13
Der Gerichtssaal war gerammelt voll von schwitzender Masse Mensch. Trotz der frühen Stunde war es draußen schon furchtbar heiß, die Sonne brachte den Asphalt der Straßen zum Schmelzen. Im Freien war die Hitze wenigstens trocken und deshalb einigermaßen erträglich, im überfüllten Gerichtssaal aber tränkten der Schweiß und die Ausdünstungen der vielen Menschen die Luft mit unangenehmem Geruch.
Richter Raymond C. Oliphant betrat den Saal und nahm Platz, nachdem der Gerichtsdiener Ruhe geboten hatte. Er blickte neugierig, aber keineswegs etwa unfreundlich auf mich herab.
»Ich eröffne die Sitzung über den Antrag des Donald Lam, auch bekannt unter dem Namen Peter B. Smith, auf Haftentlassung. Sind Sie bereit, Mr. Lam?«
»Jawohl, Herr Richter.«
»Sind Sie durch einen Rechtsanwalt vertreten?«
»Nein.«
»Wünschen Sie einen Anwalt?«
»Nein.«
»Soweit ich unterrichtet bin, verfügen Sie über finanzielle Mittel, Mr. Lam?«
»Jawohl, das ist der Fall.«
»Sie sind also in der Lage, sich einen Rechtsanwalt zu nehmen, wenn Sie wollen?«
»Jawohl, Herr Richter.«
»Aber Sie wollen keinen?«
»Nein, Herr Richter.«
Der Richter sah fragend zum Staatsanwalt hin.
»Wir sind bereit, Herr Vorsitzender«, sagte dieser.
»Beabsichtigt der Herr Staatsanwalt, gegen den Antrag Stellung zu nehmen?« fragte der Richter.
»Jawohl, Herr Richter. Wir machen geltend, daß der Angeklagte auf Veranlassung der kalifornischen Gerichte wegen vorsätzlichen Mordes in Haft gehalten wird. Das Auslieferungsverfahren ist eingeleitet, wir rechnen jeden Augenblick mit dem Eintreffen des Auslieferungsantrages per Luftpost, so daß die Auslieferung vom Gouverneur von Arizona verfügt werden kann. Ich glaube, annehmen zu dürfen, daß es sich dabei dann nur noch um Stunden handeln wird.«
»Ist dies der einzige Grund, weshalb der Angeklagte in Haft gehalten wird?« fragte der Richter.
»Jawohl, Herr Richter.«
»Über die Identität des Angeklagten bestehen keine Zweifel?«
»Nein, Herr Richter.«
»Gut. Die Beweisaufnahme kann beginnen.«
Der Staatsanwalt rief den Sheriff auf. Dieser berichtete über die näheren Umstände meiner Verhaftung, darauf verlas der Protokollführer mein Geständnis. Richter Oliphant sah mich wohlwollend an.
»Ich glaube, dieses Geständnis genügt als Beweis«, sagte er, »es erhellt, daß Sie, Mr. Lam, einen Mord oder wenigstens einen Totschlag eingestehen. Um Totschlag handelt es sich mindestens. Die Frage der Vorsätzlichkeit muß von den kalifornischen Gerichten entschieden werden. Das Gericht ist auf jeden Fall davon überzeugt, daß Sie des vorsätzlichen Mordes oder des Totschlags schuldig sind. Darum ist es...«
Nach dem damaligen Vorgehen der Anwaltskammer gegen mich hatte ich mich besonders eingehend mit verwickelten Rechtsfällen und strittigen Gesetzesauslegungen befaßt und die Fachliteratur darüber sorgfältig studiert. Mit der Prozeßordnung war ich indessen weniger vertraut. Ich war daher unsicher, ja sogar ein wenig weich in den Knien, als ich mich jetzt erhob. Immerhin hatte ich genügend Wut in mir angesammelt, um meine Einrede mit fester und entschiedener Stimme Vorbringen zu können.
»Ist es üblich, Herr Richter, daß ein Fall entschieden wird, ohne daß dem Angeklagten vorher Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern?« warf ich ein.
Der Richter runzelte die Stirn und sagte: »Ich wollte Ihnen
nur helfen, Mr. Lam, aber bitte, tragen Sie meinetwegen vor, was Sie zu sagen haben. Sie geben den kalifornischen Gerichten lediglich... Ich finde, Mr. Lam, Sie sollten sich doch einen Rechtsanwalt nehmen.«
»Ich möchte keinen Anwalt«, erwiderte ich und rief dann als ersten Zeugen den Polizisten auf, der mich nach Yuma gebracht hatte.
»Wie heißen Sie?« fragte ich.
»Claude Flinton.«
»Sind Sie Polizeibeamter dieses Staates?«
»Jawohl.«
»Haben Sie mich nach Yuma gebracht?«
»Jawohl.«
»Von woher?«
»Von El Centro.«
»Zu welchem Staat gehört El Centro?«
»Zu Kalifornien.«
»Habe ich El Centro freiwillig verlassen?«
Er lachte. »Im Gegenteil. Der Sheriff von El Centro und ich, wir haben Sie mit Gewalt aus dem Gefängnis zerren und in den Wagen schleppen müssen. Das war ein schweres Stück Arbeit.«
»Und mit welchem Recht haben Sie das getan?«
»Ich hatte eine Auslieferungsverfügung sowie einen Haftbefehl gegen Sie wegen Unterschlagung und Aneignung von Gegenständen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen.«
»Und was haben Sie dann mit mir gemacht?«
»Ich habe Sie nach Arizona zurückgebracht und Sie hier in Yuma ins Gefängnis eingeliefert.«
»Bin ich freiwillig mit Ihnen gegangen?«
»Das kann man nicht behaupten«, antwortete er grinsend.
»Danke«, sagte ich.
»Haben Sie noch weitere Zeugen, Mr. Lam?« fragte der Richter mit eisiger Stimme.
»Keine weiteren Zeugen, Herr Richter.«
»Dann werde ich jetzt meine Entscheidung verkünden.«
»Werde ich Gelegenheit haben, diese Entscheidung anzufechten?«
»Ich vermag mir nichts vorzustellen, was die Entscheidung des Gerichts abändern könnte.«
»Ich habe eine ganze Menge zu sagen, Herr Richter«, antwortete ich. »Der Staat Kalifornien verlangt meine Auslieferung. Vor ein paar Stunden noch wünschte mich dieser Staat nicht innerhalb seiner Grenzen, der Staat Kalifornien lieferte mich gegen meinen Wunsch und Willen an Arizona aus. Ich wurde mit Gewalt über die Staatsgrenzen nach Arizona befördert. Darüber besteht kein Zweifel.«
»Was hat das mit diesem Fall zu tun?« fragte der Richter. »Ihr Geständnis liegt vor, daß Sie im Staate Kalifornien einen Mann ermordet haben.«
»Jawohl, ich habe diesen Mann erschossen. Er hatte es verdient. Er war ein Lump und ein Betrüger. Aber darum handelt es sich vor diesem Gericht und in dieser Sitzung ja gar nicht. Was hier entschieden werden soll, ist vielmehr die Frage, ob ich an Kalifornien ausgeliefert werden darf. Ich darf nämlich nicht an Kalifornien ausgeliefert werden. Nach dem bestehenden Gesetz darf ein Staat nur dann von einem anderen Staat die Auslieferung eines Verhafteten verlangen, wenn dieser Verhaftete aus dem betreffenden Staat geflohen ist, um sich dessen Gerichtsbarkeit zu entziehen. Ich bin nicht aus Kalifornien geflohen.«
»Wenn Sie nicht die Absicht haben, sich den kalifornischen Gerichten zu entziehen, dann weiß ich nicht, was Sie sonst hier wollen«, sagte Richter Oliphant.
»Dazu brauche ich mich nicht zu äußern«, antwortete ich, »und zwar aus zwei Gründen. Einmal, weil Sie, Herr Richter, Ihre Entscheidung offenbar bereits im voraus getroffen haben, zum anderen, weil sich berufenere juristische Köpfe, als ich einer bin, mit diesem Problem herumgeschlagen haben. Tatsache ist und bleibt, daß niemand als flüchtig zu gelten hat, es sei denn, der Betreffende wäre effektiv geflohen. Geflohen ist er aber nur dann, wenn er aus eigenem freiem Willen und in der Absicht, sich einer Verhaftung zu entziehen, über die Grenze gegangen ist. Ich aber bin aus Kalifornien nicht geflohen, ich bin mit Gewalt aus Kalifornien hierhergeschleppt worden. Ich bin aufgrund eines Rechtsverfahrens abgeholt worden, bei dem es sich um ein Vergehen handelte, das ich in Wirklichkeit gar nicht begangen habe, für das ich aber zur Verantwortung gezogen wurde. Ich habe vorher meine Unschuld ausdrücklich beteuert, und ich habe meine Unschuld hinterher auch bewiesen. Sollte ich je Lust und Laune verspüren, nach Kalifornien zurückzukehren, so kann mich die kalifornische Polizei dann gern wegen Mordes verhaften. Solange ich diese Lust und Laune aber nicht verspüre, kann ich hier bleiben, und keine Macht der Erde kann mich hieran hindern.«
Jetzt war der Richter auf einmal interessiert. »Als Sie eben sagten, Mr. Lam, berufenere Köpfe als Sie hätten sich mit der Frage befaßt, hatten Sie da etwa einen bestimmten Präzedenzfall im Auge?«
»Jawohl, Herr Richter. Es handelt sich sogar um mehrere derartige Fälle. Zunächst der Fall Whittington, niedergelegt in den Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtes, Band 34 Nr. 344. Dieser Fall war von entscheidender Bedeutung, und er paßt haarscharf auf meine Situation. Ferner der Fall Jones, Band 44 Nr. 423. Die Rechtslage in Kalifornien ist weiterhin deutlich präzisiert im Abschnitt 12 der kalifornischen Prozeßordnung, § 398. Dort steht: Liegt der Fall vor, daß die Anwesenheit des Angeklagten in dem Staat, in dem er sich befindet, nicht auf freiwilligen Entschluß zurückgeht, sondern auf gesetzlichen oder ungesetzlichen Zwang, so gilt der Betreffende nicht als flüchtig und kann daher nicht als Flüchtling ausgeliefert werden. Wenn also bewiesen ist, daß die Anwesenheit des Betreffenden in dem anderen Staat aufgrund eines Auslieferungsverfahrens herbeigeführt worden ist, das dieser andere Staat selber wegen eines früheren Verbrechens eingeleitet und von dem Staat bewilligt erhalten hat, der jetzt die Rückauslieferung des Verhafteten beantragt, so darf der Beschuldigte von dem ersteren Staat nicht ausgeliefert werden, erstens, weil er kein Flüchtling ist, zweitens, weil sich der andere Staat durch die Bewilligung des ersten Auslieferungsantrages aller Rechte begeben hat, ihn wegen anderer Vergehen gegen seine eigenen Gesetze zu verfolgen.«
Richter Oliphant starrte mich verblüfft an. Der Staatsanwalt sprang auf: »Solch ein Gesetz kann es unmöglich geben, Herr Richter. Wenn es dieses Gesetz gäbe, dann könnte ja jeder Mensch nach Belieben einen vorsätzlichen Mord begehen. Er könnte einen Mitmenschen kaltblütig und nach wohldurchdachtem verbrecherischem Plan aus dem Wege räumen und, indem er sich diese Lücke im Gesetz zunutze macht, straffrei dabei ausgehen.«
»Und genau das scheint der Antragsteller auch getan zu haben«, sagte der Richter nachdenklich. »Es gehört nicht allzuviel Phantasie dazu, um zu erkennen, daß er mit geradezu diabolischem Scharfsinn Schritt für Schritt auf einen vorsätzlichen, wohldurchdachten Mord hingesteuert ist. Wenn das von ihm zitierte Gesetz tatsächlich existiert, dann hat dieser Mann ein vollendetes Verbrechen begangen, und zwar nicht etwa nach dem bekannten Rezept, alle Spuren auf das raffinierteste zu verwischen, sondern auf eine ganz andere, noch unendlich viel genialere Art hat er sich vor der Bestrafung geschützt. Es ist bezeichnend, daß der Antragsteller den betreffenden kalifornischen Gesetzestext, auf den es ankommt, regelrecht Wort für Wort auswendig gelernt hat. Hieraus geht nämlich hervor, daß er alle in dieser Rechtslage liegenden Möglichkeiten im voraus sorgfältg durchdacht und berechnet hat. Der Ablauf dieses Falles beweist von Anfang bis Ende, daß der Antragsteller einen ausgesuchten juristischen Verstand besitzt, der nur leider nicht von entsprechenden moralischen Grundsätzen gelenkt wird. Sosehr das Gericht diese letztere Tatsache auch verurteilen mag, es kann gleichwohl nicht die brillante Intelligenz übersehen, mit welcher der Antragsteller, dieser schmächtige, schwächliche, offenbar noch junge, unbedarfte und unerfahrene Mensch die Gerichte zweier Staaten in eine Lage hineinmanövriert hat, in der sie tatsächlich keine Möglichkeit haben, ihn für einen kaltblütigen Mord, den er obendrein sogar noch frech eingesteht, zu bestrafen. Eine ganz groteske Situation. Bis zu einem gewissen Grad wird die moralische und rechtliche Verantwortungslosigkeit des Antragstellers allerdings durch sein Geständnis aufgewogen, das es den kalifornischen Behörden ermöglicht hat, seine Komplicen dingfest zu machen - sofern man einen solchen Ausgleich gelten lassen darf und will. Das Gericht wird sich nunmehr zur Beratung zurückziehen, um den Fall erneut einer genauen Prüfung zu unterziehen. Es wird sich zugleich auch mit der schwerwiegenden juristischen Unzulänglichkeit einiger gesetzlicher Bestimmungen befassen, die für die soziale und rechtliche Struktur unseres Volkskörpers katastrophale Schäden nach sich ziehen müssen, wenn sie nicht unverzüglich beseitigt werden. Das Gericht wird im übrigen die Auslegung, die der Antragsteller den in Frage stehenden Paragraphen zuteil werden läßt, nur dann anerkennen, wenn sich der Staat Kalifornien selber nicht in der Lage sieht, diesen seinen Paragraphen eine anderweitige Auslegung zu geben, als sie der Antragsteller geltend macht. Eine solche Abweichung müßte allerdings in eindeutig unmißverständlicher Weise formuliert sein.«
Richter Oliphant erhob sich und schritt mit ernster Miene auf
die Tür des Beratungszimmers zu. Ich blieb im Gerichtssaal und wartete. Nach kurzer Zeit kam der Sheriff und sagte: »Kommen Sie mit, Lam.« Er brachte mich in sein Büro, wo ich geduldig weiterwartete. Der Staatsanwalt kam herein und stierte mich an, als wäre ich ein Fabeltier.
Nach einer halben Stunde brachte mich der Sheriff in den Gerichtssaal zurück. Richter Oliphant kam wieder herein und nahm Platz. Seine gebeugte Haltung verriet den schweren inneren Kampf, der hinter ihm lag. Er blickte dem Staatsanwalt fest in die Augen. »Das Gericht hat keine andere Wahl«, sagte er. »Die Rechtslage in diesem Fall verhält sich genau so, wie der Antragsteller sie geltend macht. Nach ihr kann - kann nicht nur, sondern es ist tatsächlich geschehen - ein kaltblütiger Mord absolut straffrei begangen werden. Für das Gericht besteht keinerlei Zweifel darüber, daß hier jeder einzelne Schritt im Sinne eines wohlangelegten Planes mit skrupellosem Scharfsinn von dem Antragsteller vorbereitet worden ist. Indessen liegen dem Gericht unumstößliche und rechtsgültige Beweise für die Annahme einer solchen planmäßigen Vorbereitung nicht in genügendem Ausmaß vor. Die vom Antragsteller zitierten Präzedenzfälle, Gerichtsentscheidungen und Paragraphen bestehen tatsächlich und treffen auf seinen Fall zu. In Anbetracht der Auslegungen, die sie von seiten der kalifornischen Gerichte selber erfahren haben, wäre jede andere Auslegung gegenstandslos. Die kalifornischen Gerichte haben in diesem Sinne gesprochen und dadurch selber der Möglichkeit einer anderweitigen Anwendung ihrer Gesetze einen Riegel vorgeschoben. Arizona darf diesen Mann nicht ausliefern. Der Antragsteller wird daher aus der Haft entlassen, sosehr das Gericht auch beklagt, diese Entscheidung treffen zu müssen.«
»Wir brauchen seinen Angaben aber doch keinen Glauben zu schenken, Herr Richter«, sagte der Staatsanwalt. »Wir können ihn im Hinblick auf neue Verdachtsmomente in Haft behalten.«
»Offensichtlich unterschätzen Sie den diabolischen Scharfsinn, mit dem sich der Angeklagte in seine nach allen Richtungen durchdachte Position hineinpraktiziert hat«, erwiderte der Richter. »Er kann von Arizona nicht ausgeliefert werden - er gilt für uns nicht als vom Gesetz flüchtig, auf keinen Fall als aus Kalifornien flüchtig. Ich bezweifle auch, daß genügend Beweismaterial vorliegt, aufgrund dessen man ihn mit dem Verbrechen in Kansas City in Verbindung bringen könnte. Sollte dies doch der Fall sein, so wird es nicht schwer sein, den Antragsteller alsbald zu finden, denn er wird Arizona bestimmt nicht verlassen wollen. Hier nämlich genießt er Sicherheit vor jeglicher Strafverfolgung, was woanders nicht der Fall ist. Der Angeklagte ist über all das sehr gut im Bilde, und man darf annehmen, daß er sich seine gesetzlichen Vorteile bis zum äußersten zunutze machen wird. Ich möchte sogar bezweifeln, daß man ihn überhaupt auch nach dem Staate Kansas ausliefern dürfte. Der Antragsteller ist aus der Haft zu entlassen.«
Im Gerichtssaal entstand ein Gemurmel, das langsam anschwoll. Dieses Gemurmel hatte jedoch nichts Feindliches an sich, es verriet lediglich Überraschung und Interesse. Hätte ich mich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, man hätte mich höchstwahrscheinlich gelyncht. So aber war ich einer der Getretenen und Erniedrigten, der einsam und ungeschützt dem allmächtigen Gericht gegenübergestanden hatte. Ich hatte den Richter gezwungen, meine Auslegung der Gesetze anzuerkennen und dem verdutzten Staatsanwalt hatte es die Sprache verschlagen.
Jemand applaudierte.
Der Richter erklärte die Sitzung für geschlossen und ließ den Saal räumen.