, Mylord.«
»In großer Uniform - mit Ordensband und Stern. Es ist leider nicht zu vermeiden.«
»Aye, aye, Mylord.«
Fell war im Jahre 1813 nach einem mörderischen Gefecht mit einer Fregatte zum Ritter des Bath-Ordens ernannt worden. Die Anerkennung galt damals sowohl seinem Mut wie seinem seemännischen Können.
»Der Schooner nimmt einen Lotsen an Bord!« meldete der Ausguck aus dem Topp. »Verstanden!«
»Bald ist die Reihe an uns«, sagte Hornblower. »Höchste Zeit, daß wir uns für unsere Gastgeber zurechtmachen. Hoffentlich wissen sie es zu würdigen, daß wir nach ihrer Siesta einlaufen.«
Das war auch die Stunde, in der die Seebrise einsetzte. Der Lotse, den sie an Bord nahmen, ein großer, hübscher Quadrone, brachte das Schiff ohne die geringste Schwierigkeit in den Hafen. Dennoch stand Fell, der ihm natürlich nicht von der Seite wich, während des ganzen Manövers Todesängste aus.
Hornblower, der dabei nichts zu verantworten hatte, begab sich unterdessen auf die Back, um ein möglichst genaues Bild der Hafeneinfahrt zu gewinnen. Im Augenblick herrschte zwar Frieden, aber Spanien war zuvor ein Gegner Englands gewesen und mochte vielleicht schon bald wieder einer sein. Da konnte es zum mindesten nichts schaden, wenn er die Verteidigungsanlagen so genau wie möglich in Augenschein nahm. Er hatte denn auch bald begriffen, warum San Juan in der langen Zeit seines Bestehens von den vielen Feinden Spaniens noch nie angegriffen, geschweige denn erobert worden war. Die Stadt selbst war von einer hohen, stark gebauten Mauer mit Gräben, Bastionen und Zugbrücken umgeben, auf einer die Einfahrt beherrschenden Höhe lag das Kastell Morro, dessen Geschütze das Fahrwasser bestreichen konnten. Außerdem gab es noch ein zweites Fort - es mußte San Cristobal sein - und unten am Strand reihte sich eine Batterie an die andere, alle mit schweren Geschützen bestückt, die drohend aus ihren Bettungen ragten. Nur eine starke, mit schwerer Artillerie ausgerüstete Belagerungsarmee hätte San Juan etwas anhaben können, solange es durch eine angemessene Besatzungstruppe verteidigt wurde.
Die Seebrise brachte sie glatt durch die Einfahrt, es entstand die übliche nervöse Unsicherheit, ob sich die Spanier wohl bereit finden würden, die Flagge zu salutieren; aber diese Sorge schwand alsbald, als die Geschütze auf dem Morro ihre donnernde Antwort gaben. Hornblower stand steif grüßend auf dem Achterdeck, während das Schiff in den Hafen glitt und das Salutgeschütz auf der Back in wunderbarem Gleichtakt seine Schüsse feuerte. Die Besatzung nahm mit einer Fixigkeit die Segel weg, die alle Anerkennung verdiente. Hornblower schoß unter seinem Zweispitz einen heimlichen Blick nach oben, um sich davon zu überzeugen. Dann drehte die Clorinda auf, und ihre Ankertrosse rutschte donnernd aus der Klüse. Ein von der Sonne tiefbraun gebrannter Offizier schwang sich über die Reling und stellte sich in leidlichem Englisch als Hafenarzt vor.
Fell übergab ihm eine schriftliche Erklärung, daß an Bord der Clorinda während der letzten einundzwanzig Tage kein Fall einer ansteckenden Krankheit vorgekommen sei.
Erst hier im Hafen, wo sich die Seebrise nicht recht durchsetzen konnte, und wo das Schiff still lag, wurden sie inne, wie infernalisch heiß die Sonne vom Himmel brannte.
Hornblower spürte sofort, wie ihm unter dem Hemd und dem schweren Uniformrock der Schweiß aus allen Poren brach und drehte den Kopf benommen nach rechts und links, weil ihm die gestärkte Halsbinde den Atem nahm. Gerard wies ihm mit einer kurzen Handbewegung, was er selbst bereits entdeckt hatte, die Estrella del Sur lag schneeweiß und makellos in ihrer nächsten Nähe an der Pier. Es schien ihm, als hätte er schon wieder den Gestank in der Nase, der aus ihren offenen Luken drang. Auf der Pier war eine Abteilung Soldaten in blauen Waffenröcken mit weißen Bandelieren aufgezogen. Sie standen in recht lässiger Haltung in einem Glied und waren von einem Unteroffizier geführt. Aus dem Raum des Schooners drangen herzzerreißende Laute herüber, sie hörten sich an wie ein langgezogenes, klagendes Gewimmer. Nach einer Weile konnten sie sehen, wie eine lange Reihe nackter Neger mühsam den Niedergang heraufgeklettert kam. Die armen Menschen konnten kaum gehen, einige waren überhaupt nicht dazu imstande, sie fielen sogleich auf Hände und Knie und krochen so über Deck und auf die Pier. »Sie bringen ihre Ladung an Land«, sagte Gerard. »Ja, wenigstens einen Teil davon«, gab ihm Hornblower zur Antwort. Er war nun beinahe ein Jahr hier und hatte in dieser Zeit durch aufmerksame Beobachtung vieles über den Sklavenhandel erfahren. Gegenüber der Nachfrage, die in Havanna herrschte, war der Bedarf an Sklaven hier in Puerto Rico nur gering. Auf See waren die Sklaven, die sie hier sahen, in den Sklavendecks eingesperrt. Dort lagen sie eng aneinandergepackt »wie die Löffel in der Schatulle«, das heißt, auf der Seite mit angezogenen Knien, so daß die Knie eines jeden in die Kniekehlen seines Vordermanns paßten. Es war kein Wunder, daß der Kapitän der Estrella die Gelegenheit benutzte, seine leicht verderbliche Ladung gründlich auszulüften.
Ein Anruf von außenbords lenkte sie ab. Ein Boot mit der spanischen Flagge im Bug kam herangepullt; achtern saß ein Offizier in prächtiger Uniform, deren reiche Goldstickerei im Schein der untergehenden Sonne blitzte und funkelte.
»Aha, die hohe Behörde«, sagte Hornblower. Das Fallreep wurde gebührend besetzt, der Offizier kam unter dem Getriller der Bootsmannsmaatenpfeifen an Bord und hob die Hand zu einem sehr korrekten Gruß. Hornblower kam herzu, um ihn gemeinsam mit Fell zu begrüßen. Der Mann sprach Spanisch, und Hornblower merkte sogleich, daß Fell kein Wort davon verstand. »Major Mendez-Castillo«, stellte sich der Offizier vor, »Erster und persönlicher Adjutant Seiner Exzellenz des Generalkapitäns von Puerto Rico.«
Er war groß und schlank und trug ein winziges Bärtchen, das wie aufgeschminkt wirkte. Voller Vorsicht und Zurückhaltung faßte er die beiden Offiziere mit ihren roten Ordensbändern, Sternen und glitzernden Epauletten ins Auge, die zu seinem Empfang bereitstanden. »Willkommen, Herr Major«, sagte Hornblower. »Ich bin Konteradmiral Lord Hornblower, Oberbefehlshaber Seiner Britannischen Majestät Schiffe und Fahrzeuge in den Westindischen Gewässern. Darf ich mir erlauben, Ihnen Kapitän Sir Thomas Fell vorzustellen. Er ist Kommandant Seiner Britannischen Majestät Fregatte Clorinda.«
Mendez-Castillo verbeugte sich vor jedem der beiden Offiziere in formvollendeter Weise. Man merkte ihm ein wenig an, daß er froh war, jetzt zu wissen, wer von den beiden den höheren Rang einnahm.
»Willkommen in Puerto Rico, Eure Exzellenz«, sagte er. »Wir wissen natürlich bereits, daß der berühmte Lord Hornblower jetzt den Oberbefehl innehat und hofften schon lange, daß er uns mit seinem Besuch beehren würde.«
»Meinen besten Dank für Ihre freundlichen Worte«, sagte Hornblower.
»Auch Ihnen und Ihrem Schiff, Herr Kapitän, entbiete ich unseren Willkommensgruß«, fügte Mendez-Castillo eiligst hinzu, damit ja nicht der Eindruck entstand, er hätte einem gewöhnlichen Kommandanten nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, weil ihn die Begegnung mit dem sagenhaften Hornblower alles andere vergessen ließ. Fell beantwortete den Gruß mit einer ungelenken Verbeugung - es war nicht nötig, ihm die Worte des Spaniers zu übersetzen.
»Seine Exzellenz hat mich beauftragt«, fuhr Mendez-Castillo fort, »an Eure Exzellenz die Frage zu richten, ob sich Seiner Exzellenz anläßlich dieses denkwürdigen Besuches die Möglichkeit bietet, Eurer Exzellenz in irgendeiner Form behilflich zu sein.«
Auf spanisch ließ sich dieser prunkvolle Satz sogar noch kunstvoller und komplizierter drechseln als in englischer Sprache. Während Mendez-Castillo sprach, huschte sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde zur Estrella hinüber. Offenbar war der Versuch der Clorinda, den Sklavenhändler abzufangen, schon in allen seinen Einzelheiten bekannt geworden. Ein erhebliches Stück der vergeblichen Jagd hatte man sicherlich auch vom Morro aus genau verfolgt. Irgendwie konnte man aus dem Gebaren des Majors den Eindruck gewinnen, daß eine Erörterung des Falles Estrella überhaupt nicht in Frage kam.
»Unser Aufenthalt wird nur kurz bemessen sein«, sagte Hornblower. »Kapitän Fell muß dringend seinen Wasservorrat ergänzen.«
Als Mendez-Castillo das hörte, wurde er sofort zugänglicher.
»Wir stehen ihm selbstverständlich zu Diensten«, sagte er hastig. »Nichts könnte einfacher sein. Ich werde den Hafenkapitän anweisen, Kapitän Fell jede erdenkliche Unterstützung zu gewähren.«
»Sie sind zu gütig, Herr Major«, sagte Hornblower. Wieder wurden Verbeugungen ausgetauscht, an denen sich auch Fell lebhaft beteiligte, obwohl er kein Wort verstanden hatte.
»Seine Exzellenz wies mich ferner an«, sagte Mendez-Castillo, »seiner Hoffnung Ausdruck zu geben, daß ihn Eure Exzellenz mit Dero Besuch beehren möchten.«
»Ich hatte ebenso lebhaft gehofft, daß Seine Exzellenz die große Güte haben werde, mich dazu aufzufordern.«
»Seine Exzellenz wird entzückt sein, das zu hören. Würden Eure Exzellenz die große Güte haben, Seine Exzellenz heute Abend aufzusuchen? Seine Exzellenz wäre hocherfreut, Eure Exzellenz mit einigen Herren Ihres Stabes um acht Uhr in La Fortalesa, dem Palast von Santa Catalina, empfangen zu dürfen.«
»Seine Exzellenz ist zu gütig. Wir sind von seiner Einladung aufrichtig begeistert.«
»Ich werde Seiner Exzellenz von der Aufnahme seiner Einladung berichten. Vielleicht ist es Eurer Exzellenz angenehm, wenn ich rechtzeitig an Bord komme, um Eurer Exzellenz und dero Begleitung den Weg zu zeigen.«
»Dafür wären wir Ihnen ganz besonders verbunden, Herr Major.«
Der Major verabschiedete sich, nachdem er nochmals versichert hatte, er werde wegen der Wasserübernahme des Schiffes sofort mit dem Hafenkapitän in Verbindung treten.
Hornblower erklärte Fell in Kürze, was Mendez-Castillo gesagt hatte. »Aye, aye, Mylord.«
Schon erschien der nächste Besucher, diesmal über das Backbordfallreep. Es war ein vierschrötiger, schwerer Mann in blendendweißem Leinenanzug und mit einem breitrandigen Hut auf dem Kopf, den er mit beflissener Höflichkeit abnahm, als er auf dem Achterdeck erschien. Hornblower beobachtete ihn, wie er sich an den Fähnrich der Wache wandte, und sah auch, wie sich dieser zögernd und unsicher umsah, weil er nicht wußte, ob er dem Mann willfahren durfte oder nicht.
»Schon gut, Fähnrich«, sagte Hornblower. »Was will der Herr denn?« Es war nicht schwer zu erraten, was der Herr wollte.
Sein Besuch bot vielleicht eine gute Gelegenheit, anders als auf dem Weg über die Behörden in Kontakt mit der Bevölkerung zu kommen. So etwas war immer willkommen, besonders aber im gegenwärtigen Augenblick. Der Besucher trat näher und musterte Hornblower mit scharfem Blick aus lustigen, hellblauen Augen. »Mylord?« sagte er. Offenbar gab ihm die Admiralsuniform wenigstens kein solches Rätsel auf wie den Spaniern. »Ja, ich bin Admiral Lord Hornblower.«
»Hoffentlich falle ich Ihnen mit meinem Anliegen nicht zur Last, Mylord.« Er sprach Englisch wie ein Engländer, etwa wie einer, der am Tyne zu Hause war, aber man hörte sofort, daß er seine Muttersprache seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte.
»Was haben Sie denn auf dem Herzen?«
»Eigentlich wollte ich nur zu Ihrem Steward, Mylord, und zum Vorstand der Offiziersmesse, ja, und dann noch zum Zahlmeister. Ich bin der erste Schiffshändler am Platze, Mylord, liefere Ochsenfleisch, Hühner, Eier, frisches Brot, Obst, Gemüse.«
»Und wie heißen Sie?«
»Eduardo Stuart - Edward Stuart, Mylord. Zweiter Steuermann der Brigg Columbine von London. Wir wurden 1806 aufgebracht und kamen hier als Gefangene an Land. Ich wurde mit einigen Leuten gut Freund, Mylord, und als sich die Dons im Jahr 1808 auf unsere Seite schlugen, ließ ich mich hier als Schiffshändler nieder. Nun, und seitdem bin ich eben hier.«
Hornblower musterte den Mann genauso gründlich wie dieser ihn. Er konnte vieles erraten, was bei dem kurzen Bericht ungesagt geblieben war - eine glückliche Heirat, vielleicht sogar einen Wechsel des Bekenntnisses, es sei denn, daß Stuart schon von Geburt an katholisch gewesen war, was durchaus im Bereich der Möglichkeit lag. »Ich stehe Ihnen mit besonderem Vergnügen zu Diensten, Mylord«, fuhr Stuart fort und hielt Hornblowers Blick ohne Verlegenheit stand.
»Sie können gleich mit dem Zahlmeister sprechen«, sagte Hornblower, »aber sagen Sie mir zuerst, welchen Eindruck unser Einlaufen hier gemacht hat.« Stuart verzog sein Gesicht zu einem belustigten Grinsen. »Die ganze Stadt verfolgte Ihre Jagd auf die Estrella del Sur, Mylord.«
»Das dachte ich mir.«
»Die Leute freuten sich diebisch, als sie sahen, daß Sie Ihnen entwischte. Und als man gewahr wurde, daß Sie einlaufen wollten, wurden sogar die Batterien besetzt.«
»Was Sie nicht sagen!«
Die Erinnerung an die raschen und kühnen Gewaltstreiche der Royal Navy mußte hier sehr lebendig sein, wenn man auch nur einen Augenblick befürchten konnte, daß eine einzelne Fregatte den Versuch machen könnte, eine Prise aus einem Hafen zu entführen, der so gut verteidigt war wie San Juan.
»Innerhalb von zehn Minuten hörte man Ihren Namen an allen Straßenecken.«
Hornblower versicherte sich durch einen forschenden Blick, daß dies kein leeres Kompliment war. »Und was hat die Estrella weiter vor?«
»Sie ist nur eingelaufen, um ein paar kranke Sklaven an Land zu setzen und ihren Wasservorrat zu ergänzen, Mylord. Hier ist die Nachfrage nach Sklaven viel zu gering, darum geht sie nach Havanna in See, sobald über Ihre Absichten, Mylord, Klarheit besteht.«
»Sie will sofort wieder auslaufen?«
»Ja, mit der Landbrise morgen früh, wenn Sie dann nicht schon draußen liegen sollten.«
»Ich glaube nicht, daß das möglich sein wird«, sagte Hornblower.
»Dann läuft sie ganz bestimmt aus. Die Ladung soll in Havanna an Land gebracht und verkauft werden, ehe das Abkommen unterzeichnet wird.«
»Das ist leicht begreiflich«, sagte Hornblower. Was war das?
Die alten Anzeichen meldeten sich wieder, so deutlich fühlbar wie eh und je. Der raschere Puls, das warme Gefühl unter der Haut, die allgemeine Unrast. Unter der Schwelle seines Bewußtseins schien sich etwas zu regen - eine Idee wollte ans Licht. Und in der nächsten Sekunde war es soweit, die Idee war geboren. Noch war sie unklar und verschwommen wie eine Landmarke im Dunst der Ferne, aber doch so bestätigend und beruhigend, wie es eine Landmarke immer ist. Überdies lauerten, noch im Schatten des Unterbewußtseins, weitere Ideen, die er einstweilen nur erraten konnte. Unwillkürlich ließ er den Blick zur Estrella hinüberwandern, um die Lage richtig einzuschätzen, neue Einsichten zu gewinnen und ernstlich zu prüfen, was ihm vor Augen stand.
Um seine Erregung nicht zu verraten und das Gespräch nicht in verdächtiger Hast zu beenden, mußte er Stuart noch mit ein paar höflichen Worten für seine Auskünfte danken. Durch eine kurze Anweisung an Fell stellte er sicher, daß Stuart die Belieferung der Clorinda übertragen bekam. Als sich dieser mit überschwenglichen Worten bei ihm bedanken wollte, schnitt er ihm mit einer Handbewegung die Rede ab und verabschiedete sich dann mit aller gespielten Gleichgültigkeit, deren er fähig war.
Längsseits der Estrella herrschte das gleiche geschäftige Treiben wie rings um die Clorinda, da auf beiden Schiffen die Vorbereitungen zur Wasserübernahme getroffen wurden. Die Hitze und der Lärm erschwerten das Denken, der Wirrwarr an Deck war kaum zu ertragen. Und obendrein rückte der Abend immer näher, bald schlug die Uhr acht, die Stunde des Empfangs beim Generalkapitän. Es verstand sich von selbst, daß bis dahin alles überlegt und geklärt sein mußte. Dabei wurde die Sache selbst immer verwickelter. Chinesischen Schachteln gleich gebar sich eine Idee aus der anderen, und jede bedurfte gründlicher Überprüfung auf etwaige Fehler. Die Sonne war eben hinter den Höhen verschwunden, und der Himmel glühte in flammendem Rot, als sein Entschluß endgültig feststand.
»Spendlove!« rief er mit einer Schärfe im Ton, die seiner Erregung zuzuschreiben war. »Kommen Sie mit mir unter Deck.«
Unten in der großen Achterkajüte war es drückend heiß. Der flammende Himmel spiegelte sich im Wasser, und der Widerschein seiner Glut fiel durch die Heckfenster in den Raum. Erst das Anzünden der Lampe machte diesem großartigen Farbenspiel ein Ende. Hornblower warf sich in seinen Sessel und konnte nicht übersehen, mit welcher Spannung Spendlove erwartete, was er ihm sagen wollte.
Spendlove konnte nicht im Zweifel sein, daß sein draufgängerischer Admiral wieder einmal allerlei im Schilde führte. Und doch war selbst er von dem Plan überrascht, der ihm jetzt dargelegt wurde, und konnte sich nicht genug über die Befehle wundern, die er im Zusammenhang damit erhielt. Er verstieg sich sogar dazu, einen Widerspruch zu wagen.
»Aber Mylord...«, stammelte er.
»Kein Wort weiter, Spendlove, führen Sie meine Befehle aus.«
»Aye, aye, Mylord.«
Spendlove verließ die Kajüte, Hornblower blieb allein zurück und wartete. Die Minuten verrannen - kostbare Minuten, die unwiderruflich dahin waren. Endlich klopfte es, wie längst erwartet, und Fell kam mit allen Zeichen höchster Erregung herein.
»Mylord, haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Es ist mir immer ein Vergnügen, Sie zu empfangen, Sir Thomas.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen mit dieser Sache kommen darf, Mylord - ich hätte einen Vorschlag zu machen, der Ihnen recht seltsam erscheinen dürfte.«
»Auch Vorschläge sind mir immer willkommen, Sir Thomas.
Bitte nehmen Sie Platz und sprechen Sie. Wir haben noch eine Stunde Zeit, bis wir an Land fahren müssen. Ich bin sehr gespannt, was Sie mir zu sagen haben.« Fell saß bolzengerade auf seinem Stuhl und krampfte seine Finger um die Armlehnen.
Er mußte ein paar Mal schlucken, ehe er ein Wort über die Lippen brachte. Für Hornblower war es alles andere als angenehm, diesen Mann, der dem Tod wer weiß wie oft tapfer ins Auge gesehen hatte, so schüchtern und ängstlich vor sich sitzen zu sehen. Das Schauspiel, das er ihm bot, berührte ihn geradezu peinlich.
»Mylord...«, begann Fell endlich und mußte abermals schlucken.
»Ich bin ganz Ohr, Sir Thomas«, sagte Hornblower freundlich.
»Es will mir scheinen, Mylord«, setzte Fell abermals an und wurde nun mit jedem Wort sicherer, bis ihm die Rede förmlich von den Lippen sprudelte. »Es will mir scheinen, als ob doch noch eine Aussicht für uns bestände, die Estrella zu kapern.«
»Was Sie nicht sagen, Sir Thomas! Ich wäre glücklich, wenn das gelänge. Lassen Sie mich bitte hören, wie Sie sich die Sache denken.«
»Die Estrella geht morgen in See, Mylord, wahrscheinlich schon in der Dämmerung mit der Landbrise. Wir könnten nun heute Abend noch eine - eine Art Schleppsack unter Wasser an ihr festmachen, am besten vielleicht hinten am Ruder. Sie läuft ja ohnedies höchstens eine oder zwei Meilen mehr als wir.
Wenn wir dann gleich nach ihr auslaufen, können wir sie draußen auf See vielleicht einholen...«
»Großartig, Sir Thomas! Das ist eine glänzende Idee, die - lassen Sie mich das ausdrücklich betonen - Ihrem Ruf als Seemann alle Ehre macht.«
»Sie sind zu gütig, Mylord.« Man merkte Fell nur zu deutlich an, wie er innerlich mit sich rang. Er zögerte eine Weile, ehe er fortfuhr: «... Um es offen zu sagen, Mylord: Der Gedanke stammt von Ihrem Sekretär Spendlove.«
»Was, von Spendlove? Das ist ja kaum zu glauben.«
»Doch er getraute sich nicht, Ihnen den Vorschlag selbst zu unterbreiten, Mylord, darum kam er damit zu mir.«
»Aber sicherlich hat er nur den ersten Anstoß gegeben, der dann das Räderwerk Ihrer eigenen Gedanken in Bewegung setzte. Jedenfalls tragen Sie die Verantwortung für das Unternehmen, darum gebührt Ihnen auch das Verdienst, wenn es zum Erfolg führt. Hoffen wir, daß Ihnen dieses Verdienst in reichem Maße zuteil wird.«
»Gehorsamsten Dank, Mylord.«
»Und nun zu dem Schleppsack. Wie stellen Sie sich dieses Ding vor, Sir Thomas?«
»Ich denke an einen größeren Treibanker, Mylord, eine Rolle Segeltuch Stärke Null zu einer Röhre genäht, deren vordere Öffnung weiter ist als die hintere.«
»Meinen Sie nicht, daß wir das Ganze doch noch verstärken müssen? Auch Null-Segeltuch hält nicht stand, wenn die Estrella mit zwölf Meilen losgeht.«
»Jawohl, Mylord, darüber bin ich mir klar. Darum sollen in kleinen Abständen Liektaue eingenäht werden, was ja ganz einfach zu machen ist. Außerdem haben wir eine Wasserstagkette in Reserve an Bord. Die könnte man rings um die vordere Öffnung des Schleppsacks nähen »... und so an der Estrella befestigen, daß sie den Hauptzug aufnimmt.«
»Gewiß, Mylord, so ungefähr hatte ich es mir gedacht.«
»Die Kette würde zugleich dazu dienen, den Schleppsack unter Wasser und aus Sicht zu halten.«
»Jawohl, Mylord.«
Als Fell gewahr wurde, wie rasch Hornblower alle diese technischen Einzelheiten begriff, faßte er immer mehr Mut.
Seine anfängliche Nervosität verwandelte sich allmählich in helle Begeisterung.
»Ich dachte - Spendlove regte das an, Mylord - wir können die unteren Fingerlinge des Ruders dazu benutzen.«
»Dann wird das Ruder wahrscheinlich glatt herausgerissen, wenn richtig Kraft auf den Schleppsack kommt.«
»Das könnte uns doch nur recht sein, Mylord.«
»Natürlich, das ist klar.«
Fell ging durch die Kajüte und trat an das offene Heckfenster.
»So wie wir im Augenblick liegen, können Sie die Estrella von hier aus nicht sehen, Mylord«, sagte er, »aber Sie können Sie hören.«
»Und riechen auch«, sagte Hornblower, der neben ihn getreten war.
»Jawohl, Mylord. Sie waschen gerade den Raum aus. Aber wie gesagt, man kann sie auch hören.« Zusammen mit den Wolken von Gestank drang ganz deutlich das ununterbrochene Gewimmer der armen Sklaven herüber, ja, Hornblower glaubte sogar, das Klirren der Fußfesseln zu hören.
»Sir Thomas«, sagte Hornblower, »ich halte es für angebracht, daß Sie ein Boot aussetzen und von heute Abend an Wache ums Schiff rudern lassen.«
»Ein Wachboot, Mylord?« Fell war nicht eben schnell von Begriff, und in Friedenszeiten waren diese scharfen Maßnahmen zum Abfangen von Deserteuren ja auch unnötig.
»Aber natürlich! Sonst springt Ihnen gleich nach Dunkelwerden die halbe Besatzung über Bord und schwimmt an Land. Das ist Ihnen doch hoffentlich klar, Sir Thomas. Sie wissen ja, die Leute haben den unwiderstehlichen Drang, dem brutalen Borddienst den Rücken zu kehren. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben. Zum mindesten wird das Wachboot den Verkauf von Schnaps durch die Geschützpforten unterbinden.«
»Hm - gewiß Mylord, das wird es wohl.« Fell hatte offenbar immer noch nicht begriffen, was Hornblower mit seinem Wunsch bezweckte, darum mußte er noch deutlicher werden.
»Setzen wir jetzt, bei Tageslicht, ein Wachboot aus, so ist es für mich eine Kleinigkeit, den Behörden die Gründe dafür klarzumachen. Und wenn es dann Zeit wird...«
»... dann haben wir schon ein Boot im Wasser!« Endlich war Fell ein Licht aufgegangen.
»... das keine Aufmerksamkeit erregt«, ergänzte Hornblower.
»Gewiß, natürlich!«
Im Schein des Abendrots schien Fell vor freudiger Erregung förmlich aufzuleuchten.
»Es wäre gut, wenn Sie die nötigen Befehle möglichst bald erteilen würden, Sir Thomas. Vorläufig haben wir noch etwas Zeit, aber der Schleppsack muß auf alle Fälle in Arbeit sein, wenn wir uns an Land begeben.«
»Soll ich gleich den Befehl dazu geben, Mylord?«
»Spendlove hat sicher die nötigen Zahlen im Kopf, er kann uns die Maße angeben. Wollen Sie die Güte haben, nach ihm zu schicken, Sir Thomas.«
Da es nun mit der Arbeit ernst wurde, füllte sich die Kajüte bald mit Menschen. Als erster erschien Spendlove, dann wurde Gerard und nach ihm Sefton, der Erste Offizier, geholt. Als nächste kamen: der Segelmacher, der Schmied, der Zimmermann und der Bootsmann. Der Segelmacher war ein Schwede älteren Jahrgangs, den ein gewissenloser Preßgang vor zwanzig Jahren zwangsweise für die Navy ausgehoben hatte, und der seitdem ununterbrochen in ihrem Dienst stand. Sein faltiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, daß es einer eingeworfenen Fensterscheibe glich, als ihm im Lauf der abgegebenen Erklärungen der ganze Reiz des gerissenen Anschlags aufging. Nur die erhabene Gegenwart seines Admirals und seines Kommandanten hinderte ihn daran, sich in heller Begeisterung über das Gehörte kräftig auf die Schenkel zu schlagen. Spendlove war eifrig dabei, eine Bleistiftskizze des geplanten Schleppsacks zu entwerfen, und Gerard blickte ihm gespannt über die Schulter.
»Vielleicht kann auch ich noch einen kleinen Beitrag zu diesem Vorhaben leisten«, sagte Hornblower und sah sogleich die Blicke aller Anwesenden auf sich gerichtet. Er selbst maß den verdutzten Spendlove mit einem Blick, der ihm von selbst verbot, ein Wort darüber verlauten zu lassen, von wem der Plan eigentlich stammte. »Und der wäre, Mylord?« fragte Fell.
»Ein Schiemannsgarn, am Schwanz des Schleppsackes festgemacht, steif nach vorn durchgeholt und mit dem anderen Tamp an der Haltekette befestigt. Ein einzelnes Garn genügt, das Schwanzende nach vorn zu halten, während die Estrella ausläuft. Erst wenn sie draußen Segel setzt, kommt Kraft auf unsere Vorrichtung...«
»... und das Garn bricht!« fiel im Spendlove ins Wort. »Dann faßt der Schleppsack erst Wasser...«
»... und die Estrella gehört - hoffentlich - uns«, schloß Hornblower.
»Ausgezeichnet, Mylord!« rief Fell.
Klang das nicht etwas von oben herab, fast wie eine gönnerhafte Anerkennung? Jedenfalls schien es Hornblower so, und darum wurmte es ihn zunächst ein bißchen. Dieser Fell war offenbar schon fest davon überzeugt, daß der ganze Plan seinem eigenen Kopf entsprungen war, wenn er auch anfangs anständigerweise zugegeben hatte, daß Spendlove einen Beitrag dazu lieferte. Jedenfalls sah es jetzt so aus, als ob er Hornblower nur noch gnädig erlaubte, seinen Plan durch eine kleine, unwichtige Einzelheit zu ergänzen. Aber Hornblower wurde seiner Gereiztheit sehr schnell Herr, indem er sie mit zynischem Vergnügen dem leidigen Kapitel menschlicher Unzulänglichkeit zuschrieb. »Ja«, meinte er bescheiden, »in einer Gesellschaft, die so reich an Einfällen ist, wird man eben unwillkürlich angesteckt.«
»Das - das finde ich auch, Mylord«, sagte Gerard mit einem neugierigen Blick auf seinen Admiral. Er war viel zu gewitzt und kannte ihn zu genau, um sich täuschen zu lassen. Darum hatte er auch die gespielte Bescheidenheit in Hornblowers Äußerung wohl bemerkt und war jetzt drauf und dran, den wahren Sachverhalt zu erraten. »Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen«, fuhr ihn Hornblower an.
»Denken Sie lieber an Ihren Dienst! Wo bleibt mein Dinner, Mr. Gerard? Soll ich unter Ihrer Obhut immerzu Hunger leiden?
Was wird Lady Barbara sagen, wenn sie hört, daß Sie mich einfach hungern lassen?«
»Verzeihen Sie, Mylord«, stammelte Gerard völlig fassungslos, »ich hatte ganz vergessen - Mylord waren so beschäftigt.«
Gerard war über diese Zurechtweisung ganz außer sich. Er sah sich in der von Menschen überfüllten Kajüte nach allen Seiten um, als hielte er nach dem vermißten Dinner Ausschau.
»Nein, jetzt ist dazu keine Zeit, Mr. Gerard«, sagte Hornblower.
Das Essen war ihm selbst erst eingefallen, als es darum ging, Gerard abzulenken. »Wir wollen hoffen, daß uns Seine Exzellenz eine kleine Stärkung anbieten wird.«
»Ich muß Sie ebenfalls sehr um Entschuldigung bitten, Mylord«, sagte Fell nicht minder verlegen als der Flaggleutnant.
Hornblower winkte nur ungeduldig ab: »Ach lassen Sie, Sir Thomas«, sagte er, »Sie sind ja in der gleichen Lage wie ich.
Mr. Spendlove, bitte zeigen Sie mir einmal, was Sie gezeichnet haben.« Daß man ihn immer wieder zwang, die Rolle eines gereizten alten Herrn zu spielen, die doch seinem wahren Wesen so gründlich zuwiderlief! Er durfte sich erst wieder umgänglicher zeigen, als sie nochmals alle Einzelheiten des Schleppsacks durchsprachen, bis dann der Entwurf seine endgültige Billigung fand.
»Ich nehme an, Sir Thomas«, sagte er, »daß Sie die Leitung der Arbeit Mr. Sefton übertragen wollen, während wir an Land sind.«
Fell bestätigte dies durch eine stumme Verbeugung. »Mr. Spendlove steht Ihnen dazu zur Verfügung, Mr. Sefton. Mr. Gerard wird Sir Thomas und mich begleiten. Ich weiß nicht, wie Sie disponiert haben, Sir Thomas, aber ich möchte vorschlagen, daß Sie zum Empfang bei Seiner Exzellenz einen Leutnant und einen Fähnrich mitnehmen.«
»Aye, aye, Mylord.«
»Mr. Sefton, ich kann mich doch darauf verlassen, daß die Arbeit bis zu unserer Rückkehr von Land, - wahrscheinlich zu Beginn der Mittelwache - fertig ist?«
»Jawohl, Mylord.«
Damit war, abgesehen von der noch bevorstehenden leidigen Wartezeit, alles bestens erledigt. Es war wieder genau wie früher im Kriege: Man hielt sich klar und harrte einer demnächst fälligen Entscheidung.
»Wünschen Sie jetzt Ihr Dinner, Mylord?« fragte Gerard voll Eifer. Ach nein, er wollte kein Dinner. Jetzt, da alles erledigt war und die Spannung nachließ, fühlte er sich plötzlich müde und abgespannt. »Ich rufe Giles, wenn ich noch etwas essen möchte«, sagte er mit einem Blick auf all die Menschen in der Kajüte. Er wollte sie jetzt entlassen und suchte nach einem passenden, möglichst verbindlichen Schlußwort.
»Ich darf mich wohl zurückziehen, Mylord, da ich noch einige Dienstgeschäfte zu erledigen habe«, sagte Fell ganz unvermittelt und mit überraschendem Takt. »Dem steht nichts mehr im Wege, Sir Thomas, ich danke Ihnen.«
Die Kajüte leerte sich schnell. Ein Blick Hornblowers genügte, um auch Gerard zu vertreiben, der offenbar gern noch geblieben wäre. Endlich konnte er sich in seinen Sessel sinken lassen, um ein wenig auszuruhen. Er nahm nicht einmal Notiz von Giles, der eine zweite brennende Lampe in die dämmerige Kajüte brachte. Die Wasserübernahme erfüllte das Schiff mit ihrem Lärm, Scheiben quietschten in den Blöcken, Pumpen klapperten, rauhe Kehlen schrien heisere Befehle. Alle diese Geräusche zusammen lenkten so sehr ab, daß es ihm nicht gelang, seine Gedanken zusammenzuhalten. Er wollte gerade einnicken, als es klopfte und ein Fähnrich in der Tür erschien.
»Der Kommandant läßt melden, Mylord, das Boot von Land sei in Sicht.«
»Meine Empfehlung an den Kommandanten, ich käme sofort an Deck.«
Das von Land kommende Boot fuhr in der Achterplicht eine Laterne, die hell aus dem Dunkel des Hafens herüberschien und vor allem Mendez-Castillos schimmernde Uniform beleuchtete.
In umgekehrter Rangordnung, wie es die Bordsitte vorschrieb, stiegen sie über das Fallreep ins Boot, zuerst der Fähnrich, dann die Leutnants, der Kommandant und zuletzt der Admiral.
Kräftige Riemenschläge brachten sie über das schwarze Wasser des Hafens zur Stadt, die sich nur durch einige wenige Lichter verriet. Dabei kamen sie dicht an der Estrella vorbei, die eine hellbrennende Staglaterne führte. Aber die Wasserübernahme war wohl beendet, da allem Anschein nach nicht mehr gearbeitet wurde.
Dennoch hörte man aus den offenen Luken ein ununterbrochenes leises Gewimmer. Vielleicht jammerten die Sklaven dort unten über die Trennung von ihren Leidensgenossen, die hier an Land geschafft worden waren.
Oder stöhnten sie etwa aus Angst vor ihrem dunklen künftigen Schicksal? Ihr armen Teufel, dachte Hornblower, man hat euch roh aus euren Hütten gerissen und wie Sardinen auf dieses Schiff gepackt, das euch wie ein Meeresungeheuer erscheinen muß, weil ihr seinesgleichen nie gesehen habt. Ihr werdet von Weißen bewacht, deren ungewohnter Anblick euch ebenso erschrecken muß, wie etwa uns eine Begegnung mit Menschen, die grasgrüne Gesichter haben. Wie könnt ihr da auch nur ahnen, was euch die Zukunft bringen wird? Ihr werdet ebenso rat- und hilflos sein, wie ich es wäre, wenn man mich plötzlich auf einen anderen Stern versetzte.
»Seine Exzellenz«, sagte Mendez-Castillo neben ihm, »läßt es sich zur besonderen Ehre gereichen, Eure Exzellenz mit großem Zeremoniell zu empfangen.«
»Seine Exzellenz ist außerordentlich gütig«, erwiderte Hornblower. Es kostete ihn Mühe, sich wieder auf die Pflichten zu besinnen, die ihm der Augenblick auferlegte, und er mußte sich richtig zusammenreißen, um auf spanisch die passenden Worte zu finden. Jetzt wurde die Pinne hart übergelegt, das Boot glitt scharf um eine Ecke, hinter der eine hellerleuchtete Brücke in Sicht kam. Von der Brücke führte ein kurzes Stück Wegs zu einem massiven steinernen Torweg. Das Boot ging an der Brücke längsseit, ein halbes Dutzend Uniformierter nahm militärische Haltung an, während die kleine Gesellschaft an Land ging. »Dorthin, Eure Exzellenz«, murmelte Mendez-Castillo. Durch den Torweg gelangten sie in einen Hof, in dem Dutzende von Laternen brannten. In ihrem Schein standen zwei Abteilungen Soldaten, die in drei Gliedern angetreten waren.
Als Hornblower im Hof erschien, präsentierten sie auf ein lautes Kommando hin die Gewehre, im gleichen Augenblick setzte eine Kapelle mit klingender Marschmusik ein. Sobald das taktfeste Geschmetter der Trompeten an Hornblowers tontaube Ohren drang, machte er halt und stand, die Rechte grüßend am Zweispitz, in militärischer Haltung still. Seine Offiziere folgten rechts und links von ihm seinem Beispiel. Sie rührten kein Glied, bis der ohrenbetäubende Lärm, der von den umliegenden Mauern zurückgeworfen und vervielfacht wurde, sein Ende fand. »Ihre Truppe macht einen ausgezeichneten Eindruck«, sagte Hornblower zu Mendez-Castillo, während er die tadellos ausgerichteten Glieder der Soldaten musterte, die schneeweiße, gekreuzte Schulterriemen und Koppel trugen. »Eure Exzellenz sind die Güte selbst. Darf ich Eure Exzellenz bitten, durch das Eingangstor geradeaus weiterzugehen?«
Über eine mächtige Freitreppe, die zu beiden Seiten von Männern in Uniform gesäumt war, gelangten sie in einen riesigen Saal. Hier gab es zunächst eine längere, geflüsterte Unterredung zwischen Mendez-Castillo und einem Bediensteten an der Tür, dann hörten sie, wie ihre Namen in klingendem Spanisch verkündet wurden - Hornblower hatte längst die Hoffnung aufgegeben, seinen Namen in einer fremden Zunge so ausgesprochen zu hören, daß man ihn wirklich verstand.
Jetzt erhob sich die Hauptperson im Saal von ihrem Sitz, der fast einem Thron glich, um den britischen Oberbefehlshaber stehend zu empfangen. Der Mann war viel jünger, als Hornblower erwartet hatte, er mochte noch in den dreißiger Jahren stehen, hatte einen dunklen Teint und ein schmales Gesicht, dessen humorvoller Ausdruck zu der hochfahrend gebogenen Nase in seltsamem Gegensatz stand. Seine Uniform blitzte nur so von Goldstickerei, auf der Brust trug er den Orden vom Goldenen Vlies. Mendez-Castillo stellte die Gäste vor. Die Engländer verbeugten sich tief vor dem Vertreter Seiner Allerkatholischsten Majestät, und dieser dankte jedem von ihnen mit einer höflichen Verneigung.
Mendez-Castillo verstieg sich bei der Vorstellung dazu, Hornblower die Titel des Gastgebers zuzuwispern, was nach dessen Ansicht bestimmt ein Verstoß gegen die Etikette war, da man doch wohl annehmen durfte, daß ein Gast wußte, von wem er empfangen wurde. »Seine Exzellenz, der Marquis de Ayora, Generalkapitän Seiner Allerkatholischsten Majestät Domäne Puerto Rico.«
Ayora hieß ihn lächelnd willkommen. »Ich weiß, daß Sie Spanisch sprechen, Exzellenz«, sagte er, »ich hatte schon einmal das Vergnügen, Sie sprechen zu hören.«
»Exzellenz überraschen mich...«
»Ja, zur Zeit des Angriffs auf Rosas war ich Major bei den Miqueletes unter Claros und hatte damals die Ehre, an der Seite Eurer Exzellenz zu dienen. Ich erinnere mich noch sehr genau, aber Eure Exzellenz werden sich meiner wohl nicht mehr entsinnen.«
Da es allzu unglaubhaft gewesen wäre, das Gegenteil zu behaupten, suchte Hornblower vergebens nach einer passenden Antwort und half sich mit einer neuen stummen Verbeugung aus der Verlegenheit.
»Darf ich mir die Bemerkung erlauben«, fuhr Ayora fort, »daß sich Eure Exzellenz seit jenen Tagen sehr wenig verändert haben. Seither sind immerhin schon elf Jahre vergangen.«
»Eure Exzellenz sind zu gütig.« Wenn es um den Austausch von Höflichkeiten ging, war das eine der nützlichsten Wendungen.
Ayora richtete noch ein freundliches Wort an Fell - er lobte das Aussehen seines Schiffes - und bedachte die jüngeren Offiziere mit einem liebenswürdigen Lächeln. Dann nahm sich sogleich Mendez-Castillo ihrer an, als ob er längst auf diesen Augenblick gewartet hätte.
»Die Herren legen gewiß Wert darauf, den Damen der Gesellschaft vorgestellt zu werden«, sagte er. Dabei sah er über Hornblower und Fell hinweg und faßte nur die Leutnants und den Fähnrich ins Auge. Hornblower übersetzte ihnen, was er gesagt hatte, und sah, wie sie sich unter Mendez-Castillos Geleit etwas scheu und nervös im Gedränge verloren.
Ungeachtet aller Etikette und seiner spanischen Erziehung kam Ayora ohne Umschweife zur Sache, als er sich mit Hornblower und Fell allein sah.
»Ich habe heute Ihre Jagd auf die Estrella del Sur durch mein Fernrohr beobachtet«, sagte er, und Hornblower wußte darauf wieder einmal keine passende Antwort. Eine lächelnde Verbeugung war bei diesem Thema auch nicht angebracht, darum blieb ihm nichts anderes übrig, als nichtssagend dreinzuschauen.
»Wir befinden uns in einer ungewöhnlichen Lage«, sagte Ayora. »Nach dem vorläufigen Abkommen zwischen unseren Regierungen hat die britische Marine das Recht, mit Sklaven beladene spanische Schiffe auf hoher See aufzubringen. Aber diese Schiffe sind in Sicherheit, sobald sie in spanische Hoheitsgewässer gelangen. Ist das neue Abkommen über die Bekämpfung des Sklavenhandels unterzeichnet, dann fallen solche Schiffe der Beschlagnahme durch die Regierung Seiner Allerkatholischsten Majestät anheim. Bis dahin aber ist es meine Pflicht, sie mit allen mir zur Verfügung stehenden Machtmitteln zu schützen.«
»Eure Exzellenz sind damit selbstverständlich durchaus im Recht«, sagte Hornblower. Fell sah mit leerem Blick von einem zum anderen, er verstand kein Wort von dem, was sie sprachen, aber Hornblower fühlte, daß es über seine Kraft gegangen wäre, ihm das Gespräch zu übersetzen. »Ich bin jedenfalls fest entschlossen, diese meine Pflicht zu erfüllen«, sagte Ayora mit Nachdruck. »Das habe ich nicht anders erwartet«, gab Hornblower zur Antwort.
»Darum dürfte es das beste sein, wenn wir uns schon jetzt über die künftigen Maßnahmen verständigen.«
»Nichts wäre mir lieber, Exzellenz.«
»Ich bitte Sie, nochmals zur Kenntnis zu nehmen, daß ich keinen irgendwie gearteten Angriff auf die Estrella del Sur dulden werde, solange sie sich in Gewässern befindet, die meiner Gebietshoheit unterstehen.«
»Darüber bin ich mir völlig im klaren, Exzellenz«, sagte Hornblower.
»Die Estrella wünscht morgen bei Tagesgrauen in See zu gehen.«
»Ich hatte es nicht anders erwartet, Exzellenz.«
»Um jede Trübung der zwischen unseren Regierungen bestehenden Freundschaft auszuschließen, wäre es das beste, wenn Ihr Schiff solange im Hafen bliebe, bis sie ausgelaufen ist.«
Ayora blickte Hornblower unverwandt in die Augen. Seine Miene war völlig ausdruckslos, sein Blick verriet nicht die leiseste Drohung. Dennoch stand diese Drohung unausgesprochen im Raum, - Ayora pochte wortlos und doch unüberhörbar auf seine Übermacht. Auf seinen Befehl peitschten hundert Zweiunddreißigpfünder das Wasser des Hafens zu Schaum. Hornblower dachte unwillkürlich an jenen Römer, der sich seinem Kaiser fügte, weil es sich mit dem Herrn über dreißig Legionen nicht gut streiten ließ. So gut es seine Schauspielkunst erlaubte, nahm er die gleiche Haltung ein und bemühte sich vor allem um das Lächeln des guten Verlierers.
»Wir hätten gewinnen können und haben verspielt«, sagte er.
»Warum sollten wir uns also beklagen?« Wenn Ayora angesichts dieser Nachgiebigkeit erleichtert aufatmete, so gab er dieses Gefühl nicht deutlicher kund, als vorhin das Bewußtsein seiner Macht. »Eure Exzellenz sind sehr einsichtig«, sagte er.
»Wir hätten allerdings einen Wunsch«, sagte Hornblower in unterwürfigem Ton. »Es geht uns darum, den Landwind morgen früh zum Auslaufen zu nutzen. Da wir unseren Wasservorrat ergänzt haben - wofür ich Eurer Exzellenz zu besonderem Dank verpflichtet bin - schiene es uns ungehörig, die Gastfreundschaft Eurer Exzellenz noch länger zu mißbrauchen.«
Unter den forschenden Blicken Ayoras gab sich Hornblower alle Mühe, einen möglichst harmlosen Eindruck zu machen.
»Vielleicht hören wir uns an, was Kapitän Gomez dazu zu sagen hat«, meinte Ayora und winkte einen Mann herbei, der sich offenbar ganz in der Nähe bereitgehalten hatte. Dieser Mann war noch jung und auffallend hübsch, er trug einen schlichten aber eleganten blauen Anzug und einen Säbel in silberner Scheide.
»Darf ich vorstellen?« sagte Ayora. »Don Miguel Gomez y Gonzalez, Kapitän der Estrella del Sur.« Man tauschte Verbeugungen aus.
»Ich beglückwünsche Sie zu den Segeleigenschaften Ihres Schiffes, Herr Kapitän«, sagte Hornblower. »Besten Dank, Señor.«
»Die Clorinda ist eine schnelle Fregatte, aber Ihr Schiff ist ihr in jeder Lage zum Wind überlegen.«
Hornblower war sich nicht ganz im klaren, wie das auf Spanisch ausgedrückt werden mußte, aber anscheinend war es ihm doch gelungen, sich verständlich zu machen. »Nochmals aufrichtigen Dank, Señor.«
»Vielleicht darf ich es wagen« - Hornblower breitete wie abbittend die Hände - »dem Kapitän dieses schönen Schiffes zu versichern, daß ich seine hohe Seemannskunst aufrichtig bewundert habe.«
Kapitän Gomez verbeugte sich, im gleichen Moment gebot sich Hornblower erschrocken Einhalt. Diese hochtrabenden spanischen Komplimente waren ja gut und schön, aber man konnte sie allzu leicht übertreiben. Es durfte auf keinen Fall so aussehen, als ob ihm die Gunst seiner Gegenspieler besonders am Herzen läge. Ein Blick auf Gomez verriet ihm jedoch alsbald, daß diese Sorge überflüssig war. Der Mann strahlte buchstäblich über das ganze Gesicht. Dieser junge Mensch, so dachte Hornblower im stillen, kann zweifellos viel, aber er bildet sich auch mehr als genug darauf ein. Da konnte ein zusätzliches Kompliment gewiß nichts schaden.
»Ich werde meiner Regierung vorschlagen«, fuhr er fort, »sie möge sich die Erlaubnis verschaffen, die Bauzeichnungen der Estrella del Sur zu kopieren und ihren Segelriß abzunehmen, damit das Schiff nachgebaut werden kann. Ein Fahrzeug wie dieses wäre für den Dienst in den hiesigen Gewässern geradezu ideal. Allerdings dürfte es schwer sein, einen Kapitän zu finden, der seine Vorzüge auch wirklich zu nutzen versteht.«
Gomez verbeugte sich von neuem. Es war schwer, sich aller Selbstgefälligkeit zu enthalten, wenn man von einem Seemann mit dem sagenhaften Ruf eines Hornblowers solche Schmeicheleien zu hören bekam.
»Seine Exzellenz«, bemerkte Ayora, »wünscht morgen früh auszulaufen.«
»Das haben wir gehört«, sagte Gomez. Selbst Ayora sah etwas betroffen drein, als er das hörte. Hornblower merkte es ihm deutlich an. Stuart, der sich mit seinen Auskünften so nützlich machte, hatte natürlich keine Bedenken gehabt, auch der Gegenseite zu helfen. Es war genauso gekommen, wie Hornblower vorausgesehen hatte. Der Mann war mit all dem, was ihm Hornblower anvertraut hatte, schnurstracks zu den Spaniern gelaufen. Aber Hornblower wollte durchaus vermeiden, daß jetzt ein Mißton in die Unterhaltung kam.
»Sie werden gewiß verstehen, Herr Kapitän«, sagte er, »daß ich gerne mit der gleichen Tide und der gleichen Landbrise auslaufen möchte, die Sie vor mir aus dem Hafen bringen. Nach unseren heutigen Erfahrungen muß ich leider annehmen, daß Sie sich darum keine Sorgen zu machen brauchen.«
»Das liegt mir auch durchaus fern«, sagte Gomez mit einem Lächeln, das fast herablassend wirkte. Mehr als dieses Einverständnis mit seinen Absichten hatte sich Hornblower nicht gewünscht. Er mußte sich alle Mühe geben, sein inneres Aufatmen zu verbergen.
»Ich habe natürlich die Pflicht, Sie zu verfolgen, wenn Sie nach meinem Auslaufen noch in Sicht sein sollten«, sagte er wie zur Entschuldigung und bedeutete dabei durch seine Blicke, daß diese Bemerkung nicht nur an Gomez, sondern auch an den Generalkapitän gerichtet war. Gomez hatte gleich seine Antwort bereit: »Davor habe ich keine Angst«, sagte er. »Sie haben gehört, Exzellenz«, sagte Hornblower und fuhr, um beide festzulegen, fort: »Ich darf Eure Exzellenz also dienstlich davon in Kenntnis setzen, daß das Schiff Seiner Britischen Majestät, das meine Flagge führt, den Hafen morgen früh so zeitig verlassen wird, wie es Herrn Kapitän Gomez genehm ist.«
»Ich erkläre mich damit einverstanden«, entschied Ayora, »dennoch muß ich aufs tiefste bedauern, daß der Besuch Eurer Exzellenz von so kurzer Dauer ist.«
»Im Leben des Seemanns«, sagte Hornblower, »scheinen Pflicht und Neigung einander ständig zu widerstreiten. Aber dieser kurze Besuch verschaffte mir wenigstens die Ehre und das Vergnügen, Eure Exzellenz und Kapitän Gomez kennen zulernen.«
»Es sind noch viele andere Herren anwesend, die darauf brennen, Eurer Exzellenz Bekanntschaft zu machen«, sagte Ayora.
»Darf ich mir jetzt erlauben, sie Eurer Exzellenz vorzustellen?«
Der eigentliche Zweck des Abends war erfüllt, nun galt es nur noch, alle übrigen Formalitäten über sich ergehen zu lassen.
Dieser zweite Teil des Empfangs verlief genauso öde und langweilig, wie Hornblower erwartet und gefürchtet hatte. Die Magnaten von Puerto Rico, die ihm der Reihe nach zugeführt wurden, um seine Bekanntschaft zu machen, waren ebenso fade wie töricht. Um Mitternacht suchte Hornblower Gerards Blick, um seine Schäflein zu sammeln. Ayora merkte seine Absicht und gab in höflichen Worten seinerseits das Zeichen zum Aufbruch, wie es ihm als Vertreter Seiner Katholischen Majestät oblag, wenn er seine Gäste vor einem Verstoß gegen die Etikette bewahren wollte. »Eure Exzellenz bedürfen sicher dringend der Ruhe«, sagte er, »da Ihnen morgen ein früher Aufbruch bevorsteht. Deshalb nehme ich davon Abstand, Eure Exzellenz um längeres Verweilen zu bitten, so hoch wir auch Ihre Gegenwart in unserem Kreise zu schätzen wußten.« Es folgte allgemeines Abschiednehmen, Mendez-Castillo übernahm das Amt, die Gesellschaft zur Clorinda zurückzugeleiten.
Hornblower war ganz bestürzt, als er feststellen mußte, daß die Musik und die Ehrenwache immer noch im Hof standen, um ihm zum Abschied ihre Ehrenbezeugung zu erweisen. Er stand wieder salutierend still, während die Kapelle schmetternd ein Stück abspielte, dann machten sie sich auf den Weg zum wartenden Boot. Im Hafen herrschte pechschwarze Finsternis, als das Boot losruderte. Die wenigen Lichter, die man sah, konnten das Dunkel nicht erhellen. Als sie die Ecke gerundet hatten, kamen sie wieder am Heck der Estrella vorbei. An ihrem Großstag hing noch eine einzelne Laterne, und an Deck war jetzt alles ruhig - nein, in der Stille der Nacht hörte Hornblower eine Sekunde lang das leise Gerassel von Fußfesseln, als ob einer der Sklaven im Raum ein Zeichen gäbe, daß er noch wach war und keine Ruhe fand. Als sie eine Strecke weitergerudert waren, hörten sie einen schwachen Anruf, der über das tintenschwarze Wasser zu ihnen drang. Er kam aus einem Kern von Finsternis, der noch dunkler war als die Schwärze, die ihn umgab.
»Flagge!« antwortete der Fähnrich. » Clorinda!« Es bedurfte nur dieser zwei kurzen Worte, um das Wachboot davon zu unterrichten, daß der Admiral und der Kommandant an Bord kommen wollten. »Wie Sie sehen«, sagte Hornblower zu Mendez-Castillo, »hat es Kapitän Fell für nötig gehalten, während der Nacht ein Wachboot um das Schiff rudern zu lassen.«
»Das ist mir nicht entgangen, Eure Exzellenz«, gab Mendez-Castillo zur Antwort.
»Unsere Seeleute hecken die unwahrscheinlichsten Pläne aus, um die Freuden des Landlebens genießen zu können.«
»Das ist wohl verständlich, Eure Exzellenz«, sagte Mendez-Castillo. Das Boot glitt längsseit der Clorinda, Hornblower stand etwas unsicher in der Achterplicht, sagte sein letztes Lebewohl und drückte dem Vertreter seines Gastgebers noch einmal seinen Dank aus, ehe er über das Fallreep an Bord stieg.
Von der Relingspforte aus verfolgte er dann, wie das Boot wieder absetzte und in der Dunkelheit verschwand. »Jetzt«, sagte er, »können wir unsere Zeit endlich besser nutzen.«
Auf dem Großdeck, im Licht der Staglaterne eben erkennbar, lag ein Ding - wie sollte man es sonst bezeichnen? Ein Machwerk aus Segeltuch und Tauwerk mit einem Stück Kette daran. Sefton stand daneben. »Wie ich sehe, ist schon alles fertig, Mr. Sefton.«
»Jawohl, Mylord, schon seit einer Stunde. Der Segelmacher und seine Maate haben vorbildliche Arbeit geleistet.«
Hornblower wandte sich an Fell:
»Ich nehme an, Sir Thomas«, sagte er, »daß Sie jetzt die nötigen Anordnungen treffen wollen. Vielleicht haben Sie die Güte, mich von Ihren Absichten zu unterrichten, ehe Sie Ihre Befehle erteilen.«
»Aye, aye, Mylord.«
Das war die stereotype Antwort in der Navy, die einzige, die Fell unter den obwaltenden Umständen geben konnte, obwohl er die nächsten Aufgaben noch keineswegs gründlich durchdacht hatte. Unten in der Kajüte, allein mit seinem Admiral, konnte er seinen Mangel an Vorbedacht nicht ganz vertuschen.
»Ich nehme an«, half ihm Hornblower nach, »daß Sie jetzt das nötige Personal für das Unternehmen abteilen wollen. Sie brauchen vor allem einen Offizier, auf dessen Umsicht voller Verlaß ist. Wer kommt also dafür in Frage?« Allmählich wurden so alle Einzelheiten festgelegt. Man brauchte tüchtige Schwimmer, die unter Wasser arbeiten konnten, und einen Meistersmaat, der im Dunkeln zuverlässig den letzten Schäkel auf die Kette setzte. Die Bootsgasten wurden sorgfältig ausgewählt, herbeigeholt und über den Plan in allen Einzelheiten unterrichtet. Als das Wachboot zur Ablösung seiner Besatzung längsseit kam, stand schon eine andere Besatzung bereit, die rasch und leise ins Boot ging, obwohl sie mit dem Ding und dem dazugehörigen Geschirr belastet war.
Das Boot setzte sogleich wieder ab und strebte in die Finsternis hinaus. Hornblower stand auf dem Achterdeck und blickte ihm nach. Wie leicht konnte es geschehen, daß aus diesem Streich ein internationaler Zwischenfall entstand, oder - was ebenso schlimm gewesen wäre - daß man ihn vor aller Welt zum Narren stempelte. Er lauschte angestrengt nach irgendeinem Geräusch aus der Dunkelheit, das ihm verraten hätte, wie die Arbeit voranging - aber man hörte nichts. Die Landbrise hatte eben eingesetzt. Noch wehte sie schwach, aber ihre Kraft genügte doch, die Clorinda in die Windrichtung schwojen zu lassen. Diese Brise trug natürlich alle Geräusche von ihm weg, aber sie war zugleich insofern nützlich, als sie jeden verdächtigen Laut verwehte, der sonst vielleicht irgendeinem schlaflosen Mann an Bord der Estrella aufgefallen wäre. Wie nicht anders zu erwarten, hatte die Estrella ein volles Heck mit starkem Überhang. Ein Schwimmer, der dieses Heck ungesehen erreichte, konnte sich leicht unbeobachtet an ihrem Ruder zu schaffen machen.
»Mylord«, hörte er Gerard leise sagen, »wäre es jetzt nicht an der Zeit, ein wenig zu ruhen?«
»Sie haben vollkommen recht, Mr. Gerard«, gab Hornblower zur Antwort, blieb aber weiter lauschend über die Reling gelehnt. »Möchten Mylord also nicht...?«
»Ich habe Ihnen recht gegeben, Mr. Gerard, genügt Ihnen das nicht?«
Aber Gerard war nicht so leicht einzuschüchtern.
Unbarmherzig wie die Stimme des Gewissens ließ er sich weiter vernehmen:
»Ich habe in der Kajüte kalten Braten servieren lassen, Mylord. Dazu frisches Brot und eine Flasche Bordeaux.« Das war etwas anderes! Hornblower wurde plötzlich gewahr, daß er einen Wolfshunger hatte. Eine dürftige Mahlzeit war in den letzten dreißig Stunden seine ganze Nahrung gewesen, die kalte Stärkung, die er sich auf dem Empfang erwartet hatte, war ja leider nicht in Erscheinung getreten. Aber er wollte wenigstens so tun, als ob er über leibliche Genüsse erhaben wäre.
»Sie hätten eine vorzügliche Amme abgegeben, Mr. Gerard«, sagte er, »wenn Sie von der Natur etwas üppiger bedacht worden wären. Es scheint mir wirklich nichts anderes übrigzubleiben, als mich Ihrer bohrenden Hartnäckigkeit zu fügen, weil Sie mir sonst das Leben vollends zur Qual machen würden.«
Auf dem Weg zum Niedergang begegneten sie Fell, der ruhelos auf dem Achterdeck auf und ab schritt, und hörten seine erregten Atemzüge. Hornblower freute sich im stillen über die Entdeckung, daß auch diese muskelstarken Helden nicht ganz von der Angst verschont blieben. Vielleicht wäre es höflich oder liebenswürdig von ihm gewesen, Fell zu diesem verspäteten kalten Abendbrot einzuladen, aber er ließ den Gedanken gleich wieder fallen. Er hatte Fells Gesellschaft heute schon so ausgiebig genossen, daß sein Bedarf reichlich gedeckt war.
Unter Deck erwartete sie Spendlove in der erleuchteten Kajüte.
»Die Geier haben sich versammelt«, sagte Hornblower. Es amüsierte ihn zu sehen, daß auch Spendlove einen blassen und nervösen Eindruck machte. »Ich hoffe, die Herren werden mir Gesellschaft leisten.« Die jungen Männer aßen schweigend.
Hornblower hob sein Glas an die Nase und nahm bedächtig den ersten Schluck.
»Sechs Monate in den Tropen sind diesem Bordeaux nicht gut bekommen«, bemerkte er. Da er der Gastgeber, der Admiral und der Älteste war, blieb den Gästen nichts anderes übrig, als seiner Meinung beizupflichten. Spendlove brach als erster das neuerliche Schweigen: »Das Schiemannsgarn, Mylord«, sagte er. »Der Zug, den es aushält...«
»Mr. Spendlove«, sagte Hornblower, »wenn wir noch so viel darüber reden, wir können nichts mehr daran ändern. Es dauert ohnedies nicht mehr lange, dann wissen wir Bescheid. Darum wollen wir uns jetzt nicht mit technischen Erörterungen den Appetit verderben.«
»Ich bitte um Verzeihung, Mylord«, sagte Spendlove mit verlegener Miene. War es Zufall oder Gedankenübertragung, daß auch Hornblower just im gleichen Augenblick an die Zugfestigkeit des Schiemannsgarns an dem Schleppsack gedacht hatte? Aber er hätte nicht im Traum zugegeben, daß auch ihm dieses Problem Kopfschmerzen machte. Das Dinner nahm seinen Fortgang.
»Meine Herren«, sagte Hornblower, »lassen wir für einen Augenblick unsere Ideale beiseite und gedenken wir der materiellen Güter. Ich trinke auf unser Kopfgeld!« Während sie tranken, hörten sie von Deck und von außenbords unverkennbare Geräusche. Das Wachboot war von seinem Unternehmen zurückgekehrt. Spendlove und Gerard tauschten Blicke und hielten sich bereit, von ihren Stühlen aufzuspringen, aber Hornblower zwang sich dazu, sich in Ruhe zurückzulehnen. Er hielt das Glas hoch in der Hand und schüttelte bedauernd den Kopf: »Wie schade um den schönen Bordeaux, meine Herren«, sagte er.
Dann klopfte es an der Tür. Es war die erwartete Meldung:
»Der Kommandant läßt melden, das Boot sei zurück, Mylord.«
»Meine Empfehlung an den Kommandanten, ich würde mich freuen, ihn und den Leutnant sobald wie möglich bei mir zu sehen.«
Als Fell die Kajüte betrat, sah man ihm auf den ersten Blick an, daß die Unternehmung - wenigstens bis jetzt - geglückt war.
»Alles in Ordnung, Mylord«, sagte er. Er hatte vor Erregung einen roten Kopf.
»Ausgezeichnet.« Der Leutnant war ein grauköpfiger Veteran, an Jahren älter als Hornblower, und dieser sagte sich unwillkürlich, daß er jetzt wohl auch noch Leutnant wäre, wenn ihm das Glück nicht wiederholt zu Hilfe gekommen wäre.
»Nehmen Sie doch Platz, meine Herren. Ein Glas Wein? Mr. Gerard, lassen Sie bitte noch zwei Gläser bringen. Macht es Ihnen etwas aus, Sir Thomas, wenn ich mir von Mr. Field selbst berichten lasse?«
Field war nicht fähig, einen zusammenhängenden Bericht zu geben, man mußte ihm durch ständiges Fragen entlocken, was es zu sagen gab. Jedenfalls war alles gut gegangen. Zwei kräftige Schwimmer mit geschwärzten Gesichtern waren vom Wachboot aus leise ins Wasser geglitten und hatten die Estrella ungesehen erreicht. Es war ihnen gelungen, vom zweiten Beschlagband des Ruders mit ihren Messern ein Stück Kupferbeschlag zu lösen.
Dann hatten sie mit Hilfe eines Bohrers unter dem Band hindurch eine Öffnung geschaffen, die groß genug war, um eine Leine hindurch zuscheeren. Nun erst begann der gefährlichste Teil des ganzen Unternehmens. Das Boot mußte in nächste Nähe der Estrella kommen, damit der Schleppsack zu Wasser gebracht werden konnte, nachdem er an der Leine festgemacht war. Field konnte dazu melden, daß von der Estrella kein Anruf gekommen sei. Der Leine war die Kette gefolgt, die zu guter Letzt sicher festgeschäkelt wurde. Nun hing der Schleppsack unter dem Heck der Estrella tief unter Wasser und gut außer Sicht, bereit, sich mit seiner vollen Bremskraft an ihr Ruder zu hängen, sobald - und wenn - das Schiemannsgarn brach, das den Schleppsack vorläufig noch in umgekehrter Lage hielt.
»Ausgezeichnet«, sagte Hornblower abermals, als Field seinen letzten Satz zu Ende gestammelt hatte. »Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, ich spreche Ihnen meinen Dank und meine Anerkennung aus.«
»Gehorsamsten Dank, Mylord.«
Als Field gegangen war, wandte sich Hornblower an Fell. »Ihr Plan hat sich bis jetzt glänzend bewährt, Sir Thomas. Nun bleibt uns nur noch die Aufgabe, die Estrella zu fangen. Ich möchte Ihnen darum dringend empfehlen, alle Vorbereitungen zu treffen, daß wir mit Hellwerden Anker auf gehen können. Je rascher wir folgen, wenn die Estrella ausgelaufen ist, desto besser, meinen Sie nicht auch?«
»Aye, aye, Mylord.«
Die Schiffsglocke überhob Hornblower der nächsten Frage, die er stellen wollte.
»Noch drei Stunden bis Tagesanbruch«, sagte er, »Meine Herren, ich wünsche Ihnen jetzt eine gute Nacht.« Damit war ein schwerer Tag zu Ende. Seit der Morgen graute, war er zwar nicht körperlich, aber doch geistig unaufhörlich angespannt tätig gewesen. Nach dem langen, heißen Abend war ihm, als ob seine Füße auf das Doppelte ihres normalen Umfangs geschwollen wären, jedenfalls boten ihnen die feinen Schuhe mit den goldenen Schnallen nicht mehr genügend Raum - er konnte sie kaum noch herunterzerren. Während er Band und Stern ablegte und aufatmend aus dem schweren, goldbestickten Galarock fuhr, fiel ihm zu seinem Leidwesen ein, daß er beides schon in drei Stunden zum feierlichen Auslaufzeremoniell wieder anlegen mußte. Er griff zum Schwamm und wusch sich vom Kopf bis zu den Füßen mit Wasser aus seinem Waschbecken, dann ließ er sich in der Schlafkammer mit einem wohligen Seufzer in seine Koje sinken. Beim Wachwechsel wurde er von selbst wieder munter. In der Kajüte war es noch stockfinster, und er hätte in den ersten wachen Sekunden nicht sagen können, woher seine innere Unruhe kam. Dann fiel ihm aber alles wieder ein, und er war mit einem Schlage wieder ganz klar. Er rief nach dem Posten Kajüte und befahl ihm, Giles herbeizuholen. Darauf rasierte er sich in aller Hast beim schlechten Licht einer Lampe, fuhr wieder einmal in die verhaßte Galauniform und eilte die Treppe zum Achterdeck hinauf. Noch war es stockfinster - nein, schon meldete sich der erste leise Schimmer des neuen Tages.
Vielleicht war der Himmel über dem Morro um ein winziges bißchen heller - vielleicht. Auf dem Achterdeck wimmelte es von Schattengestalten, es waren ihrer sogar mehr als man für gewöhnlich hier fand, wenn die ganze Besatzung zum Inseegehen auf Manöverstationen war. Beim Anblick all der Menschen war Hornblower schon drauf und dran, sich wieder zurückzuziehen, weil er nicht verraten wollte, daß er ihre menschliche Schwäche teilte. Aber es war zu spät - Fell hatte ihn schon entdeckt.
»Guten Morgen, Mylord.«
»Morgen, Sir Thomas.«
»Die Landbrise weht schon ganz schön, Mylord.« Das stimmte. Hornblower fühlte selbst, wie sie ihn herrlich kühl umfächelte, ein wahres Labsal nach dem Aufenthalt in der stickigen Kajüte. Aber jetzt im tropischen Hochsommer hatte sie bestimmt keinen langen Bestand; sobald sich die Sonne über den Horizont erhob und wieder auf die Erde herniederbrannte, war es mit ihrer kurzen Herrlichkeit zu Ende.
»Die Estrella macht seeklar, Mylord.« Das stimmte ohne Zweifel ebenfalls. Die Laute, die davon Kunde gaben, drangen im Dämmer des Morgens deutlich herüber.
»Ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, ob Sie ebenfalls klar sind, Sir Thomas.«
»Alles klar, Mylord, das Ankerspill ist besetzt.«
»Gut.« Inzwischen war es unverkennbar heller geworden. Die Leute auf dem Achterdeck - jetzt schon viel leichter zu unterscheiden - drängten sich alle an der Steuerbordreling. Ein halbes Dutzend Kieker richtete sich, zu voller Länge ausgezogen, auf die Estrella.
»Sir Thomas, bitte stellen Sie diesen Unfug ab. Schicken Sie jeden unter Deck, der hier nichts verloren hat.«
»Die Leute möchten gern beobachten...«
»Ich weiß genau, was sie sehen wollen. Schicken Sie sie sofort unter Deck!«
»Aye, aye, Mylord.«
Natürlich brannten sie alle darauf zu sehen, ob achtern in der Wasserlinie der Estrella etwas Ungewöhnliches zu erkennen war, was das nächtliche Wirken der eigenen Leute verraten hätte. Aber nichts hätte den Kapitän der Estrella leichter auf die Vermutung gebracht, daß unter seinem Heck etwas nicht in Ordnung war, als alle die Gläser, die sich auf diese Stelle richteten. »Wachhabender Offizier!«
»Mylord?«
»Sorgen Sie dafür, daß kein einziges Glas auf die Estrella gerichtet wird.«
»Aye, aye, Mylord.«
»Wenn es so hell ist, daß man deutlich sehen kann, dann nehmen Sie einen Rundblick, wie es sich für den Wachhabenden Offizier gehört. Dabei richten Sie Ihr Glas keinesfalls länger als fünf Sekunden auf die Estrella - aber sorgen Sie mir dafür, daß Sie dennoch alles sehen, was es dort zu sehen gibt.«
»Aye, aye, Mylord.«
Der östliche Himmel nahm eine gelbe und blaßgrüne Tönung an, gegen die sich der Morro wie ein mächtiges, dunkles Gespensterschloß abhob. Im Schatten der Burg herrschte noch Dunkelheit. Dieser romantische Anblick verfehlte auch dann seine Wirkung nicht, wenn man noch keinen Bissen gefrühstückt hatte. Hornblower gab sich darüber Rechenschaft, daß er selbst wahrscheinlich am meisten Verdacht erregte, wenn er sich um diese frühe Morgenstunde in voller Gala hier auf dem Achterdeck zeigte.
»Ich gehe unter Deck, Sir Thomas, bitte, halten Sie mich auf dem laufenden.«
»Aye, aye, Mylord.«
Als er seinen Tagesraum betrat, sprangen Gerard und Spendlove von ihren Stühlen auf. Wahrscheinlich hatten auch sie zu den Neugierigen gehört, die Fell unter Deck jagen mußte.
»Mr. Spendlove, Ihr gutes Beispiel von gestern war mir eine Lehre. Ich werde mir mein Frühstück zu Gemüte führen, solange das in Ruhe möglich ist. Mr. Gerard, bitte, haben Sie die Güte, auftragen zu lassen. Ich darf wohl annehmen, daß mir die Herren Gesellschaft leisten.« Er warf sich lässig auf einen Stuhl und verfolgte das Zurichten der Mahlzeit. Als man damit zur Hälfte gediehen war, klopfte es an der Tür und Fell erschien in eigener Person.
»Die Estrella ist jetzt schon deutlich zu sehen, Mylord. Unter ihrem Heck ist nichts Auffälliges zu erkennen.«
»Danke, Sir Thomas.«
Eine Tasse Kaffee um diese frühe Stunde tat wohl, Hornblower brauchte sich nicht einmal so zu stellen, als ob sie ihm schmeckte. Langsam kroch die Helle des Tages auch in die Kajüte und machte das Lampenlicht überflüssig. Nach neuerlichem Klopfen trat ein Fähnrich in Erscheinung.
»Der Kommandant läßt melden, die Estrella würfe los.«
»Schön.«
Nun war sie bald unterwegs, dann sollte sich erweisen, was die Bremsvorrichtung wert war. Hornblower zwang sich, noch einen Bissen Toast zu nehmen und gründlich zu kauen. »Könnt ihr jungen Leute denn nicht einen Augenblick ruhig sitzen bleiben?« schalt er. »Gießen Sie mir lieber noch eine Tasse Kaffee ein, Gerard.«
»Die Estrella warpt in die Einfahrt«, meldete der Fähnrich wieder.
»Danke«, sagte Hornblower und schlürfte genießerisch seinen Kaffee. Er hoffte, daß ihm niemand sein plötzliches Herzklopfen ansah. Die Minuten dehnten sich endlos.
»Die Estrella macht klar zum Segelsetzen, Mylord.«
»Schön.« Hornblower stellte bedächtig seine Tasse auf den Tisch und erhob sich so langsam und gelassen von seinem Platz, wie es ihm gelingen wollte. Die beiden jungen Männer behielten ihn unverwandt im Auge. »Ich meine«, sagte er mit gespielter Gleichgültigkeit, »wir könnten uns jetzt ebenfalls an Deck begeben.« So langsamen Schritts, wie seinerzeit bei Nelsons Leichenbegängnis, ging er an dem Posten Kajüte vorbei und die steile Treppe hinauf. Die jungen Männer hinter ihm hatten alle Mühe, ihre Ungeduld zu zügeln. An Deck herrschte blendende Helle, die Sonne war eben hinter dem Morro hervorgekommen.
In der Mitte des Fahrwassers, weniger als eine Kabellänge entfernt, lag strahlend in ihrem weißen Anstrich die Estrella.
Während Hornblower sie musterte, entfaltete sich ihr Klüver, faßte sogleich Wind und begann den Bug herumzudrücken. Im nächsten Augenblick füllte sich auch ihr Großsegel; jetzt fiel sie nicht mehr weiter ab und nahm alsbald Fahrt auf. Sekunden später glitt sie lautlos an der Clorinda vorüber. Ein entscheidender Augenblick! Fell stand und starrte und murmelte Unverständliches vor sich hin, seine Aufregung machte sich in leisen Flüchen Luft. Die Estrella dippte die Flagge, Hornblower erkannte Gomez, der an Deck stand und die Manöver des Schooners leitete. Gomez sah ihn im gleichen Augenblick und verbeugte sich höflich, er hielt dabei den Hut vor die Brust, wie es die Sitte verlangte, und Hornblower erwiderte seinen Gruß auf dieselbe Weise. »Sie macht keine zwei Meilen durchs Wasser«, sagte Hornblower.
»Dafür sei Gott gedankt«, sagte Fell.
Die Estrella glitt langsam auf die Hafeneinfahrt zu und bereitete sich schon vor, den Haken zu schlagen, den das Fahrwasser nach See beschrieb. Gomez manövrierte sie meisterhaft unter den kleinen Segeln. »Soll ich jetzt hinterher, Mylord?«
»Ich denke, es ist an der Zeit, Sir Thomas.«
»Mann Spill! An die Vorsegelschoten, Mr. Field!«
Selbst bei nur zwei Knoten Fahrt kam schon ein erheblicher Zug auf jenes Stück Schiemannsgarn. Es durfte nicht brechen - beileibe nicht - ehe die Estrella ein gutes Stück von der Küste entfernt war. Starke Arme und kräftige Rücken hievten die Ankertrosse der Clorinda kurzstag. »Salutgeschütz klar!«
Die Estrella hatte Kurs geändert, soeben verschwand die letzte Ecke ihres Großsegels hinter der Huk. Fell gab trotz seiner Erregung ruhige und klare Befehle, um die Clorinda in Fahrt zu setzen. Hornblower beobachtete ihn genau, da man aus seinem Verhalten bei dieser Gelegenheit immerhin darauf schließen konnte, wie er sich im Ernstfall benahm, wenn es galt, sein Schiff mitten in den Qualm und das Getöse einer Schlacht hineinzuführen. » Großmarsbrassen!«
Fell brachte seine mächtige Fregatte ebenso elegant auf Auslaufkurs wie Gomez kurz zuvor die Estrella. Als die Clorinda richtig anlag, nahm sie allmählich Fahrt auf und glitt durch die Fahrrinne nach See hinaus. »Antreten zum Paradieren!«
Was immer hinter der Biegung geschah, was auch der aus Sicht gelaufenen Estrella widerfahren mochte, die Vorschriften der Etikette mußten eingehalten werden. Neun Zehntel der Deckbesatzung der Clorinda konnten an der Ehrenbezeigung teilnehmen; solange das Schiff vor der leichten Landbrise langsam dahinkroch, genügte das restliche Zehntel der Mannschaft vollauf zu seiner Bedienung. Hornblower nahm militärische Haltung an und grüßte die spanische Flagge über dem Castell Morro mit an den Hut erhobener Hand. Fell neben ihm und die übrigen Offiziere, in Reih und Glied dahinter, folgten seinem Beispiel, während beide Seiten respektvoll die Flagge dippten und der Salut von hüben und drüben donnernd über den Hafen dröhnte. »Wegtreten!«
Jetzt näherten sie sich der Biegung, hinter der die Estrella verschwunden war. Es lag durchaus im Bereich der Möglichkeit, daß plötzlich eines der grinsenden Kanonenmäuler dort oben einen Warnungsschuß nach ihnen spie - einen Schuß, der sie daran erinnern sollte, daß hundert andere Geschütze bereitstanden, sie zum Wrack zusammenzuschießen. Darauf mußten sie gefaßt sein, wenn der Schleppsack der Estrella jetzt schon - früher als beabsichtigt - allzu fühlbar zu schaffen machte.
»Großmarsbrassen!« kommandierte Fell wiederum. Jetzt machte sich schon der ewige Atem des Atlantiks bemerkbar; Hornblower fühlte, wie sich der Bug der Clorinda schwerelos über die anrollende Dünung hob. »Hart Backbord!« Die Clorinda nahm gehorsam den Dreh auf. »Stütz - recht so!«
Der neue Kurs lag kaum an, als die Estrella wieder in Sicht kam. Sie hatte jetzt etwa eine Meile Vorsprung. Zur Zeit lag sie fast auf entgegengesetztem Kurs und führte glücklicherweise immer noch sehr kleine Segel, während sie stetig dem Punkt zusteuerte, wo sie mit einer letzten Wendung aus dem Fahrwasser in die offene See gelangte. Das Großmarssegel der Clorinda killte für eine kurze Weile, als die Höhe des Morro die Landbrise abhielt, aber es stand gleich darauf wieder voll wie zuvor. Nun drehte die Estrella von neuem, sie war kaum noch in Reichweite der Geschütze auf dem Morro.
»Steuerbord!« befahl Fell und gleich darauf: »Recht so!« Die Landbrise kam jetzt recht von achtern, aber sie flaute mehr und mehr ab, was teils der zunehmenden Entfernung von Land, teils der steigenden Sonnenglut zuzuschreiben war.
»Großsegel klar zum Setzen!«
Fell tat damit genau das Richtige, jetzt galt es in der Tat zu eilen, damit das Schiff nicht in dem Flautengürtel zwischen der Landbrise und dem Passat hängenblieb. Die riesige Fläche des Großsegels schob die Clorinda denn auch so kräftig voran, daß sich sogar das Plätschern der Bugwelle wieder vernehmen ließ.
Die Estrella hatte das Fahrwasser schon hinter sich. Hornblower verfolgte mit atemloser Spannung, wie sie jetzt ihr Schoonersegel und dazu alle Stagsegel und Klüver setzte, so daß zuletzt sämtliche Schratsegel standen. Sie steuerte mit hart angeholten Schoten einen nördlichen Kurs, der rechtwinklig von der Küste wegführte. Offenbar hatte sie bereits den Passat erreicht und war nun klugerweise darauf bedacht, sogleich Nord zu gewinnen, da sie noch vor dem nächsten Morgen Haiti in Luv passieren mußte, um durch den alten Bahamakanal nach Havanna zu gelangen. Sie waren jetzt so weit vom Morro und der Estrella entfernt, daß es niemand mehr auffallen konnte, wenn sie das Sklavenschiff unausgesetzt durch ihre Gläser musterten. Auch Hornblower blickte lange und aufmerksam hinüber. Er konnte beim besten Willen nichts Ungewöhnliches entdecken. Ob Gomez etwa bemerkt hatte, daß unter seinem Heck ein Schleppsack hing, und ihn in aller Stille beseitigen ließ? Vielleicht brach er gerade jetzt im Kreis seiner Offiziere in schallendes Gelächter aus, wenn sein Blick achteraus auf die britische Fregatte fiel, die so hoffnungsvoll hinter ihm hergesegelt kam. »Steuerbord!« kommandierte Fell, und die Clorinda nahm die letzte Biegung des Fahrwassers.
»Leitmarken sind in Linie, Sir«, meldete der Steuermann, der sein Glas unverwandt nach der Küste gerichtet hielt. »Danke.
Recht so, wie's jetzt geht.«
Nun kamen ihnen schon die richtigen Roller aus dem Atlantik entgegen, sie hoben den Bug der Clorinda von Steuerbord her an und glitten unter ihr hindurch, so daß sie mit dem Bug alsbald wieder zu Tal sank und dafür das Backbord-Achterschiff hob.
Die Estrella lag recht voraus, noch immer mit dichten Schoten am Wind und steuerte unter ihren Schratsegeln nach wie vor nördlichen Kurs. »Sie läuft gut ihre sechs Meilen«, schätzte Gerard, der mit Spendlove dicht neben Hornblower stand. »Das Schiemannsgarn könnte bei sechs Meilen Fahrt eben noch halten«, meinte Spendlove nachdenklich. »Keinen Grund!« sang der Lotgast in den Rüsten aus. »Alle Mann auf, klar zum Segelsetzen!« Der Befehl wurde durch alle Decks gepfiffen, und gleich darauf breiteten sich die Bramsegel und die Royals unter ihren Rahen. Ehe noch viele Minuten vergangen waren, stand auf der Clorinda alles, was sie an Segeln führen konnte.
Aber die Landbrise lag schon in den letzten Zügen und die Fregatte hatte kaum noch Steuer im Schiff. Ein paar Mal schlugen die Segel mit lautem Donnern back, aber noch gelang es, Kurs zu halten. Immer langsamer kroch die Clorinda unter einem wolkenlos blauen Himmel, von dem die Sonne erbarmungslos nieder brannte. »Das Schiff läßt sich nicht mehr auf Kurs halten, Sir«, meldete der Rudergänger. Unter dem Druck der anrollenden Dünung gierte die Clorinda träge hin und her. Die Estrella lag so weit voraus, daß ihr Rumpf schon fast unter der Kimm war.
Plötzlich war da eine andere Luft, nur ein leiser, leiser Hauch; Hornblower fühlte ihn noch kaum auf seinem schweißnassen Gesicht, und die Clorinda sprach natürlich noch längst nicht darauf an. Diese Luft war wirklich etwas ganz anderes, nicht mehr der heiße Atem der Landbrise, sondern der frische Strom des Passats, der makellos rein über dreitausend Meilen freien Ozean einher wehte. Die Segel schlugen und killten, aber die Bewegungen der Clorinda wirkten nicht mehr so unbestimmt und ziellos. »Jetzt kommt er durch«, rief Fell. »Voll und bei!«
Ein stärkerer Puff gab so viel Fahrt, daß das Ruder wirkte. Stille - wieder ein Puff - wieder Stille - und abermals ein Puff. Jeder dieser leichten Windstöße war um ein weniges stärker als sein Vorgänger. Der nächste endlich hörte nicht wieder auf, er hielt durch, er neigte die Clorinda sogar nach Lee. Eine See brach sich am Steuerbordbug und zerstob als flimmernder Regenbogen. Jetzt hatten sie den Passat gefaßt, jetzt konnten sie endlich hart am Wind mit Nordkurs hinter der Estrella hersegeln. Der reine, frische Wind versetzte das ganze Schiff in gehobene Stimmung, weil er allen das Gefühl gab, daß damit wieder die Zeit des Handelns gekommen sei. Endlich sah man wieder frohe Gesichter. »Die Estrella hat noch immer keine Marssegel gesetzt, Mylord«, sagte Gerard, der seinen Kieker anscheinend überhaupt nicht mehr vom Auge nahm.
»Ich glaube nicht, daß sie das tun wird, solange sie Nord macht«, erwiderte Hornblower.
»Am Wind gewinnt sie uns Höhe ab und läuft uns obendrein davon«, sagte Spendlove. »Das hat sie uns gestern zur Genüge bewiesen.«
Gestern? War das erst gestern gewesen? Man konnte meinen, es wäre seitdem schon ein Monat verstrichen, soviel hatte sich seit jener Verfolgungsjagd schon ereignet. »Meinen Sie nicht, daß sich der Schleppsack irgendwie bemerkbar machen müßte?« fragte Fell, der eben nähergetreten war.
»Nein, Sir«, sagte Spendlove, »jedenfalls nicht so, daß es uns auffiele. Solange ihn das Schiemannsgarn mit dem Hinterende nach vorn hält, kann er nicht wirken.« Fell bohrte seine gewaltige Rechte fest in die ebenso riesige Linke und rieb mit den Fingerknöcheln in der Handfläche.
»Was mich betrifft«, sagte Hornblower und zog damit sogleich aller Blicke auf sich, »so werde ich mich jetzt endlich von all der Goldstickerei befreien. Ein leichterer Rock und ein lockeres Halstuch werden mir wohltun.« Sollte Fell seiner Unruhe und Aufregung weiter Luft machen - er ging unter Deck, als ob ihn der Ausgang dieses Unternehmens überhaupt nichts anginge. Es war geradezu eine Erlösung, als er unten in der heißen Kajüte die schwere Gala - zehn Pfund Uniformtuch und Gold - ablegen konnte und sich von Giles ein frisches Hemd und eine leichte weiße Hose zurechtlegen ließ.
»Ich will doch mein Bad nehmen«, sagte er wie zu sich selbst.
Er wußte genau, daß es in Fells Augen würdelos und disziplingefährdend war, wenn ein Admiral sein Vergnügen darin fand, sich unter der Deckwaschpumpe von grinsenden Matrosen abspritzen zu lassen. Er konnte diese Ansicht nicht teilen, im übrigen ließ sie ihn völlig kalt. Was war eine Waschung mit dem Schwamm gegen so ein köstliches Bad? Die Seeleute pumpten mit aller Kraft, und Hornblower hüpfte wie ein übermütiger Junge unter dem peitschenden Wasserstrahl umher. Hinterher war es ein doppelter Genuß, in das frische Hemd und die weiße Hose zu schlüpfen, er fühlte sich wie neugeboren, als er wieder an Deck kam, und seine Gleichgültigkeit war nicht einmal gespielt, als Fell sogleich aufgeregt auf ihn zugestürzt kam. »Sie läuft uns wieder glatt auf und davon, Mylord«, sagte er.
»Wir wissen nachgerade, daß sie dazu in der Lage ist, Sir Thomas. Also können wir nur warten, bis sie abfällt und ihre Marssegel setzt.«
»Vorausgesetzt, daß wir sie überhaupt in Sicht behalten...«, sagte Fell.
Die Clorinda lag hart über und bahnte sich stampfend ihren Weg nach Norden.
»Wir tun doch offensichtlich alles, was in unserer Macht steht, Sir Thomas«, sagte Hornblower in beschwichtigendem Ton.
Die Vormittagsstunden vergingen, der Wachhabende Offizier ließ »Antreten zum Schnapsempfang« pfeifen, Fell kam mit dem Navigationsoffizier überein, daß es Mittag war, und die Besatzung erhielt ihr Essen. Die Estrella war schon so weit weggelaufen, daß man nur durch ein nach Steuerbord vorn gerichtetes Glas noch einen Schimmer von ihren Segeln erhaschen konnte, wenn sich die Clorinda über eine See hinweghob. Immer noch führte sie keine Marssegel. Gomez wußte eben, daß sein Schooner ohne Marssegel höher am Wind lag, und richtete daher seine Segelführung entsprechend ein - oder aber, er spielte mit seinen Verfolgern Katz und Maus. Die Berge von Puerto Rico waren weit, weit achteraus unter den Horizont getaucht. Und das Roastbeef beim Mittagessen - frisches, geröstetes Ochsenfleisch - hatte alle bitter enttäuscht, weil es zäh und sehnig und ganz ohne Geschmack gewesen war.
»Dieser Stuart versprach mir das beste Lendenstück an Bord zu schicken, das auf der ganzen Insel aufzutreiben ist, Mylord«, sagte Gerard auf Hornblowers ungehaltene Bemerkung hin.
»Ich wollte, ich hätte den Kerl hier«, sagte Hornblower. »Der sollte mir das ganze Zeug aufessen, bis zum letzten Bissen - und ohne Salz. Sir Thomas, ich möchte Sie herzlich bitten, mir diese Panne zu verzeihen.«
»Äh - gewiß - selbstverständlich, Mylord«, sagte Fell, der heute Gast seines Admirals war. Hornblowers Anrede hatte seine eigenen Gedankengänge jäh unterbrochen. »Dieser Schleppsack…«
Als diese Worte - nein, eigentlich nur dieses eine besondere Wort heraus war, wußte er nicht weiter. Er richtete einen hilflosen Blick auf Hornblower, der ihm gegenübersaß. In seinem hohlwangigen Gesicht - zu dem seine frische rote Hautfarbe so gar nicht passen wollte - stand Angst und Unruhe geschrieben, und der Ausdruck seiner Augen machte seine Gemütsverfassung vollends deutlich.
»Wenn wir heute nicht erfahren, wie sich das Ding benahm«, sagte Hornblower, »eines Tages hören wir sicher gründlich davon.«
Das war zweifellos richtig, wenn auch alles andere als erfreulich.
»Man wird sich in ganz Westindien über uns lustig machen«, sagte Fell.
Er machte einen völlig verstörten Eindruck. Hornblower neigte selbst dazu, die Hoffnung aufzugeben, aber das Schauspiel solcher Verzweiflung weckte seinen immer sprungbereiten Widerspruchsgeist, und er sagte: »Es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen den sechs Meilen, die die Estrella jetzt hart am Winde macht, und den zwölf, die sie laufen kann, wenn sie das Ruder auflegt und abfällt. Mr. Spendlove hier wird Ihnen verraten, daß der Wasserwiderstand mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zunimmt. Ist es nicht so, Mr. Spendlove?«
»Vielleicht sogar mit dem Kubus oder einer noch höheren Potenz, Mylord.«
»Wir dürfen also immer noch hoffen, Sir Thomas. Wenn die Estrella Kurs ändert, kommt der achtfache Zug auf das Schiemannsgarn.«
»Es wird schon jetzt durchscheuern und an Festigkeit verlieren«, fügte Spendlove hinzu.
»Vorausgesetzt, daß sie das Ding nicht gestern nacht gesehen und einfach beseitigt haben...«
Als sie wieder an Deck kamen, neigte sich die Sonne schon gegen Westen.
»Topp!« rief Fell. »Ist die Estrella noch in Sicht?«
»Jawohl, Sir. Rumpf unter der Kimm, aber klar in Sicht. Etwa zwei Strich in Luv.«
»Sie hat jetzt soviel Nordbreite, wie sie braucht«, knurrte Fell.
»Warum ändert sie nicht endlich Kurs?« Jetzt gab es nur eins: Geduldig zu warten und sich inzwischen an dem reinen Passat und der Weite der blauweißen See zu ergötzen. Aber das Ergötzen wollte sich nicht recht einstellen und die See nicht so strahlend blau leuchten wie sonst. Blieb also nur das Warten.
Die Minuten dehnten sich zu Stunden - endlich war es so weit.
»An Deck! Die Estrella ändert Kurs - dreht nach Backbord - dreht platt vor den Wind!«
»Verstanden!«
Fell ließ den Blick über die Menschenschar auf dem Achterdeck schweifen. Er sah genauso gespannt drein wie alle anderen.
Er wollte das böse Spiel bis zum bitteren Ende durchhalten, obwohl die Erfahrung von gestern unter nahezu den gleichen Bedingungen erwiesen hatte, daß die Clorinda normalerweise nicht imstande war, den Schooner einzuholen.
»Mr. Sefton, drehen Sie vier Strich nach Backbord.«
»An Deck! Die Estrella setzt Marssegel... Jetzt auch die Bramsegel, Sir!«
»Verstanden!«
»Jetzt muß es sich bald zeigen«, sagte Spendlove. »Wenn der Schleppsack wirkt, muß sie Fahrt verlieren, es kann gar nicht anders sein.«
»An Deck! Herr Kapitän! Sir! «Der Ausguckposten kreischte vor Aufregung. »Sie hat wieder in den Wind gedreht! Alles steht back! Fockstenge ist gebrochen, Sir!«
»Ihre Ruderfingerlinge auch«, stieß Hornblower durch die Zähne hervor.
Fell sprang überglücklich an Deck umher, er tanzte förmlich vor Freude, fand aber alsbald seine Selbstbeherrschung wieder.
»Zwei Strich Steuerbord!« befahl er. »Mr. James, los, entern Sie in den Topp und melden Sie mir, wie sie peilt.«
»Sie nimmt das Großsegel weg«, rief der Ausguck. »Aha, sie möchte wieder vor den Wind«, bemerkte Gerard dazu.
»An Kommandant!« Das war die Stimme James' aus dem Topp. »Sie halten jetzt einen Strich zu Luv der Estrella, Sir.«
»Verstanden!«
»Sie dreht vor den Wind - nein, steht wieder alles back, Sir!«
Das Ding hielt sie unerbittlich achtern fest, mochte sie sich noch so sehr bemühen, sie konnte sich ebenso wenig davon befreien wie eine Antilope aus den Klauen eines Löwen. »Willst du wohl genau steuern, du...!« schrie Fell und bedachte den Rudergänger mit einem schauerlichen Schimpfwort.
Jedermann war aufgeregt, jedermann schien von der Angst besessen, daß die Estrella ihre Havarie klarieren und doch noch entkommen könnte.
»Ohne Ruder kann sie niemals Kurs halten«, sagte Hornblower, »außerdem hat sie ja ihre Fockstenge eingebüßt.«
Wieder hieß es warten, aber diesmal war die Stimmung ganz anders. Die Clorinda jagte dahin, als ob auch sie von der allgemeinen Aufregung gepackt worden wäre. Sie spurtete wie ein Renner, um sich auf ihre Beute zu stürzen und den so lange vorenthaltenen Triumph zu genießen. »Da ist sie!« sagte Gerard, der mit seinem Glas nach vorn zu Ausschau hielt. »Ihre Segel stehen noch immer back.« Als die Clorinda auf den Kamm der nächsten See gelangte, war das Sklavenschiff schon für alle sichtbar, so rasch kamen sie ihm jetzt näher. Der herrliche Schooner bot ihnen einen jammervollen Anblick. Seine Fockstenge war am Eselshaupt glatt weggebrochen, seine Segel killten im Wind.
»Buggeschütz klar!« befahl Fell. »Einen Schuß vor den Bug!«
Der Schuß fiel. An der Piek der Großgaffel stieg ein dunkles Bündel empor und entfaltete sich zu der rotgelben spanischen Flagge. Sie wehte dort einen Augenblick und senkte sich dann langsam wieder nieder.
»Meinen Glückwunsch zu dem großartigen Erfolg Ihres Plans, Sir Thomas«, sagte Hornblower. »Besten Dank, Mylord«, gab Fell zur Antwort und strahlte dabei über das ganze Gesicht.
»Ohne Eurer Lordschaft Zustimmung zu meinen Vorschlägen hätte ich nichts ausrichten können.«
»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, dies hervorzuheben, Sir Thomas«, sagte Hornblower und wandte sich wieder der Prise zu.
Die Estrella bot einen bemitleidenswerten Anblick. Dieser Eindruck wurde um so stärker, je näher sie kamen, je deutlicher vorn das wirre Durcheinander der baumelnden Spieren und Enden und achtern das losgerissene Ruder sichtbar wurden. Als der Schleppsack in Funktion trat, hatte es plötzlich einen Ruck gegeben, der durch seine gewaltige Kraft und Hebelwirkung die starken bronzenen Fingerlinge des Ruders einfach abbrach oder glatt herausriß. Der Schleppsack selbst hing, von der daran befestigten schweren Kette nach unten gezogen, immer noch unsichtbar unter dem lose baumelnden Ruder.
Gomez wurde im Triumph an Bord der Clorinda gebracht. Er hatte noch immer keine Erklärung für die plötzliche Katastrophe und ahnte vor allem nicht, warum er sein Ruder verloren hatte.
Jung und hübsch wie immer, betrat er das Deck der Fregatte und trug sein unverdientes Mißgeschick mit bemerkenswerter Würde und Fassung. Eben darum war es sehr wenig erfreulich, die Verwandlung zu beobachten, die mit ihm vorging, als er die Wahrheit erfuhr. Es war wirklich alles andere als schön, es war überaus peinlich, mit ansehen zu müssen, wie dieser tüchtige junge Mann vor den Augen der Sieger förmlich in sich zusammensank, so peinlich, daß diesen darüber sogar die Freude an ihrem geglückten Seemannsstreich verging. Immerhin, dreihundert Sklaven hatten durch diese List ihre Freiheit gewonnen.
Hornblower diktierte seine Depesche an Ihre Lordschaften, und Spendlove, der neben einer erstaunlichen Vielzahl anderer Dinge auch die neumodische Kurzschrift beherrschte, schrieb den Brief mit einer Gewandtheit nieder, die auch Hornblowers stockender Sprache spielend gewachsen war - Hornblower hatte in der Kunst des Diktierens noch recht wenig Übung. »Zum Abschluß«, sagte Hornblower an, »gereicht es mir zur besonderen Freude, Eure Lordschaften auf die Verdienste des Kommandanten, Kapitän Sir Thomas Fell, hinweisen zu können, dessen Diensteifer und Ideenreichtum diesen beispiellosen Erfolg überhaupt erst ermöglicht hat.«
Spendlove blickte von seinem Stenogramm auf und starrte ihn an. Der Sekretär wußte, wie es wirklich gewesen war, aber der durchdringende, stumme Blick seines Admirals schnitt ihm das Wort im Munde ab.
»Schreiben Sie dazu den üblichen Schluß«, sagte Hornblower.
Er brauchte seinem Sekretär nicht zu erklären, warum er sich so verhielt. Selbst wenn er versucht hätte, wäre es ihm wahrscheinlich nicht gelungen. Fell war ihm deshalb um kein Haar sympathischer als früher. »Jetzt einen Brief an meinen Agenten«, sagte Hornblower.
»Aye, aye, Mylord«, sagte Spendlove und begann eine neue Seite.
Hornblower legte sich zurecht, was in diesem Brief stehen sollte. Er wollte zum Ausdruck bringen, daß er auf seinen Anteil an dem Prisengeld verzichtete, weil die Wegnahme der Prise auf die Vorschläge Sir Thomas' zurückzuführen sei. Er wünschte, daß der Anteil der Flagge ebenfalls Sir Thomas zugutekommen sollte.
»Nein«, sagte Hornblower schließlich, »belege den Brief. Ich werde dem Mann nicht schreiben.«
»Aye, aye, Mylord«, sagte Spendlove.
Man konnte einem anderen Mann Auszeichnungen und Ehren zuschieben, aber Geld? Nein, das ging beim besten Willen nicht.
Das war zu auffällig, es konnte den Empfänger allzu leicht argwöhnisch machen. Gesetzt, Sir Thomas erriet den Zusammenhang und fühlte sich verletzt? Was dann? Nein, dieser Gefahr wollte er sich nicht aussetzen. Nichtsdestoweniger wünschte er sich, daß ihm Sir Thomas ein bißchen sympathischer gewesen wäre.