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Sergeant Sellers hatte hinsichtlich der Ausnüchterungszelle nicht übertrieben. Sie war ein lieblicher Aufenthaltsort.
Als man mich hineinbugsierte, waren noch nicht allzu viele Leute da, und sie waren in einigermaßen guter Verfassung.
Einen hatte man wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen. Er machte einen ganz ordentlichen Eindruck und vergoß Tränen beim Gedanken an seine Frau und Kinder und an seine Schande; er erging sich in besagten bußfertigen Klagen.
Dann gab es den geselligen Säufer, der in einem fort bloß reden und Hände schütteln wollte. Er erzählte seine Geschichte immer wieder, gelobte feierlich ewige Freundschaft und schüttelte einem die Hand. Dann fing er mit dem Händeschütteln von vorn an und leierte dieselbe alte Geschichte von neuem herunter.
Ferner gab es den streitsüchtigen Betrunkenen, der jedermann Prügel androhte, aber glücklicherweise bald einschlief.
Gegen ein oder zwei Uhr morgens wurden die schlimmsten Fälle eingeliefert.
Die Zelle war einfach ein großer quadratischer Käfig mit einem Zementboden und einer Abflußrinne in der Mitte; am Morgen, wenn die Betrunkenen entlassen waren, wurde sie mit einem Schlauch gesäubert.
Normalerweise hätten Flüssigkeiten sich in der Rinne gesammelt und wären durch den Gully abgeflossen, aber um drei Uhr, als die Zelle voll wurde, wälzten sich ein paar träge Körper in der Rinne und blockierten den Gully. Der Boden bedeckte sich mit menschlichen Ausscheidungen. Der saure Geruch von Erbrochenem verpestete die Luft.
Ich preßte mich in eine Ecke und vermied nach Möglichkeit jede Berührung mit meinen Nachbarn. Ein- oder zweimal döste ich sogar ein.
Um sechs Uhr morgens wurde ein heißes Gesöff gebracht, das Kaffee sein sollte und wie Spülwasser aussah. Triefäugige Wracks grapschten mit zitternden Händen nach den Blechnäpfen.
Um halb neun wurde die gesamte Belegschaft herausgerufen und dem Richter vorgeführt, aber als ich mich der Prozession anschließen wollte, wurde ich zurückgeschubst.
»Sie sind zu betrunken, um dem Richter vorgeführt zu werden«, sagte der Schließer. »Sie bleiben hier.«
Ich blieb in Gesellschaft von vier anderen zurück, vier durchweichten, stinkenden Ruinen, die zu schmutzig waren, als daß man sie hätte vorführen können.
Um neun Uhr wurde mein Name aufgerufen. Ich ging zur Zellentür. »Kommen Sie raus«, sagte ein Mann und schloß die Tür auf.
Man folgte mir mein Eigentum aus, ein Polizeibeamter lotste mich zum Lift, wir gondelten ein paar Etagen höher und landeten in Frank Sellers' Büro.
Sellers saß hinter seinem Schreibtisch. Bertha Cool saß, mit der grimmigen Miene einer Bulldogge, die einen Knochen bewacht, am anderen Ende des Raumes neben einem hartgesottenen Individuum mit durchdringenden grauen Augen. Sie stellte mir ihren Gefährten vor. »Dawson Cecil, unser Anwalt.«
Cecil schüttelte mir die Hand.
»Also, schauen Sie«, sagte Sellers, »wir wollen die Dinge klar-steilen. Ich hab' den Burschen nicht schikaniert, ich dachte, er wäre betrunken. Nach allem, was er gestern hier verzapft hat, mußte er betrunken sein. Ich ließ ihn in die Ausnüchterungszelle stecken, hatte aber die Absicht, ihn heute morgen in eine andere Zelle zu verlegen oder laufenzulassen. Die Entscheidung darüber hing natürlich von seinem Zustand ab.«
»Und dann haben Sie's vergessen«, sagte Cecil.
»Nicht direkt vergessen, aber ich hatte den Kopf zu voll — zum Henker, ich bearbeite derzeit einen Mordfall.«
»Er hat immerhin daran gedacht, dem Schließer die Anweisung zu geben, mich wieder in die Zelle zurückzuschicken, als man die Männer heute früh dem Richter vorführte. Ich war angeblich so betrunken, daß ich noch vierundzwanzig Stunden länger im Dreck sitzen sollte.«
»Da müssen Sie sich an den Schließer halten«, sagte Sellers hastig. »Ich habe nichts dergleichen befohlen, sondern lediglich angeordnet, daß Sie so lange drin bleiben müssen, bis Sie wieder nüchtern sind. Sie werden mir doch nichts nachtragen, Donald, eh? Ich hab' doch früher immer zu Ihnen gehalten und will auch künftig für Sie tun, was ich kann.«
»Nanu? Wieso plötzlich diese zärtlichen Töne?« fragte ich.
Bertha zeigte auf mehrere Bogen Papier, die auf Sellers' Schreibtisch lagen. »Weil Elaine Paisley alles gestanden hat. Sie wurde von Carlotta Shelton in die Agentur geschickt mit dem Auftrag, ein Blatt von unserem Briefpapier zu klauen, den Briefkopf abzureißen und in deinen Schreibtisch zu legen. Genau das hat sie auch getan. Den Erpressertext hat Carlotta selbst fabriziert. Elaine Paisley wußte nichts davon.«
»Und was sagt Carlotta jetzt?«
»Carlotta Shelton und Harden Monroe sind anscheinend untergetaucht«, sagte Cecil. »Sie konnten noch nicht gefunden werden.«
»Wir werden sie finden«, erklärte Sellers.
»Im Moment handelt es sich um Sie, Mr. Lam«, sagte Cecil. »Falls man Sie in die Ausnüchterungszelle gesteckt hat, um Sie zum Reden zu bringen, dürfte das für Sergeant Sellers sehr, sehr unangenehme Folgen haben.«
»Na, nun lassen Sie mal die Kirche im Dorf«, sagte Sellers zu dem Anwalt. »Ich kenne Bertha, und ich kenne Donald Lam. Die zwei sind in Ordnung. Sie sind nicht darauf aus, einem schwerarbeitenden Polizeibeamten das Leben sauer zu machen. Sie wissen, daß man nicht immer am gleichen Strang ziehen kann. Jeder von uns hat seine Verpflichtungen. Die beiden sind vernünftig und fair, und Sie sollten sich ein Beispiel daran nehmen.«
»Wir werden vermutlich auf einhundertfünfzigtausend Dollar Schadenersatz klagen und ein Disziplinarverfahren beantragen.«
Sellers sah Bertha an. »Das werden Sie mir doch nicht antun. Wir waren doch immer gute Freunde, Bertha.«
»Stimmt, aber in letzter Zeit hatten Sie so eine komische Art, uns Ihre Freundschaft zu beweisen.«
»Sie wissen ebensogut wie ich, daß in dieser Stadt eine Detektei, die mit der Polizei schlecht steht, ihren Laden zumachen kann.«
»Merken Sie sich diese Äußerung, Mrs. Cool«, sagte Cecil. »Ich betrachte sie als einen Nötigungsversuch.«
»Das war keine Nötigung«, behauptete Sellers, »das war die schlichte Feststellung einer allgemein bekannten Tatsache.«
Mir wurde das Geplänkel allmählich zu dumm. »Was ist mit dem Geständnis von Elaine Paisley?« erkundigte ich mich bei Bertha.
»Ach, das ist wahrscheinlich noch nicht mal das Papier wert, auf dem es geschrieben steht«, meinte Sellers. »Ich gehe jede Wette ein, daß es unter Zwang abgelegt wurde.«
»Wie soll ich denn jemand unter Druck setzen? Ich bin doch bloß ein schlichter Bürger ohne jede Amtsgewalt«, erwiderte Bertha anzüglich.
»Ganz recht«, sagte Cecil, »von Zwang kann keine Rede sein. Ich habe das Original der eidesstattlichen Erklärung bei mir. Elaine Paisley hat die Erklärung heute morgen um acht Uhr vor mir als Notar beeidigt und unterschrieben. Ich fragte sie vorher eigens, ob sie zu diesem Geständnis gezwungen, überredet oder durch das Versprechen einer Belohnung veranlaßt worden sei, und sie bekundete, daß sie es aus freien Stücken ablege. Meine Sekretärin hat das Gespräch von Anfang bis Ende mitstenografiert.«
»Okay«, sagte Sellers, »das gibt Lam die Chance, sich an Carlotta Shelton schadlos zu halten. Die Polizei berührt das nicht weiter; schließlich dreht's sich ja nicht um eine strafbare Handlung.«
»Erpressung, Irreführung der Polizei, Verleumdung — ist das vielleicht nichts? Als Miss Shelton Anzeige gegen Lam erstattete, fanden Sie mehr als hinreichende Gründe für eine polizeiliche Intervention. Es ist merkwürdig, wie zurückhaltend Sie jetzt auf einmal sind.«
»All right, all right, reiben Sie's mir nur ordentlich unter die Nase. Aber vielleicht sagen Sie mir jetzt mal, was Sie eigentlich von mir wollen.«
Ich blinzelte Cecil zu. »Ich halte es für zwecklos, die Angelegenheit weiter mit Sergeant Sellers zu besprechen. Da wir ja die Absicht haben, ihn zu verklagen, sollten Sie als Anwalt sich mit Sellers' Anwalt darüber unterhalten und nicht mit Sellers selbst. Außerdem sind wir wohl alle ein bißchen erregt. Ich schlage vor, daß wir die Sache erst mal in Ruhe überdenken, bevor wir irgendwelche Entschlüsse fassen.«
Cecil stand auf. »Gut, Lam, wenn das Ihre ehrliche Meinung ist, wollen wir es so halten. Wir haben in aller Form gegen die Ausschreitungen der Polizei Verwahrung eingelegt, und wir bestehen auf unseren Rechten. Meiner Ansicht nach sollten Sie sich ärztlich untersuchen lassen. Die Kratzer in Ihrem Gesicht sehen schlimm aus.«
»Schauen Sie«, sagte Sellers, »aus einer Steckrübe können Sie kein Blut pressen. Ich bin Polizist; ich hab' nichts. Carlotta Shelton gehört zur Prominenz. Warum halten Sie sich nicht an sie und lassen mich zufrieden?«
»Wir halten uns an alle; wir schließen auch die Möglichkeit nicht aus, daß Sie und Carlotta Shelton in geheimem Einverständnis handelten. Machen Sie sich jedenfalls darauf gefaßt, daß Sie auch in dem Prozeß gegen Carlotta Shelton als Beklagter erscheinen werden, von dem Prozeß gegen Sie wegen rechtswidriger Verhaftung und Mißbrauch der Amtsgewalt ganz zu schweigen.«
Nach diesem letzten Böller marschierte Cecil zur Tür und hielt sie auf.
Bertha segelte majestätisch hinaus, und ich folgte ihr.
Sellers saß hinter seinem Schreibtisch, beäugte die Kopie von Elaine Paisleys Geständnis und sah drein, als wäre ihm sein Frühstück nicht gut bekommen.
Im Korridor musterte mich Bertha von Kopf bis Fuß und sagte: »Mein Gott, du bist ja in einem schönen Zustand.«
»Allerdings. Ich gehe jetzt nach Hause und unter die Dusche.«
»Sprechen Sie mit niemandem«, warnte Cecil. »Die Reporter werden hinter Ihnen her sein wegen der Klage, die wir einreichen wollen. Verweisen Sie sie an mich.«
»Im Grunde sind wir gar nicht so scharf auf einen Prozeß«, sagte Bertha. »Wir strengen ihn nur an, wenn's unbedingt sein muß. Zunächst mal haben wir uns Sellers vom Hals geschafft, und das ist die Hauptsache.«
»Soweit es Sellers betrifft, okay. Aber diese Shelton-Affäre steht auf einem anderen Blatt. Hören Sie, Lam, es wird besser sein, wenn Sie heute nicht ins Büro gehen und für Reporter nicht erreichbar sind.«
»Ich werde für niemanden erreichbar sein«, versicherte ich ihm.
Wir begaben uns hinunter zum Haupteingang, wo Cecil uns die Hand schüttelte und sich verabschiedete.
»Also, Bertha, ich gehe in Deckung. Ich rufe immer wieder mal im Büro an, aber für euch oder sonst jemanden bin ich nicht erreichbar. Lange kann dieser Zirkus ja nicht mehr dauern.«
»Sei bloß vorsichtig«, mahnte Bertha. »Dawson Cecil hat zwar große Töne gespuckt, aber wir sitzen auf dem Pulverfaß.«
»Was war mit Elaine Paisley los?« fragte ich.
»Na, ich hatte genug in Sellers Büro aufgeschnappt, um zu wissen, wie der Hase läuft. Ich fuhr zu ihr in die Wohnung. Sie war ausgegangen und kam erst gegen ein Uhr morgens nach Haus. Ich nahm sie in die Mangel, und eine Stunde später fraß sie mir aus der Hand. Ich fuhr mit ihr in ein Hotel, sorgte dafür, daß sie die ganze Nacht kein Auge zutat, alarmierte heute früh Dawson, und der nahm ihr dann die eidesstattliche Erklärung ab. Danach knöpften wir uns Sellers vor.«
»Mußtest du bei Elaine handgreiflich werden?«
»Bloß einmal, als sie mich rausschmeißen lassen wollte.«
»Falls sie blaue Flecken vorzeigen kann...«
»Sei nicht albern, ich bin doch nicht von gestern. Ich hab' die kleine Nutte aufs Bett geworfen und mich auf ihren Bauch gesetzt.«