11
Ich fuhr nach Haus, duschte, zog mich um, pflegte meine Wunden und rief dann Elsie an.
»Donald!« schrie sie, als sie meine Stimme hörte. »Was ist passiert? Bertha sagt, man hätte Sie verhaftet.«
»Stimmt.«
»Und daß Sie über und über mit Blut beschmiert waren.«
»Stimmt.«
»Oh, Donald...«
»Es heilt ja wieder«, sagte ich tröstend. »Also, Elsie, jede Minute zählt. Ich komme bei Ihnen vorbei und hole Sie ab. Sind Sie verabredet?«
»Ja — nein.«
»Schwindeln Sie nicht, Elsie.«
»Eigentlich ja, aber ich lass' die Verabredung schießen. Ich werd' ihm sagen, es wäre geschäftlich.«
»Es ist auch geschäftlich. In fünfzehn Minuten bin ich bei Ihnen.«
Ich gondelte los und las Elsie vor ihrem Apartment auf. Sie warf einen Blick auf mein Gesicht und zerschmolz in Mitgefühl. Sie berührte mit den Fingerspitzen sanft meine zerschundene Wange.
»Donald, das sieht ja schrecklich aus.«
»Es ist auch schrecklich.«
»Warum hat sie Sie so zugerichtet?«
»Sie wollte es als Vergewaltigung hinstellen.«
»Als Vergewaltigung?« fragte Elsie.
»Es war eine Falle. Sie wollte mich reinlegen, und das ist ihr auch gelungen. Wenigstens zuerst.«
»Donald, haben Sie — haben Sie…?«
»Nein, ich habe nicht.«
»Wohin fahren wir eigentlich?«
»Das Ganze war, wie gesagt, eine abgekartete Sache. Die angebliche Klientin, die so lange und so sehnsüchtig im Büro auf mich wartete, wußte im voraus, daß ich nicht kommen würde. Sie wußte ganz genau, daß ich anderweitig beschäftigt war und auf irgendein Lebenszeichen von Carlotta Shelton lauerte.«
»Aber warum drückte sie sich so lange bei uns herum, wenn sie doch wußte, daß Sie nicht aufkreuzen würden?«
»Weil sie einen Bogen unseres Briefpapiers klauen, den Briefkopf abreißen, in meinem Schreibtisch deponieren und den Bogen mitnehmen und Carlotta Shelton übergeben wollte.«
»War ich wirklich so blöd, Donald?«
»Nein, Sie waren nur so menschenfreundlich. Das Mädchen tat Ihnen leid.«
»Sie machte einen so netten Eindruck.«
»Und Sie ließen sie allein in meinem Büro?«
Elsie war im Begriff, den Kopf zu schütteln, ließ es aber bleiben und dachte angestrengt nach. »Stimmt, ich ging kurz hinaus, aber das kann höchstens ein paar Minuten gedauert haben.«
»Die paar Minuten verschafften ihr die Chance, auf die sie gewartet hatte. Macht nichts, Elsie, wir werden das Mädchen schon ausfindig machen. Sie werden es doch auf einem Foto wiedererkennen?«
»Doch, ich glaube schon.«
»Okay, wir werden's gleich mal ausprobieren.«
Ich fuhr mit Elsie zu einer guten Freundin, die das Bildarchiv einer Zeitung leitete. Sie warf einen einzigen Blick auf mich, auf die Kratzer in meinem Gesicht, auf Elsie Brand und lächelte verständnisinnig.
Elsie brauste auf. »Sie brauchen mich gar nicht so anzuschauen! Er könnte anstellen, was er wollte, ich würde ihm deswegen bestimmt kein Haar krümmen!«
Die Bildredakteurin war eine große knochige Frau Mitte der Fünfzig, die sich auskannte. Niemand wußte etwas über sie und ihre Herkunft. Sie grinste mich nur an. »Du solltest dich schämen, Donald. Hast so 'ne treue Seele an deiner Seite und bist hinter anderen Weibern her.«
»Ich war nicht hinter ihnen her«, sagte ich, »sie waren hinter mir her.«
»Was willst du denn?«
»Ich hätte mir gern mal die Fotos von Carlotta Shelton angesehen.«
»Das ist ein ganzer Schwung. Was soll's denn sein: Carlotta im Badeanzug, Strandanzug, Tennisdress, Reitdress?«
»Alles, was da ist.«
Sie nickte, verfrachtete uns an einen der langen Tische und verschwand durch eine Tür. Nach ungefähr fünf Minuten kam sie mit einem ganzen Arm voll großer gelber Umschläge wieder zum Vorschein.
»Bring sie bitte nicht durcheinander«, sagte sie und ließ uns allein.
»Wie heißt sie?« fragte Elsie.
»Ruth Ritter«, antwortete ich. »Sie ist ein prima Kerl. Kein Mensch kennt ihre Vergangenheit. Sie spricht nie darüber. Sie hält sich im Hintergrund, weiß aber unglaublich viel und hat ein enormes Gedächtnis für Details.« Ich machte den ersten Umschlag auf und breitete die Bilder auf dem Tisch aus.
Carlotta Shelton war ein wunderschönes Mädchen und fabelhaft fotogen. Jede ihrer Bewegungen war eine Pose von großer natürlicher Anmut. Sie war versessen aufs Fotografiertwerden und liebte es besonders, sich als Pin-up-girl zu produzieren,
Die Porträts von Carlotta legte ich beiseite und konzentrierte mich vor allem auf Gruppenaufnahmen.
»Dieses Miststück«, murmelte Elsie.
»Haben Sie sie gefunden?« fragte ich gespannt.
»Nein, nein. Ich meine Carlotta.«
Wir gingen mehrere Dutzend Fotos durch. Plötzlich grapschte sich Elsie eins heraus.
»Warten Sie einen Augenblick, Donald — ich glaube, ich glaube, das ist sie!«
»Wissen Sie's genau?«
»Nein, ganz sicher bin ich nicht, aber ungefähr so hat sie ausgesehen.«
Ich drehte das Foto um und las die Bildunterschrift auf der Rückseite. »Badeschönheiten vergnügen sich in Salton Sea. Es sind von links nach rechts...« Ich betrachtete die Gruppe. Das Mädchen, das Elsie erkannt hatte, war die dritte von rechts, eine gut aussehende Puppe. Sie hieß laut Bildunterschrift Elaine Paisley.
»Moment mal«, sagte ich zu Elsie, ging hinaus und rief Ruth Ritter. »Habt ihr auch was über Elaine Paisley?«
»Wie schreibt sich das?«
Ich buchstabierte den Nachnamen.
Ruth verschwand und kam nach einer Weile mit einem einzigen ziemlich dünnen Umschlag zurück. »Sie hat mal einen Schönheitswettbewerb gewonnen, bekam ein paar kleine Filmrollen und schmarotzt bei der Prominenz. Sonst ist nicht viel los mit ihr.«
Ich machte den Umschlag auf. Er enthielt einige Zeitungsausschnitte und zwei Fotos. Elsie warf einen Blick darauf und sagte wie aus der Pistole geschossen: »Das ist sie, Donald. Das ist das Mädchen, das im Büro war.«
Es war eine Großaufnahme. Elaine Paisley hockte auf einer Sessellehne und hatte die Hände um das rechte angewinkelte Knie gefaltet, das linke Bein hing nach unten und bot dem Betrachter eine Menge Nylon.
»Sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
Ich überflog die Ausschnitte und stieß schließlich auf eine Adresse, schnappte mir ein Telefonbuch und vergewisserte mich, daß sie stimmte.
»Und was kommt jetzt?« fragte Elsie erregt.
»Nichts«, sagte ich so beiläufig wie möglich. »Wir haben erfahren, was wir wissen wollten, das ist alles. Jetzt müssen wir uns überlegen, welchen Gebrauch wir von der Information machen, aber das hat Zeit bis später.«
Sie sah mich scharf an, wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders und hüllte sich in Schweigen.
Ich brachte Ruth Ritter die Umschläge zurück, bedankte mich und fuhr Elsie nach Haus.
»Man kriegt Hunger, wenn man so schwer arbeitet«, bemerkte sie, als ich vor ihrer Haustür hielt. »Wir könnten eigentlich was essen.«
»Später.«
»Meinen Sie später am Abend?«
»Vielleicht.«
»Aber mir knurrt jetzt schon der Magen, Donald.«
»Werfen Sie sich in Schale, und ich will sehen, was sich tun läßt.«
»Donald, Sie wollen bloß Zeit gewinnen.«
»Im Gegenteil, ich darf keine Zeit verlieren.«
»Hören Sie, Donald, ich hab' ein paar Vorräte im Kühlschrank. Ich könnte uns was Nettes zum Essen zurechtmachen, dann brauchten Sie nicht in ein Lokal zu gehen. Es ist Ihnen peinlich wegen der Kratzer, nicht wahr?«
»Ja.«
»Werden Sie zu mir kommen?«
»Wenn ich kann, ja.«
»Was soll das heißen?«
»Na, es wäre ja möglich, daß mich irgendeine höhere Gewalt daran hindert.«
»Dann rufen Sie mich wenigstens an.«
»Okay, ich will's versuchen.«
Sie zögerte einen Moment, zog plötzlich meinen Kopf zu sich herunter und drückte einen sanften Kuß auf meine zerkratzte Wange. »In einer Stunde also.«
»Abgemacht.« Ich half ihr aus dem Wagen und brachte sie bis zur Haustür.
Als ich zum Wagen zurückging, löste sich eine schattenhafte Gestalt von der Hausmauer und schnitt mir den Weg ab. Die Gestalt entpuppte sich als Frank Sellers. »Bertha meinte, Sie könnten hier sein. Bringen Ihr Mädchen verdammt früh nach Hause, was, Däumling?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Stimmt, und ich würde Sie auch nicht schon wieder belästigen, wenn ich's nicht gut mit Ihnen meinte.«
»Wieso?«
»Einkommensteuer«, sagte er lakonisch.
»Bei Ihnen piept's wohl!«
»Sie haben Ihre Einkommensteuer nicht bezahlt, und ich bin leider gezwungen, in dieser Sache was zu unternehmen.«
»Schauen Sie, Sellers, hören Sie auf, mich zu schikanieren. Ich bin unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Außerdem hab' ich als Bürger einige Rechte, und ich weiß zufällig, worin die bestehen.«
»Ich schikaniere Sie nicht, ich tue bloß meine Pflicht. Wenn Sie's mir schriftlich geben, bin ich schon zufrieden.«
»Was soll ich Ihnen schriftlich geben?«
»Daß Sie Ihre Einkommensteuer bezahlt haben.« Er hielt mir ein Stück Papier unter die Nase. »Schreiben Sie darauf: >Ich schulde der Einkommensteuer keinen Cent<, und unterzeichnen Sie's. Dann lass' ich Sie in Ruhe.«
Ich tat was er wollte, und gab ihm den Wisch zurück. »Ist jetzt alles okay?«
Er stellte sich unter eine Straßenlaterne, kicherte, holte ein zweites zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche, verglich die beiden miteinander und sagte: »All right, Däumling, jetzt sind Sie geliefert.«
»Wieso?«
Er zeigte mir die beiden Zettel. »Schauen Sie sich das Wort Einkommensteuer an. Es ist in beiden Texten identisch. Folglich haben Sie das Briefchen geschrieben...« Er las es laut vor: »Die Polizei überwacht unser Büro. Fahren Sie im Lift eine Etage höher. Dort ist das Büro eines Einkommensteuerberaters. Gehen Sie hinein, und verlangen Sie irgendwelche Auskünfte. Bleiben Sie bis auf weiteres von der Agentur weg. Rufen Sie später an.«
Ich schwieg.
»Eine Putzfrau fand den zusammengeknüllten Wisch in einem Sandeimer vor dem Lift in der Etage über Ihnen. Neugierig, wie sie war, las sie ihn, und daraufhin rief sie uns an.«
Ich sagte noch immer nichts.
»Nun?«
»Sie glauben, ich hätte das geschrieben?«
»Sie wissen verdammt gut, daß Sie das geschrieben haben.«
»Ist es vielleicht ein Verbrechen, einen Klienten zu schützen?«
»Ja, wenn es auf diese Art und in einem solchen Fall geschieht. Das kostet Sie Ihre Lizenz, Däumling. Um Bertha tut es mir leid, aber ich kann's nicht ändern. Sie haben's sich selbst zuzuschreiben, Lam, Sie wollen immer mit dem Kopf durch die Wand.«
»Na schön, machen wir ein Geschäft. Ich lasse Sie den Fall aufklären, und Sie lassen unseren Klienten aus dem Spiel und drücken in punkto Lizenz ein Auge zu.«
Seine Miene hellte sich auf, aber die Vorsicht siegte. »Ich verspreche nichts, bevor ich nicht weiß, was Sie zu bieten haben.«
»Wo ist Ihr Wagen?« fragte ich.
»Hab' ihn in einer Seitenstraße abgestellt.«
»Holen Sie ihn. Wir kommen in Ihrem Wagen schneller vorwärts als in meinem. Ich hab' in einer Stunde eine Verabredung und muß bis dahin noch einiges erledigen.«
»Wohin fahren wir?«
»Zum Edgemount Motel.«
»Und was gibt's dort für uns zu holen?«
»Fingerabdrücke.«
»Sagen Sie das noch mal?«
»Fingerabdrücke, die ich in Nr. 27 des Bide-a-wee-bit ergattert habe.«
»Ach so, verstehe, Fingerabdrücke Ihres Klienten.«
»Richtig, aber nicht nur von ihm.«
»Von wem denn noch?«
»Ronley Fisher.«
Sellers bemühte sich zwar, seine freudige Erregung nicht zu zeigen, aber es gelang ihm nicht. Er fuhr hoch, als hätte ich ihn mit einer Nadel gepikst. »Was, zum Henker, sagen Sie da?«
»Die Wahrheit.«
»Falls Fisher in dem Zimmer war — herrje, Sie gottverdammter Dussel, ist Ihnen überhaupt klar, was das bedeutet? Es bedeutet, daß Ihr Klient ihn ermordet hat.«
»Blech! Es bedeutet höchstens, daß der Bungalow zweimal vermietet wurde. Es war Samstag abend und Hochbetrieb. Fisher war mit irgend jemandem — einem Mädchen vermutlich — dort, und als er den Bungalow räumte, machte sich die Motelleitung das zunutze und vermietete ihn noch mal.«
»Verschonen Sie mich mit Ihren Theorien. Zeigen Sie mir Ronley Fishers Fingerabdrücke, und ich nehme das ganze verdammte Motel auseinander. In vierundzwanzig Stunden spätestens hab' ich den Mörder.«
»Okay, worauf warten wir noch?« fragte ich. »Wir sind uns also einig. Wenn ich Sie gut bediene, behalte ich meine Lizenz, und unser Klient bleibt ungeschoren.«
»Jawohl. Wenn Sie mir die bewußten Fingerabdrücke liefern, können Sie von mir haben, was Sie wollen. Und wenn Ihr Klient ansonsten eine weiße Weste hat, kann er sich von mir aus mit einem halben Dutzend Weiber auf einmal amüsiert haben. Gehen wir.«
Wir stiegen in Sellers Wagen, und ich mußte mich festhalten wie ein Klammeraffe, um nicht von meinem Sitz geschleudert zu werden, als Sellers sich in den Verkehr stürzte. Er benutzte zwar weder die Sirene noch das Rotlicht, setzte sich jedoch über sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen hinweg. Ich atmete auf, als wir heil vor dem Edgemount anlangten.
Ich fischte den Schlüssel heraus, schloß auf und ging voran in den Bungalow. Sellers hielt sich dicht hinter mir.
»Kippen Sie das Fernsehgerät. Ich hab' das Zeug mit Klebstreifen an der Unterseite des Apparats befestigt.«
»Nein, Sie kippen ihn, und ich hole die Dinger«, sagte Sellers.
Ich hievte den schweren Apparat vorn hoch und kippte ihn so
weit nach hinten, daß Sellers, der auf dem Boden kniete, die Unterseite abtasten konnte.
»Kippen Sie ihn noch ein bißchen mehr«, sagte er.
Ich gehorchte.
Sellers richtete sich auf. Seine Miene war düster. »Das hab' ich mir gleich gedacht. Wieder einer von Ihren Tricks.«
»Meinen Sie damit, daß die Dinger nicht da sind?«
»Damit meine ich, daß sie nicht da sind und auch nie da waren.«
Ich starrte ihn sprachlos an.
Sellers, der mich nicht aus den Augen gelassen hatte, sagte nach einer Weile: »Sie sind zwar ein guter Schauspieler, Donald, aber es gehört mehr als das dazu, um so ein Schwindelmanöver erfolgreich abzuziehen.«
»Es war kein Trick. Geben Sie mir irgendwas, womit ich den Apparat abstützen kann. Das muß ich mir ansehen.«
Wir schoben ein paar Bücher unter das Fernsehgerät, ich legte mich auf den Bauch und überzeugte mich durch den Augenschein, daß meine Kollektion von Abdrücken tatsächlich verschwunden war.
»Man kann aber noch sehen, wo die Klebstreifen befestigt waren. Hier, schauen Sie sich die beiden Markierungen an.«
Sellers wirkte völlig uninteressiert. »Sie sind ein Schlaufuchs, Lam, das gebe ich zu. Ihr Märchen klingt ganz gut, und damit es noch besser klingt, haben Sie die Unterseite der Flimmerkiste mit Klebstreifen präpariert.«
»Ich glaube, ich weiß, wer die Abdrücke geklaut hat.«
»Glauben Sie, was Sie wollen. Mein Bedarf ist gedeckt.«
»Hören Sie, Sellers, ich hab' Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich...«
»Bin nicht interessiert.«
Ich knipste das Licht aus. Wir verließen den Bungalow, und ich steckte den Schlüssel ein. Sellers stelzte zu seinem Wagen hinüber, stieg ein, knallte die Tür zu, brauste ab und ließ mich stehen. Ich rief ein Taxi und gab als Ziel die Adresse von Elaine Paisley an.