53

Nur einer wird überleben. Diese Worte klingen mir noch im Ohr – in einer neuen unheilschwangeren Bedeutung, denn ich bin frei, während Marozia in der dunklen Gruft hockt wie eine bleiche Märtyrerin, die sich damit abgefunden hat, daß ihr Leben endet und daß man sie vergessen wird.

Ich bin frei!

Noch immer fasse ich es nicht. Ich befinde mich auf dem Aventin, stehe an einem Pult am Fenster und schaue mit trunkenen Augen hinaus in die nachtigallendurchtönte Dunkelheit: Über den ergrünenden Platanenblättern schimmern und blinken die Sterne wie ausgestreute Diamanten. Beendet ist das Drama der Wolken, das heute abend auf der Bühne des Himmels aufgeführt wurde, bevor eine aufklarende Nacht die dunklen wie hellen Lichtgestalten verschluckte.

Es ist Frühjahr. Einen ganzen Winter haben wir im tiefen Verlies zugebracht, ohne von der aufgehenden Sonne geküßt, von der untergehenden Sonne gestreichelt zu werden. Ohne den reinigenden, labenden, kühlenden Regen auf der Haut zu spüren, den verwehten Blättern nachzuträumen.

Ich könnte fortfahren, Gottes Schöpfung unter dem Licht seiner Liebe zu preisen, wenn es mich nicht drängte, niederzuschreiben, was heute geschah, und darüber hinaus zu berichten, welchen Verlauf der Kampf zwischen Marozia und ihren Widersachern nahm – denn eins weiß ich: Wenn ich morgen wirklich, wie Alberico angekündigt hat, meinen Sohn Alexandros in die Arme schließen darf, wenn es mir gar gelingt, Marozia zu befreien, werde ich sobald keine Muße mehr finden, meinen Bericht zu beenden.

Zurück also zu dem heutigen Morgen!

Anastasius zeigte sich, als die lärmende Wärterschar mit ihm herbeiklapperte, besonders gut gelaunt. »Endlich!« rief er. »Die Erleuchtung des barmherzigen Erlösers hat ihren Weg gefunden in unsere Seelen.«

Marozia, deren Herz morgens schwer und düster ist von Träumen, die sie nicht aus ihren peinigenden Klauen lassen, stöhnte lediglich und zog die schmutzige Wolldecke über den Kopf. Unsere Rattenkolonie rümpfte ihre Schnäuzchen und prüfte die Duftwolken, die von Brot, Hühnerfleisch und Grütze aufstiegen. Bevor die Wächter sie mit ihrem Besenstil ins Himmelreich der Ratten befördern konnten, waren sie verschwunden.

Ich schaute Anastasius aus müden Augen an, und er sagte mit cäsarischer Geste: »Du bist frei, große Dienerin einer gedemütigten Göttin!«

In diesem Moment hielt ich alles für einen zweischneidigen Morgentraum und wiederholte wie ein sprechender Rabe: »Ich bin frei.«

Marozia stöhnte auf.

Anastasius schien sein gestenreiches Auftreten nicht aufgeben zu wollen und tönte mit rollender Stimme: »›Im übrigen, lieber Anastasius, Herr über das Reich der Dunkelheit‹ – so sprach gestern unser Princeps venerabilis Alberich der Zweite, ›wir haben doch tatsächlich vergessen, die griechische Sklavin Aglaia wie versprochen freizulassen.‹ Sprach er im pluralis majestatis, oder wollte er einen Teil der Verantwortung für dein Leiden auf mich abwälzen? Wie dem auch sei, liebste Aglaia, Schülerin des Epikur – du bist frei. Ich werde dich jetzt ans Tageslicht führen, über den Tiber geleiten. Gemeinsam werden wir die Via Lata entlangschreiten, ohne in Sänften getragen zu werden und ohne zu reiten – o kunstvoller Reim, der die Worte schmückt … Weißt du eigentlich, verehrte Aglaia, daß ich einst ein langes Gedicht schrieb, mit dem Mut zur schmückenden, klingenden Rede, für mich allein, in den Nachtstunden, ein Poem über die Päpstin Johanna Anglica, Gott rette sie vor dem Vergessen, und zudem über die Päpstin Johanna Theodora – Euch sicher unvergeßlich …« Er kicherte, wurde rasch wieder ernst. »Ein elender Spürhund entdeckte mein Pergament, übergab es Pietro, der mich in die Katakomben der Hoffnungslosigkeit verbannte.«

Ich unterbreche die Wiedergabe seiner Worte, weil sie mich von der Schilderung des Geschehens abhalten.

Zögernd, unsere Katakomben der Hoffnungslosigkeit wie einst Persephone zu verlassen, rührte ich mich nicht.

Marozia schaute ungläubig, dann quälte sie ein Lächeln hervor. »Viel Glück«, wünschte sie mir. »Geh, eile, bevor mir das Herz bricht!«

»Soll ich …?«

»Bitte kein Zaudern!«

»Versprich mir …«

»Ich verspreche es.«

Sie wandte sich ab und zog die Decke über ihren Kopf.

Ich wollte sie umarmen, doch hätte dies nicht nach Abschied ausgesehen?

»Dein Fieber und die Krämpfe sind wie durch ein Wunder verschwunden, du hustest kaum noch«, rief ich ihr beschwörend zu. »Bleib am Leben, bis ich dich aus diesem Höllenort befreie!«

Sie antwortete nicht.

»Bis bald!«

Sie blieb stumm und unter der Decke verborgen.

Ein letztes Mal fuhr ich mit meinen Fingern über die Buchstaben meiner Losung – αταραξία – und folgte Anastasius, der nun das Gloria in die endlos sich hinziehenden Gänge schmetterte, bis der erste helle Schein den Boden überflutete. Ich taumelte in eine Lichtwoge, wie Messer stachen die Strahlen der Sonne mir in die Augen. Anastasius warf mir ein Tuch über das Gesicht, als ich vor Schmerzen aufschrie.

Vielleicht schrie ich auch vor Freude, noch am Leben zu sein.

Wie eine Blinde führte er mich durch die lärmende Stadt, deren strenge Düfte mir wie balsamischer Wohlgeruch erschienen. Bald schon schmerzten meine Beine, die, dürr geworden, mich kaum tragen konnten.

Endlich stand ich vor Alberico.

Im gedämpften Licht des Tricliniums, in dem er mich empfing, brauchten meine Augen keinen Schutz mehr, doch waren sie unfähig, all die Eindrücke aufzunehmen, die auf mich einstürmten. Mir schwindelte. Alberico nahm meine Hände, schaute mich eine Weile lächelnd an, umarmte mich kurz und stellte mir dann den Mann vor, der in einem Mönchsgewand neben ihm stand.

Geist und Sinne bewegten sich noch immer in quälender Langsamkeit.

Alexandros im Mönchsgewand?

Er ähnelte allerdings nicht den Mönchen aus dem byzantinischen Reich, war zu alt für meinen Sohn, war vielleicht zehn Jahre jünger als ich, bereits grau und würdig, liebenswert. Außerdem stand kein einfacher Mönch vor mir …

»Abt Odo von Cluny wollte sich nicht von mir verabschieden, ohne dich begrüßt zu haben«, sagte Alberico.

Fieberhaft überlegte ich, ob mir ein Abt Odo von Cluny bekannt sein mußte. Von Alexandros keine Rede. Der Abt streckte mir freundlich seinen Ring entgegen, ich beugte mich ehrerbietig darüber.

»Er hat ein gutes Wort für meine Mutter eingelegt.«

Abt Odo lächelte.

»Wir sind allzumal Sünder, zitierte er die Bibel.«

Abt Odo nickte nachsichtig.

Alberico sprach hektisch, und doch zeigte sein ganzes Auftreten eine Selbstsicherheit, die ich nicht von ihm kannte. »Er soll die Oberaufsicht über das Kloster Sancta Maria erhalten, auch über Sanctus Paulus. Cluny wird zum Zentrum einer christlichen renovatio. Die Kirche ist zu weltlich und sündhaft geworden, der kleine Klerus ist verheiratet und zeugt Kinder, die Bischöfe umgeben sich mit Konkubinen, die Päpste treiben es offen mit ihren Geliebten, kirchliche Ämter werden gekauft von Männern, die nichts von Gottes Wort verstehen, nicht einmal Latein fehlerfrei sprechen, auf das kanonische Recht herabschauen. Abt Odo möchte mit seinen Mitbrüdern die Mißstände ändern: mehr Keuschheit, mehr Armut, Gottes Wort …«

Alberich wandte sich an Abt Odo. »Habe ich das richtig wiedergegeben?«

»Durchaus, Princeps, wir streben nach mehr apostolischer Reinheit.«

»Er soll auch zwischen König Hugo und mir vermitteln.« Nervös fuhr sich Alberico durchs Haar und kratzte sich am Kopf. »Eine schwierige Aufgabe.«

Ich stand vor den beiden Männern und wußte nicht, was ich sagen sollte. Im Grunde war ich noch nicht dort, wo ich mich befand. Ich vermochte Albericos Worten zu folgen, und zugleich hatte ich das Gefühl, er spräche in einem fremden Idiom. Kopf und Herz waren angefüllt mit der Sehnsucht nach meinem Sohn, den ich hier erwartet hatte; ich sorgte mich um Marozia, die ich allein im Kerker zurückgelassen hatte, und nun stand ein fremder Abt vor mir, Alberico hielt mir einen Vortrag über die renovatio der Kirche und die sündigen Päpste. Nein, ich verstand wirklich nichts mehr.

Als sich Abt Odo schließlich verabschiedete, sagte Alberico noch: »Ich werde meinen Bruder anweisen, Euren Vorstellungen, verehrter Vater, in allem zu entsprechen. Rom muß wieder der Fixstern am Firmament des christlichen Glaubens werden.«

Kaum waren wir allein, bat er mich, auf einer der Liegen Platz zu nehmen. Er ließ sich mir gegenüber nieder und schaute mich lange an. »Du siehst erbärmlich aus. Ein Bad wird dir guttun, ein Schluck Wein und eine ausgewählte Speise, Lamm in Milch vielleicht, mit Knoblauch gespickt, Safran dazu …«

»Wann darf ich meinen Sohn in die Arme schließen?«

»Morgen früh. Du sollst dich erst ausruhen und ein wenig pflegen. Entschuldige, daß ich dich so lange warten ließ, aber ich mußte während der letzten Wochen einige meiner Gegner aus der Stadt entfernen …«

»Dann wirst du deine Mutter freilassen?« unterbrach ich ihn voll aufschießender Freude.

Alberico hob abwehrend die Hand.

»Sie hat genug gelitten und wird die Einsamkeit im Kerker nicht lange überleben! Alberico« – ich kniete vor ihm, flehte ihn an – »versündige dich nicht länger …«

Ich weiß, ich hätte dies nicht sagen dürfen. Alberico versteifte sich sofort, erhob sich, wanderte unruhig im Raum auf und ab. »Ihr habt meinen Vater alle unterschätzt und in mir einen dummen Jungen gesehen, der sich alles gefallen läßt. Meine Mutter hat zugelassen, daß mir die Herrschaft über Spoleto vorenthalten wurde, und ich sollte aus Rom vertrieben werden.«

»Das hätte sie nie getan.«

»Nein? Aber zugelassen!«

»Ach, Alberico!«

»Ja?«

Ich wußte nichts mehr zu sagen.

War er wirklich so unversöhnlich, wie er schien?

Er ließ mir ein wunderbares Bad bereiten, auf meinen Wunsch hin lediglich ein kleines, bescheidenes Mahl vorsetzen und mich dann allein durch Garten und Park wandeln, bis der Abend sich herabsenkte und die Spitzen der Zypressen im dunklen Gold der untergehenden Sonne erstrahlten. Ich hatte Alberico gebeten, hinab in die Krypta steigen zu dürfen, wo sich das Kreuz des Belisar befand, doch er hatte nur knapp den Kopf geschüttelt. Jetzt entdeckte ich im Park eine Zypressenreihe, deren Ende wie eine Apsis gestaltet war. Hier erhoben sich drei abgebrochene Marmorsäulen wie die Reste eines zerstörten Tempels. Vor ihnen lag eine Marmorplatte, in die gemeißelt war: Vestigia terrent.

Noch jetzt, während ich am Pult stehe und den nächtlichen Trostgesang bis in meine tiefste Seele dringen lasse, denke ich über diese Worte nach: Wessen Spuren waren es, die abschrecken sollen?

54

Die Nacht schreitet fort, an Schlaf ist nicht zu denken. Die würzige, duftende Kühle des Parks einzuatmen ist ein Labsal, für das ich keine Worte finde. Philomeles süßer Gesang ist verstummt, dafür rufen die Käuzchen, als wollten sie mich an die Toten erinnern, die ich bislang auf meinem Lebensweg zurücklassen mußte.

Sie erinnern mich an Alberichs Tod und an die Nacht, die dem haßgesättigten Beisetzungsmahl folgte, und drängen mich, die schlaflosen Stunden zu füllen mit der Schilderung der letzten Szenen der Tragödie, die mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit auf das bittere Ende zudrängte.

Während dieser Nacht mußte ich mir zuerst Marozias Racheschwüre anhören, die schließlich in Krügen roten Weins ertranken. Als sie nur noch lallte, ließ ich sie von ihren Kammerfrauen zu Bett bringen und schaute nach den Kindern, von denen ich annahm, daß sie verstört sein mußten. Berta hatte sich in den Schlaf geweint, so hörte ich. Giovanni, unser Diaconus, hockte auf seinem Bett und schaute kaum auf, als ich mich zu ihm setzte. Ich hörte ihn leise den 119. Psalm vor sich hin murmeln, und dabei stieß er wie die Juden seinen Kopf nickend vor.

»Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? Wenn er sich hält nach deinen Worten.«

»Giovanni!« sagte ich leise. »Hörst du mich?«

Er reagierte nicht und murmelte weiter: »Ich suche dich von ganzem Herzen; laß mich nicht abirren von deinen Geboten. Meine Seele ist zermalmt, meine Seele liegt im Staube, ich gräme mich, daß mir das Herz verschmachtet; stärke mich nach deinem Wort.«

»Giovanni!« rief ich erneut an. »Hörst du mich? Du wirst in Zukunft viel Kraft brauchen. Vertraue deiner Mutter.«

Für einen Augenblick schien er aufzuhorchen und warf mir einen zweifelnden und zugleich verzweifelten Blick zu, bevor er weitersprach und dabei seinen Kopf noch stärker nicken ließ.

Seufzend erhob ich mich und ließ ihn allein. Alberico fand ich nicht in seinem Zimmer, doch meinte ich draußen im Garten seine Silhouette gesehen zu haben. Ich eilte ihm nach, rief leise seinen Namen.

Er floh.

»Alberico! Warte auf mich!«

In der Tiefe des Parks hatte ich ihn eingeholt, und wenn ich mich nicht irre, genau an der Stelle, die jetzt die drei abgebrochenen Säulen zieren. Er hatte sich auf den Boden niedergelassen, bewegungslos, in der Dunkelheit kaum zu erkennen.

»Warum läufst du vor mir weg?«

Keine Antwort.

»Warum, Alberico? Glaubst du nicht, daß wir zusammenhalten müssen?«

»Ich hätte ihn erwürgen können«, sagte stimmlos sein Schatten, »und ich werde ihn erwürgen!«

Ich wollte meine Hand auf seinen Arm oder seine Schulter legen, aber er drehte sich weg.

»Wen? Pietro? Den Papst?«

»Beide. Der eine ist nur der Jagdhund des anderen.«

Was sollte ich darauf sagen? Der Junge hatte recht.

»Sie wollen mir das Erbe meines Vaters nehmen, und meine Mutter hat ihnen nachgegeben. Sie liebt mich nicht, sie hat mich nie geliebt, sie wird mich eines Tages verkaufen.«

»Wie meinst du das?«

»Es geht ihr weder um mich noch um Spoleto. Sie will die Macht in Rom und wird sich jetzt diesem Wido an den Hals werfen, um mit ihm halb Italien zu beherrschen. Sie will Königin werden. Vielleicht sogar Kaiserin. Und Giovanni soll sie krönen. Ich bin nur ein Bauer in diesem Spiel. Das hat mir mein Vater bereits prophezeit.«

Ich war nicht der Überzeugung, daß Marozia Spoleto so einfach hergeben wollte, denn die Markgrafschaft war Teil ihrer Machtbasis. Viel größer war in meinen Augen die Gefahr, daß sie sie Wido übergab. Gegen all ihre Zukunftspläne standen indes der Papst und sein bissiger Handlanger.

»Daß deine Mutter Giovanni dir vorzieht, ist eine Sünde«, sagte ich. »Dennoch liebt sie dich, sie kann es nur nicht richtig zeigen; sie ist stolz auf ihre Kinder.«

»Glaubst du wirklich?« Alberico klang ein wenig erleichtert; und so groß und stark er mittlerweile geworden war, so kindlich war noch seine Seele.

»Stimmt das, daß ich nicht der Sohn meines Vaters bin?«

»Natürlich nicht. Du bist ihm aus dem Gesicht geschnitten, hast seine Stärke und Geradlinigkeit, seine Ehrlichkeit …«

»Er war viel stärker als ich.«

»Du wirst stärker werden.«

»Mama hat einmal gesagt: Du bist schlimmer als dein Vater. Was meinte sie damit?«

Er schaute mich verwundet an. Was sollte ich darauf antworten.

»Papa hat, wenn wir auf der Jagd oder bei Onkel Wido waren, nie schlecht von ihr gesprochen.«

»Das glaube ich.«

Er starrte nachdenklich auf den Boden. »Mama hat gesagt, Giovanni sei der Sohn von Papst Sergius.«

Ich schwieg, weil ich daran denken mußte, daß der Fluch, den dieser Papst über uns gebracht hatte, noch immer seine Wirkung entfaltete.

»Aglaia, stimmt das?«

»Ja, es stimmt.«

»Warum zieht sie ihn dann vor? Er ist doch nur ein Bastard, und ein schlapper dazu. Immer sein Nasenbluten! Fechten kann er auch nicht.«

»Als Seelenhirte braucht er nicht zu fechten.«

»Ich habe ebenfalls die Bibel gelesen und mit meinem Beichtvater darüber gesprochen. Sogar mit Papa und Onkel Wido, abends, am Lagerfeuer, nach der Jagd. Über Jesus und was er gesagt hat, zum Beispiel: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen.«

»Und was hat dein Vater gesagt?«

»Er hat mich mit Onkel Wido ausgelacht.«

»Es gab keinen Grund zu lachen.«

»Jesus hätte sich nicht einfach ans Kreuz nageln lassen dürfen. Ich wäre geflohen und hätte dann gekämpft. Auch Papa hätte gekämpft – gegen die verlogenen Pharisäer.«

»Jesus' Botschaft ist aber, zu lieben, nicht zu kämpfen.« Ich wußte, daß meine Worte in Albericos Ohren hohl klingen mußten. Ihn hatte das Wort lieben jedoch ganz woanders hingeführt.

»Ist Mama eine Hure?« fragte er unvermittelt.

»Glaubst du dieser Verleumdung?«

»Was hat sie mit Angelo gemacht? Warum mußte er sterben?«

Noch bevor ich antworten konnte, schob Alberico eine andere Frage nach: »Hat alles mit Papst Sergius begonnen?«

»Was meinst du mit alles?«

»Ihre Hurerei.«

»Es war keine Hurerei. Sie wurde damals verführt … gezwungen …«

Sollte ich Alberico wirklich berichten, daß seine Mutter sich Papst Sergius nicht ganz freiwillig hingegeben hatte? Sollte ich ihm auch das Bild seiner Großmutter zerstören? Nein! Er würde ohnehin nicht verstehen, was damals geschehen war, ich verstand es zu diesem Zeitpunkt ja selbst noch nicht.

»Aber wie war dies möglich? Gezwungen, von wem? Und wie?«

Ich hätte nichts sagen sollen.

»Deine Großmutter war Papst Sergius zu großem Dank verpflichtet.«

»Warum?«

Ich überlegte eine Weile, was ich erzählen konnte, was ich verschweigen mußte. Schließlich entschied ich mich, Alberico in groben Zügen zu berichten, was damals nach meiner Kenntnis geschehen war. Ich weiß nicht, ob er alles verstand – aber irgendwann muß ein Junge erwachsen werden. Alberico würde sich in den kommenden Jahren im Kampf gegen Papst Johannes und Pietro bewähren müssen – er mußte nun seinen eigenen Weg finden.

»Mein Vater war der Betrogene, von Anfang an«, sagte er nach einer langen Schweigepause. Ich hörte, wie seine Stimme zitterte. »Die Frauen führten ihn an der Nase herum, machten ihn lächerlich, zerstörten seine Ehre. Dabei habe ich ihn so geliebt und verehrt.«

»Aber du kannst ihn weiterhin lieben und verehren.«

»Er hat sich nicht gewehrt.«

»Er wußte es ja nicht.«

»Zum Schluß wußte er es.«

»Er hat deine Mutter geliebt, euch alle, vor allem dich. Er war ganz besonders stolz auf seinen starken Sohn, der ihm so ähnelte.«

Ich hörte, wie Alberico leise vor sich hin weinte. Nun ließ er endlich zu, daß ich meine Hand tröstend auf seinen Arm legte.

»Ich will nie so werden wie mein Vater«, sagte er schniefend und schneuzte sich.

»Aber Alberico! Du hast all die guten Eigenschaften deines Vaters!«

»Ich will mich nie so betrügen und verraten lassen. Und alles hinnehmen. Nie!«

»Das brauchst du auch nicht.« Ich klang, glaube ich, wenig überzeugend.

»Ich hätte Mama getötet.«

»Nein, Alberico, das hättest du nicht!«

55

In den Tagen nach der Beisetzungsfeier für Markgraf Alberich herrschte in Rom gespannte Ruhe. Aus dem Lateran hörte man eine Weile nichts, dann wurde lapidar verkündet, der Heilige Vater Johannes X. habe seinen Bruder, den superista, arcarius und saccellanus Pietro, kommissarisch zum Herrscher von Spoleto ernannt. Wie uns berichtet wurde, sei bald darauf Pietro in Rüstung, zugleich in einem purpurnen Übermantel an der Spitze einer Schar von Milizionären nach Norden aufgebrochen und habe sich in Horta niedergelassen.

Marozia blieb nicht untätig. Sie sprach nicht mehr über ihre Gefühle, nicht einmal vor mir. Sie hatte bereits am Tag nach dem Streit mit Papst Johannes einen Boten zu Wido geschickt und ihn gebeten, unverzüglich nach Rom zu eilen, nicht ohne Wehr, denn die Zeiten würden unsicher. Außerdem schickte sie, kaum hatte sie von Pietros Ernennung erfahren, eine Protestbotschaft zu Papst Johannes und betonte mit allem Nachdruck den unverzichtbaren Anspruch ihrer Familie auf die Markgrafschaft Spoleto.

Bald darauf erschien Wido. Marozia fiel ihm um den Hals und zog sich mit ihm in ihre Gemächer zurück. Erst am späten Vormittag des nächsten Tages sah ich beide wieder, nicht ohne Spuren ihrer intensiven Wiedersehensfeier.

Ich hatte lange im nächtlichen Park gesessen, allein. Ich rief mir die Worte meines Lehrers Euthymides ins Gedächtnis und reichte dem fernen Erinnerungsschatten meines Sohnes die Hand. Lange dachte ich über die verschlungenen Schicksalswege nach und begriff, daß ich bei allem, was in naher Zukunft geschehen würde, kaum eine Rolle mehr spielen, lediglich zuschauen durfte.

Marozia schien sich nicht darum zu kümmern, daß sie noch nicht hergerichtet worden war; nicht einmal die Anwesenheit ihrer Söhne störte sie. Sie lächelte in trunkenem Glück; auch Wido, der Schöne, lächelte. In ein paar Wochen wollten sie heiraten, erklärte sie, eher bescheiden, wie es sich für eine trauernde Witwe gezieme, und natürlich wisse sie, daß es so kurz nach Alberichs Tod noch zu früh sei, doch die bedrohlichen Zeiten duldeten keinen Aufschub. »Wido und seine Männer wurden nicht in Horta eingelassen, als sie um Unterkunft und Verpflegung baten, auf ausdrücklichen Befehl Pietros. Der kommissarische Markgraf« – sie sprach die Worte voller Verachtung und Hohn aus – »schlägt bezeichnenderweise sein Lager nicht im fernen Spoleto auf, sondern in Romnähe. Es strömen ihm beschäftigungslose Söldner zu, zudem sammelt er unfreie Kolonen, sogar geflohene Sklaven um sich, unsere Leute, die bei der Feldarbeit fehlen …«

»Liebling«, unterbrach sie Wido, »Tuszien wird ihn auslöschen, bevor er zur Gefahr werden kann.«

Marozia gab ihrem zukünftigen Gemahl einen Kuß auf die Wange und informierte mich anschließend, sie wolle gerne in der Basilika des heiligen Petrus getraut werden, schon um zu zeigen, daß der Apostelfürst ihr Bruder, Beschützer und Freund sei und nicht etwa mit ›diesem Sodomiten‹ in Verbindung stehe. »Und um den Römern zu beweisen, daß sich die Machtverhältnisse in unserer Stadt nicht geändert haben, werde ich darauf bestehen, daß Papst Johannes uns persönlich traut.«

»Bist du sicher«, sagte ich, »daß er dies tun wird?«

»Er hat mich zur vestaratrix ernannt, und als solche werde ich ihn bitten. Markgraf Wido ist ein mächtiger Verbündeter und Beschützer Roms, dies werden wir herausstellen, außerdem winke ich mit einer nicht unbeträchtlichen Spende für die päpstliche Schatztruhe und beschwöre zugleich das Andenken meiner Mutter.«

»Letzteres solltest du unterlassen«, wandte ich ein, unterstützt von Wido.

»Giovanni muß ihm assistieren. Nicht wahr, mein Sohn?«

Giovanni nickte schwach. Marozia streifte mit ihrem Blick Alberico, der sie erwartungsvoll anschaute. Ich nehme an, er hoffte auf einen Hinweis, daß man für ihn um Spoleto kämpfen wolle.

»Und damit die Römer nicht hungrig nach Hause gehen, werde ich ausreichend Oboli unters Volk streuen lassen«, fuhr sie fort. »Auf diese Weise möchte ich sie an ihre Liebe zu mir erinnern.«

Marozia und Wido richteten ihr Gesuch an Papst Johannes, der sich eine Weile nicht rührte, dann jedoch durch seinen primicerius, Bischof Benedictus von Sancta Maria Maiora, mitteilen ließ, trotz gewisser Bedenken wegen des noch nicht verstrichenen Trauerjahrs hätte er den Wunsch seiner Kinder erfüllt, sie zu trauen, doch leider müsse er Rom verlassen, um den vielfach bedrohten Hirten und Schafen der Kirche im Norden des Landes persönlich beizustehen. »Die ungläubigen Ungarn«, so begründete der primicerius die Entscheidung des Papstes, »sind erneut in Friaul eingefallen wie eine der sieben biblischen Plagen. Sie nützen das bedrohliche Chaos aus, das durch den Aufstand gegen Berengar, den rechtmäßigen König und gesalbten Kaiser, der Herr hab' ihn selig, entstanden ist. Der Usurpator Rudolf von Burgund floh zum Glück nach einem Aufstand, der sich nun gegen ihn gewandt hat, in seine Heimat, doch damit wurde noch keine Ordnung wiederhergestellt, wie der Heilige Vater in seiner Verantwortung für ganz Italien erkannt hat.«

Marozia zuckte nervös mit ihren Augenbrauen, hörte ihm kaum zu, schien zu überlegen, wie sie diesem beleidigenden Schachzug des Papstes begegnen könne. Wido dagegen starrte den primicerius an, als wolle er ihm die Worte aus dem Mund saugen.

»Der Heilige Vater«, so fuhr Bischof Benedictus fort, »hat in seiner großen Verantwortung, wie betont, nach einer Lösung gesucht, die von allen Fürsten Italiens, von den Bischöfen und auch vom Volk getragen werden kann, auf daß endlich unser geliebtes zerstrittenes Land geeinigt werde und allen Feinden die Stirn bieten könne. Daher rief er den Herrscher über die Provence, Graf Hugo von Arles und Vienne, den Vormund von Kaiser Ludwig dem Blinden aus dem Geschlecht des großen Karl, nach Mantua, um ihm mit Einverständnis der zerstrittenen Parteien die Königswürde anzutragen. Bereits in den nächsten Tagen soll Graf Hugo in Pavia zum König gewählt und gekrönt werden. Gloria in excelsis deo

Nicht ohne Genuß an dem Inhalt seiner Mitteilung hatte Bischof Benedictus seine letzten Worte langsam und bedeutend über seine Lippen rollen lassen und schaute nun Marozia und Wido abwartend an.

Marozias Aufmerksamkeit war blitzschnell wieder erwacht, während Wido den primicerius ungläubig anstarrte, der, offensichtlich ein Mann des Papstes und eingeweiht in seine Strategien, ein leises Lächeln über seine Lippen huschen ließ. Da weder Marozia noch Wido ihm zu antworten in der Lage waren, fuhr er samtweich-pastoral fort: »Da der Heilige Vater zu seinem allergrößten Bedauern euch nicht in der heiligsten Kirche der Christenheit trauen kann, bat er mich, euch in seiner Stellvertretung Sancta Maria Maiora als Ort eures Eheschwurs vorzuschlagen. Ich darf euch seinen Segen überbringen. Er freut sich ganz besonders, daß die mächtige Tochter Roms nach dem schweren Schicksalsschlag, der sie erst kürzlich getroffen hat und der sie sicherlich noch schwer bedrückt, sich einem Mann unterzuordnen bereit ist, der nicht nur über das reiche Tuszien gebietet, sondern zudem der Bruder des zukünftigen Königs und Kaisers von Italien ist. Die von ihm angestrebte Einheit unseres Landes rückt auf diese Weise in greifbare Nähe, und vereint, so betont der Heilige Vater, können wir mit Hilfe des allmächtigen und gerechten Gottes auch die ungläubigen Horden der Ungarn vernichtend schlagen, wie einst die Sarazenen.«

Bischof Benedictus hatte seine Rede beendet und schaute Marozia und Wido erwartungsvoll an, seine Hände über dem Bauch verschränkt, mild lächelnd im vollen Bewußtsein – so bin ich mir sicher – seiner schwerwiegenden Worte.

Marozia blieb ihm eine Antwort schuldig, verbeugte sich knapp und verließ den Empfangsraum, ohne ihm den Ring zu küssen und ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Wido schaute ihr stirnrunzelnd nach, dankte dem Bischof mit gepreßter Stimme, betonte, auf jeden Fall möge der Sohn der Senatorin und vestaratrix Marozia, Diaconus Giovanni, bei der Trauungszeremonie assistieren, was der Bischof selbstverständlich zugestand. »Es ist mir eine besondere Ehre und wird den Heiligen Vater in tiefstem Herzen freuen, denn seit je fühlt er sich verantwortlich für seinen Patensohn, der sicher einmal hohe Sprossen auf der Leiter kirchlicher Würde erklimmen wird.«

Benedictus verabschiedete sich, und wir drei sprachen anschließend über den äußerst geschickt eingefädelten Angriffsplan des Papstes. Ich hatte befürchtet, Marozia würde vor Zorn kopflos reagieren, täuschte mich jedoch. Sie zeigte sich kalt und beherrscht. Wido dagegen schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Papst Johannes war es gelungen, hinter ihrem Rücken das Heft des Handelns zu ergreifen und offensichtlich erfolgreich seinen ersten Streich zu führen. Widos Hoffnung auf die Königswürde schien damit, zumindest vorerst, vom Tisch gewischt. Was ihn jedoch am meisten erschütterte und entsetzte, war die Tatsache, daß Papst Johannes Hugo aus der Provence gerufen hatte.

Marozia schaute ihn forschend an: »Meinst du nicht, ihr könnt euch verbünden und gegen Johannes vorgehen? Schließlich ist Hugo dein Bruder.«

»Mein Halbbruder, und bisher habe ich noch nicht viel von Bruderliebe gemerkt. Ich habe ihm sogar einmal militärische Hilfe geleistet, als er sich als Vormund für den geblendeten König Ludwig gegen Widersacher durchsetzen mußte, und nie auch nur ein Wort des Danks gehört. Mein jüngerer Bruder Lambert, der damals dabei war, haßt ihn. Er hält Hugo für einen skrupellosen, machtbesessenen Mann.«

»Dann hat Papst Johannes ja den richtigen Verbündeten ausgesucht, um Italien zu einen«, sagte ich. Bisher hatte ich geschwiegen, weil mir immer klarer wurde, daß Marozia und ihrem Wido überlegene Gegner gegenüberstanden, denen es mittlerweile gelungen war, auch im Norden des Landes mächtige Freunde zu gewinnen. Würden beide – und mit ihnen die gesamte Familie – den Krieg überstehen, der mit einem deutlichen Stellungsvorteil des Papstes begonnen hatte?

56

Im Juni des Jahres 926 wählten die norditalischen Fürsten unter der Leitung des Papstes Hugo von der Provence, Graf von Arles und Vienne, zum König von Italien. Kurz darauf wurde der Ehebund zwischen Marozia und Markgraf Wido von Tuszien geschlossen. Die Trauungszeremonie fand tatsächlich in Sancta Maria Maiora statt, und unser Diaconus Giovanni machte diesmal seine Sache gut. Es wurden noch mehr Oboli unter das Volk gestreut, als Marozia geplant hatte, auf Straßen und Plätzen traf man sich zu spontanen Festen, durch die Via Lata zogen Jubelchöre zum Aventin, welche die großmütige senatrix et patricia Romanorum priesen.

Wido hatte seinen Bruder Lambert gebeten, zur Wahl und Krönung Hugos in Pavia nur einen Botschafter zu schicken und auch nicht zu der Zeremonie nach Rom zu kommen, sondern in Lucca zu bleiben und im ganzen Land unauffällig zwar, aber wirksam Heer und Wehr zu stärken. Ein Teil der Truppen solle in die Nähe von Rom verlegt werden, in den zu Tuszien gehörenden Bereich der Campania.

Bereits im September überfielen fremde Soldaten tuszische Besitztümer im nördlichen Etrurien, außerdem Domänen in Camerino, die Markgraf Alberich gehört hatten, sie tauchten sogar vor Roms Mauern auf und sickerten mehr oder weniger unbemerkt in die Stadt ein. Es kam zu Provokationen gegenüber der Leibwache des tuszischen Markgrafen, zu Scharmützeln und hinterhältigen Überfällen, bei denen zahlreiche Männer aus Widos Gefolge umkamen. Zugleich wurden Marozias Anhänger aus den adligen Familien Roms unter Druck gesetzt und bedroht. Sicher seien sie nur, wenn sie in Zukunft nicht mehr Marozias Partei und die des Usurpators Wido unterstützten, sondern sich als gehorsame Anhänger des Heiligen Vaters erwiesen.

Uns war klar, daß hier Pietro, von Horta aus, das Schwert des blutigen Kampfes führte, während der Papst irgendwo im Norden mit der Lanze der Diplomatie durch das Land ritt und mit König Hugo einen Verbündeten an sich band.

Wido hatte den Fehdehandschuh des Papstes aufgenommen. Er besprach sich mit Crescentius und mir über die wirtschaftlichen Grundlagen des Hauses Theophylactus, über die Besitztümer, die insbesondere in der Sabina und in Latium zu schützen seien; zugleich ernannte er Alberico zum Hauptmann einer Truppe, die aus Veteranen seines Vaters bestand. Wido wußte, daß unser noch unerfahrener Sohn kampferprobte Soldaten benötigte, die sich auf keine Dummheit einließen und bereit waren, sich auf Grund ihrer alten Treue Alberich gegenüber bis zur Selbstaufgabe zu schlagen. In eine bessere Schule konnte Alberico nicht gehen. Der Junge, der seit unserem Gespräch wenig gesprochen hatte, fühlte sich ernstgenommen und versprach, sich als würdiger Nachfolger seines Vaters zu erweisen.

Während des Winters schienen sich die gegnerischen Parteien zu belauern. Von dem neuen König Hugo hatte man in Rom zwar gehört, doch kümmerte man sich wenig um ihn. Könige wie Kaiser kamen und gingen, konkurrierten, gelegentlich sogar zu gleicher Zeit, und spielten für die Stadt im Grunde keine Rolle. Was eher beunruhigte, waren die Horden der Ungarn, die an die Zeit der Sarazenenüberfälle erinnerten. Zur Zeit schienen sie zwar lediglich, wie bereits früher, den Norden des Landes heimzusuchen, doch kursierten Gerüchte, erste Trupps seien in Tuszien und sogar diesseits des Apennin gesichtet worden.

Das römische Volk – vom Pilgerführer bis zum Wasserverkäufer und Hafenarbeiter, vom Tavernenwirt bis zum Straßenmädchen und zum Bettler – konnte anarchische Zeiten ertragen, ja, es brauchte sie, weil jeder irgendwie von ihnen zu profitieren glaubte; das römische Volk mißachtete eine geordnete Herrschaft und verachtete Recht und Gesetz; am meisten verabscheute es aber fremde Besatzer. So sehr es sich auf Söldner und kämpfende Bauern aus der Umgebung verließ, die ihre Ewige Stadt gefälligst schützen sollten: Innerhalb der Mauern hatten sie wenig zu suchen; man duldete allenfalls kleine Milizen, auf keinen Fall fremde Heere. Falls sie dennoch versuchten, sich Eingang zu verschaffen, war man als stolzer Römer zu jedem Aufstand bereit, zu Hinterhalt, Heimtücke und Mord.

Auf diese Weise würde man natürlich auch den Ungarn den Weg zur Hölle bereiten, falls es ihnen gelang, Roms starke Mauern zu überwinden, doch zugleich fürchtete man, daß sie die Hölle verkörperten; daß man gar nicht zu Hinterhalt und Heimtücke kam, weil man vorher geblendet, gepfählt, verbrannt oder bei lebendigem Leib gehäutet wurde.

Weil Wido genau wußte, daß Rom nur unauffällige Milizen zu beherbergen bereit war, hatte er den Teil seines Heeres, den ihm sein Bruder Lambert gesandt hatte, vor den Toren der Stadt lagern lassen und bei strengsten Strafen jegliche Übergriffe verboten. Da die Soldaten sich an den Befehl ihres Herrn hielten, gewannen sie rasch Sympathien in der Stadt: Sie kauften Brot und Kerzen, zudem die Angebote der Sattler, Schmiede und Huren, sie ließen sich gelegentlich bestehlen und bezahlten in den Tavernen überhöhte Preise. Täglich suchten die fliegenden Händler sie auf, ebenso alte Kupplerinnen mit ihrem jüngsten Angebot – und da der Winter mild und trocken blieb, herrschte gute Stimmung.

Der Papst, so erfuhr Marozia zu ihrem Erstaunen, war wieder in der Stadt. Er mußte sich geradezu hereingeschlichen haben, denn kein Senator hatte ihn empfangen, keine Gruppe von kirchlichen Würdenträgern war ihm singend und lobpreisend entgegengezogen. Er hatte vor ausgewählten Anhängern die Weihnachtsmesse in der Kapelle Sancta Sanctorum des Laterans gehalten. Keiner aus Marozias Sippe war eingeladen worden, auch Markgraf Wido nicht. Dafür sollte Pietro gesehen worden sein.

Im März 927 lächelte die wärmende Sonne des Herrn über der Ewigen Stadt. Zugvögel begannen, lärmend die Ruinen und Felder, Obsthaine und Weingärten zu bevölkern, das Grün schoß aus kahlen Zweigen, Osterglocken und Primelchen betupften das dreckige Grau der unratübersäten Flächen.

Marozia und Wido hatten eine glückliche Zeit miteinander verbracht. Vor Ostern endete sie abrupt. Die Ungarn waren in großen Scharen in Tuszien eingefallen, näherten sich plündernd und mordend Florenz, Pisa und Lucca. Lambert wurde mit ihnen allein nicht fertig. So schwer es Wido fiel, er mußte mit dem Großteil seines Heers nach Norden ziehen, um sein Land zu schützen. Er stellte Alberico einen erfahrenen Feldhauptmann zur Seite, verbrachte eine letzte kurze Nacht mit Marozia und verließ in aller Frühe die Stadt.

Keine Woche war verstrichen, als eine brandschatzende Männerhorde nördlich der Stadt auftauchte und die Milvische Brücke überquerte. Die Tore wurden geschlossen, weil man befürchtete, es seien die Ungarn. Doch plötzlich hörte man, die Bewaffneten seien bereits in die Leo-Stadt, in den Bereich des Vatikans, eingelassen worden, und eh man sich's versah, waren sie überall. Die Eingänge und Portale zu den Häusern und Palästen wurden verriegelt und verrammelt, aber die Armen in ihren Holzhütten, in ihren Verschlagen zwischen den Ruinen mußten das Wenige, was sie besaßen, herausrücken, die Straßenmädchen mußten pausenlos arbeiten, ohne dafür entlohnt zu werden, den kleinen Händlern wurde alles genommen, was sie besaßen, und zum Dank erhielten sie noch Prügel.

Es wurde Albericos Stunde. Er schickte umgehend eine Reihe von Spähern aus, die erkunden sollten, wer die Soldaten befehligte und wie viele sie waren. Bald wußten wir Genaueres: Wie bereits befürchtet, hatte Pietro die Gunst der Stunde, das heißt, Widos Abzug, genutzt, um sich der Stadt zu bemächtigen. Sein Hauptquartier war im Lateranpalast, bei Papst Johannes. Die Anzahl der Soldaten war zu groß, als daß Alberico mit seiner Schutztruppe etwas hätte ausrichten können, und so galt es zuerst einmal, den Palast auf dem Aventin in eine Festung zu verwandeln. Crescentius flüchtete mit Theodora und den drei Grazien zu uns und mußte sein Haus den Männern des Pietro überlassen, die es gründlich verwüsteten. Das Haus in der Via Lata konnte dagegen gehalten werden, wie auch Aarons Besitz und die meisten anderen Häuser der Adelsfamilien, deren Söhne und Helfer zum Gegenangriff übergingen und das gesamte Marsfeld-Viertel von den fremden Soldaten säuberten.

Alberico selbst ritt mit einem Teil seiner Truppe dorthin, mußte sich dabei den Weg freikämpfen und tötete im Zweikampf mehrere Gegner, ohne – bis auf ein paar Schrammen – verletzt zu werden. Es wurden anschließend um das Marsfeld Sperren errichtet und Hinterhalte gelegt, und als all dies geschehen war, erneuerte man die Freundschaft unter den Familien dieses so urrömischen Viertels. Alberico bestand darauf, daß das gemeinsame Besäufnis nicht nur im Kreis der Adelskumpane stattfand, sondern daß alle die Stadt verteidigenden Männer, auch die aus den untersten Volksschichten, gleichberechtigt mittranken. Alberico schwang sich sogar zu einer Rede auf, in der er seine Großeltern und seinen Vater beschwor, an die Tapferkeit und den Zusammenhalt der Römer appellierte und sie an den gesunden Haß auf fremde Besatzer erinnerte.

Alle waren sie begeistert über diesen jungen blonden Recken, der seinem Vater so ähnlich sah, einem Mann, dem Rom, wie alle wußten, Sicherheit und friedliche Zeiten verdankte. Sie ließen ihn hochleben und versprachen, ihn nicht nur gegen Pietro zu unterstützen, sondern auch gegen jeden fremden König, komme er nun aus Friaul, Burgund oder der Provence.

Was den Papst betraf, so war die Meinung unter den Männern geteilt. Seine anrüchige Kumpanei mit dem Sodomiten Pietro, dessen vermaledeiten Einflüsterungen er erlag, war auf jeden Fall verwerflich, die Tatsache, daß er gerne Fremde zu Königen oder gar Kaisern ernannte, ebenfalls; zudem war er ein Romane aus der Gegend um Bologna, auf jeden Fall kein Römer. Dies alles sprach gegen ihn.

Für ihn sprach seine freigebige und leutselige Art, seine frühere Liebe zu der schönen Theodora, sein Sieg über die Sarazenen und seine erhebenden Messen. Im Grunde war er der beste Papst seit langem, der seine Stellung zwar einer Frau verdankte, nicht jedoch Meuchelmorden wie der fluchwürdige Sergius.

Als sich die Lage zu beruhigen schien, tauchten plötzlich die Ungarn vor der Stadt auf. Die Wachen an den Toren und die Milizen auf den Mauern wollten es zuerst nicht glauben, aber die Berichte der hereinströmenden Flüchtlinge ließen keinen Zweifel. Männer mit häßlichen Barbarenfratzen auf kleinen drahtigen Pferden hatten sie überfallen, Männer, die aus vollem Galopp ihre Pfeile abschossen und auch noch trafen, Männer, die Brandfackeln warfen und sich die Frauen auf die Pferde holten, um sie im Reiten zu mißbrauchen.

Die Stimmung in der Stadt kochte, je mehr sich die Berichte der Flüchtlinge verbreiteten und je ausgeklügelter die Grausamkeiten der Ungarn geschildert wurden. Das Eigenartige war, daß die Truppen des Pietro vom Erdboden verschwunden waren. Sie mußten sich feige davongestohlen haben.

Aber warum?

Es wurde heftig vor den Tavernen diskutiert. Weil sie selbst die Ungarn gerufen hatten, um die Stadt endgültig in ihre Hand zu bekommen? Ja, so mußte es gewesen sein, sie waren die geheimen Helfer der Ungarn! Aber warum waren sie dann verschwunden? Auf jeden Fall hatte man sie daran hindern können, den Abgesandten des Teufels die Tore zu öffnen, diesen ungläubigen Höllentieren mit ihren schrägäugigen Wolfsfressen, die die Frauen von vorne und von hinten gleichzeitig aufspießten, die sich sogar daran ergötzten, ihre Pferde über sie steigen zu lassen.

Papst Johannes trat auf den Balkon des Patriarchums und sprach zu den Menschen, er sprach vom Balkon der Petersbasilika, er versprach ein heiliges Hochamt für alle Römer in und um die Basilika im Lateran, bei dem er sie von allen Sünden freisprechen wolle, damit sie todesmutig in den Kampf gegen die ungläubigen Feinde zögen.

Alle angesehenen Familien der Stadt wurden zur Messe eingeladen, auch die Mitglieder des Hauses Theophylactus. Diaconus Giovanni dürfe dem Papst assistieren, hieß es, und mit Marozia, seiner lieben Tochter, wolle der Heilige Vater, so ließ er von primicerius Benedictus ausrichten, Frieden in Christo schließen. Gemeinsam müsse man den Feind abwehren, und gemeinsam müsse man die Zukunft Roms gestalten.

Marozia vermutete eine Falle und war nicht sicher, ob sie der Einladung Folge leisten solle. Auch Alberico wollte sich auf keine Worte, sondern allein auf sein Schwert verlassen. Ich befürchtete ebenfalls die Möglichkeit eines heimtückischen Überfalls und riet Marozia und Alberico ab, an der Messe teilzunehmen. Crescentius wurde unsicher, seine Gemahlin Theodora dagegen bestand darauf, daß zumindest sie die Familie vertreten müsse. Neben ihren drei Töchtern nehme sie noch Berta in ihre Obhut. Es gebe schließlich Giovanni, vor dessen Augen niemand wagen würde, eine Freveltat gegen irgendeine Frau der Familie zu begehen. Weil Theodora sich so mutig zeigte, konnte Crescentius nicht zurückstehen und beschloß, als Beschützer seiner Familie mitzugehen. Auch ich hatte von Anfang an keinen Zweifel gelassen, diese Messe zu besuchen.

Als wir aufbrechen wollten, erreichte uns durch einen Boten, der sich über ein Aquädukt in die Stadt geschlichen hatte, die Nachricht, Markgraf Wido habe die Ungarn erfolgreich geschlagen und aus Tuszien verjagt. Allerdings könne es möglich sein, daß ein Teil der beutegierigen Fremden nach Süden gezogen sei. Er würde ihnen auf jeden Fall mit seinem Heer folgen und die Stadt, falls sie bedroht sei, von dieser Plage befreien.

Als Marozia dies hörte, schrie sie vor Triumph auf. Nun gab es kein ängstliches Wegducken und Sich-Verbarrikadieren mehr: Sie würde in die Lateranbasilika gehen, sich direkt vor den Altar setzen, und der Papst müsse ihr in die Augen schauen. »Und während seiner Predigt werde ich mich erheben und ganz Rom mitteilen, wer der Verräter ist und wer die Stadt rettet. Und dann wollen wir sehen, was geschieht!«

57

Bereits lange vor Beginn des Hochamts, das am Abend stattfinden sollte, fanden sich die Menschen in und vor San Giovanni ein. Ein neu ernannter superista versuchte mit seiner Palasttruppe, die Menschen vom Drängeln und Vordrängen abzuhalten; insbesondere die vorderen Reihen der Basilika waren für die vornehmen Familien reserviert, während im Altar- und Chorbereich der hohe Klerus saß.

Ich hatte vor der Messe nicht mehr mit Marozia unter vier Augen sprechen können und wußte nicht, ob sie ihren spontan geäußerten Plan aufgegeben hatte, während des Hochamts ihre Anklage gegen Pietro und den Papst zu schleudern. Auf jeden Fall ließ sie sich sorgfältig das Haar flechten und durch ein dunkles Kopftuch verdecken, kleidete sich in eine einfache schwarze Tunika, ließ sich einen glockenförmigen Umhang aus Wollstoff umhängen und warf sich schließlich eine ebenfalls schwarze Stola über die Schultern. Das einzig Auffallende an ihr war ein schweres Kreuz auf ihrer Brust, das in düsterem Gold glänzte.

Alberico hatte einen Gürtel mitsamt Schwert umgezogen, hielt die Waffe allerdings unter einem weiten, togaähnlichen Umhang verborgen. Umgeben war er von seiner Leibwache, die auch die anderen Mitglieder der Familie abschirmen sollte vor möglichen Angreifern.

Wir mußten uns mühsam den Weg durch die sich bereits stauende Menschenmenge vor dem fünfsäuligen Portal der Basilika bahnen, gelangten schließlich in das Innere und nahmen in den ersten Reihen Platz, neben- und hintereinander, damit wir eine kompakte und leichter zu verteidigende Einheit bildeten.

Draußen war es bereits dunkel, und tausende Kerzen brannten an großen runden Leuchtern und an den seitlichen Säulen, als das brausende Geräusch der zusammengedrängten Menge mit Beginn des Hochamts abebbte. Ich sah Papst Johannes neben dem Altar thronen, umgeben von den Kardinälen und den höchsten Prälaten der Kurie. Auf der anderen Seite drängten sich Roms Bischöfe.

Diakon und Subdiakon begannen abwechselnd das Stufengebet zu sprechen, und tatsächlich stand auf den Stufen vor dem Altar, unweit des Heiligen Vaters, unser Giovanni und donnerte nicht nur das einleitende »In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti, Amen« mit dem nachfolgenden »Introibo ad altare Dei« in die Menge, sondern nach der Ergänzung des Subdiakons das »Judica me, Deus, et discerne causam meam de gente non sancta: ab homine iniquo et doloso erue me. Schaff' Recht mir, Gott, und führe meine Sache gegen ein unheiliges Volk; von frevelhaften, falschen Menschen rette mich.« Anfangs hatte seine Stimme ein wenig gezittert, doch bald glättete sie sich, und ich staunte über seine Sicherheit, zumal an diesem Tag, an dem jeder von uns etwas Ungewöhnliches oder sogar Schreckliches erwartete.

Ich beobachtete Marozia, die mit Stolz auf ihren Sohn schaute, und ließ dann möglichst unauffällig meinen Blick über die Menschen gleiten, die uns umgaben. Es waren zahlreiche Mitglieder der Adelsfamilien darunter, von denen uns keine Gefahr drohte. Am rechten Rand hockte eine Gruppe von Männern, unter denen ich Pietro entdeckte. Mit Sicherheit waren sie bewaffnet. Ich hoffte, daß auch Alberico aufmerksam genug war, Pietro inmitten seiner zwielichtigen Gestalten auszumachen, und klug genug, sich gegen sie zu wappnen. Tatsächlich ertappte ich mich während des Gloria und des Graduale dabei, mir einen Kampfplan auszudenken, falls es denn wirklich zu solch einer Entweihung der heiligen Messe kommen sollte.

Am besten wäre, den Papst, der nicht weit von Marozia entfernt thronte, zu ergreifen und ihm das Messer an den Hals zu setzen. Dann würde niemand wagen, uns zu bedrohen. Solche Überlegungen beschäftigten mich, während mich zugleich der Gesang des Gloria ergriff. Papst Johannes sang aus vollem Hals mit, und was mir bereits mehrfach berichtet worden war, konnte ich bestätigt finden: Er sang gern, laut und mit einer volltönenden Baßstimme.

Giovanni durfte im weiteren Verlauf des Hochamts vortreten und die Epistel lesen. Auch dies gelang ihm ohne Stocken und Versprechen, und stolz warf er am Ende einen Blick auf seine Mutter, die ihm unauffällig zuwinkte. Nun trat der Heilige Vater vor und betete das »Munda cor meum ac labia mea, omnipotens Deus. Reinige mein Herz und meine Lippen, allmächtiger Vater!« Kaum hatte er sich wieder gesetzt, las und sang unser Giovanni das Evangelium, in dem es nach dem 43. Psalm in inbrünstigem Hilfeersuchen um die Abwehr der Feinde ging.

Ich wurde unruhig, und nicht nur ich. Die Anspielungen auf Roms Situation waren für die, die Latein verstanden, unüberhörbar. Vielleicht war in dem Evangelium sogar eine Losung versteckt. Ja, ich war mir plötzlich sicher, daß die Männer um Pietro mit verborgenem Griff nach den Waffen ihren Anführer erwartungsvoll anschauten. Der Papst schien in gläubiges Zuhören versunken, spähte jedoch versteckt in die Richtung seines angeblichen Bruders, dann hinwiederum zu Marozia, die ihn jetzt unverhohlen anstarrte.

Ich dachte: Ist es denn wirklich möglich, daß draußen vor den Mauern der Stadt die Ungarn mit der Erstürmung drohen und bei dieser heiligen Messe, die unseren dreieinigen Gott um Hilfe anfleht, vor aller Augen eine Mordattacke stattfindet? Ich dachte: Marozia wird hoffentlich nicht so verrückt sein, ihrerseits den Papst ohne Anlaß anzugreifen.

Giovanni trat zurück, und der Papst begab sich zur Kanzel, um in seiner Predigt das Evangelium zu erläutern. Jeder erwartete, daß er den Hilferuf wiederhole, um Stärke und Einheit bitte, die Ungarn verdamme und dem Volk der Römer Hoffnung auf Errettung mache.

Genau so geschah es. Papst Johannes sprach nur kurz, umriß die Situation, beschwor Zusammenhalt und Opferbereitschaft der Menschen, rief den Herrn an und zitierte noch einmal den Text des Evangeliums: »Sende dein Licht und deine Wahrheit!«

In diesem Moment sprang Marozia auf und rief mit durchdringender Stimme: »Die Wahrheit ist, daß ein Verräter mitten unter uns sitzt: Dein angeblicher Bruder Pietro hat die Ungarn gerufen, und er wird sie heimlich in die Stadt lassen. Dort sitzt er!« Sie wies mit ausgestreckter Hand auf Pietro. »Ergreift ihn!«

Zuerst geschah gar nichts. Alle waren so überrascht, daß sie den Atem anhielten. Papst Johannes starrte auf sie wie auf den Leibhaftigen. Manche hatten halb geschlafen und fragten leise ihren Nachbarn, worum es gehe. Ihre Stimmen wurden immer lauter, als wiederholt wurde, was Marozia in riskanter Kühnheit gerufen hatte.

Sie sprang auf die Bank, streckte ihren Arm wie ein Prophet aus und wiederholte ihre Worte: »Dort sitzt der Verräter. Es ist Pietro. Gottes Zorn möge über ihn kommen!«

Wie zu erwarten, entstand ein heftiger Tumult. Ich hörte Rufe wie »Lüge!«, »Verlogenes Weib!« und »Verdammte Hure!«, der Papst war plötzlich von der Kanzel verschwunden und tauchte vor dem Altar auf, Giovanni blickte sich erschrocken und hilflos um, ein Teil der Prälaten zog sich bereits in die Sakristei zurück, ein anderer sank betend auf die Knie, die Menge drängte nach vorne, so daß auch wir immer näher an den Altar geschoben wurden.

Vor lauter Getöse konnte ich nichts mehr verstehen. Ich sah nur den Papst seine Arme beschwörend heben, ohne Erfolg. Was taten Alberico und seine Männer, die ja alle ihre Waffen unter den Mänteln trugen? Zückten sie ihre Schwerter? Ich hörte Alberico einen Befehl brüllen, keiner zog seine Klinge, alle warteten sie kaltblütig ab.

Und auf der anderen Seite, was tat Pietro?

Seine Männer bildeten einen festen Kreis um ihn, und tatsächlich, sie zogen ihre Waffen.

Obwohl sich der Lärm in der Basilika zu einem Protest- und Wutgeschrei verstärkte, stürmten Pietro und seine Kämpfer auf den Altar zu, wo sie am meisten Platz fanden, schreckten jedoch vor einer abwehrenden Geste des Papstes zurück. Nun richteten sie sich gegen unsere familia. Marozia stand auf der Bank, aufrecht und unerschrocken, als sei sie in der Lage, allein und ohne Waffen die Angreifer zu zerschmettern. Alberich und seine Männer zogen noch immer kein Schwert.

Pietro stürzte mit seiner Truppe in den Mittelgang und hieb nach allen Seiten, um sich Raum zu verschaffen. Zwischen unseren Männern und den Angreifern drängten sich so viele Unbeteiligte, daß wir von einem Schutzwall an Leibern umgeben waren und niemand zur Verteidigung ein Schwert ziehen mußte.

Mittlerweile stand in Pietros Augen Panik. Seine Helfer schlugen weiterhin unter Geschrei um sich, es floß Blut, Frauen sanken zu Boden, Kinder wurden getroffen.

Als die Menge begriff, daß Pietro und seine Männer sich jetzt zum Ausgang durchzukämpfen versuchten, daß sie unschuldige Menschen hinmetzelten, um ihre Haut zu retten, war jedem klar, daß Marozia recht hatte: Sie waren die Verräter, die Rom den Ungarn überlassen wollten.

Trotz der blitzenden Klingen erreichte die Truppe den Ausgang nicht mehr. Die Menschen schlossen den Ring um sie und drängten sie zusammen, so daß bald keiner mehr ein Schwert heben konnte. Fäuste wurden nicht nur geschüttelt. Die Menschen trampelten übereinander, alle wollten die Verräter ergreifen, würgen, erschlagen. Wie halb verhungerte Fliegen über stinkendem Aas quoll ein Menschengewimmel empor, wuchs ein tausendarmiges Ungeheuer über einem niedergetrampeltem Haufen aus Fleisch, Stoffen, Haaren und Schädeln.

Ich weiß nicht, wie lange wir warteten und zuschauten, entsetzt oder erleichtert, voller Angst oder in tiefster Befriedigung. Der Papst war längst mit all seinen Würdenträgern und Kardinälen verschwunden, als die Menge sich zu zerstreuen begann, unter vereinzelten Hochrufen auf Marozia und ihre Söhne Alberico und Giovanni, die nebeneinander auf der Bank standen. Als nur noch ein paar Neugierige von außen hereintröpfelten, um das Werk der Rache zu betrachten, näherten auch wir uns den erschlagenen Leibern, die sich in der Mitte der Basilica blutig türmten. Zuoberst lag Pietro – oder das, was von ihm übriggeblieben war.

58

Die Kerzenstummel neben dem Pergament flackern, die ersten Hähne schreien. Das Morgenlicht taucht den Park vor meinem Fenster in ein geisterhaftes Licht, aus dem sich die Zypressen wie stumme Wächter meines bedrohten und geretteten, grausamen wie guten Lebens schälen.

Der Schlaf hat mich während der dunklen Stunden gemieden. Zu bange erwarte ich die Ankunft meines Sohnes, zu düster klingt das Mordgeheul nach – obwohl es für uns zugleich ein Triumphgeschrei war. Morde treten indes selten vereinzelt auf, meist zieht der eine einen anderen nach sich, und dieser hinwiederum weitere. Es ist der Fluch des Herrn in den Stunden des Zorns.

Die Sonne hat sich über dem Osten der Stadt erhoben und taucht den Park in ein Bernsteinlicht mit langen Schatten; der Himmel färbt sich blaßblau. Tauben gurren aus ihrem Turm, der sich unweit von hier erhebt, und ein Falke sitzt auf einem Baumwipfel, aufmerksam und bereit, sich auf ein Opfer zu stürzen. Er flüchtet, als ein häßliches Krähengekrächze sich nähert und ein Schwarm schwarzer Aasvögel über uns durch die Lüfte taumelt.

Auch der Palast ist mittlerweile erwacht. Ich höre Pferde wiehern und Knechte rufen, Kupfergeschirr klappert, und eine sanfte Brise streicht über meine Haut. Zum Glück weht hier oben auf dem Aventin meist ein schwacher Wind, selten hat uns der mephitische Gestank belästigt, wie er häufig auf den tibernahen, niederen Vierteln lastet. Und nun, am ersten Morgen in süßer Freiheit, im seligen Licht außerhalb der Hadriansgruft, dringt ein Fliederduft zu mir, den ich trotz der fast stumpf gewordenen Nase rieche wie das Versprechen wehmutsvoller Liebe.

Nachdem ich mich gewaschen und gekämmt hatte, wurde ich gerufen. Ich zupfte Tunika und Stola zurecht und begab mich zum Palast, in dem ich Alexandros wiedersehen sollte. Mein Herz klopfte, und noch während ich unserer alten Köchin zuwinkte, erwachte in mir die Befürchtung, der Mann, der mich erwartete, könnte ein Fremder sein. Das Bewußtsein, daß ich Alexandros fast dreißig Jahre nicht gesehen hatte, drückte mir die Kehle zu.

Beklommen betrat ich das Hauptgebäude und begab mich zum Triclinium.

Da standen sie, zwei Männer: ein lächelnder Alberico und neben ihm … neben ihm stand – ich spürte regelrecht, wie ich erblaßte –, neben ihm stand Sergius.

Ein Toter.

Stand mein Sohn.

Alexandros. Noch immer schlank, mit dunklen, leicht angegrauten Haaren – und doch in der Haltung seines Vaters.

Er hatte mir nicht entgegengesehen, vermutlich, weil auch er die Begegnung ebenso fürchtete wie herbeisehnte. Nun drehte er sich um, ging mir einen Schritt entgegen. Ich sah, wie er die Arme ausstrecken wollte, dann jedoch zurückzuckte. Ich sah sogar ein Erschrecken in seinen Augen aufglimmen, in seinen braunen, leicht verschatteten Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte. Um das Erschrecken zu verbergen, lächelte er. Es war Sergius' Lächeln.

Ich schlug die Augen nieder, stolperte vorwärts, weil der Boden unter mir zu wanken schien, und er fing mich auf.

Da traf mich ein zweiter Schlag. Vielleicht hatte der Anblick seiner byzantinischen Seidentunika und des schweren Brokatmantels diesen Schlag bereits vorbereitet, doch nun, während seine Arme mich stützten, traf mich, umhüllte, ja überschwemmte mich ein Geruch, in dem meine Eltern, meine Heimat, Konstantinopel lebendig wurden: der Duft von Goldorangen und Limonen. Ich war unversehens wieder ein Kind, und mir schwindelte, so daß ich befürchtete, ohnmächtig zu werden.

Alberico stürzte besorgt hinzu, führte mich zu einer der Liegen und bot mir einen Becher Wein an. Ich nahm ihn, und während ich trank, spähte ich zu Alexandros hinüber, der ebenfalls Platz genommen hatte und mich mit einem wehmütigen, ja, traurigen Lächeln beobachtete. Bisher hatte er noch kein Wort geäußert.

Fast dreißig Jahre hatte ich mich nach meinem Sohn verzehrt. Ich hielt sogar im tiefsten Kerker mit Gleichmut und Seelenruhe aus, weil ich im noch tieferen Inneren meines Herzens wußte, ich würde ihn dereinst wiedersehen, und zwar in dieser, nicht erst in der jenseitigen Welt. Alexandros war das Ziel allen Hoffens, das Zentrum der Liebe und der Kern des Glaubens.

Und dann sagte ich: »Seit deinem Verschwinden habe ich nichts mehr von dir gehört.«

Ein Satz, der den gähnenden Abgrund der so ewig währenden Trennung überbrücken sollte. Keine Worte der überwältigenden Erleichterung, des Glücks, der Liebe, nein, Worte, die wie ein Vorwurf klangen.

Das Lächeln erstarb. Sein Blick lag noch immer forschend auf mir, und seine Mundwinkel zuckten in kaum zu verbergender Enttäuschung. »Ich bin Translator und stellvertretender Missus des byzantinischen Kaisers«, antwortete er mit belegter Stimme. Das Sprechen schien ihm schwerzufallen, und in seinen römischen Dialekt hatte sich ein schwacher Akzent eingeschlichen. »Wir hatten die Hochzeitsabmachungen hinsichtlich der Schwester des Princeps« – er verneigte sich leicht vor Alberico – »klären wollen. Doch die Lage änderte sich. Princeps Alberich der Zweite hält um die Hand einer byzantinischen Prinzessin an. Obwohl die Gesandtschaft wieder abreiste, blieb ich in Rom, weil ich von deinem Schicksal hörte, weil ich endlich …«

Vermutlich schienen ihm seine Worte selbst kalt und steif, so daß er sich unterbrach. Dann brach es aus ihm heraus, »Mama«, rief er, »ich habe dich kaum wiedererkannt.«

Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Er kniete vor mir, nahm meine Hand, küßte sie, küßte den Ring an meinem Finger.

»Es ist der Ring deines Großvaters …«, schluchzte ich auf.

Er schaute mich verwirrt an.

Ich war unfähig, ihm zu erklären, woher ich ihn hatte.

»Es ist mir gelungen, unsere Besitztümer wieder zurückzuerhalten«, sagte er hastig. »Sogar unsere Villa. Es war ein harter Kampf. Ich bin auch gekommen, um dich endlich mit in die Heimat zu nehmen. Princeps Alberich hat bereits zugestimmt.«

Er kniete noch immer vor mir, und erneut atmete ich den Duft der Kindheit. Ich spürte zugleich den Griff des Sergius. War ich Alexandros' Blick bisher ausgewichen, so zwang ich mich jetzt, ihm in die Augen zu schauen. Obwohl es die Augen seines Vaters waren, wollte ich nicht mehr vor der Wahrheit dieses Blickes flüchten – ich schaute, sog mich fest an diesen Augen, und langsam verblaßte Sergius, schälte sich aus ihrer verschatteten Tiefe zögernd mein Junge heraus, er kroch mühsam kämpfend wie ein Schmetterling aus der Verpuppung – wie ein Traumbild, ein Engel, eine geisterhafte Göttergestalt kniete er vor mir.

Seufzend erhob er sich, schlich an dem stummen Alberico vorbei durch den Raum, stellte sich an das kleine Fenster, durch das er auf das Atrium schauen konnte, fuhr sich nachdenklich über die Haare. »Ich kann gar nicht ausdrücken, wie glücklich ich bin, dich lebend gefunden zu haben«, sagte er in einem sachlichen, fast geschäftsmäßigen Ton. »Die Ehre der Familie habe ich gerettet. Wenn ich zurückkehre, wird mich der Kaiser womöglich zum obersten Botschafter für Italien und die Kurie ernennen.«

Meine Tränen flossen verstärkt.

»Warum weinst du?« fragte er, nachdem er sich mir wieder zugewandt hatte. »Ich durfte nicht weinen, als ich dich verlassen mußte; selbst beim Wiedersehen habe ich es mir verboten.«

Ich schüttelte den Kopf, während Alberico antwortete: »Deine Mutter ist vom Glück überwältigt, bis gestern hielt sie sich zusammen mit meiner Mutter im Kerker auf.« Selbst er schniefte nun.

»Ich weiß«, sagte Alexandros. Erneut wandte er sich ab, richtete seinen Blick auf die Wand, wippte mit den Füßen, faltete verkrampft seine Hände. Nach einer Weile sagte er, als wollte er der Wand etwas mitteilen: »Ich bin übrigens mit einer ehemaligen Hofdame des Kaisers verheiratet. Sie heißt Olympias und stammt wie wir aus Makedonien. Wir haben vier Kinder. Ich denke, daß die Mädchen dir ähnlich sehen. Unsere Älteste heißt Aglaia.« Noch bevor ich antworten konnte, drehte er sich mit einer entschiedenen Bewegung um und fragte: »Können wir morgen aufbrechen? Kaiser und Familie erwarten mich.«

»Ihr dürft morgen reisen«, sagte Alberico großzügig.

»Und was ist mit Marozia?« fragte ich. »Ich habe ihr versprochen, zurückzukehren. Sie soll ebenfalls freikommen.«

Ich schaute in Albericos hart werdende Miene.

»Überlaß meine Mutter mir!«

»Wenn sie Schuld auf sich geladen hat, dann hat sie genug gelitten.« Ich legte alles Flehen in meinen Blick.

Alberico stieß einen gequälten Laut aus.

Hilfesuchend wandte ich mich an Alexandros. »Ich kann mein Wort nicht brechen. Ohne mich stirbt sie. Und du …« – ich stockte – »auch du willst sie doch sicher wiedersehen.« Ich suchte nach treffenderen, verstärkenden Worten. »Befreien. Erlösen. Heimführen.«

Er blieb abwartend, beherrscht.

»Erinnerst du dich nicht mehr an deine Verse? Wer Marozia angeschaut mit Augen, ist der Sehnsucht schon anheimgegeben, wen der Pfeil der Schönen je getroffen, ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe.«

Alexandros schlug die Augen nieder, als schäme er sich für die Worte, die er damals gefunden hatte, murmelte: »Alles, was mir Princeps Alberich über seine Mutter berichtete und was man sich in Rom über sie erzählt, und zwar in jeder Taverne bis hin zur päpstlichen Kanzlei, hat die Sehnsucht geschmälert und den Schmerz gelindert. Ich …« Er unterbrach sich mit einer Geste der Hilflosigkeit.

Alberico sprang ihm zur Seite: »Meine Mutter soll auch mal erleben, daß man allein gelassen wird.« Er sprach lauter als nötig und klang, als müßte er sich zu einer einmal gefällten Entscheidung zwingen; seine Stimme zitterte sogar.

Da brach meine Beherrschung zusammen.

»Ich kann nicht!« schrie ich. »Ich gab ihr mein heiliges Wort, das ich nicht brechen darf, das ich nicht brechen will. Marozia ist mein Milchkind, stand meinem Herzen so nah wie du« – ich schaute Alexandros flehend an –, »sie hat erbärmlich gelitten und hätte sich beinahe zu Tode gehungert. Nie mehr wird sie irgendeinen Herrschaftsanspruch erheben, sie ist eine gebrochene Frau.«

Erneut richtete ich meine Worte an Alberico. »Wenn ich sie mit nach Konstantinopel nehme, wird sie für ewig aus Rom verschwunden sein – du hast deine Rache …«

Das Wort Rache ließ Albericos Miene hart werden: »Und wenn sie den byzantinischen Kaiser gegen mich aufwiegelt? Nicht ich bin rachsüchtig, sondern sie!«

Hilfesuchend wandte ich mich an Alexandros: »Bitte du ihn um ihre Freilassung. Sie wird sich mit der kleinsten Hütte zufriedengeben, sucht nur noch den Schimmer einer letzten friedlichen Stunde.«

Alexandros fuhr sich verlegen durch die Haare. Als ich ihn beschwörend ansah, zwang er seine Hände hinter den Rücken und erwiderte mit unbewegter Miene meinen Blick.

Warum quälten mich die beiden nur so wie unbarmherzige Pharisäer? Warum ließen sie mich wie gegen eine Wand reden? Warum zeigten sie kein Erbarmen?

»Weißt du eigentlich, daß Marozia jede Nacht von dir geträumt hat? Daß du ihre erste und wirkliche und tiefste Liebe warst?«

Noch während dieser Satz aus mir herausbrach, wußte ich, daß ich ihn nicht hätte sagen sollen. Vermutlich empfand Alexandros ihn als verlogen und zugleich bedrohlich. Auch Alberico mußte seine Mutter noch hurenhafter erscheinen.

Dadurch, daß Alexandros weiterhin seine Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt, wirkte seine Haltung ein wenig gebeugt, als wäre er ein alter, vom Schicksal geschlagener Mann und nicht mein junger, strahlender, hoffnungsvoller Sohn. Wieder erinnerte er mich derart an Sergius, daß ich hätte schreien mögen.

»Sie war ebenfalls meine erste Liebe, eine wahnsinnige zudem«, antwortete er, ohne daß das Wahnsinnige als fernes Echo nachhallte.

»Liebst du sie denn gar nicht mehr?«

Auch diese Frage war unangebracht.

»Ich bin glücklich verheiratet mit einer Frau, die mir vier Kinder geschenkt hat.« Es sollte gefühlvoll klingen, doch es klang knapp und abweisend. »Wir können nicht … wir brauchen Zeit … Mein Leben …« Stammelnd brach er ab und öffnete endlich die Klammer seiner Hände, strich über seinen Umhang, als müsse er ihn glätten. »Morgen komme ich wieder, wenn Princeps Alberich es mir erlaubt. Bis dahin … Ich … ich beschwöre dich, mit mir in unsere Heimat zurückzukehren.«

Alexandros verneigte sich vor Alberico und eilte aus dem Raum.

Schluchzend sank ich nieder.

Wo war die kluge, beherrschte Aglaia geblieben? So alt, wie ich geworden war, so ungeschickt und hilflos hatte ich mich verhalten, so bedroht und zurückgestoßen hatte ich mich aber auch gefühlt, als ich – nach fast dreißig Jahren – Alexandros in der Erscheinung des Mannes vor mir stehen sah, der mich und mein ungeborenes Kind hatte umbringen lassen wollen. Wo hatte sich mein stiller, nachdenklicher, einfühlsamer Alexandros versteckt?

Vor lauter Schluchzen merkte ich nicht, daß Alberico sich neben mich setzte. Erst als er meine Hand ergriff, wie er es als Kind getan hatte, sah ich ihn im verschwommenen Fluß der Tränen. »Ich kann es nicht!« stieß ich aus. »Ich werde sie nicht allein lassen! Es ist, als würde ich mein Kind dem sicheren Tod preisgeben. Das mußt du doch verstehen!«

»Warum hat Alexandros denn Mama verlassen, wenn sie sich so liebten?« fragte Alberico leise, ohne auf meine beschwörenden Worte einzugehen.

»Deine Mutter sollte deinen Vater heiraten. Sie liebte aber Alexandros, und er liebte sie. Als er beiseite geschafft werden sollte, sorgte ich dafür, daß er rechtzeitig floh. Seitdem …« Mir versagte die Stimme.

»Wer ist eigentlich sein Vater?«

Alberico mußte seine Frage wiederholen, bis ich ihre Bedeutung für ihn einzuschätzen vermochte. Sagte ich die Wahrheit, erfuhr er, daß Sergius nicht nur seinen Bruder, sondern auch Alexandros gezeugt hatte – sie mußte in ihm die soeben vernarbte Wunde wieder aufreißen. Fieberhaft überlegte ich, ob ich Yussuf nennen sollte …

»Doch nicht etwa Großvater?«

»Nein, nein!« O Gott, auf welche Gedanken der Junge kam!

»Es ist seltsam, aber dieser Alexandros erinnert mich, obwohl sie sich gar nicht ähnlich sehen … an Giovanni.« Er schaute mich verwirrt an. »Aber das kann doch nicht sein …?«

Was gab es noch zu leugnen und zu lügen!

»Doch, es ist wahr«, flüsterte ich. »Sie sind Halbbrüder. Alexandros' Vater war Papst Sergius. Er hat mich einem Sarazenen abgekauft.«

Ich fühlte mich sterbenselend. Alberico war bleich geworden, und sein Blick schien sich nach innen zu richten. Seine Hand wollte sich von meiner zurückziehen, doch ich hielt sie fest.

Stimmlos sagte er: »Meine Mutter – und dein Sohn, Papst Sergius, mein Vater, Angelo, Onkel Wido und schließlich dieser hochnäsige, dieser grausame Provencale … Ich kann es nicht fassen.« Bitter fügte er an: »Da konnte für uns Kinder keine Liebe übrigbleiben.«

Vielleicht hatte er etwas Richtiges erkannt. Dennoch stellte ich ihm die Frage: »Hast du eine Frau jemals richtig geliebt?«

»Früher liebte ich meine Mutter. Und dich. Und Großmutter.«

»Ich meine die andere Liebe zu Frauen, verstehst du, das Sehnen und Begehren, das Hingezogenfühlen, die Verwirrungen, die Ängste, das Kribbeln im Bauch, den Drang der Wollust, ja, vor allem diesen Drang, dem du nicht widerstehen kannst …«

Er schüttelte den Kopf.

»Vielleicht kannst du deswegen deine Mutter nicht verstehen.«

Als hätte er mir nicht zugehört, flüsterte er: »Für sie gibt es nur einen Ort: das Kloster!« Er fügte fast unverständlich an. »Ich habe Angst vor der Liebe.«

Ich preßte seine Hand an mein Herz. »Auch wenn du Angst hast: Ich weiß, daß du deine Mutter liebst. So wie sie dich geliebt hat.«

Er schaute mich an, als würde ich gar nichts verstehen.

Und doch, natürlich, ich verstand ihn zu gut.

59

Die Begegnung mit den beiden Männern ließ mich hilflos zurück. Vielleicht hätte ich Alexandros um einen Aufschub, eine Bedenkzeit bitten, hätte um die Möglichkeit eines Besuchs im Kerker kämpfen sollen. Und warum gelang es mir nicht, mit Alberico über seine Mutter zu sprechen, über seine Liebe zu ihr und die Angst vor ihr, über seine Herrschaft in Rom und die Gefahr durch König Hugo?

Bei ihm wußte man nie, wann er sich verschloß und wann er bereit war, Gutmeinenden zuzuhören. Konnte Alberico, der sich als princeps romanorum jetzt offenkundig wie sein Vater Alberich nannte, etwas Besseres geschehen, als daß seine Mutter das Land verließ? König Hugo fände keinen Grund mehr, sie befreien zu wollen – und Befreiung hätte immer einen Angriff auf Rom bedeutet.

Was er wünschte, hatte Alberico erreicht: Er war als Sieger aus diesem tragischen Streit hervorgegangen – warum jetzt noch Rache? Warum seine Mutter dem Verderben preisgeben?

Ich wanderte eine Weile durch den Park, betrachtete die drei Säulenstümpfe und verlor mich in das sprießende Hoffnungsgrün, in die blühenden Frühlingstupfer. Manche Vögel ließen sich nicht stören, ihr Nestmaterial zu suchen, andere waren dabei, um ihre Partner zu werben und Nebenbuhler zu vertreiben. In der Ferne häßliches Krähengekrächze, und in der Höhe zogen die Geier ihre Runden.

Langsam zog ich mich in meine Gartenklause zurück, die mir für die Tage in Freiheit zugestanden worden war, setzte mich an das geöffnete Fenster und schrieb nieder, was ich von unseren Gesprächen noch erinnere.

Tatsächlich bin ich ruhiger geworden. Ich habe mich entschieden – dafür, daß ich Wort halte und Marozia treu bleibe. Wenn Alexandros und Alberico auf ihren Entschlüssen beharren, dann müssen wir alles Weitere dem Barmherzigen überlassen.

Morgen früh wird über unser Schicksal verfügt. Bis dahin bleibt mir Zeit, meinen Bericht über Marozia zu beenden. Im hereinwehenden Duft des Flieders, im Gesang lebensfroher Vögel will ich den letzten Akt der Tragödie erzählen.

Pietro, unser schärfster Gegner, war tot, wir kehrten dem Leichenhaufen den Rücken zu und eilten nach Hause, auf den Aventin, wo die gesamte Familie mit ihren Freunden und Unterstützern den Sieg feierte. Im Lauf der Nacht erreichte uns die Nachricht, Papst Johannes habe sich im Lateranpalast verbarrikadiert, die Leibwachen hielten zu ihm, überhaupt sei im Volk eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Darüber, wer die Ungarn gerufen habe, ob sie überhaupt gerufen worden seien, gebe es geteilte Meinungen. Solange kein Verräter sie in die Stadt lasse, könnten sie zwar das Umland verwüsten, Rom selbst aber nichts anhaben. Außerdem, so war man überzeugt, würde Markgraf Wido von Tuszien, Marozias Gemahl, die Stadt ohnehin bald befreien.

Die Feier endete in einer allgemeinen Trunkenheit. Kurz darauf gab es einen erneuten Anlaß zum Feiern, denn Wido näherte sich wie erwartet mit einem Heer der römischen Campania, so daß die Ungarn, ohne eine Auseinandersetzung zu wagen, die Flucht ergriffen.

Die Stadt jubelte ihm zu, und auch Papst Johannes schickte ihm aus seinem befestigten Lateran eine Anzahl höchster Würdenträger entgegen, die ihm feierlich die Tore der Stadt öffneten, ihn aber zugleich baten, seine siegreiche Befreiungsarmee auf den Neronischen Feldern zu lassen, wo man sie mit allen Ehren bewirten und versorgen wolle. Der Wein werde fließen, fette Ochsen am Spieß braten und die römischen Jungfrauen in freizügiger Freude vor ihnen tanzen. Dabei zwinkerten die Würdenträger in ihren weißen, schwarzen und purpurnen Gewändern ihm zu, wie er uns bald darauf berichtete. Tatsächlich ließ Wido sein Heer vor den Mauern lagern, und die Männer durften in der ersten Nacht jeglichen Durst und Hunger kostenlos stillen.

Wido erschien auf dem Aventin mit einer kleinen, schlagkräftigen Leibwache, stolz, aber ernster als erwartet. Marozia umarmte ihn mit aller Inbrunst und zog ihn sogleich in ihre Privatgemächer. Während der nächsten Tage war nicht viel von den beiden zu sehen, und erst nach einer Weile luden sie alle befreundeten Adelsfamilien mitsamt den wichtigsten Prälaten zu einer Ehrenfeier für Wido ein.

Marozia hatte sogar Papst Johannes einladen wollen, Wido hatte diesen Wunsch jedoch mit einer Entschiedenheit zurückgewiesen, die wir von ihm nicht gewöhnt waren. Da Marozia in ihrer noch immer unübersehbaren Verliebtheit keinen Streit wünschte, gab sie ohne Diskussion nach.

Nur ein kleiner Teil der Eingeladenen aus dem Lateran und den Bischofspalästen erschien zu unserem Fest, was in Widos Einschätzung zeigte, daß der Papst noch keineswegs Pietros Tod überwunden habe und Marozia wie ihrer gesamten Familie grolle. Giovanni bestätigte allerdings nur den ersten Punkt: Der Heilige Vater verlasse selten seine Gemächer, trauere untröstlich um seinen Bruder und sei überhaupt von einer tiefmelancholischen Stimmung erfaßt. Er stehe in intensivem Schriftwechsel mit zahlreichen Bischöfen, zudem mit Abt Odo von Cluny – er selbst, Giovanni, schreibe die Briefe, in denen es um ein sündiges Leben und die Aussicht auf das himmlische Heil gehe, um Luxus in Bosheit und Betrug, unkeusche Taten in Hohn und Spott sowie um Armut in Barmherzigkeit und Menschenliebe.

»Vielleicht sollte ich ihn aufsuchen«, sagte Marozia. »Ich habe ihn immer gemocht, und nachdem Pietro sein gerechtes Schicksal ereilt hat, stellt er für uns keine Bedrohung mehr dar.«

Wido war gänzlich anderer Meinung. Er sah in Pietro noch immer den bloßen Handlanger und in Papst Johannes den eigentlichen Feind.

Während der folgenden Monate schien die Zeit den Atem anzuhalten. Das Volk von Rom wurde durch üppig gefeierte Heiligenfeste bei Laune gehalten, Alberico übte sich wie gewöhnlich im Fechten und Reiten und brach dann mit den treuen Veteranen seines Vaters zu einer längeren Wolfsjagd in die Sabiner Berge und zu einem Besuch in seinem Camerino auf. Giovanni, der sich fast ausschließlich im Lateranpalast aufhielt, wurde vom Papst zum protoscrinarius ernannt, zum Aufseher über die Schreibschulen der Kurie. Stolz berichtete er seiner Mutter, der Heilige Vater habe seine volltönende Stimme und seine makellose Schrift gelobt. »Jetzt hat er seinen Worten Taten folgen lassen«, erklärte er strahlend.

Seine Mutter gab ihm einen Kuß. »Ich habe es schon immer gewußt. Du bist mein Liebster. Du wirst noch einmal Papst.«

Giovanni warf einen Blick auf Wido, weil er offensichtlich erwartete, auch von ihm gelobt zu werden. Doch Wido verzog sein Gesicht in skeptische Falten und sagte nur: »Johannes verleiht Giovanni einen lächerlichen Posten, weil er ihn als Spion benutzen will. Seid doch nicht so naiv!«

»Protoscrinarius ist kein lächerlicher Posten«, widersprach ihm Giovanni trotzig, und Marozia war ebenfalls anderer Meinung: »Johannes könnte ja auch glauben, wir benutzten Giovanni als Spion – womit er sicher mehr recht hätte.«

»Gott, was seid ihr verblendet!« rief Wido und verließ verärgert den Raum.

Zu einer weiteren, diesmal heftigeren Auseinandersetzung kam es einige Monate später, als die beiden von dem Heiligen Vater zu einer Privataudienz eingeladen wurden.

Marozia zeigte sich erfreut, Wido zögerte, die Einladung überhaupt anzunehmen.

»Was ist los?« fragte sie ihn, unversehens gereizt. »Der Usurpator Pietro ist tot, Papst Johannes wurde sein Schwert aus der Hand geschlagen, er trauert noch immer, so hört man, bittet jetzt sogar den glorreichen Sieger aus Tuszien und seine Gemahlin zu einer Privataudienz.«

Wido schüttelte heftig den Kopf. »Es geht nicht um leere Gespräche, sondern um eine langfristige Lösung, die wir seit Pietros Tod vor uns herschieben.«

»Ich verstehe dich nicht« sagte Marozia. »Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt. Laß den alten Mann in seiner Trauer Papst spielen – bis Giovanni soweit ist, seine Nachfolge anzutreten.«

Wido überging den Hinweis auf Giovanni. Ernst sagte er: »Papst Johannes ist kein Mann, der rasch aufgibt, Trauer hin oder her. Er denkt langfristig und bezieht ganz Italien in sein Kalkül ein. Nicht zufällig hat er meinen Halbbruder Hugo zum König gekrönt …«

»Aber dein Hugo ist weit. Von ihm haben wir seit langem nichts mehr gehört. Er wird seinen Titel in Pavia genießen oder kann sich mit den Ungarn herumschlagen.«

Als Wido nicht antwortete, suchte Marozia seinen Blick. Er schaute jedoch in eine andere Richtung, und sie setzte sich zu ihm und fuhr mit katzenhaft anschmiegsamen Händen über seinen Körper.

Als ich mich erhob, um den Raum zu verlassen, rief Wido: »Du solltest bleiben. Wir wollen deine Meinung hören.« Zugleich wehrte er Marozia ab, was sie kurz schmollen ließ. Doch dann wurde sie wieder ernst und nachdenklich.

»Ich habe den Eindruck«, merkte ich an, »daß Wido mehr seinen Halbbruder fürchtet als den Papst.«

Marozia griff meine Aussage unverzüglich auf. »Glaubst du wirklich«, wandte sie sich an Wido, »Hugo interessiert sich für Rom? Zwischen dem Norden und dem Patrimonium liegt bekanntlich Tuszien, das du beherrschst. Rom liegt also hinter einem starken Bollwerk und ist zudem unverdaulich.«

Wido schüttelte den Kopf. »Nach meiner Erfahrung ist Hugo von grenzenlosem Ehrgeiz getrieben. Wer ihm im Wege steht – und wenn es Brüder sind –, wird zur Seite gestoßen. Weder kennt er Dankbarkeit noch scheut er arglistige Mittel; nie hat er daran gedacht, sich an Verträge und Abmachungen zu halten. Als Herrscher der Provence und König von Italien will er sicherlich Kaiser werden, und Kaiser wird er allein in Rom durch den Papst. Also müssen wir mit ihm rechnen, vermutlich sogar in naher Zukunft.«

Als Marozia etwas einwerfen wollte, hob er abwehrend die Hand. »Laß mich ausreden! Ich erwähnte den Papst: Es ist noch immer Johannes, dem wir eine der schlimmsten Niederlagen seines Lebens zugefügt haben. Eine Weile mußte er sich zurückziehen, weil er im Verdacht stand, mit Pietro zusammen die Ungarn gerufen zu haben. Unterdessen hat sich dieser Verdacht weitgehend zerstreut. Hinzu kommt, daß der Papst trotz allem beliebt ist, das hat man mir häufig berichtet: Er gilt als volkstümlich, freigebig, männlich – das Volk von Rom hat Pietro schon halb vergessen, spricht aber bis heute von dem klatschwürdigen Liebesverhältnis mit deiner Mutter. Wie du weißt, ist das Volk berüchtigt für seinen Wankelmut: Heute liebt es diesen Herrscher, morgen jenen Papst, je nachdem, wer ihm das meiste an panem et circenses liefert. Aus alldem folgt, daß Johannes auf eine Gelegenheit wartet, sich an uns zu rächen – und dem müssen wir vorbeugen.«

Marozia schaute ihn unsicher an, während ich, die ich nicht so ein gebrochenes Verhältnis zu Papst Johannes hatte, Widos Gedankengang durchaus verstand.

»Was meinst du damit?« fragte Marozia.

»Wir müssen ihn aus dem Weg räumen.«

Ich staunte über unseren schönen Jüngling, der offenkundig während seines letzten Feldzugs an Härte und politischer Konsequenz gewonnen hatte.

»Töten?«

»Ja, töten.«

»Und wie?«

»Möglichst unauffällig.«

»Darin habe ich keine Erfahrung.«

»Ich auch nicht.«

Es entstand eine Pause, während der beide einen fragenden Blick auf mich warfen. Ich äußerte mich jedoch nicht, weder durch Worte noch durch Gesten oder einen mimischen Kommentar.

»Ich weiß nicht«, sagte Marozia gedehnt. »An Pietros Tod haben wir uns nicht einmal die Finger schmutzig machen müssen. Aber Johannes …?«

»Hat er in der Zwischenzeit Alberico zum Markgrafen von Spoleto ernannt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hat aber Giovanni zum Diaconus geweiht und jetzt zum protoscrinarius ernannt.«

»Das besagt überhaupt nichts. Er will uns höchstens Sand in die Augen streuen.«

»Warum haßt du ihn plötzlich? Dir hat er doch nichts getan.«

»Ich hasse ihn nicht, ich sehe nur die Gefahr für Tuszien: im Norden mein Halbbruder Hugo, im Süden Papst Johannes, Alberico noch immer nicht zum Markgrafen ernannt, die Ungarn geschlagen, aber keineswegs vernichtet – ich will überleben, mehr noch: König werden, vielleicht sogar Kaiser. Und du sollst meine Kaiserin sein!«

Marozia lachte auf und gab ihm einen Kuß. Nun drückte er sie an sich und ließ seine Hand an ihrem Rücken entlanggleiten.

»Ich werde deine Kaiserin!« Wieder küßte sie ihn. »Laß uns ein andermal über Johannes reden.«

»Er muß sterben.« Wido ließ sich von ihrem verführerischen Lächeln nicht ablenken.

»Wenn er jetzt stirbt«, erwiderte Marozia, »haben wir keinen Nachfolger. Giovanni ist zu jung, erst in paar Jahren können wir ihn zum Papst ernennen lassen. Bis dahin müssen Kaiser und Kaiserin warten.« Sie schmiegte sich an Wido und ergriff seine Hand. »Außerdem«, sagte sie mit so leiser Stimme, daß ich sie kaum verstand, »paßt es mir nicht, wenn Alberico bereits jetzt Markgraf wird. Er ist ebenfalls zu jung. Ich fürchte zudem das unbeherrschte Temperament seines Vaters.«

Wido löste sich von Marozia. »Du kannst Alberico Spoleto nicht verweigern. Außerdem sollte er endlich zum magister militum und zum Senator ernannt werden. Er hat sich kaltblütig und klug verhalten, in ihm steckt viel mehr, als du vermutest.«

»Ich will, daß sie beide ihre Titel zur gleichen Zeit erhalten: Giovanni wird Papst, Alberico Markgraf – und wir Kaiser und Kaiserin.« Marozia hakte sich bei Wido unter. »Wido der Schöne und Marozia die Mächtige, welch ein Kaiserpaar!«

Der Gedanke schien sie zu berauschen. Sie drehte sich hoheitlich, gab ihm einen weiteren Kuß auf den Mund und tippte dann ihren Finger auf seine Brust. »Und wenn du zusätzlich Markgraf von Spoleto wirst? Dann bist du so mächtig wie kein zweiter Fürst in Italien. Alberico könnte superista werden und die Lateranmiliz befehlen, meinetwegen auch römischer magister militum. Was braucht er Spoleto! Camerino darf er behalten.«

Wido lachte, schüttelte jedoch den Kopf. »Alberico soll sein Spoleto erhalten, ich will keinen Feind in der Familie. Außerdem war sein Vater mein Freund.«

»Wie Ihr meint, erhabener Kaiser Wido!« Marozia verneigte sich theatralisch, lachte spöttisch und winkte mir gespielt huldvoll zu: »Ich verlasse mich auf deine Verschwiegenheit, auch den Söhnen gegenüber.«

Ich, ernst geblieben, nickte knapp.

Bald darauf – unerwartet für mich, die ich mit Crescentius die Bücher geprüft und einige Inspektionsreisen unternommen hatte – hörte ich, daß Papst Johannes nach Pavia zu König Hugo aufgebrochen, unweit von Rom indessen auf offener Straße von einem bewaffneten Trupp überfallen und im tuszischen Veroli in den Kerker geworfen worden sei.

In der Stadt herrschte Verwirrung, doch rasch wurde klar, daß hinter diesem Überfall Markgraf Wido stecken mußte, der dann auch, geschützt von seiner schwerbewaffneten Leibwache, im Lateran und bei einer Versammlung aller Senatoren erklärte, Papst Johannes habe ihn absetzen wollen, habe ihm sogar nach dem Leben getrachtet und sei daher an einen sicheren Ort verbracht worden. Nun könne endlich ein würdigerer Nachfolger gewählt werden. Senatrix Marozia schlage den secundarius notariorum Leo vor, einen verdienten und glaubensstarken, im treuen Dienst der Kirche ergrauten und von Skandalen unbelasteten Prälaten.

Tatsächlich war Leo, was Wido nicht im einzelnen ausführte, nicht nur ergraut, sondern bereits weiß, darüber hinaus fast blind und zittrig.

Begeisterung herrschte in Rom nicht, weder im Volk noch im Adel und schon gar nicht in der Kurie, aber Widos Heer durfte nicht unbeachtet bleiben. Ein nicht unerheblicher Teil hatte die Neronischen Felder verlassen und sich in der Stadt selbst einquartiert, allerdings unauffällig und unter Einhaltung ziviler Gepflogenheiten. Viele Soldaten wohnten bei jungen, freizügigen Frauen, die auf diese Weise Schutz genossen.

Johannes, der aufgefordert wurde, als Papst zurückzutreten, zeigte sich störrisch. Er sei der Nachfolger des Apostelfürsten Petrus und allein dem höchsten Richter und unserem Herrn Jesus Christus zu Gehorsam verpflichtet. Seine unbeugsame Haltung sprach sich rasch herum. Wie es dazu kam, daß gerade die Bevölkerung von Veroli die Festung stürmte, in der er eingesperrt war, entzieht sich meiner Kenntnis. Es hieß, er habe der Bevölkerung, die ihn seit dem Sieg über die Sarazenen ohnehin verehre, Sündenerlaß und den direkten Weg ins Himmelreich versprochen.

Wido tobte, als er von der Befreiung des Papstes hörte. Er schickte unverzüglich eine starke Truppe nach Veroli und einen Eilboten zu seinem Bruder Lambert, der Johannes bei einem möglichen Fluchtversuch in seine Heimat Romania abfangen sollte. Unter keinen Umständen dürfe Johannes Schutz bei König Hugo finden.

Der Papst schien jedoch überzeugt, daß das Volk Roms und die Kurie sich erheben würden, um ihm den Stuhl Petri zu sichern. Vielleicht waren es auch andere Gründe, die ihn veranlaßten, direkt nach Rom zu eilen. Vor den Mauern der Stadt jedoch fiel er Widos Häschern in die Hände, die ihn ohne zu zögern in die Engelsburg sperrten.

60

Wir schrieben das Jahr des Herrn 929. Es war Sommer, und feuchte Hitze brütete über der Stadt, brachte zahlreiche Gewitter und immer wieder kleinere Überschwemmungen des Tiber. Die Stechmücken hatten sich stark vermehrt und fielen insbesondere in den Abendstunden über die Menschen der unteren Stadtviertel her. Es galt als ausgemacht, daß diese Plage Gottes die Strafe für die Entführung des Heiligen Vaters sei.

Wido kümmerte sich jedoch weder um Stechmücken noch um die Stimme des Volkes, die er ohnehin der Stimme des Rindviehs gleichsetzte, und verkündete, wenn Papst Johannes nicht von alleine seinen Weg in die Hölle antrete, werde er ein wenig nachhelfen.

Marozia hatte verwirrt auf die Gefangennahme des Papstes reagiert. Es war sogar zu einem Streit zwischen den Ehepartnern gekommen, bei dem Wido seiner Gemahlin erneut politische Naivität vorwarf. »Warum zog Johannes wohl nach Norden? Er plante, sich mit Hugo zu treffen und ihn nach Rom zu locken. Und was sollte Hugo in Rom? Uns kaltstellen und zum Kaiser gewählt werden! Ich habe dich schon lange gewarnt.«

Marozia schwieg nachdenklich, erwiderte dann: »Trotzdem. Wir machen uns Feinde.«

»Feinde haben wir genug. Johannes gehört zu ihnen. Sie lassen uns nur am Leben, wenn wir ihnen die Faust zeigen. Entweder sie oder wir.«

Noch immer war sie nicht überzeugt. »Dann laß mich wenigstens mit ihm reden. Ich will ihn überzeugen, freiwillig zurückzutreten und in ein Kloster zu gehen.«

Wido knurrte unwirsch, ließ sie jedoch gewähren.

Marozia forderte mich auf, sie zu begleiten. Ich war weder versessen auf das Gespräch noch gar auf den Abstieg in die Verliese der Engelsburg, verstand gleichwohl, daß Marozia einen unbestechlichen Zeugen dabeihaben wollte. Außerdem war auch ich daran interessiert, Wido von dem Mord an Papst Johannes abzuhalten.

Die tuszischen Wachen ließen uns in die Gewölbe des kaiserlichen Grabmals eintreten und führten uns in düstere, feuchte und stinkende Gänge, an Verliesen vorbei, in denen, wie mir ein neugieriger Blick verriet, noch Skelette lagen, von Ratten säuberlich abgenagt. Am Ende eines Ganges hielten wir vor einer eisenbeschlagenen Tür: Ein Schloß knirschte, Ketten rasselten, krachend wurde ein Riegel zurückgeschoben, und die schwere Tür stöhnte in ihren Angeln. Wir traten in den Kerker, in dem ein alter Mann kauerte, unrasiert und mit filzigen Haaren: Papst Johannes X. Neben ihm stand ein geleerter Becher. Müde öffnete er die stumpfen Augen und bat um Wasser. Als die Wachen eine Fackel neben dem Türrahmen befestigt hatten und wir uns ihm vorsichtig näherten, fielen uns mehrere Schürfwunden und dunkle Flecken auf. Sein Gesicht war eingefallen und grau, die verdreckten Kleiderfetzen schlotterten um seine Glieder.

Ich betrachtete, kaum hatten die Wachen den Raum verlassen, eingehend die schwarzschimmligen Wände – und noch heute erfaßt mich ein Schauer, wenn ich an sie denke, denn es waren die Wände, die auch uns später einschlossen und Marozia weiterhin gefangenhalten.

»Ich möchte Euch retten, Heiliger Vater«, sagte sie mit eindringlicher Stimme.

Papst Johannes ließ seinen gebrochenen Blick über sie gleiten. »Ich erinnere mich an dich, mein Kind, und an deine Mutter, die ich liebte.«

Ich empfand mich als störend und schob mich langsam zur Tür zurück, während Marozia sich Papst Johannes näherte.

»Um meiner Mutter und eurer gemeinsamen Liebe willen: Verzichtet auf Euer Amt, Heiliger Vater, und versprecht, Euch in ein Kloster zurückzuziehen! Dann werde ich Euer Leben retten können.«

»Gott hat mich auf den Stuhl Petri berufen, dort werde ich sterben.« Seine Stimme war ein müdes Krächzen.

»Du wirst im Kerker sterben, Johannes«, rief Marozia erregt. »Und nicht Gott hat dich berufen, sondern meine Mutter!«

Sein Blick ließ sie verstummen. Nach einer Weile flüsterte sie: »Verzeiht. Gott hat Euch durch meine Mutter berufen lassen – wir waren alle glücklich darüber.« Da Papst Johannes nicht antwortete, sie nur anschaute, fuhr sie fort, lauter, drängender und zugleich bedrängter: »Warum mußte alles so kommen? Du weißt doch, daß wir dich liebten – ja, auch ich, ich verehrte dich, du hast mir zum ersten Mal gezeigt …« Unsicher schaute sie sich nach der Tür um und verstummte kurz. »Für mich warst du wie ein Vater. Als aber dann dieser Pietro auftauchte – er hat dich uns entfremdet und wollte uns entmachten, er war unser Feind, obwohl wir ihm nichts getan hatten. Er hat uns deine Liebe gestohlen.«

Der Papst lachte fast unhörbar auf, antwortete noch immer nicht.

»Er war gar nicht dein Bruder.« Ich merkte, wie sich Ärger in Marozias Stimme schlich. »Er war dein … Liebhaber.«

Erneut lachte der Papst auf, diesmal wie über eine kindische Dummheit. »Mein Liebhaber«, wiederholte er und lächelte. »Du hast recht, mein Bruder war er nicht, und ich liebte ihn – er war mein Sohn.«

Marozia zuckte ungläubig zusammen. »Dein Sohn?« Es dauerte eine Weile, bis sie sich gefangen hatte. »Und warum wußten wir nichts von ihm?«

»Glaubst du, deine Mutter wäre erfreut über ihn gewesen?«

»Meine Mutter besaß ein großes Herz.«

Er nickte. »Ja, ein großes, forderndes Herz.«

Marozia warf mir einen Blick zu, als müsse sie sich vergewissern, daß alles real sei, was sie erlebe. Ich nickte nur.

Sie ergriff die Hand des alten Mannes. »Ich habe dir unrecht getan, dich verdächtigt …«

»Ach, Kind, es gibt Schlimmeres. Wenn du kurz vor Gottes Richterstuhl stehst, fallen die kleinen Verfehlungen von dir ab. Zurück bleiben die großen, schweren, die unverzeihlichen, sie werden reichen, mich bis zum Jüngsten Tag in der Hölle schmoren zu lassen.«

»Aber wenn du auf dein Papstamt verzichtest und dich … ja, nach Cluny zurückziehst, zu Abt Odo, mit dem du korrespondierst, wie ich von Giovanni weiß – Cluny wäre der richtige Ort: Du könntest büßen und Gott um Verzeihung bitten …«

Sein Blick verriet, daß all ihre Bitten und Bemühungen vergeblich waren.

Papst Johannes wollte sterben.

»Glaubst du etwa«, fragte Marozia nach einer langen Pause, »daß ein gewaltsamer Tod dir den Weg ins Himmelreich öffnen wird? Willst du ein Märtyrer werden?«

»Nein, meine Tochter, aber er wird mein Leiden hienieden verkürzen. Ich esse ohnehin nichts mehr. Seit mein Sohn Pietro sterben mußte, habe ich nur in Buße gelebt – ohne daß mir Gott ein einziges Zeichen gesandt hätte. Auch der barmherzige Heiland wird mich nicht erlösen, zu schwer sind meine Verfehlungen. Es ist zu Ende. Geht in Frieden, meine Töchter, und verzeiht einem alten Mann!«

Ich klopfte an die Tür, um die Wachen zu rufen. Hilflos schauten wir auf Papst Johannes, der regungslos auf dem Boden kauerte.

Marozia berichtete Wido knapp von dem Gespräch und Johannes' Weigerung, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Der Markgraf nickte lediglich, nicht triumphierend, eher traurig, und wir erwähnten den Papst nicht mehr. Wenige Tage später hörten wir, daß er nicht mehr lebe.

»Hast du ihn erwürgen lassen?« fragte Marozia ihren Mann.

Er antwortete nicht.

Die Wahl des von Marozia vorgeschlagenen secundarius notariorum zum neuen Papst war nur noch eine Formsache, nachdem man den Kammerdienern der Kurie, dem niederen Klerus und dem Volk von Rom drei Tage zur gründlichen Plünderung des Lateranpalasts gelassen hatte. Zugleich wurde in den Straßen Roms trotz der Stechmücken weinselig gefeiert.

Der weißhaarige, zittrige und fast blinde Leo VI. hielt sein erstes Hochamt unter tatkräftiger Mithilfe unseres Giovanni, der während dieser Messe die letzte Weihestufe vor dem Episkopat erklomm und zum Kardinalpresbyter von Sancta Maria in Trastevere ordiniert wurde. Nun stand seiner Ernennung zum Bischof von Rom nichts mehr im Wege als der Wille seiner Mutter, auch wenn er erst zwanzig Lenze zählte und es ihm ein wenig an weißhaariger Würde gebrach.

Leo VI. starb noch im selben Jahr. So früh hatte Marozia mit seinem Ableben nicht gerechnet, und daher beschloß sie, einen weiteren Statthalter für ihren Sohn wählen zu lassen: Stephan VII. Er war ebenfalls hochbetagt, wenn auch nicht blind und zittrig.

Die Mückenplage hatte mittlerweile nachgelassen, dafür brachten die Wintermonate Regen und Kälte.

Wido und Marozia beherrschten Rom während dieser Zeit unangefochten. Papst Stephan war ihr Befehlsempfänger. Panis et circenses hielten das Volk bei Laune, und der befreundete Adel wurde mit Posten und Titeln in Kurie und neugestalteter Stadtverwaltung sowie mit Domänen in der Campania und in den Albaner Bergen versorgt.

Nach ihrem letzten Überfall hörte man nichts mehr von den Ungarn, die sich auch aus dem Norden Italiens zurückgezogen haben mußten. König Hugo, dem Halbbruder, gelang es währenddessen, mit den auf Eigenständigkeit versessenen Mächten Norditaliens einen Ausgleich zu finden. In der Hauptstadt von Tuszien vertrat Lambert seinen Bruder Wido, der auf dem Aventin residierte, da Marozia es brüsk von sich wies, nach Lucca umzusiedeln.

Sie betrachtete Rom als den Nabel der Welt und hielt sich überdies für unentbehrlich in der Stadt; Wido seinerseits liebte seine Gemahlin und wollte sich daher nicht von ihr trennen. Außerdem wünschte er sich von ihr Erben, überhaupt Kinder, damit sein Geschlecht weiterhin über das reiche Tuszien herrschen könne. Marozia, mittlerweile vierzig Jahre alt, zeigte wenig Begeisterung. Doch liebte sie ihren Wido und konnte ihm seinen Wunsch nicht abschlagen. Allerdings war sie seit der nun fast fünfzehnjährigen Berta nicht mehr schwanger gewesen, und es sah so aus, als wollte der Allmächtige ihr keine weiteren Kinder mehr bescheren.

Nach ihren Erzählungen bemühte sich Wido jede Nacht, die ablehnende Haltung des Herrn zu erweichen, und er scheute nicht, die von der Kirche vorgeschriebene Stellung zu verlassen, weil er an die kopulierenden Tiere dachte, die sich nicht in die Augen schauten und dennoch fruchtbarer als die Menschen waren.

Und tatsächlich, Marozia wurde schwanger.

Dann geschah allerdings etwas, was niemand erwartet hatte. Wir schrieben das Jahr 930 nach der Menschwerdung des Herrn, es drohten weder Ungarn noch Sarazenen, von König Hugo hörte man nur, daß er gerne zum Kaiser gekrönt werden wolle, der Frühling war feucht, aber friedlich, Giovanni war nur selten auf dem Aventin zu sehen, weil er sich intensiv auf seine Rolle als pontifex maximus vorbereitete. Auch Alberico tauchte wochenlang nicht auf, weil er mit der Veteranentruppe seines Vaters Wölfe jagte, insbesondere die eine Wölfin, die ihm so viel Leid zugefügt hatte, und zugleich sein zukünftiges Herrschaftsgebiet um Spoleto und Camerino inspizierte. Seine Mutter hatte ihm hoch und heilig versprochen, daß die erste Amtshandlung seines Bruders als Papst sein würde, ihn zum Markgrafen sowie zum magister militum zu ernennen.

Das Kind wuchs unter ihrem Herzen, und Wido zeigte eine unbändige Freude, wenn er den Kopf auf ihren Leib bettete, mit seinen Fingern vorsichtig auf die Wölbung trommelte und das Kind ihm mit seinen Füßchen antwortete.

Der Sommer brachte Hitze, neue Mückenschwärme und mit ihnen das Drei- und Viertagesfieber. Auch Marozia und ich erlitten, nicht zum ersten Mal, einen Schub, genasen jedoch rasch.

Wido war bisher verschont geblieben, was an ein Wunder grenzte.

Diesen Sommer blieb das Wunder aus: Er erkrankte, das Fieber stieg unaufhörlich, er begann ins delirium zu fallen, erkannte Marozia, die ihn eigenhändig pflegte, bald nicht mehr. In der vierten Nacht hörte ich einen schrecklichen Schrei.

Ich wußte, was geschehen war.

Im Raum des Kranken stand Marozia, bleich wie ein Leichentuch und starr wie ein Stein. Wido, der junge und mächtige Wido, der Vater des werdenden Kindes, lag mit verdrehten Augen und offenem Mund auf seinen Kissen und atmete nicht mehr. Rasch schloß ich ihm die Lider und drückte die Kiefer zusammen.

Marozia schrie erneut, hilflos und wütend zugleich. Sie warf sich auf Wido, riß ihn empor, schüttelte ihn, doch ihr Gemahl blieb stumm und tot. Zögernd ließ sie ihn zurücksinken und blieb in erstickter Verzweiflung auf ihm liegen.

Noch in der folgenden Nacht verlor sie ihr Kind.

61

Der Tag neigt sich dem Ende zu; draußen im Park herrscht ein Vögelkonzert, das jedes andere Geräusch übertönt. Auf zahlreichen Zweigen sitzen unsere fröhlichen Freunde und preisen Gott. Andere jagen sich oder spielen, verstecken sich oder bauen ihre Nester. Auch die Nachtigallen haben bereits begonnen, zu singen und zu flöten, zu schlagen und zu schluchzen. Ein tränentreibender Schmelz liegt in ihrer Stimme, als wüßten sie um meine Stimmung.

Ich fühlte mit meiner Mariuccia, die vom Schicksal zwei so harte Schläge einstecken mußte. Sie betrachtete Widos Tod und den Verlust des Kindes als Strafe Gottes für den Mord an Papst Johannes, obwohl sie ihn nicht zu verantworten hatte, begann zu fiebern und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Doch vorerst mußte die Totenfeier für Wido überstanden werden. Zu ihr war sein Bruder Lambert erschienen, ein kräftiger junger Mann mit knappen Gesten und keinem Wort zuviel. Marozia hatte ihn, dem sie zuvor nie begegnet war, in trauernder Freundlichkeit empfangen, doch Lambert blieb reserviert. Vielleicht fühlte er sich auch nur unwohl in der fremden Stadt, über die er sicher viel, aber vermutlich wenig Gutes gehört hatte.

Vor seiner Rückreise wünschte er, seinen Bruder nach Lucca zu überführen und von Papst Stephan als Widos Nachfolger und Markgraf von Tuszien bestätigt zu werden. Marozia, bereits fiebernd und von der Trauer zunehmend überwältigt, so daß sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, lehnte den einen Wunsch ab und wollte den anderen aufgeschoben wissen.

Lambert war nicht der Mann, der sich abspeisen ließ. Er war zornig, wurde sogar so wütend, daß er Marozia machtgierige Schlampe nannte und damit drohte, sich mit Hilfe der tuszischen Truppen kurzerhand der Überreste des Bruders zu bemächtigen. Zudem kündigte er seine Unterstützung Roms auf, falls er nicht unverzüglich als Markgraf bestätigt würde.

Ich bin mir nicht sicher, ob Marozia in ihrem Zustand das böse und hauptsächlich im Tuszischen gebräuchliche Wort Schlampe verstanden hatte. Auf jeden Fall reagierte sie nicht darauf. Wir alle rieten ihr, Lambert nachzugeben – schon deshalb, weil er im Recht war und weil wir machtpolitisch über Widos Tod hinausdenken mußten. Schließlich gab sie nach, Papst Stephan stellte Lambert die Urkunde aus und bestätigte ihn in einer bescheidenen Zeremonie als Markgraf von Tuszien, Widos Sarkophag wurde auf einen Ochsenkarren geladen, und Lambert zog mitsamt den tuszischen Truppen und ihrem angeschwollenen Troß voller Ehefrauen und Kindern nach Norden ab.

Der einzige, der in Rom jetzt noch über eine nennenswerte Anzahl von Soldaten befehligte, war Alberico. Allerdings trugen die meisten dieser Soldaten bereits graue Bärte und gerundete Bäuche, tranken viel Wein und schwelgten in Erinnerungen an die großen Zeiten unter Alberich dem Ersten und seinem Sieg über die Sarazenen.

Marozias Fieber stieg unaufhörlich: Es war nicht das gewohnte Viertagesfieber, das aus den mephitischen Ausdünstungen des Tibers hervorsteigt, sondern mußte mit der Fehlgeburt zusammenhängen, denn es war von gräßlichen Schmerzen im Unterleib begleitet, die lange Zeit nicht nachlassen wollten.

Ich befürchtete, Marozia würde uns verlassen, und versammelte die Kinder um ihr Lager. Auch Konstantin, der unterdessen zum jüngsten Abt des Klosters Farfa gewählt worden war, hatte sich nach Rom rufen lassen. Er blickte mit ungerührter Kälte auf seine Mutter, faltete schließlich die Hände und schloß die Augen, ohne daß sich seine Lippen bewegten.

Seine Schwester Berta, deren durchscheinende Schönheit im Verborgenen erblüht war, drückte sich an mich. Ich strich ihr über die Haare wie einem kleinen Kind und reichte ihr ein Tüchlein, damit sie sich hineinschneuzen konnte. Während der letzten Monate hatte sie abwechselnd den Wunsch geäußert, in ein Kloster einzutreten, möglichst weit weg von Rom einen freundlichen Herzog zu heiraten oder mit mir nach Konstantinopel zu ziehen. Wieso sie auf meine Heimat kam, weiß ich nicht; ich hatte sie kaum mehr erwähnt.

Schaute ich Berta an, so schwankte ich in meinem Urteil über ihre Zukunft: Ihr unschuldiges und ebenmäßiges Antlitz mochte nicht nur die Liebe des Herrn auf sich ziehen, sondern auch manchen der kraftstrotzenden Jünglinge locken. Doch zugleich war es blaß, und unter Tunika und Stola waren keine üppigen Rundungen zu erkennen, keine kräftigen Hüften und weichen Schwellungen – also nichts, was eine gesunde Mutterschaft versprach.

Neben Berta betete Giovanni ununterbrochen seine Psalmen, während Alberico mit zweifelnden und zugleich hilflosen Augen auf seine eingefallene Mutter schaute. Was geschah, wenn sie starb, mochte er sich fragen. Würde der senile Papst Stephan ihn endlich zum Markgrafen ernennen? Würden ihn die römischen Adelshäupter als einflußreichsten Mann der Stadt anerkennen und wie seinen Großvater zum Konsul wählen? Würde nach Stephans Tod wirklich sein Bruder zum Papst gewählt? All diese Fragen mochten ihn verunsichern, und tatsächlich griff er wieder nach meiner Hand, als müsse er sich Hilfe holen. Als er allerdings Crescentius' spöttischen Blick sah, ließ er sie unverzüglich los.

Auch Marozias Schwester Theodora und ihre Familie hatten sich versammelt. Ihr bereits seit langem schwelender, von Eifersucht geprägter Streit hatte sich vertieft, als Theodora einmal spöttisch auf den Altersunterschied zwischen Marozia und Wido anspielte. Am Ende hatte Theodora damit gedroht, Crescentius würde seinen Einsatz für das wirtschaftliche Wohlergehen des Hauses Theophylactus einstellen, nur noch die eigenen Güter und Betriebe verwalten und die ihm zustehenden Abgaben und Zölle einstreichen. Dann würde Marozia schon sehen, wie es mit ihr bergab gehe. Ihre Schwester lachte sie höhnisch aus.

Jetzt allerdings schien dieser Streit vergessen. Theodora vergoß ungewohnt theatralisch ihre Tränen, während die drei immer hübscher werdenden Grazien wenig Anteilnahme am Leid ihrer Tante zeigten und sich langweilten.

Marozia, im delirium, merkte eine Weile nichts von ihrer Familie. Schließlich, als sich ihre beiden ältesten Söhne, von mir ermuntert, auf den Bettrand setzten und jeder eine Hand der Mutter ergriffen, blinzelte Marozia, ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern und lächelte selbstvergessen. Es war ein Lächeln, das aus der Erinnerung glücklicher Zeiten erwuchs und von dort Kraft und Lebenswillen bezog.

Ich ahnte sofort: Jetzt wird sie dem Tod trotzen.

Meine Ahnung trog mich nicht. Marozia überwand das Fieber und wurde wieder gesund. Es dauerte zwar den gesamten Winter, bis sie zu Kräften kam, aber der Frühling 931 – er scheint mir nicht zwei Jahre, sondern Jahrzehnte zurückzuliegen – erlaubte ihr, im Schall der gefiederten Jubilierer auszureiten, zusammen mit Alberico, was mich verstärkt auf mehr Liebe zwischen ihr und ihrem zweiten Sohn hoffen ließ. Auch trauerte sie nur noch im Geheimen: Kam sie auf ihr totes Kind zu sprechen, brach sie nicht mehr in Tränen aus, und erwähnte sie Wido, klang sie sachlich und beherrscht.

Während des Fiebers hatte sie stark abgenommen, so daß sich um ihren Mund eine Reihe harter Falten reihten. Ihr Blick, so schien mir, war kälter geworden. Noch immer eine stattliche Frau, bedurfte sie allerdings vermehrt der Hilfe von Salben und Duftwässern, um ihre Schönheit strahlen zu lassen.

Nach dem Osterfest erkrankte Papst Stephan, und bereits nach wenigen Tagen war jedem in seiner Umgebung klar, daß er sich nicht wieder erheben würde. Als Marozia dies hörte, rief sie Giovanni zu sich und erklärte ihm, seine Stunde sei gekommen. Er sollte sich wappnen, in wenigen Tagen die Mitra des römischen Bischofs und die Tiara des Oberhaupts der Christenheit zu tragen. Fieberhaft bereitete sie die Wahl ihres Sohnes vor. Das Volk und der niedrige Klerus erhielten Geldgeschenke, der höhere Klerus neue Pfründen, der befreundete Adel Domänen aus dem Kirchenbesitz in Tuszien. Als ich sie darauf hinwies, daß Markgraf Lambert darüber kaum begeistert sein dürfte, wischte sie meinen Einwand verärgert zur Seite. »Wer mich machtgierige Schlampe nennt, hat von mir keine freundlichen Gesten zu erwarten.«

Sie hatte also doch verstanden, was Widos Bruder im Zorn herausgerutscht war. Ob ihr späteres Verhalten allerdings auf diese Beleidung zurückzuführen ist, möchte ich bezweifeln.

Kaum waren die Exequien des verstorbenen Papstes beendet, fand die Wahl des neuen pontifex maximus vor der Basilika des heiligen Petrus unter Beteiligung aller Parteien aus Klerus, Adel und Volk statt. Giovanni wurde vorgeschlagen, sofort durch lautstarke Akklamation angenommen. Es folgten das übliche habemus papam und die Ankündigung, Giovanni, der Sohn des der Zeitlichkeit entrückten Alberich, Markgraf von Camerino und Spoleto, Sohn der illustrissima senatrix ac vestaratrix Marozia, werde sich als Papst Johannes XI. nennen. Die Wahl des Namens klang wie Hohn.

Er wurde eingekleidet, trat vor seine römische Gemeinde und die anwesenden Pilger, hielt eine kurze Andacht und erteilte seinen Segen, ritt schließlich, in Purpur gekleidet und unter seiner Tiara, auf einem weißen Zelter von der Basilika des heiligen Petrus zu San Giovanni in Laterano, wo ihm die Mitra des Bischofs von Rom überreicht wurde. Kaum hatte die Prozession die Via Lata hinter sich gelassen, wurde Wein verteilt, dazu die üblichen Festspeisen, Feierjubel brach los und hielt mehrere Tage an. Die Mutter des Papstes und heimliche Päpstin hatte sich, wie erwartet, großzügig gezeigt, und in ihren Augen leuchtete kalter Triumph.

Daß bereits ein Bote unterwegs war, dessen Botschaft nur Unglück nach sich ziehen konnte, hatte sie geheimgehalten.

62

Nach Widos Tod und dem Verlust des Kindes war Marozia in bitterer Trauer versunken. Während sie die Inthronisation ihres geliebten ersten Sohnes betrieb, wirkte sie beherrscht, um nicht zu sagen: kalt. Doch umschreiben meine Worte nur unzureichend ihr Inneres, in dem sich eine eisige Verzweiflung auszubreiten schien, die Heil und Heilung suchte in noch größerer Macht und einem nicht zu übertreffenden Triumph.

Den Geheimboten schickte sie ohne meine Kenntnis nach Pavia, zu König Hugo, mit dem Angebot, ihr die Hand zum Ehebund zu reichen. Sie beide könnten auf diese Weise den Schmerz über die verblichenen Ehepartner überwinden – auch der Provencale hatte seine Gattin, Königin Alda, kurz zuvor verloren –, darüber hinaus ein politisches Bündnis schließen: König Hugo werde durch den neugewählten Papst Johannes XI. zum Kaiser gekrönt und garantiere seinerseits ihr, der zukünftigen Kaiserin, die Herrschaft über Rom. Auf diese Weise gestärkt, könnten sie beide danach streben, die italischen Lande zu einen, und endlich wieder ein mächtiges Kaisertum schaffen.

Als ich, zusammen mit Alberico und unserem jungen Papst, von der Geheimbotschaft und Hugos erfreuter Antwort erfuhr, verschlug es mir die Sprache. Marozia wollte den bisherigen politischen Gegner heiraten, den ihr unbekannten Halbbruder ihres erst kurz zuvor verstorbenen Gatten! Ich schaute Alberico und Giovanni an, die nicht minder verdutzt, wenn nicht gar schockiert reagierten.

»Ich bin noch immer nicht offiziell zum Markgrafen von Spoleto ernannt, wie versprochen«, sagte Alberico schließlich stockend zu ihr, voll unterdrücktem Zorn, »und du willst diesen … Provencalen heiraten.«

»Vielleicht ist es ein einäugiger Krüppel«, schob Giovanni ein.

»Oder ein beschränkter Trunkenbold.«

Marozia wischte die Einwände ihrer Söhne beiseite. »Glaubt ihr etwa, der Bruder eures ehemaligen Stiefvaters könnte ein verkrüppelter Trunkenbold sein? Er wurde vom« – sie suchte nach einem passenden Wort – »verstorbenen Papst Johannes X. und einer großen Anhängerschar im Norden zum König gewählt! Nach allem, was ich gehört habe, muß er von wahrhaft königlicher Statur sein. Seine Klugheit und Weitsicht werden gerühmt …«

»Von wem?« warf Alberico ein.

Seine Mutter überhörte seine Frage. »Außerdem denke ich weiter. Schon immer habe ich davon geträumt, Italien unter Roms Führung zu einen. Mittlerweile ist mein ältester Sohn Papst geworden, wir herrschen über Spoleto …«

»Wer ist wir?« – unterbrach sie Alberico erneut, diesmal schärfer im Ton.

»Da Tuszien nicht mehr an einer Allianz mit Rom interessiert zu sein scheint, sehe ich mich ohnehin gezwungen, mir andere Verbündete zu suchen. Wir müssen zudem daran denken, daß jederzeit die Ungarn und die Sarazenen wieder einfallen können. Rom braucht einen starken Arm.«

Giovanni schaute unsicher seinen Bruder an, der seine Fäuste ballte. »Was sagst du dazu?« preßte er hervor, sich an mich wendend.

Da ich erst in diesem Augenblick von Marozia über ihren Plan informiert worden war, spürte ich mein Vertrauen in sie vereisen. Doch im Augenblick galt es, Gefühle beiseite zu schieben.

»Warum gleich eine Heirat?« fragte ich sie.

»Ich muß Kaiserin sein, um die Fürsten Italiens zusammenführen zu können. Dazu brauche ich etwas Festes in der Hand.«

»Bist du sicher, daß Hugos Schwanz wirklich fest ist?« fragte Alberico sie in höhnischem Ton. Giovanni kicherte nervös über diese Bemerkung.

Marozia schoß auf Alberico zu und gab ihm eine so heftige Ohrfeige, daß sein Kopf herumgeschleudert wurde.

Sofort warf ich mich zwischen beide, um weitere Handgreiflichkeiten zu unterbinden. »Bitte!« rief ich. »Mutter und Sohn!«

»Du Schwein!« zischte Marozia ihm zu.

»Du Schlampe!« Alberico trotzte ihr noch immer.

»Schluß jetzt!« Diesmal war ich lauter geworden, und tatsächlich rissen sich die beiden zusammen.

»Es gibt ein Argument, das gegen die Heirat spricht«, erklärte ich, wieder ruhiger, »sogar ein Verbot: Hugo ist Widos Bruder, und somit ist nach kanonischem Recht eine Heirat Inzest und nicht erlaubt.«

Alberico heulte in höhnischem Triumph auf.

»Aglaia hat recht«, sagte Giovanni schüchtern.

»Das laßt mal unsere Sorge sein.« Marozia reckte sich und rauschte aus dem Raum.

Eine Weile wurde nicht mehr über Marozias Plan gesprochen. Ohne ein weiteres Wort mit seiner Mutter auszutauschen, hatte Alberico im Zorn den Palast auf dem Aventin verlassen, um mit den Veteranen und Adelskumpanen auf Eber- und Wolfsjagd zu gehen. Papst Johannes XI., unser Giovanni, war dabei, auf Marozias Geheiß die wichtigsten Pfründe der Kurie neu zu besetzen, insbesondere das Amt des arcarius und saccellarius unserem Crescentius zu übertragen, damit ein sinnvoller Abgleich zwischen den Schätzen der Kirche und den Schätzen unseres Hauses stattfinden könne. Der abwesende Alberico wurde als superista bestätigt, durfte sich Senator nennen und zudem magister militum. Daß Marozia ihm nicht endlich offiziell die Markgrafschaft Spoleto übertragen ließ, kann ich nur auf Hugos beginnenden Einfluß zurückführen. Ich sprach sie damals mehrfach darauf an, wies sie auf die Kränkung ihres Sohnes hin, doch sie blieb störrisch. »Er kommt schon noch zu seinem Titel«, wies sie mich ab. »Aber ich muß zuvor mit König Hugo besprechen, wie er sich die Machtverteilung denkt. Alberico bleibt auf jeden Fall seine wichtige Rolle in Rom.«

Im Herbst 932 reiste Marozia nach Lucca, begleitet von einer rasch zusammengestellten Leibwache, die ein von Hugo geschickter Hauptmann befehligte. Ohne daß ich darüber begeistert war, sollte ich als ihre oberste Beraterin dabeisein. Lucca verband ich mit Martinus, mit der vergebenen Chance des Glücks – Marozia jedoch befand, daß ich gerade wegen des Andenkens an den so tragisch verlorenen Freund mitreisen müsse.

Am tuszischen Hof wollte sie sich mit dem König zum ersten Mal treffen, und zugleich plante man, das Verhältnis zum Halbbruder und ehemaligen Schwager Lambert zu ›klären‹. Hinter meinem Rücken mußte Marozia weitere Botschaften mit König Hugo ausgetauscht haben. Wieweit das, was sich in Lucca abspielen sollte, bereits vorgeplant war, kann ich bis heute nicht sagen.

Wir erreichten Lucca vor König Hugo und wurden von Lambert kühl, aber höflich empfangen. In einem ersten Gespräch mit Marozia stellte er sein Bedürfnis nach Frieden und Wohlstand heraus, nach Einigkeit und Klärung der Interessensphären. Auch betonte er die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe bei zukünftigen Einfällen der Ungarn und Sarazenen. Daß seine ehemalige Schwägerin ihr neues Glück allerdings mit seinem Halbbruder Hugo zu finden beabsichtige, wundere ihn, denn beiden müßte das Inzestverbot der Kirche und damit die Unmöglichkeit einer Ehe bekannt sein.

Marozia erklärte Lamberts Ziele als die ihren. Zum Inzestverbot äußerte sie sich nicht.

Bald darauf erschien König Hugo vor den Toren Luccas, zur großen Verwunderung des brüderlichen Markgrafen mit einer hochgerüsteten Truppe. Die Hundertschaft seiner Leibwache zog mit ihm in die Stadt und in den Palast, in dem es so eng wurde, daß sie lärmend im großen Hof ihre Zelte aufschlug; die restliche Streitmacht lagerte vor Luccas Toren.

Die Begrüßung der beiden Brüder fiel frostig aus. Lambert konnte nur schwer seine tiefgründige Abneigung dem Provencalen gegenüber verbergen. Marozia dagegen, vollendet geschminkt, lächelte in unwiderstehlichem Liebreiz. Sie hatte zugenommen, so daß sie nun wieder jünger und weiblicher wirkte. Ja, sie hatte sich sogar so gegürtet, daß ihre vielversprechenden Formen zur Geltung kamen. Zudem glänzten Goldgehänge, verziert mit Perlen und Edelsteinen, unter den Ohren und auf der Brust, an den Handgelenken klirrten Armbänder, und um die Augen zogen sich schwarze Linien bis über die Schläfen. Schwer wogten süße Düfte; die Haare, allein von einem durchsichtigen Netz überzogen, fielen in Wellen bis auf die Schultern.

Hugo, ein gut fünfzigjähriger, untersetzter Mann mit gelichtetem Haupthaar, buschigen Augenbrauen und großen Ohren, war offensichtlich hingerissen. Er kniete vor ihr, küßte Ring und Hand, und konnte anschließend seinen Blick nicht von ihr abwenden. »So schöne Frauen gibt es in der Provence nicht«, rief er, »obwohl unsere Frauen die schönsten von Burgund und Aquitanien sein sollen, von den austrischen und fränkischen mit ihren Strohhaaren, Sommersprossen und Stupsnasen will ich nicht reden. Hab' ich recht, Lambert, eine solche Frau ist das Geschenk des Himmels?«

Lambert bestätigte seine Worte säuerlich.

Marozia lächelte wie Helena.

Am Abend gab es Wildschweinbraten mit fetten Saucen und wohlschmeckendem Wein. Hugo sprach viel und laut, noch immer über die Schönheit der Frauen. Die lombardischen, so lernten wir, ähnelten den fränkischen, seien aber ansehnlicher und ›griffiger‹: »Blonde Flechten, breite und fruchtbare Hüften und freche Münder.« Die alemannischen Frauen seien dagegen kurzbeinig und ähnelten Schafen. Den Frauen aus Friaul stünde der Mund nicht still, ihnen müßte man immer mal den Hintern versohlen. Am schlimmsten seien aber die Weiber aus Ungarn. »Die reinsten Hündinnengesichter, Ziegeneuter statt Brüste und Ärsche wie Gäule; zudem stinken sie nach Pferdeäpfeln und ranzigem Fett. Wir konnten bei der Abwehr ihrer Beutezüge mal einen ungarischen Troß überfallen und die Frauen mitsamt ihren zahllosen Kindern entführen: Niemand wollte sie anrühren, nicht einmal als Sklavinnen brachten sie viel!«

Als keiner von uns so recht auf sein Gesprächsthema eingehen wollte, fühlte Hugo sich bemüßigt, weiterhin seine profunden Kenntnisse des weiblichen Geschlechts auszuführen. Die Tuszierinnen seien schwer auf einen Nenner zu bringen, viele hätten allerdings weingerötete Gesichter. Die Krone der Schöpfung seien zweifelsohne, wie er jetzt wisse, die Römerinnen, »sinnlich wie Kleopatra, klug ebenfalls wie Kleopatra, nein, wie Theodora, die Byzantinerin, und rein wie die Jungfrau Maria.«

Er lachte über seine Worte und nahm einen großen Schluck Wein.

Nachts wäre er am liebsten zu Marozia ins Bett gestiegen, doch sie wies ihn auf die Reinheit der von ihm bereits zitierten Jungfrau Maria hin, nach der sie bekanntlich genannt worden sei, was zu erneutem Gelächter Anlaß gab. Der Hinweis auf die Hochzeitsnacht erntete ein »So lange kann ein Hengst wie ich nicht warten!«

Am nächsten Morgen sollten die Gespräche über die Heiratsabmachungen beginnen und über die Rolle Tusziens bei der Einheit Italiens. König Hugo betonte, bewußt hätten sie Lucca als Ort ihrer Gespräche und Lambert als neutralen Zeugen und etwaigen Vermittler gewählt.

Lambert verhielt sich weiterhin frostig. Er frage sie erneut, wie sein Halbbruder und seine ehemalige Schwägerin heiraten wollten, wo sie doch die Genehmigung des Heiligen Stuhls nicht erhalten könnten.

»Papperlapapp«, rief Hugo, und Marozia wies darauf hin, daß der augenblickliche Papst Johannes XI. ihr Sohn sei.

»Das ändert noch lange nicht die kanonischen Gesetze.«

»Außerdem bist du gar nicht mein Bruder«, brach es unerwartet, jedoch kaum spontan aus König Hugo.

Lambert zog verächtlich die Brauen hoch: »Du hast recht, ich bin wie Wido dein Halbbruder. Wir haben dieselbe Mutter.«

»Du bist nicht einmal mein Halbbruder.«

Lambert starrte Hugo mit offenem Mund an; ich war ebenfalls erstaunt, warf sofort einen Blick auf Marozia, die eine solche Wendung bereits erwartet hatte.

»Ich bin nicht dein Halbbruder? Wir haben keine gemeinsame Mutter?«

»Nein.« Hugo genoß die hilflose Verwunderung seines Bruders.

Ich hörte nur zu und beobachtete die drei.

»Ich gehe davon aus, daß es dir meine liebe Frau Mutter nicht auf die Nase gebunden hat: Aber sie war nicht nur eine illegitime Tochter des Königs von Lotharingien, ihre tuszischen Söhne sind ebenfalls illegitim, von einer Sklavin geboren, von meiner Mutter als eigene ausgegeben und eurem Vater untergeschoben.«

Lambert sprang auf. »Und das sagst du mir in meinem Palast, in meiner Hauptstadt, in meinem Land, du provencalischer Skorpion? Du erklärst meinen Vater zum Dummkopf, verleumdest unsere Mutter und beleidigst mich? Dafür müßtest du auf der Stelle sterben.«

Im Gegensatz zu Lambert, der keine Waffe trug, zückte Hugo ohne zu zögern einen versteckten Langdolch. »Ein Ruf von mir, und meine Leibwachen im Hof räumen deine Leute beiseite und hacken dich in Stücke. Und mein Heer vor der Stadt läßt keinen Stein von deinem Lucca mehr auf dem anderen. Ich habe deine unbesonnene Reaktion in Rechnung gestellt, lieber Beinahe-Bruder. Reg dich nicht weiter auf, dein Vater war durchaus ein geiler Esel, doch deine Mutter leider nicht mehr mit Fruchtbarkeit gesegnet, das soll vorkommen; dafür hatte sie ein weites Herz, das muß man anerkennen, nahm sogar Sklavenkinder als eigene an. Daraus folgt allerdings, daß du weder der legitime Erbe deines Vaters noch der legitime Herrscher Tusziens bist.«

Er fand seine Aussage, nach dem dröhnenden Lachen und dem triumphierenden Blitzen seiner Augen zu schließen, witzig und gelungen, beobachtete jedoch zugleich Lambert scharf aus seinen Augenwinkeln. In seiner tollkühnen Frechheit wagte er einen hohen Einsatz.

Lambert, sprachlos, rang nach Luft.

Nun griff, als hätte sie sich mit Hugo abgesprochen, Marozia ein. Versöhnlich flötete sie: »Es geht doch nur um das kanonische Recht, liebster ehemaliger Schwager, und um die Wahrheit, die einmal ausgesprochen werden muß. Darüber hinaus wollen wir dauerhaften Frieden mit dir; niemand plant, dir die Herrschaft über Tuszien streitig zu machen, wir wünschen gute Nachbarschaft, florierenden Handel.«

»Aus diesem Grunde verschenkst du auch tuszische Domänen an deine römischen Handlanger?« stieß Lambert stockend aus. Er hatte sich ablenken lassen.

»Es ist das Recht der heiligen Mutter Kirche, Güter aus dem Patrimonium Petri an ihre Würdenträger zu vergeben …«

»Sie stehen auf tuszischem Gebiet …«

»Außerdem mußt du dich mit deiner Beschwerde an den Heiligen Vater wenden, er ist dafür zuständig.«

Lambert lachte gepreßt, aber langsam fing er sich wieder, und seine Wut über Hugos geplante Überrumpelung steigerte sich. Er schaute aus dem Fenster auf den Hof, in dem Hugos Männer waffenstarrend lagerten. Vermutlich begriff er jetzt, daß er sich leichtgläubig und strohdumm verhalten hatte. Zitternd wandte er sich wieder dem König zu, der in eisiger Ruhe abwartete. »Du hast die Ehre meines Vater und meiner Mutter beleidigt, Hugo von Arles, und meine dazu. Wir werden diesen Fall vor ein Gottesgericht bringen. Ich fordere dich heraus: Noch heute nachmittag soll das Schwert entscheiden, ob du mein Halbbruder bist oder nicht.«

Hugos Ruhe wirkte nun ein wenig verkrampfter. »Am Ende dieser Entscheidung wirst du weder mein Bruder noch der Markgraf von Tuszien sein, Bastard, sondern tot. Überlege dir gut, was du verlangst.«

»Sieh doch«, mischte sich Marozia erneut abwiegelnd in den Streit, »es geht letztlich nur darum, wie wir das kanonische Recht umgehen. Deine Eltern sind längst bei den Engeln, können also nicht mehr beleidigt werden, und besonders enge brüderliche Bande haben dich und Hugo nie verbunden.«

»Du bist eine unglaubliche Schlange!« zischte Lambert ihr zu. »Ich habe Wido immer davon abgeraten, dich zu heiraten. Aber er ließ sich von deinen Hexenkünsten einfangen. Ohne dich würde er noch leben.«

»Paß auf, was du sagst«, fuhr ihn Hugo an, »sonst steche ich dich in deinem eigenen Palast ab.«

»Das wollen wir sehen.« Lambert griff nach einem Hocker und rief: »Wache!«

Einige seiner Leibwächter kamen hereingestürzt, aber man hörte auch Rufe und Klirren vom Hof herauf, dann sogar sich kreuzende Klingen und Rangeleien.

Hugo hob abwehrend die Hand: »Also gut, Lambert, heute nachmittag stellt ein Schwertkampf vor versammelter Mannschaft und dem unbestechlichen Richter im Himmel fest, wer recht hat.«

»Die Bischöfe von Lucca und Pisa werden anwesend sein und dem Heiligen Vater von dem Gottesurteil berichten.«

63

Die Sonne stand bereits tief hinter den Mauern des Palasts, als König Hugo und Markgraf Lambert einander gegenübertraten, als einzige Waffe das Schwert in der Hand, ohne Schild, Helm, Brustpanzer und sonstigen Schutz. Hinter den beiden Kontrahenten drängten sich ihre Männer: Auf der einen Seite Hugos Hundertschaft, auf der anderen die Palastwache, verstärkt durch Milizen aus der Stadt.

Für den Kampf war ein Viereck im Innenhof abgesteckt. Die beiden Bischöfe saßen, umgeben von weiteren kirchlichen Würdenträgern und von Lamberts Beichtvater, auf Scherensesseln am Rande des Platzes, in dem sich das Gottesurteil vollziehen sollte. In ihrer Nähe standen einige Ärzte.

Beide Kontrahenten schworen auf das Evangelium der Apostel, das Urteil zu respektieren.

Marozia hatte man einen hölzernen Lehnstuhl gebracht und ihn mit einem Kissen bedeckt. Ich stand hinter ihr. Lieber wäre mir gewesen, wir hätten uns neben dem Bischof von Lucca niedergelassen, aber Marozia bestand darauf, bei den Männern ihres zukünftigen Gemahls zu sitzen.

Im Hof herrschte ein schattiges Spätnachmittagslicht. Keiner der Gegner brauchte also gegen die Sonne zu kämpfen. Über uns flatterten Tauben und ließen sich auf Fensterbänken und dem Dachgesims nieder. Als plötzlich ein starker Habicht niederstieß und sich eine Taube krallte, hielten dies sicher viele für ein Omen. Während ich über die Deutungsmöglichkeiten nachdachte, schwang sich der Raubvogel mit seiner Beute in die Lüfte, um sie an einer geschützten Stelle zu rupfen. In diesem Augenblick schoß ein Schmutzgeier herbei, um dem Habicht seine Beute abzujagen. Und tatsächlich, um sich gegen den Geier zu wehren, ließ der Habicht die Taube los, die mitten in den abgesteckten Kampfplatz fiel. Eine einzelne Feder segelte langsam auf Marozias Schoß. Die Männer sprachen alle durcheinander, weil der Allmächtige sich unübersehbar geäußert hatte, indem er uns den Friedensvogel tot vor die Füße warf.

Der Bischof von Lucca sprang auf. »Der Herr ist zornig!« rief er. »ER kündigt den Gottesfrieden auf. Ihr müßt IHN versöhnen, ohne zu kämpfen.«

König Hugo lachte nur und zischte etwas durch die Zähne.

Lambert dagegen schaute kurz in den Himmel, hob die Taube auf und legte sie vorsichtig zur Seite. Ernst schaute er den Bischof an und schüttelte den Kopf. Dann bekreuzigte er sich.

Er war der Jüngere der beiden Kontrahenten, der Schlankere, vermutlich der Schwächere. Doch was mich noch mehr beunruhigte, war die Erschütterung, der lähmende Zweifel, den Hugos Behauptung ihm zugefügt hatte. Der König dagegen wähnte sich siegessicher.

»Hugo hätte das nicht behaupten dürfen«, flüsterte ich. Ich hatte mit mir selber gesprochen, doch Marozia hatte mich verstanden und drehte sich mir zu, schaute mir in die Augen.

Noch heute sehe ich diesen Blick. Er bohrte sich in mich hinein wie mit einem vergifteten Pfeil, und ich erschrak über ihn mehr als über die tote Taube.

»Der Fluch der Lüge wird über euch kommen«, sagte ich leise.

Ein innerer Zwang ließ mich diese Worte äußern. Marozias so aggressiver, so bösartiger Blick schien in sich zusammenzufallen, als erfasse sie eine jähe Einsicht. Ihr Kopf zuckte zurück, und ihre Hand fuhr nervös über ihr Gesicht.

»Vielleicht hast du recht«, flüsterte sie ebenso leise wie ich. »Aber jetzt ist es zu spät.«

Die beiden Männer traten an den Rand des Feldes und zogen ihre Schwerter. Lambert stürzte vor, Hugo parierte, sprang zur Seite und holte zum Gegenschlag aus. Sie kämpften nicht mit Langschwertern oder gar Beidhändern, sondern mit kurzen Klingen, wie sie die römischen Legionäre benutzt hatten. Um so schneller konnten die beiden ausholen, abwehren und zustoßen. Sie tanzten umeinander, die Klingen klirrten und blitzten. Die Männer um uns zuckten am ganzen Leib, weil ihre Glieder und Körper mitzukämpfen schienen. Sie feuerten ihre Herrscher an, riefen ihnen Befehle zu, schoben sich vor, so daß sie bald einen Kreis bildeten, der sich immer enger zusammenzog.

Die beiden Bischöfe erhoben sich, auch Marozia sprang auf.

Hugo suchte die Entscheidung durch einen erbarmungslosen Angriff, während Lambert ihm auswich, ihn umrundete, die größere Schnelligkeit auszuspielen versuchte. Er schrie plötzlich schmerzverzerrt auf, als sei er getroffen, ging in die Knie und ließ sich nach hinten fallen. Weil er sich seines Sieges sicher war, schrie Hugo ebenfalls, triumphierend. Der Bischof hob die Hand, um den Kampf zu beenden. Hugo achtete jedoch nicht auf ihn und wollte Lambert mit seinem Schwert in den Boden nageln, begriff zu spät, daß sein Bruder genau dies hatte provozieren wollen. Blitzschnell rollte Lambert zur Seite, und Hugos Klinge steckte im Erdreich. Wie ein gespannter Bogen schnellte Lamberts Körper über den Boden, seine Beine säbelten Hugo regelrecht um, der hilflos im Dreck landete. Lambert sprang auf, stieß Hugos-Schwert zur Seite und hielt die Spitze seines eigenen direkt über den Nacken des Besiegten.

Ohrenbetäubender Jubel auf der Seite der Tuszier. Wutgeschrei auf der anderen Seite.

König Hugo gab auf. Die beiden Bischöfe schritten in den Kampfplatz und nahmen die Schwerter an sich. Lambert wurde von seinen Männern gepackt und in die Luft geworfen, während die Bischöfe versuchten, sich Gehör zu verschaffen.

Schließlich gelang es ihnen, feierlich zu verkünden, daß der gerechte Gott gesprochen und eindeutig und ohne Zweifel festgestellt habe, daß Markgraf Lambert von Tuszien und König Hugo Brüder seien, Söhne einer einzigen Mutter, der Bertha, Tochter des Königs von Lotharingien. Als der Bischof die beiden Kämpfer, die nur leichte Verletzungen davongetragen hatten, aufforderte, sich die Hände zu reichen und sie gemeinsam auf die Bibel zu legen, weigerte sich Hugo.

»Es war kein fairer Kampf«, erklärte er keuchend, während ihm ein Arzt einen Schnitt am Oberarm verband. »Wie auch nicht anders zu erwarten war von einem Sklavenbastard.«

Lambert, der eine leicht blutende Wunde an der Brust davongetragen hatte, schüttelte verächtlich den Kopf: »Mein Bruder Hugo ist ein schlechter Verlierer. Zum Glück gibt es genügend Zeugen für das Gottesurteil, und alle werden es in die Welt hinausposaunen. Du hast verloren, Sohn meiner Mutter.« Er legte allein seine Hand auf die Bibel und hörte sich mit gesenktem Kopf das feierlich beschworene Urteil des Bischofs an.

Hugo schien sich nun eines Besseren zu besinnen. Mit grinsend verzogenem Mund streckte er Lambert seine Hand entgegen und wiederholte: »Ich habe verloren, du hast recht. Wir sind Brüder, bis daß der Tod uns scheide. Und heute abend saufen wir uns voll.«

Lambert zögerte, als müsse er nachdenken, was er von Hugos Worten halten solle, dann nickte er.

Ich suchte Marozias Blick. Sie wich mir jedoch aus. Ihr Antlitz war totenbleich und starr, als sähe sie alle Pläne und Hoffnungen im Nimmermehr verschwinden.

An der abendlichen Feier wollte Marozia nicht teilnehmen. Ich hörte sie im Nebenraum mit Hugo diskutieren. Sie habe an männlichen Besäufnissen noch nie Freude gefunden, das sei bereits bei Alberich so gewesen, der sich auch gern betrunken habe. Hunger verspüre sie nach diesem Tag ebenfalls nicht, sie sei einfach müde. »Und außerdem bist du ja mit deinem Plan nicht durchgedrungen, hast dich von Lambert besiegen lassen. Was gibt es da zu feiern?«

»Warte nur ab! Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Ich hörte Kußgeräusche, dann wieder Marozias Stimme. »Laß mich. In diesem Haus schon gar nicht.«

Hugo knurrte unzufrieden. »Du mußt dabeisein«, sagte er nach einer Weile.

In der Tat ließ sich Marozia überreden, und auch ich, die ich ebenfalls keinen Hunger verspürte, mußte mich ihnen anschließen. Lambert erschien mit dem Bischof, seinem Beichtvater, dem engsten Berater, seinem Truchseß, Marschall und einigen weiteren Männern des Hofs. Keine einzige Frau war dabei, nicht einmal eine Konkubine.

Hugo wurde begleitet von seinem engsten Beraterstab und einer ganzen Reihe von Hauptleuten, die gar nicht alle am Tisch Platz fanden. So blieben sie an der Wand stehen, schauten uns zu, was Lambert, aber auch mich, zunehmend nervös machte.

»Sie sollen sich im Hof eine Tafel aufstellen lassen. Fleisch und Wein sind genügend da«, sagte er zu Hugo, indem er mit dem Kopf auf die Männer wies.

»Dies wäre eine Beleidigung für sie«, war die knappe Antwort. »Laß sie einfach da stehen. Wenn wir besoffen unter dem Tisch liegen, können sie sich ja bedienen. Prost, Bruder!«

Beide nippten nur.

Marozia sagte mehrmals ja oder nein und darüber hinaus nicht viel.

Ich schwieg überhaupt. Der Truchseß neben mir berichtete über die Ergebnisse der diesjährigen Jagdsaison, die nicht genug Hirsche gebracht habe. Nur mit dem erlegten Schwarzwild seien sie zufrieden.

Aus diesem Grund gab es zum zweiten Mal Wildschweinbraten, diesmal von einer alten Eberschwarte, zäh und stinkend. Der Wein war dagegen gut.

Auch unter den Brüdern kam kein Gespräch auf. Schließlich berichtete Hugo von seiner Tochter Alda, die er nach seiner verstorbenen Mutter genannt habe. Sie beginne, zu einer Frau zu werden – er machte bezeichnende Gesten –, in vier Jahren sei sie im heiratsfähigen Alter. Er sah Lambert auffordernd an, als solle dieser seine Tochter heiraten.

Genauso hatte es Lambert verstanden und sagte knapp: »Ich glaube nicht, daß ich meine Nichte heiraten werde, obschon ich nicht daran zweifele, daß sie ein hübsches Mädchen ist.«

Leise, aber so drohend, daß alle aufhorchten, antwortete der König: »Du beleidigst mich, Bruderherz.«

»Ich beleidige niemanden«, war die knappe Antwort.

»Vielleicht ist deine Alda etwas für meinen Alberico«, mischte sich Marozia ein, um die vor sich hingrummelnde Mißstimmung im Keim zu ersticken. »Wäre das nicht wunderschön, Hugo? Die Kinder machen es nach ein paar Jahren wie ihre Eltern.«

»Die Eltern können es nicht machen«, warf Lambert ein, nicht ohne einen Hauch von Hohn, und weil er offenkundig der Meinung war, er müsse eine witzige Spitze daraufsetzen, fügte er an: »Sie können es höchstens treiben.«

Zuerst reagierte König Hugo überhaupt nicht. Er starrte vor sich, legte dann sein Messer neben die Wildschweinshaxe und schob seinen Schemel ein Stück zurück.

»Er hat mich beleidigt«, sagte er, ohne jemanden anzuschauen. Wie auf Befehl, kam von seinen Leuten das Echo: »Er hat ihn beleidigt!« Einmal, zweimal, mehrfach und immer lauter. Sie brüllten es schließlich aus dem Fenster in den Hof, und als hätten sie einen Befehl ausgegeben, hörte man von unten vielstimmiges Brüllen und Waffenlärm.

Eh wir uns versahen, packten Hugos Männer, die keinen Platz mehr gefunden hatten, Marozia und mich, schoben uns zur Wand, rissen den Bischof und die Priester von der Sitzbank und stießen sie beiseite. Mit gezückten Waffen stürzten sie sich auf Lambert und seine Männer, von denen ebenfalls einige Waffen trugen. Der Tisch stürzte um, das erste Blut spritzte auf uns, ein Mann wand sich bereits am Boden und röchelte, einem anderen hing der Arm ausgerenkt aus dem Gelenk.

Lambert war unbewaffnet. Oder es war ihm die Waffe aus der Hand geschlagen worden. Ich konnte in dem Kampfgewühle kaum etwas erkennen und mich in dem Geschrei auch nicht mit Marozia verständigen. Draußen im Hof und auf den Gängen schienen Hugos Männer mit Lamberts Leibwachen zu fechten. Obwohl noch ein paar tuszische Soldaten in den großen Saal gestürmt kamen, blieben Hugos Männer nicht nur zahlenmäßig, sondern vor allem kämpferisch überlegen. Der König hatte offensichtlich seine stärksten und erfahrensten Soldaten hinter sich gestellt.

Mehrere Tuszier wurden niedergestochen, unter ihnen der dicke Truchseß, der neben mir gesessen hatte. Hugo stand an der Wand und schrie: »Packt ihn!« Ich erhielt mehrere Stöße, die mich straucheln ließen. Als ich mich wieder aufraffte, sah ich eine ganze Gruppe von Männern jemanden niederhalten, der niemand anders als Lambert sein konnte. Ich drohte das Bewußtsein zu verlieren, weil ich nicht nur Pietros Tod in der Lateranbasilika vor mir sah, sondern auch die Horde Sarazenen, die meine Mutter niedergedrückt hatten, bevor sie sich an ihr vergingen.

Ich riß mich in die Gegenwart zurück und erhaschte einen Blick: Mehrere Männer knieten auf Lamberts Beinen, andere auf seinen Armen; ein von Narben Entstellter hatte den Kopf an den Haaren auf den Boden gerissen und versuchte ihn dort zu halten. Ein vierschrötiger Mann mit dem Rücken eines Ochsen hockte rittlings auf Lamberts Bauch, und eine spitze Klinge blitzte auf.

Vor Entsetzen schloß ich die Augen.

Ein Schrei, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gehört hatte.

Als Antwort ein verschlingendes Männergebrüll.

Dann ein zweiter Schrei, erneut aus allen Tiefen der Hölle, und wieder das brüllende Echo, das abbrach, wie verschluckt. Von draußen klang der Kampflärm herein, ich wagte die Augen zu öffnen.

Lambert lag auf dem Rücken, die Hände auf beide Augen gepreßt. Blut sickerte unter ihnen hervor. Hugos Männer erhoben sich. Als Hugo selbst eher verächtlich als fest nach Lambert trat, schrie dieser erneut so durchdringend, daß Marozia sich übergeben mußte. Sein Körper bäumte sich auf, noch immer preßte er die Hände auf die Augen.

»Sic transit gloria fratris«, stieß Hugo verächtlich aus. »So wird es jedem gehen, der sich mir in den Weg stellt.«

64

Eine zweite schlaflose Nacht scheint mich zu erwarten. Mein Herz schlägt laut und vernehmlich, das Bild des geblendeten Lambert steht mir vor Augen, als wäre es gestern geschehen. Draußen umfängt uns erneut eine linde Nacht voll geheimnisvoller Geräusche. Es ist, als wisperten Dämonen und Engel miteinander.

Oder kämpfen sie einen leisen, verbissenen Kampf?

Vom großen Hafen unten am Tiber hört man Männerrufe und blökende Rinder. Soll um diese Zeit noch ein Schiff entladen werden? Müssen in tiefster Nacht bereits die Tiere ihren letzten Weg zur Schlachtbank antreten?

Morgen früh wird sich unsere Zukunft entschieden haben: Ich bleibe bei meiner Mariuccia. Lieber will ich in Treue sterben als in schamvoller Erinnerung und mit gebrochenem Herzen dahinvegetieren, selbst wenn es im byzantinischen Luxus sein sollte. Nach so vielen Jahren Sehnsucht nach Heimat und Kindheit verspüre ich in dieser Nacht sogar Angst vor der Rückkehr. Stehen der Granatapfel- und der Feigenbaum noch, erfüllen die Goldorangen und Limonen unsere alte Loggia mit ihrem zarten Duft? Ich sehe mich dort sitzen, von vier Enkeln umsprungen. Meine Schwiegertochter Olympias ruht, erneut schwanger, neben mir. Nachdem sie so lange ihren geliebten Gemahl hat entbehren müssen, verschlingt sie ihn nächtelang in glücklicher Vereinigung, in der Erkenntnis einer ungebrochenen Liebe, die keinen Verlust kennt, die nie vor die Entscheidung zwischen Pflicht und Neigung gestellt wurde und auch nicht weiß, wie es ist, wenn der Körper sich in Ekel und Widerwillen abwendet, obwohl man liebt.

Zugleich schreckt mich mehr denn je die Aussicht auf die endlose Nacht des Kerkers.

Wird Alberico mich wirklich zurückschicken? Will er seine Mutter dem unausweichlichen Tod preisgeben? Eins weiß ich sicher: Stirbt der letzte Funken Hoffnung, stirbt auch Marozias Lebenswille. Ich werde ihr wie eine treue Sklavin ins Grab folgen und dort endlich in aponia und ataraxia meine Eltern wiedersehen, auch Euthymides, der mit Epikur diskutiert, ob Leib und Seele in Atome zerfallen und sich im unendlichen Kosmos verlieren oder ob sie sich neu gruppieren zu Lichtgestalten ewigen Glücks.

Im Park tauschen Käuzchen Fragen und Antworten aus. Der Nachhall von Lamberts Schrei ist noch immer nicht verklungen. Marozia hängt in meinen Armen, weil sie nicht aufhören kann, sich zu übergeben. »Ich will nach Rom zurück«, stößt sie zwischen zwei Konvulsionen aus.

Wir hören Kampfeslärm und trunkenes Männergeschrei. Über die Dächer von Lucca treibt rötlicher Rauch. König Hugo kommt in unser Gemach und ruft uns zu: »Mein Heer hat die Tore aufgebrochen und besetzt die Stadt. Das hat er nun von seinem Gottesurteil, der Narr.«

Nein, ich werde diese Nacht nicht mehr schlafen können, und so führe ich die Feder, um Marozias Geschichte, bevor der Morgen graut, bis an ihr bitteres Ende zu erzählen.

Zuvor muß ich von König Hugo sprechen, dessen Truppen sich ohne nennenswerte Gegenwehr der Stadt bemächtigten. Ohne weiteres Blutvergießen vollzog sich auch der Machtwechsel in Tuszien: Lambert überlebte zwar, ihm ging es jedoch wie Kaiser Ludwig und anderen Herrschern in unserer grausamen Zeit: Er konnte lediglich sein Schicksal beklagen und mit dem so fernen, gleichgültigen Gott hadern. Als Markgraf setzte ihn Hugo kurzerhand ab und ernannte wie zum Hohn Boso, seinen Bruder vom Vater her, zum Herrscher von Tuszien.

Boso mußte allerdings erst aus der Provence gerufen werden, und so ließ König Hugo eine Besatzung in Lucca und anderen Städten Tusziens, zog noch einmal nach Pavia, um sich dort der Treue der lombardischen Grafen, Herzöge und Bischöfe zu vergewissern. Zudem mußte er Soldaten ausheben und trainieren, um sein Heer zu vergrößern, das mit ihm im Triumph nach Rom marschieren sollte. Dort beabsichtigte er, wie von Marozia vorgeschlagen, die Herrin der Stadt zu ehelichen und sich zum Kaiser krönen zu lassen.

Eine Weile hatte ich geglaubt, nach Hugos grausamem Überfall auf Lambert würde Marozia sich von dem König abwenden, doch nach einigen Tagen siegte in ihr, wie sie mir erläuterte, die Vernunft. Das Ziel, Italien zu einen, lag in greifbarer Nähe, Kaiserin zu werden, ebenfalls. Hugo gierte stärker denn je nach ihrem Körper, den sie ihm jedoch vorerst verwehrte, was nicht einfach war, denn er neigte, wie wir alle unmißverständlich erfahren hatten, zur Gewalt.

Marozia schwankte zwischen Abscheu vor diesem Mann und einer befremdlichen Faszination. Auch ihr Körper schwankte zwischen Widerwillen und Verlangen. Während einer Nacht in Lucca hätte Hugo um ein Haar sein Ziel erreicht, nachdem sie ihn nicht rechtzeitig in seine Schranken gewiesen hatte. Sein Luststachel, so berichtete sie mir kurz darauf, habe ihn nach Küssen und Liebkosungen derart vorangepeitscht, daß nur ihr heftiges und anhaltendes Erbrechen ihn habe davon abhalten können, sie mit Gewalt zu nehmen.

Bevor Hugo nach Pavia aufbrach, reisten wir nach Rom ab. Hochzeit und Krönung waren für Weihnachten des Jahres 932 festgelegt. Bis dahin mußte Marozia von ihrem Papstsohn eine Dispens für die Heirat einholen. Außerdem sollten Gesandtschaften in jede Region Italiens geschickt werden, darüber hinaus zum byzantinischen Kaiser, dem ost- wie westfränkischen König: Alle wurden eingeladen, einer Kaiserkrönung beizuwohnen, die ein neues Zeitalter, so schwärmte Hugo, einleiten werde.

Auf dem Weg nach Rom schlug ich Marozia vor, sie möge der Gesandtschaft nach Konstantinopel einen weiteren Auftrag mit auf den Weg geben: den Vorschlag nämlich, Berta, ihre jüngste Tochter, mit dem Kaisersohn Stephanos Lekapenos zu verheiraten, um die Bande zwischen Rom und Byzanz zu festigen. Marozia war sich eine Weile unsicher, ob die junge Berta dieser Aufgabe gewachsen sei. »Außerdem ist sie zu dürr. Du weißt doch, daß Männer Rundungen lieben. Nein, du weißt es nicht, aber ich sage es dir: Wenn sie schwellende Formen sehen, dann schwillt auch ihr … Kamm.«

»Dann müssen wir Berta eben ein wenig füttern«, sagte ich kühl.

Marozia nickte und fand unversehens meinen Vorschlag großartig. Rom und Byzanz auf gleicher Augenhöhe – dies war tatsächliche eine einzigartige Aussicht.

Ich selbst hatte dabei, ich muß es gestehen, einen Hintergedanken. Die wenngleich geringe Hoffnung, meinen Sohn auf diese Weise wiederzusehen, trieb mich. Daß er sogar die byzantinische Gesandtschaft begleiten könnte, wagte ich mir gar nicht vorzustellen, zu unwahrscheinlich war es. Ich hätte indes Berta nach Konstantinopel begleiten können, um sie in ihre neue Heimat einzuführen. In Rom wie in Byzanz wäre ich dann die Vertraute einer Kaiserin gewesen – für eine Sklavin ein Aufstieg, der einem gerechteren Gott zur Ehre gereicht hätte.

Nun ist es anders gekommen. Ich hatte Marozia Hybris vorgeworfen, als sie plante, mit Hilfe einer dritten Ehe Kaiserin zu werden. Hätte ich mir nicht auch selbst Hybris vorwerfen müssen? Ich wußte von Euthymides, daß die griechischen Götter alle Verfehlungen verzeihen konnten, nur eine Verfehlung gnadenlos straften: Wenn die Sterblichen sie in überheblichem Größenwahn herausforderten. Tantalos, Sisyphos und Prometheus waren Zeugen und abschreckende Beispiele.

Nun würde es mir wie ihnen ergehen.

65

Bevor König Hugo mit seinem Heer im Spätherbst 932 vor Rom erschien, hatte Marozia Hochzeit wie Kaiserkrönung vorbereitet. Bedauerlicherweise hatten nur wenige Fürsten und Könige ihr Kommen angekündigt, nicht einmal eine große Anzahl von Erzbischöfen und kirchlichen Würdenträgern wollte erscheinen. Zu sehr roch die Heirat nach Inzest, und zu anrüchig war überdies, daß der junge Papst Johannes XI. den Stuhl Petri allein durch Marozias Gnaden erklommen hatte. Daß dieser Nachfolger des heiligen Petrus zudem der illegitime Sproß eines anderen Papstes war, erhöhte weder sein Ansehen noch das Ansehen seiner Mutter, die zudem ihre dritte Ehe eingehen wollte – was ihren fragwürdigen Ruf bei den Kirchenfürsten verfestigte. Auch hatte König Hugos brutales Vorgehen gegen Lambert ihm keine Freunde geschaffen, höchstens die Angst vor ihm geschürt.

Und nun sollte die Hochzeitsfeier sogar in einer Gruft stattfinden!

Ja, im Grabmal des altrömischen Kaisers Hadrian, dessen Porphyrsarg noch immer im Zentrum der gewaltigen Mauerringe vor sich hin dämmerte. Unter dem gezückten Schwert von Erzengel Michael, der einst Luzifer in die Hölle gestürzt hatte und dessen Aufgabe es war, den Antichristen zu vernichten.

Ich empfand es von Anfang an als eine vermessene Herausforderung der göttlichen Ordnung, daß das Paar seine Vermählung in der Engelsburg ausrichten ließ, ja, sogar die eheliche Vereinigung in der Nachbarschaft des Sarkophags von Kaiser Hadrian zu begehen beabsichtigte. War dies nicht Grabschändung? Bedeutete dies nicht eine abartige Lust an kühler, düsterer Todesnähe? Und forderte die Vereinigung nicht das Eingreifen des schwertschwingenden Erzengels geradezu heraus?

Marozia begründete ihren Entschluß mit Hugos Sicherheitsbedenken. Der König sei sich der Zuneigung des römischen Adels und Volks nicht sicher, erklärte sie, nur das ehemalige Grabmal eines Kaisers und die jetzige Burg der Päpste mit ihren unüberwindbaren Mauern verschaffe ihm in seinen Augen ausreichend Schutz. Es sei ihr nicht gelungen, ihn davon zu überzeugen, daß Rom hinter ihr stehe und seine Befürchtungen unbegründet seien.

König Hugo überspielte bei seinem ersten Auftreten auf den Straßen und Plätzen der Stadt seine Angst vor dem römischen Volk mit der Überheblichkeit eines Emporkömmlings, der keine Grenzen seines Aufstiegs mehr sieht, zugleich aber eine untergründige Angst verspürt, er könnte jederzeit stürzen. Er ließ sich von ein paar Dutzend klirrend bewaffneten Soldaten und einer schmetternden Posaunenschar begleiten, hob nach altrömischem Brauch grüßend den Arm, doch niemand jubelte. Sein Heer hatte er auf eindringliches Anraten Marozias vor den Toren der Stadt gelassen, was seine Unsicherheit verstärkte.

Die Begrüßungsmesse wurde, von Papst Johannes XI., unserem Sohn, geleitet, in der Basilika des heiligen Petrus zelebriert. Giovanni stand mit krummem Rücken neben und vor dem Altar, überließ aber Benedictus, dem Kardinal von Sancta Maria Maiora, einen Großteil der Zeremonie. Marozia thronte wie eine Göttin unter einer kronenartigen Kopfbedeckung aus byzantinischer Seide, bestickt mit Perlen und Edelsteinen, auf einem ausgepolsterten Holzsessel, Hugo neben ihr drohte einzuschlafen, bis der wabernde Weihrauch ihm heftige Hustenanfälle verursachte. Schief lächelte er Marozia zu, die zurücklächelte.

Ich konnte diesen Austausch genau beobachten. Es erstaunte mich, mit welch überzeugendem Liebreiz meine Mariuccia sogar in diesem Augenblick lächeln konnte, trotz all des Vorgefallenen, trotz der unübersehbaren Schminke, die sie ihrer Mutter und der ägyptischen Kleopatra ähneln ließ. Noch in diesem Augenblick, zu Beginn ihrer dritten Ehe, in ihrem 43. Lebensjahr, strahlte sie die Unschuld eines Tieres aus, ja, sie bewegte sich sogar wieder mit der Anmut eines Tieres. In ihrem Leben war sie eine Löwin und eine Gazelle gewesen, eine Stute und eine Katze; in meinen Augen blieb sie letztlich immer eine Sphinx: rätselhaft, schön und im Bündnis mit dem Tod.

Alberico hatte sich während der Messe im Gefolge mehr versteckt als eingereiht, während Berta neben ihrer Tante Theodora und den drei Grazien Platz genommen hatte. Bei dem nachfolgenden Begrüßungsmahl in der Engelsburg saß Marozia, eingerahmt von Papstsohn und König, an einem Tisch, der sogar im Kaiserpalast von Konstantinopel hätte bestehen können. Goldgefaßte Krüge und Silberteller glänzten, Glaskelche zierten die mit Blumenmustern bestickte Decke. Ich hatte Marozia darauf hingewiesen, daß im byzantinischen Herrscherhaus bei besonderen Anlässen zweizinkige Gabeln verwendet würden, nicht allein zum Zerlegen des Fleisches, sondern zum Aufpicken der süßen, klebrigen Nachspeisen. Aber sie winkte ab: Mit einem Strafwerkzeug des Teufels zu essen bedeute eine Beleidigung des Herrn und eine Sünde. »Weißt du griechische Heidin das nicht?« Sie lachte in freundlichem Spott und gab mir einen Kuß, was sie seit langen nicht mehr getan hatte.

Sollte sie, so fragte ich mich, trotz der vernunftgesteuerten Eheanbahnung und Hugos kaltblütig-brutalem Verhalten, doch noch ihr Glück finden?

Das Begrüßungsmahl wurde mit Pomp, eingelegten Wachteleiern und Wildschweinbraten abgehalten, der Wein floß in blutigroten Strömen die Kehlen hinunter, auch die Kehlen des römischen Adels, der aus seinen Reihen einige Vertreter geschickt hatte. Hugo sprach allerdings kaum mit ihnen, sprach überhaupt wenig. Auch unser junger Papst aß meist stumm vor sich hin. Marozia dagegen lachte viel und häufig ohne Anlaß.

Albericos Platz blieb leer.

Ich wunderte mich über diese grobe Geste der Mutter und dem neuen Stiefvater gegenüber. Aber ich verstand Albericos Unwillen. Trotz aller Versprechungen hatte ihm Marozia bisher die Herrschaft über Spoleto nicht übertragen lassen, und es sah nicht danach aus, als würde der König und baldige Kaiser dies in absehbarer Zeit tun.

Hinzu kam ein anderer Grund, den ich erst nach dem Mahl erfuhr: König Hugo hatte von seinem Stiefsohn gefordert, ihn bei den Zeremonien wie ein Page, um nicht zu sagen, wie ein Sklave zu bedienen. Alberico blieb nicht nur dem Begrüßungsmahl fern, sondern auch der eigentlichen Hochzeitszeremonie, die im kleineren Rahmen in der Basilika des heiligen Petrus stattfand. Daraufhin machte König Hugo seiner Braut eine Szene, sie, verärgert, befahl Alberico in ihre Privatgemächer, während sie für die anschließende Feier hergerichtet wurde. Marozia schrie ihren Sohn an. Auch Alberico begann zu schreien, nachdem er die Tiraden seiner Mutter eine Weile stumm ertragen hatte. Ich versuchte zu vermitteln und Marozia davon abzubringen, auf dieser Demütigung ihres Sohns zu bestehen.

Alberico blieb störrisch und ungehorsam, Marozia verwischte sich vor lauter Unbeherrschtheit ihr mühsam hergerichtetes Kleopatra-Antlitz. Dann plötzlich verlegte sie sich aufs Bitten, streichelte ihren Sohn, drückte ihn an ihre Brust, ließ ihn ausgiebig ihren schweren, süßen Duft einatmen.

Schließlich gab er nach.

Das Hochzeitsmahl zog sich in den düsteren Gemäuern der römischen Gruft wortkarg hin. Hugo sprach diesmal mehr, nach reichlichem Weingenuß auch laut, und sein Latein war durchsetzt von Fehlern. Immer wieder fiel er in seine provencalische Heimatsprache. Marozia thronte neben ihm wie die Maske der ägyptischen Königin. Die Tische ächzten erneut unter der Menge der aufgetragenen Speisen, obwohl der Höhepunkt der Feierlichkeiten mit der Kaiserkrönung noch bevorstand.

Alberico ließ sich bis kurz vor dem Ende der Mahlzeit nicht sehen; dann erschien er mit einer Wasserschüssel, die er zuerst seiner Mutter hinhielt, damit sie sich die Finger säubere. König Hugo kommentierte das Geschehen mit höhnischen Bemerkungen wie ›brav, mein Junge‹ und ›der geborene Lakai‹. Mit einer gezirkelten Bewegung drehte sich Alberico um und bot dem Bräutigam die Schüssel an. Hugo bleckte breit die Zähne. Albericos Miene blieb starr, er bewegte sich wie eine Gliederpuppe. Langsam brachte er die Schüssel in eine Schieflage und goß das Wasser seinem Stiefvater über die Hände, über das schwere, golddurchwirkte Übergewand und die perlenbestickten Lederschuhe. König Hugo brüllte wütend, sprang auf, schlug Alberico die Schüssel aus der Hand und gab ihm eine heftige Ohrfeige, deren Peitschenknall die gesamte Festrunde zum entsetzten Schweigen brachte. Bevor Alberico einen Dolch ziehen konnte, hielt König Hugo ihm schon die Spitze seiner eigenen Klinge direkt unter sein rechtes Auge.

»Weißt du, was mit Aufrührern geschieht?« zischte er ihm zu.

Alberico trat einen Schritt zurück. Er zeigte eine unglaubliche Beherrschung. Aus seinen Augen sprühte der Haß, doch seine Lippen blieben stumm. Er wandte sich ab und schritt gemessen, wenn auch mit eingezogenen Schultern, zur Tür. Dort hielt er inne, warf einen auffordernden Blick in die Runde, und tatsächlich erhoben sich seine Freunde aus dem römischen Adel und verließen mit ihm den Saal.

»Setzt sie fest, die Bastarde!« schrie König Hugo.

Weder Marozia noch Papst Johannes gaben den verunsicherten Wachen an den Wänden den Befehl, der Aufforderung des Königs zu folgen. Dieser schüttelte die geballte Faust, ließ sich dann wieder auf seinen Sitz zurückfallen und schüttete einen Kelch besten Weins wie Wasser in sich hinein.

Wir aßen weiter, stumm, verkrampft, ohne Geschmack zu finden an den gewürzten Eiern, Fischpasteten und Orangenscheiben, die jetzt aufgetischt wurden.

Vor Mitternacht zog sich Marozia mit mir und einigen Dienerinnen zurück, damit wir sie für das Brautbett herrichteten. Mehr als sonst fiel mir ihr alternder Körper auf. Zweiundvierzig Jahre hatten auch bei dieser schönen Frau ihren Tribut gefordert. Mit schwer duftenden Salben mußte ich ihm den Reiz geben, den die natürliche Haut nicht mehr ausstrahlte. Schließlich kehrten wir zum Festsaal zurück, wo der Bräutigam, voll des Weins, Marozia lallend entgegenwankte, ihr den Arm reichte, damit sie die Gefolgsleute zum Brautgemach geleiteten. Ein traurig-stummer Zug schlurfte durch die flackernd beleuchteten Gänge, bis wir das Paar ihrem Schicksal auf einem mit Kräutern bestreuten Bett überließen, in einem Raum, in dem Duftstäbchen aus Zedernholz vor sich hinkokelten und die Luft zum Schneiden rauchig war.

Noch vor Sonnenaufgang kam Marozia in mein verstaubtes Gelaß geschlichen. Natürlich war ich sofort wach. Eine Kerze beleuchtete ihr verschmiertes, verwüstetes Gesicht. Sie roch nach Wildschwein und beißender Säure.

»Ich brauche ein Bad«, flüsterte sie.

Ich ließ einen Zuber bereiten und wusch sie mit eigenen Händen. Später ruhten wir gemeinsam auf meiner schmalen Bettstatt. Sie umschlang mich wie zu Zeiten, als sie noch ein kleines Mädchen war.

»Wenn er betrunken ist, wird er zum tierischen Barbar«, flüsterte sie. »Und dann dieser Wildschweingestank.« Nach einer Weile fügte sie an: »Ich weiß nicht, ob ich das Richtige getan habe.«

»Bald wirst du Kaiserin sein«, sagte ich, um sie aufzuheitern.

Sie rührte sich nicht.

Kaum schickte die Sonne ihre schwachen Dezemberstrahlen über die Ewige Stadt, durchtobten Geschrei und Waffenlärm die Engelsburg. Sofort fühlte ich mich an Lucca erinnert. Versuchte König Hugo, auch Rom mit Hilfe eines Überraschungsangriffs zu besetzen?

Ich eilte auf einen der Wehrgänge und entdeckte zahllose bewaffnete Männer vor den Mauern und innerhalb der Burg: Es waren jedoch nicht Hugos Soldaten, sondern die Söhne der römischen Adelsgeschlechter mit ihren Kämpfern und Knechten, dazu die Veteranen Alberichs, die seinem gedemütigten Sohn unverbrüchlich die Treue hielten. Einige Wachen des Königs wurden über die Zinnen gestoßen und johlend mit ausgestreckten Spießen empfangen, andere kämpften um ihr Leben oder röchelten bereits am Boden und spuckten Blut. Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Ich wollte zu Marozia zurückeilen, wurde jedoch gepackt, zu Boden gedrückt und gefesselt. Bald war die gesamte Engelsburg in den Händen der Aufständischen, und ich sah, wer sie befehligte: Kein anderer als unser Alberico, ein Schwert in der blutverschmierten Hand.

Er entdeckte mich, ließ mich zu Marozia bringen, die tobte und dafür von einem der Veteranen mit dem Kommentar »Dies ist die Rache für unseren Alberich« einen Schlag auf den Mund erhielt, der ihre Lippe aufplatzen und sie nach einem Aufschrei verstummen ließ. Vorsichtig betastete sie mit den Fingern ihren Mund und betrachtete ungläubig das Blut.

Ihre Augen glühten in mörderischer Wut.

Auf dem Boden des Ganges lag König Hugo in seinem Erbrochenem.

»Alberico!« kreischte sie. »Was geht hier vor?«

Ihr Sohn schlenderte lässig herbei, ließ dabei die Spitze seines Schwert über den Boden schleifen. »Das merkst du doch – am eigenen Leib. Ihr seid festgesetzt, du und dein sauberer Gemahl. Rom hat sich gegen euch aufgelehnt. Es wird keine Kaiserkrönung geben.«

»Das wagst du nicht!« Marozia kreischte noch immer, während es Alberico genoß, seine Mutter so erniedrigt zu sehen.

»Ich habe es bereits gewagt. Ihr habt den Bogen überspannt, und ich, der kleine Alberico, den seine Mutter belogen und betrogen hat, bin der Herr über Rom. Der Adel will sich nicht länger von einer Frau herumkommandieren lassen und sich schon gar nicht einem Mann wie Hugo ausliefern. Was Markgraf Lambert zugestoßen ist, hat man hier höchst aufmerksam vermerkt. Insbesondere ich, dein Sohn, hat seine Lehre daraus gezogen.«

»Vor den Mauern liegt Hugos Heer. Es wird euch zerschmettern, und dann wirst du nicht nur geblendet, sondern auch um deinen Kopf kürzer gemacht.«

Marozia hatte sich nun wieder in der Gewalt. Um sie von weiteren leeren Drohungen oder Beleidigungen abzuhalten, fiel ich ihr ins Wort und fragte Alberico: »Junge, was habe ich dir getan, daß du mich in Fesseln legst?«

»Nichts hast du mir getan, Aglaia. Soll ich dich freilassen?«

»Laß mir bitte die Fesseln abnehmen.«

Er gab einem der Soldaten einen Wink, und rasch wurden meine schmerzenden Gelenke befreit.

»Das alles muß in einem Blutbad enden, Alberico. Hast du dir das gut überlegt?« fragte ich so sanft wie möglich.

»Das habe ich. Rom ist nicht Lucca, und ich heiße nicht Lambert, sondern Alberich wie mein Vater. Mein Vater hat sich sein Leben lang den Weibern untergeordnet, in diesem Punkt unterscheide ich mich von ihm, selbst wenn das bisher nicht so aussah. Aber ich habe, während ich auf meinen Titel wartete, die graue Wölfin erlegt – du erinnerst dich, die alte, gerissene Wölfin, die meinen Vater auf dem Gewissen hat …«

»Was soll nun werden?« fragte ich.

»Meine Mutter bleibt in diesem Grabmal, nur wird sie sich ein paar Stockwerke tiefer aufhalten müssen.«

Marozia schrie auf wie ein weidwundes Tier.

»Ich werde sie nicht allein lassen«, sagte ich bestimmt, ohne daß ich mir die Folgen überlegt hatte.

»Es ist nicht meine Absicht, dich ebenfalls einzusperren.«

»Das wirst du müssen.«

Alberico schaute mich mit einem Ausdruck des Bedauerns an. Dann umarmte er mich kurz, rief den Wachen zu: »Sperrt die beiden ein! Den Bastard von König ebenfalls, in ein anderes Verlies.« Gespielt lässig stiefelte er davon, ohne sich noch einmal nach seiner Mutter umzudrehen.

Wir wurden vorwärts gestoßen. Immer tiefer ging es hinab in die Gewölbe der Gruft.

Nach einem lauten Stöhnen fiel hinter uns die Kerkertür ins Schloß.

66

Ich mußte über dem Pergament eingeschlafen sein, denn das leise Öffnen einer Tür ließ mich hochschrecken. Draußen frohlockten die Vögel, und die Sonne stand bereits über den Bäumen.

»Guten Morgen, schöne Griechin«, hörte ich eine heisere Stimme flöten. Es klang, als drehte sich eine rostige Tür in den Angeln.

Erschrocken wandte ich mich um: Anastasius stand vor mir. Der Höllenwärter.

»Was willst du? Wo ist Alberico? Ist mein Sohn gekommen?« Die flatternde Hektik meiner Stimme verriet mir, daß mich eine plötzliche Angst vor endgültiger Kerkerhaft und Dahinsiechen in Dunkelheit erfaßt hatte.

Anastasius verbeugte sich lächelnd. »Ich bin hier, um dich dorthin zu führen, wo deine Herrin bereits auf dich wartet.«

»Mein Sohn wollte sich von mir verabschieden.«

»Er schickte einen Boten, der uns ausrichten ließ, daß er deine Entscheidung, bei der senatrix zu bleiben, bedauert, aber akzeptiert. Heute im Lauf des Tages wird er Rom verlassen, um auf dem Seeweg nach Konstantinopel zu reisen. Er sendet dir die liebenden Grüße eines Sohnes. Falls du deine Entscheidung noch ändern solltest, kannst du ihn bis heute mittag am Großen Hafen erreichen.« Anastasius schien sich darüber zu freuen, mich weiterhin betreuen zu können. Als hätte er meine Gedanken erraten, fügte er an: »Ich glaube, wir werden noch viele gemeinsame Stunden verbringen und wie einst die Peripatetiker philosophieren.«

»Die Peripatetiker wanderten umher, wir werden in einem dunklen Rattenloch hausen«, korrigierte ich seine albernen Bemerkungen, als würde nichts anderes mein Herz beschweren.

»Ins Gespräch vertieft, schlenderten sie im Schatten der Schirmpinien, das ist richtig. Sie waren glücklich …«

»Warum will mir Alberico seine Entscheidung nicht noch einmal verkünden?«

»Princeps Alberich hat wichtige Staatsgeschäfte zu erledigen und später eine Audienz beim Heiligen Vater.«

»Ich soll also, ohne mich verabschieden zu können, im Kerker verschwinden.«

»Wenn ich richtig informiert bin, gehst du freiwillig dorthin.«

Er hatte recht. Ich hatte keinen Grund zu klagen. Da ich mich für Marozia entschieden hatte, war es vermutlich leichter, ohne trauerträchtige Abschiedszeremonien hinabzusteigen zu den Toten.

Anastasius lächelte mich noch immer an.

»Bist du eigentlich freiwillig oberster Kerkermeister?« fragte ich ihn, während ich meine Pergamentstapel zusammenrollte und mit einem Band umwickelte.

Sein Lächeln wurde von einem traurigen Ernst abgelöst. »Es gibt etwas, was mich an Marozias Mutter kettet. Ich berichtete dir einst davon.« Als ich nicht reagierte, fügte er an: »Mir wurde der bewundernswerte Wunsch mancher Frauen, Päpstin zu werden, zum Verhängnis.«

Ich verstand den Sinn seiner Worte nicht.

»Laß uns gehen«, sagte er. »Nimm deine Lebensgeschichte mit!« Er wies auf die dicke Pergamentrolle. »Du wirst genügend Zeit haben, sie zu vollenden.«

»Ich habe sie heute nacht vollendet.«

»Solange ihr lebt, kann es noch ein Nachwort geben.«

Ich drängte ihn zur Tür hinaus. Unsere Füße knirschten über einen Kiesweg. Ich warf einen letzten Blick auf unseren Palast, den schönsten der ganzen Stadt, der noch einmal versucht hatte, Baustil und Glanz des alten Rom wiederzubeleben. Ich sah allerdings, daß Alberico dabei war, einen fast fensterlosen Turm mitten in den Gebäudekomplex setzen zu lassen. Als wir das Vestibyl durchschritten und zum Portal kamen, zeigten sich weitere Veränderungen: Die Außenwände wurden verstärkt, die Fenster erhielten schwere Gitter, das Eichenportal selbst war mit breiten Eisen beschlagen worden: Unser Palast wurde zur Festung ausgebaut.

Alberico war nirgendwo zu sehen.

Am Torplatz stand ein Wagen, in dem eine breite Sänfte hing. Wir setzten uns hinein, Anastasius schloß die Vorhänge, der Kutscher ließ die Peitsche knallen.

Es dauerte eine Weile, bis wir die Engelsbrücke überquerten und vor der Festung der Päpste aussteigen mußten. Ich schaute über den Tiber, über die kleinen Boote, die Mühlen, das Getriebe der Menschen; ich schaute auf die fensterlose Wand des Gebäudes, in dem sich Aaron auf die Reise zu den Vätern vorbereitete. Das letzte, was ich von ihm gehört hatte, war, daß er gänzlich erblindet sei, aber noch gut höre und auch sprechen könne. Roms Juden verehrten ihn wie Erzvater Abraham. Was hätte ich um ein letztes Gespräch, ein letztes Lebewohl gegeben!

Ich ließ meinen Blick über den Tiber zurück nach Westen wandern: Hinter den eng sich drängelnden Häusern, den Schenken, Pilgerherbergen, Klöstern und Hospitälern der Leostadt versteckte sich die Basilika des heiligen Petrus. Ein Mann, der in einem Ruderboot den Fluß hinuntertrieb, winkte uns zu. Ich weiß nicht, ob er mich oder Anastasius meinte, ich erkannte sein Gesicht nicht. Hinter ihm, am jenseitigen Ufer des Tiber, erhoben sich die Ruinen der Aurelianischen Mauer und verdeckten unseren alten Garten, der bis zum Haus an der Via Lata reichte.

»Martinus! Alexandros!« flüsterte ich aufschluchzend, und mein Blick suchte die Tiefe des gleißenden Himmels. »Herr, erlöse mich bald.«

»Komm!« sagte Anastasius. In seinem Gesicht stand tiefes Mitleid.

Langsam führte er mich an neugierig schauenden Wachen vorbei zu dem Gang, der hinabführte. Immer tiefer schienen wir uns in den Gewölben der Gruft zu verlieren, bis wir endlich die letzte Katakombe erreichten. Umständlich öffnete Anastasius mit seinem großen Schlüssel das Schloß, dann schob er die Riegel zurück, und mit lautem Stöhnen öffnete sich die Kerkertür.

Schon lag mir Marozia in den Armen.

»Kommst du tatsächlich zurück?«

»Hast du etwas anderes erwartet?«

»Nein.«

»Es fällt leichter, gemeinsam zu sterben. Wir bleiben für ewig zusammen.«

Sie brauchte darauf nichts mehr zu antworten. Vor der letzten Wahrheit verstummen die Worte.

Anastasius räusperte sich.

»Laß uns allein!« rief ihm Marozia zu.

»Was werdet ihr jetzt tun?«

Wir lösten uns voneinander, und ich drehte mich um.

»Wir werden sterben«, antwortete Marozia. Es sollte wie ein Scherz klingen, sie lachte dabei. »Das weißt du doch. Du kannst deinen Enkeln davon erzählen, daß du der letzte warst, der uns lebend sah.«

»Ich habe keine Enkel.«

»Schade für dich.«

Alles Trübe, Melancholische schien von Marozia abzufallen.

Wir schauten ihn abwartend an.

Aber er ließ uns nicht allein.

»Genug des grausamen Spiels. Mir war es so aufgetragen.« Anastasius lächelte geheimnisvoll.

»Läßt uns Alberico frei?« An Marozias Jubelschrei erkannte ich, daß sie mit ihrem Leben doch noch nicht abgeschlossen hatte.

»Ich soll euch an einen anderen Ort überführen. Gehen wir!«

In solchen Augenblicken sagt man verrückte Dinge.

»Willst du dich nicht von den Ratten verabschieden?« fragte ich Marozia.

»Sie haben sich heute nicht sehen lassen, als ahnten sie, was geschehen würde. Ihnen fällt der Abschied nicht leicht. Sie werden sich ohne uns langweilen.«

Ich lachte und strich mit meinen Fingern langsam und regelrecht zärtlich über die Wand, folgte den Buchstaben nach, die allen zukünftigen Generationen von Gefangenen eine Botschaft sein sollten: αταραξία.

»Gehen wir!« sagte Marozia.

Hinter uns fiel die Kerkertür dumpf ins Schloß.

67

Anastasius brachte uns zu einem kleinen Gebäude in den vatikanischen Gärten und erklärte, dies sei unser neues Heim. Da die Gefahr bestünde, die senatrix könnte sich erneut mit König Hugo vereinen und womöglich gegen ihren Sohn intrigieren, dürfe sie ihr Haus nur zu kurzen Spaziergängen im Garten verlassen, weder Besuch empfangen noch Botschaften senden oder erhalten. Diese Anordnung lasse Princeps Alberich ihr ausrichten, er, Anastasius, gebe nur die Stimme seines Herrn wieder.

»Also Hausarrest«, sagte Marozia, die Lider zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt und noch immer halb blind von der Helligkeit des Tages.

»So kann man es sagen.«

Kaum hatte Anastasius uns verlassen, begann sie zu weinen – vor Erschöpfung und Enttäuschung.

Sie brauchte Tage, bis sie sich an das Licht des Frühlings gewöhnt hatte, schlief nächtelang kaum und beklagte, daß sie noch immer ein Auf und Ab von Hoffen und Verzweifeln und die Qual der Scham ertragen müsse. »Warum hat mich der Herr nicht längst abberufen!«

»Vielleicht müßtest du dann eine andere Qual ertragen: das Höllenfeuer«, sagte ich, ohne auf ihren düsteren Ton einzugehen.

Sie setzte sich in den kühlen Morgenstunden vor unsere Tür, unter eine Schirmpinie, und lauschte dem vielfältigen Vogelkonzert, das uns umgab. Ich beobachtete sie. Sie hatte die Augen geschlossen und sog wie verklärt den Duft ein, den die blühenden Sträucher verströmten. Zugleich ließ sie die Finger über Wangen, Lippen, Kinn und Hals gleiten.

Als ich mich neben ihr niederließ, flüsterte sie: »Die Gerüche sind betäubend, aber meine Haut ist tot. Ich spüre nicht einmal das Echo der Lust, und vor meinen Erinnerungen fürchte ich mich.«

Sie saß den ganzen Tag dort, trank wenig, aß kaum etwas. Meist waren die Augen geschlossen. Als die Sonne unterging, beobachtete sie die Schatten der Zypressen, die auf den Grünflächen in die Länge wuchsen. Schließlich senkte sich die Nacht herab, Marozia seufzte, die Lider wurden schwer, und ihr Körper erschlaffte. Einen Augenblick dachte ich: Jetzt stirbt sie.

Doch sie war nur eingenickt.

Es dauerte Wochen, bis sie sich zum ersten Mal nach meinem Gespräch mit Alberico erkundigte, und sie zeigte sich nicht erstaunt über das Verhalten ihres zweiten Sohnes. »Ich habe ihn zu wenig geliebt und zu tief gekränkt.« Sie sagte es ohne Selbstmitleid in der Stimme. »Daran ist nun nichts mehr zu ändern.«

Weitere Tage dauerte es, bis sie nach Alexandros fragte. Ich hatte kein Bedürfnis empfunden, über ihn zu sprechen, zu sehr schmerzte mich die Erinnerung an das unterkühlte Wiedersehen und seinen wortlosen Abschied. Versuchte ich, ihn mir vor Augen zu führen, sah ich Sergius vor mir, und dieses Bild gab mir einen Stich in den Unterleib, der mir den Atem nahm.

Ich berichtete Marozia so sachlich wie möglich, was geschehen war: von Alexandros' Erfolg am kaiserlichen Hof und dem Kampf um das Familienerbe, von seinem unaufhörlichen Sehnen und Streben, uns erneut in die Arme zu schließen – obwohl dann, als wir am Ziel unserer Wünsche waren, die Entfremdung alle Freude, alles Glück überdeckte. Als ich erwähnte, daß er verheiratet sei und vier Kinder habe, bedeckte sie ihr Antlitz mit einem Tuch, und ich verstummte. Nach einer Weile forderte sie mich auf, meinen Bericht fortzusetzen, doch ich hatte ihn bereits beendet.

Auf ihre Frage hin konnte ich nicht verschweigen, daß mich Alexandros quälend an Sergius erinnert habe. Ihre Miene erstarrte und blieb lange Zeit versteinert. Schließlich hauchte sie: »Warum bist du nicht bei ihm geblieben?«

Statt ihr zu antworten, stellte ich eine Gegenfrage: »Glaubst du, daß du ihn wieder lieben könntest?«

»Es wäre meine letzte Hoffnung gewesen.« Unerwartet lächelte sie: erinnerungsträchtig, verloren.

»Du hast einmal behauptet, du hättest jede Nacht von ihm geträumt – stimmt das wirklich?«

Vielleicht hätte ich die Frage nicht stellen sollen; ich wollte ihr weder die Illusion nehmen noch die Erinnerung trüben. Sie antwortete mir nicht, sondern wiederholte ihre Frage.

Nach einem langen Blick sagte ich: »Ich wollte mein Versprechen dir gegenüber nicht brechen.«

»Ich hätte dir verziehen, wenn du mich allein gelassen hättest – und dich auch verstanden, weil ich selbst wortbrüchig geworden wäre.«

»Das glaube ich nicht.«

In Wirklichkeit glaubte ich ihr doch. In diesem Punkt unterschieden wir uns. Das Leben hat Marozia zur Herrin gemacht und mich zur Sklavin. Aber eigentlich, so sagte ich mir, warst auch du eine Herrin: die Tochter von einem der reichsten Fernhändler Konstantinopels. Vielleicht hätte sich dir sogar die Möglichkeit eröffnet, byzantinische Kaiserin zu werden. Die Bräute der Kaiser werden nicht nach hoher Geburt ausgesucht, sondern nach Gaben des Geistes und der Gestalt: Sie sollen schön sein, klug, gebildet, gesund …

Doch wenn nicht die Großmutter, so womöglich die Enkelin Aglaia …

Ich sah ein lachendes Mädchen durch die kaiserlichen Gärten hinab zu den Gestaden des Marmarameers laufen, umsprungen von begeistert bellenden Hunden, vorbei an schreienden Pfauen, an schreitenden Ibissen und springenden Gazellen, vorbei an Seerosenteichen und Marmorbrunnen, ein Mädchen mit fliegenden Haaren, in weißen Seidengewändern, im Hintergrund die Sklaven, Palmenwedel schwenkend, die Eunuchen mit ihren ausdruckslosen Gesichtern …

Ich sah Alexandros am Bug des Schiffes stehen, das ihn über das Tyrrhenische Meer trug, nach Hause, zu diesem Mädchen, zu seiner Tochter Aglaia. Da stand er im Wind, das Schiff durchpflügte die Meerenge von Messina und trieb hinaus auf das offene Meer, das mare nostrum, und schien bald darauf über dem gleißenden Silber der Ägäis zu schweben, begann sich im Mittagslicht aufzulösen, in der blendenden Helligkeit einer vergeblichen Hoffnung.

Tage später kam Marozia unerwartet auf meine Frage zurück. »Ich habe tatsächlich häufig von Alexandros geträumt, sogar, als ich mit Wido verheiratet war. In ihm sah ich einen zweiten Alexandros und in dem Kind sein Kind. Als er starb und ich das Kind verlor, verlor ich Alexandros ein zweites Mal. Ich war innerlich tot, gefühllos, versteinert – und sah in der Ausweitung meiner Herrschaft, in der Einigung Italiens, in der Rolle einer guten Kaiserin den einzigen Ausweg, mich noch zu retten. Verstehst du mich?« Sie sah mir flehend in die Augen.

Ich wich ihrem Blick aus.

»An der Seite Hugos hättest du kaum eine gute Kaiserin werden können. Warum mußtest du so hochgreifen? Und nach dem falschen Mann? Hatte dich Wido nicht vor Hugo gewarnt? Warum genügte dir Rom nicht? Du herrschtest doch über Stadt und Kirche. Du hattest deine Kinder – vier überlebten, ein Glück, das nicht jeder Mutter beschieden ist: Giovanni durfte Papst werden, welche Chance! Alberico wäre als Markgraf zufrieden gewesen, Konstantin ist ein Vorbild apostolischer Frömmigkeit. Und Berta? Sie wäre Kaiserin von Byzanz geworden. All das hast du geopfert – für einen vagen Traum der eigenen Größe. Und dabei hast du auch deine Kinder geopfert.« Ich unterbrach mich, weil ich sie nicht weiterhin quälen wollte.

Sie starrte an mir vorbei.

»Ich weiß, ich habe sie geopfert. Mich trieb mein Ehrgeiz. Und meine Gefühle habe ich weder verstanden noch beherrscht … Vielleicht kann Alberico gutmachen, was mir nicht gelang, gerade er …«

Während sie ihre Augen schloß und zugleich nach ihrem Herzen griff, überfiel mich eine tiefe Scham über meine erbarmungslosen Vorwürfe.

Manche Verhaltensweisen im Leben kann man nicht erklären. Andere sind nicht zu entschuldigen. Auch Beten und Büßen nützen nichts. Man kann nur auf Gnade hoffen.

Nach einigen Wochen – wir spazierten abends unter Aufsicht durch den Garten, betrachteten die blühenden Pflanzen, beobachteten die Vögel – erhielten wir unseren ersten Besuch: Princeps Alberich in Begleitung des Heiligen Vaters und der Novizin Berta. Alle drei in offizieller Gewandung und unter Begleitung mehrerer Prälaten und Senatoren sowie der Äbtissin von Sancta Caecilia in Trastevere. Sie näherten sich uns, als seien sie zufällig auf einem Sonntagsspaziergang durch die vatikanischen Gärten. Ich las soeben in Boethius' Trost der Philosophie, während Marozia vor sich hin träumte. Alberico wies seine Begleitmannschaft an, an einem schattigen Platz auf ihn und seine Geschwister zu warten, und kam mit ihnen zu uns. Anastasius eilte wie aus dem Nichts herbei, bemühte sich trotz seines Alters um ein paar Bücklinge, wurde gleichwohl ebenfalls von Alberico weggeschickt.

Marozia hatte ihre drei Kinder entdeckt und wurde blaß. Ja, ihre Augen flackerten in Panik, doch dann riß sie sich zusammen, lehnte sich zurück und schaute ihnen ernst entgegen.

»Welch schöner Ruhesitz für eine verdiente Papstmutter! So nah an Sitz und Grab des heiligen Petrus!« rief Alberico aus.

Der Hohn war nicht böse gemeint, ich sah es. Vermutlich nur aus Unsicherheit geboren. Seit seinen Besuchen im Kerker hatten Alberico und seine Mutter sich nicht mehr gesehen, und keiner von ihnen wußte sich ungezwungen zu verhalten. Marozia deutete ein Nicken an, ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern.

Giovanni hielt ihr einen Augenblick seine Ringhand entgegen – vermutlich, weil er es gewohnt war –, zog sie jedoch unverzüglich wieder zurück, nachdem Marozia keine Anstalten machte, sie zu küssen.

Bertas Mundwinkel zuckten. Obwohl Kopf und Körper umhüllt waren, wirkte sie noch spitzer, als ich sie in Erinnerung hatte, mit fiebrigen, unsteten Augen. O Kind, dachte ich, du wirst nicht alt werden. Was hätte dir der weiße Marmor des gynaikeions leuchten können … Aber es gibt Menschen, die werden vom Schicksal zur Seite getreten, verstummen, ohne wenigstens einmal vernehmlich und unvergeßlich aufzuschreien, sie sinken ins Grab, ohne Spuren zu hinterlassen, und sind bald vergessen.

Die drei Kinder wußten nicht, was sie tun, was sie sagen sollten. Hilflos startete Alberico einen zweiten Versuch: »Und wie geht es der verehrten Frau Mama?«

Sie flüsterte nur: »Alberico, laß das alberne Getue.«

Ich holte aus dem Innern unseres Häuschens drei Hocker und forderte die Kinder auf, sich zu setzen. Giovanni ordnete umständlich seine langwallende Dalmatika mit all den Bändern und Schleifen, Alberico brauchte eine Weile, bis sein edelsteinverziertes Schwert ihn beim Sitzen nicht mehr behinderte. Auch Berta setzte sich, stand dann jedoch wieder auf und schob ihren Hocker neben mich, als suche sie wie ein Küken Schutz bei der alten Henne.

»Mit der Heirat hat es leider nicht geklappt«, sagte Alberico mit einem Blick auf Berta, wandte sich dann seiner Mutter zu: »Dein Gemahl Hugo, Graf von Arles und König in Pavia, der damals leider aus der Engelsburg entfliehen konnte – du erinnerst dich –, hat erfolgreich dagegen intrigiert und möchte statt dessen seine eigene Tochter Alda am Kaiserhof unterbringen – bisher ebenfalls ohne Erfolg.« Er lachte meckernd, verstummte wieder und ließ seine Finger ineinandergleiten. »Ich hätte ihn unverzüglich erwürgen lassen sollen, den Bastard. Nachsicht zahlt sich nicht aus.«

Ich nahm Bertas Hand und drückte sie, sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter.

Es entstand ein längeres Schweigen.

»Und wie geht es meiner Schwester Theodora und ihren Töchtern?« fragte Marozia schließlich.

»Es sieht so aus, als würden die drei hübschen Larven bald bestens verheiratet. Sie sind Roms begehrteste Partien und werden über die Stadt hinaus für ihre Schönheit gerühmt. Sogar Herzogssöhne aus Neapel haben bereits angeklopft. Dein Sohn Konstantin wird im übrigen Farfa verlassen und nach Nepi gehen. Dort wird eine Bischofsstelle frei, und Giovanni war so frei, sie ihm anzubieten.«

»Das ist ja schön«, sagte Marozia.

»Hast du noch genügend Pergament für deine Aufzeichnungen?« Alberico richtete sich an mich. »Ich hörte von Anastasius, du hättest ein ganzes Epos geschrieben … das ich natürlich gerne lesen würde …«

»Nach unserem Tod – vielleicht …«

»Marozia, die heimliche Päpstin könntest du es überschreiben. Mit dem Zusatz: Hochmut kommt vor dem Fall.«

Ich reagierte nicht. Alberico wollte ironisch und spöttisch sein und bewies nur seine Hilflosigkeit.

Es sah so aus, als hätte Marozia gar nicht zugehört. »Giovanni, Alberico, Berta«, preßte sie hervor, »laßt mich sagen, was mein Herz zu erdrücken droht.« Ihre Stimme wurde freier und klarer. »Es ist meine Schuld, meine allein. Wir hätten alle glücklicher sein können, wenn ich euch … mehr … geliebt hätte. Das ist die Wahrheit. Verzeiht mir!«

Noch bevor eines der Kinder antworten konnte, erhob sie sich und verschwand in unserem Häuschen.

»Zu spät«, sagte Alberico.

Ich mußte ihm widersprechen: »Es ist nie zu spät, solange wir noch atmen.«

68

Die nächsten Jahre flogen an uns vorbei. Die Kerkergruft hätte Marozia nicht länger überlebt; hier in unserem vatikanischen Gartenhaus jedoch durften wir den täglichen Wechsel des Lichts erleben, die Rhythmen von Sonne und Regen, fallenden und sprießenden Blättern, Blüte und Verfall. Wir waren wohlversorgt und überstanden mehrere Fieberschübe, die allerdings an unseren Kräften zehrten.

Marozia genoß die Stimmungen des Parks wie ein friedliches Paradies, das keine Anforderungen an sie stellte. Sie blühte regelrecht auf, ihre Haut tönte sich sanft, und ihre Formen rundeten sich.

»Was würdest du unternehmen, wenn Alberico uns freiließe? Zu Hugo zurückgehen?« fragte ich sie einmal.

»Unter keinen Umständen! Ich könnte diesen Barbaren keine Stunde ertragen.«

»In ein Kloster gehen?«

Eine Weile dachte sie nach. »Vielleicht in das kleine Nonnenkloster auf der Isola Bisentina.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie leise fort: »Lieber allerdings nach Konstantinopel. Meine Träume bedrängen mich mehr denn je; ich will Alexandros ein letztes Mal sehen und dann …« Ihre Stimme erstarb.

Ihre Antwort versetzte mir einen Stich ins Herz, denn in unserer Lage und nach meiner Begegnung mit Alexandros schien mir die Erfüllung dieses Wunschs ferner denn je.

Einmal täglich erschien Anastasius, erkundigte sich nach unserem Befinden und informierte uns über die neuesten Entwicklungen in der Stadt. Immer wieder betonte er, Princeps Alberich sei ein ungewöhnlich guter Herrscher und habe stets Roms Wohlergehen im Blick, ja, er setze sich sogar intensiv für kirchliche Belange ein – im Gegensatz im übrigen zu Papst Johannes, der häufig kränkele, kaum noch auftrete und ohnehin all das anordne und unterzeichne, was sein Bruder ihm auftrage.

Princeps Alberich habe, so hörten wir, das Konsulamt wieder neu belebt, einen Magistrat eingesetzt, der sich tatsächlich um die Verwaltung der Stadt zu kümmern habe, Senatoren als Berater ernannt und Bestechlichkeit unter Strafe gestellt.

»Mehrfach«, so führte Anastasius aus, »hat unser Princeps Abt Odo von Cluny empfangen. Dieser Abt ist ein wunderbarer Mann, weise, anspruchslos und freundlich, und dennoch hört er nicht auf, die Sünden des verweltlichten Klerus anzuprangern und um die renovatio der Kirche zu werben: weniger Prunk, mehr Armut und Dienst am Menschen. Die Kirche müsse, so fordert er, zurückkehren zu den Wurzeln der Kirchenväter und Apostel und wieder Glaubensstärke gewinnen.«

»Papst Johannes äußert sich nicht dazu?« warf Marozia ein.

»Wie ich bereits erwähnte, seine Krankheit …«

»Kannst du nicht genauer mitteilen, welche Krankheit den Papst quält?«

»Nun, die schwarze Galle überschwemmt sein Gemüt … Auf jeden Fall ist unser Princeps begeistert von der renovatio, er nennt Abt Odo sogar einen neuen Paulus und hat ausgerufen: ›Der Geist von Cluny soll Rom durchwehen!‹«

»Aber der Papst ist doch noch sehr jung«, sagte Marozia ungläubig.

»Schwarze Galle kümmert sich nicht um Jugend oder Alter.«

»Und was tut Princeps Alberich für den Schutz der Stadt?« fragte ich.

»Zum Glück rühren sich die Ungarn zur Zeit nicht, und außerdem muß Byzanz einen Waffenstillstand mit dem Emir von Tunis abgeschlossen haben. Die Sarazenen haben seit ihrer Vernichtung am Garigliano ihre Raubzüge nicht wieder aufgenommen.«

Marozia wirkte kurze Zeit abwesend, jetzt mischte sie sich erneut ins Gespräch: »Und wenn König Hugo abermals vor den Mauern der Stadt auftaucht?« Es sollte unabsichtlich klingen.

»Nun, die Stadt hat eine gut funktionierende Miliz, das ist allgemein bekannt – König Hugo …« Anastasius gab seinen Plauderton auf und schien seine Worte zu wägen. »Der Provencale Boso hat in Tuszien alle Hände voll zu tun, Adel, Bischöfe, Händler und Bauern ruhigzustellen, auch nach Spoleto hat König Hugo einen seiner Anhänger geschickt, aber es gibt dort viele Männer, die Alberich treu ergeben sind – für Fremde ein gefährliches Gebiet. Und erst die Wölfe …«

»Was für Wölfe?« fragte Marozia.

»Seit geraumer Zeit sucht eine Wolfsplage die Sabiner Berge heim. Kein Schaf ist mehr vor den Tieren sicher, kein Kind, das Ziegen hütet, nachts belagern sie die Dörfer.« Anastasius flüsterte nun, als gehe es um eine Verschwörung. »Die Menschen sind abergläubisch, sie sprechen vom Fluch der bösen Tat. Princeps Alberich war seit langem nicht mehr in Spoleto, obwohl ihm die Herrschaft zusteht, wie ihr wißt …« Er warf einen beziehungsreichen Blick auf Marozia. »›Spoleto bringt mir Unglück‹, hat er kürzlich geäußert.«

Marozia kommentierte seine Ausführungen nicht, auch ich schwieg.

Noch immer im Flüsterton der Verschwörung fragte Anastasius: »Ihr plant doch nicht etwa einen Fluchtversuch? Oder ruft König Hugo zu Hilfe? Das dürfte schwerwiegende Folgen haben.« Er machte eine Geste des Erwürgens.

Marozia zog ein angewidertes Gesicht, ich deutete ein Kopfschütteln an.

Ich glaube, Anastasius hatte die Frage nach König Hugo und dem Fluchtversuch nicht zufällig gestellt. Er mußte bereits wissen, was sich anbahnte: König Hugo hatte wieder ein Heer gesammelt, mit dem er drohend vor den Mauern der Stadt erschien.

Der Sommer war früh eingefallen – wir befinden uns, wenn ich richtig rechne, seit drei Jahren in Hausarrest, also müssen wir das Jahr 936 schreiben – und lähmte die Menschen durch große Hitze; dennoch herrschte keine Ruhe in unserem Parkgelände. Unter dem Schatten der großen Pinien lagerten Trupps städtischer Milizen, die die Mauern hinter der Basilika des heiligen Petrus und den vatikanischen Gebäuden sicherten. Manchmal hörte man Schreie und Befehle herüberwehen, und jenseits der leonischen Mauer stieg schwarzer Rauch gen Himmel.

Anastasius erschien wie gewöhnlich, wirkte jedoch gehetzt und verunsichert. Gleichwohl betonte er, Princeps Alberich zeige keine Furcht. Er habe die Schwachstellen an den Mauern ausbessern lassen, und seine Miliz wehre die Angriffe bisher erfolgreich ab. »Die Stadt wird heldenhaft verteidigt. Selbst unser Princeps steht täglich an den Zinnen und lenkt mit sicherem Arm seine Pfeile gegen den Feind.«

»Er weiß, warum«, sagte Marozia.

Anastasius unterbrach sich, schaute Marozia flackernd an und erwiderte: »Ist dir nicht klar, daß unser aller Leben in höchster Gefahr ist?«

»Meins auch?« fragte sie.

Er seufzte und schüttelte den Kopf über solch eine Frage.

Kaum war er verschwunden, stieß sie erregt aus: »Die Stadt wird sich nie halten können. Hugo führt doch kein Heer hierher, wenn er nicht sicher ist, daß sich Kosten und Risiko lohnen. Oder glaubst du, daß er sich erneut vor ganz Italien lächerlich machen will?«

Ich zuckte die Achseln.

»Was machen wir nun?« Ihre Stimme war noch erregter und drängender geworden.

»Was sollen wir machen? Nichts! Warten!«

Marozia wurde plötzlich bleich und faßte sich ans Herz, mußte sich hinlegen. Als ich nach Anastasius und einem Arzt rufen wollte, hielt sie mich mit letzter Kraft zurück. »Kein Arzt! Sag niemandem etwas! Meine Tage sind gezählt, das spüre ich, so oder so.«

»Noch nicht! Du bist auch nicht krank! Wieviel Jahre zählst du? Gerade mal sechsundvierzig …«

Sie stöhnte auf und schien ihre Schmerzen niederzuringen. Nach einer Weile wurde sie ruhiger, und ihre Gesichtszüge glätteten sich.

»Aglaia?« flüsterte sie.

»Ja?«

»Ich darf auf keinen Fall Hugo in die Hände fallen. Ich will keine Kaiserin mehr werden. Mein Ehrgeiz ist aufgebraucht. Ich könnte auf der Isola Bisentina meinen Frieden finden. Oder an einem noch abgeschiedeneren Ort.«

Ich sagte nichts.

»Weißt du, wohin ich flüchten könnte?«

»Du kannst nicht flüchten.«

Sie beachtete meinen Einwand nicht. »In die Katakomben – wie meine Mutter.« Ihre Stimme war kaum zu hören. »Sie verschwand einfach. Hast du das vergessen?«

»Wie sollte ich das vergessen?«

»Vielleicht lebt sie noch …«

»Aber Marozia!«

»Ich würde ihr am liebsten folgen.«

69

Die Ereignisse überschlugen sich. Wachen erschienen und führten uns ab. Es wartete weder eine Sänfte noch eine Kutsche. Zu Fuß ging es an der Basilika des heiligen Petrus vorbei zum Tiber und hinüber zur anderen Flußseite. Die meisten Menschen, die uns begegneten, schienen ziellos und in höchster Furcht hin und her zu eilen. Einige waren mit Äxten und Forken bewaffnet, andere schleppten Steine und Ruinentrümmer. Es gab auch Männer, die in Grüppchen beisammenstanden und laut gestikulierend diskutierten. Als wir – zwei Frauen unter Bewachung, darunter eine alt und grau – an ihnen vorbeigeführt wurden, verstummten sie und schauten uns an: Rief keiner Marozia etwas zu? Wollte ihr niemand einen Becher Wasser reichen? Sollte sie nicht einmal verhöhnt werden?

Die Menschen blieben stumm.

Ich wollte es nicht glauben. Marozia, bis vor kurzem die unangefochtene Herrin der Stadt, die das Volk so häufig hatte feiern lassen, die so viele Oboli persönlich unter die Armen gestreut und deren Familie für Sicherheit und Arbeit gesorgt hatte – wollte sie keiner mehr kennen und beachten?

Sie strauchelte, und ich stützte sie. Ihre Amme, zwanzig Jahre älter als sie, mußte sie führen! Noch einmal warf Marozia einen Blick auf die Menschen, versuchte sich voller Stolz zu strecken – war sie wirklich nach so kurzer Zeit bereits vergessen?

Ein einziges Gesicht hellte sich auf. Ein junger Mann stürzte auf uns zu, ergriff unsere Hände, küßte sie, küßte den Ring meines Vaters, den ich noch immer trug. Ich kannte ihn, wußte aber in diesem Augenblick nicht mehr, woher.

»Ihr lebt! Welch Wunder! Ich muß es meinem Großvater sagen!« Bevor die Wachen eingriffen, lief er uns in Richtung Via Lata voraus.

Als wir in die Straße einbogen, begriff ich, woher ich ihn kannte. Es war Jakob, der Enkel unseres weisen Freundes.

Schon öffnete sich das Portal des Fernhändlers Aaron, und mehrere Männer trugen auf einer Sänfte den erblindeten Greis heraus. In dünnen weißen Strähnen hing sein Bart herab. Zittrig hob er seine rechte Hand, als wolle er winken. Ich riß mich von den Wachen los und kniete mich vor ihn, nahm seine Hand, so wie meine Hand soeben von dem Jungen ergriffen worden war, küßte sie, stammelte seinen Namen.

»Du lebst noch, mein Kind?« hauchte er stimmlos. »Der Herr ist gerecht und voller Güte.«

»Auch du lebst noch, Aaron!« rief ich.

Ich faßte es nicht. Wie alt mußte er sein? Weit über achtzig Jahre, neunzig vielleicht?

»Nicht mehr lange, mein Kind. Es ist Zeit, daß ich den Heimweg ins Land der Väter antrete.« Er fuhr mir segnend über den Kopf.

»Auch ich werde den Heimweg antreten …«

»Reist du zu deinem Sohn? Er hielt sich wieder in Rom auf, war sogar bei mir; ich bewirtete ihn.«

»Und was ist mit deinem Enkel Jakob? Wir trafen ihn soeben …«

»O, mein lieber Enkel. Es geschehen Wunder. Weißt du denn, daß …«

Die ungeduldigen Wachen hatten mich nach meiner Begrüßung wegzuzerren versucht. Ich wehrte mich, wollte mit Aaron reden, wollte wissen, was er Neues über Alexandros wußte, was er mir über Jakob zu erzählen hatte. Die Wachen begannen zu brüllen und schlugen nicht allein auf mich, sondern auch auf die Männer ein, die Aaron stützten. Es entstand, bevor ich mich's versah, ein heftiges Handgemenge, bis plötzlich Aaron mitsamt seiner Sänfte umkippte. Ich schrie auf, weil ich ihn fallen sah, ganz langsam, so schien es mir, wie in einem Alptraum, in den man nicht eingreifen kann: Aaron kippte zur Seite und dann vornüber. Er stieß mit dem Kopf auf das Pflaster. All mein Schreien nützte nichts. Ich riß ihn empor, drückte sein Gesicht an meine Brust. Aus einer Platzwunde an der Stirn sickerte Blut.

»Aaron!« schrie ich. Preßte ihn an mich, als müßte ich ihn schützen.

Aaron war tot.

Als wir durch das Vestibyl in unser altes Haus an der Via Lata traten, war ich erstarrt vor Schmerz. Alberico kam uns entgegengeeilt. »Ich muß leider noch einmal zur leonischen Mauer. Es scheint sich eine Entscheidung anzubahnen …«

»Läßt Hugo Rom erstürmen?« unterbrach ihn Marozia in tonlosem Entsetzen. »Hast du uns deshalb herbeischleppen lassen?«

Alberico wurde sein Pferd zugeführt. »Ich habe euch holen lassen, weil ich …« Er hielt inne, als müsse er sich besinnen, und trat nah an seine Mutter heran. Beide schauten sich in die Augen. »Du mußt dich entscheiden.«

»Ich muß mich entscheiden?«

Aarons Tod hatte mich in eine Erstarrung versetzt, die sich nur langsam löste. Ich wußte, daß ich jetzt meine Gedanken sammeln und meine Kräfte bündeln mußte: Es nahte entweder die Stunde der Freiheit oder die Stunde des Todes.

Bevor Alberico auf Marozias Einwurf antworten konnte, preßte ich mit zittriger Stimme hervor: »Deine Wachen haben den Juden Aaron getötet. Dies ist ein schlimmes Verbrechen. Weißt du, was deine Großeltern und ihr alle ihm zu verdanken habt?«

Alberico fuhr nervös durch die Mähne des Pferdes und griff nach den Zügeln. »Ich hörte bereits davon. Es war ein Unglücksfall – und ganz besonders bedauerlich, weil …«

Ich ließ ihn nicht ausreden. »Ein Unglücksfall, ein bedauerlicher Unglücksfall – wie alles in eurer Familie, was?« Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. »Nein, ihr seid der Unglücksfall! Das ist die Wahrheit. Ihr seid eine Ansammlung ungeheurer Unglücksfälle!« Noch immer stand mir Aarons Stirn vor Augen, ich fühlte seinen leblosen Körper an meiner Brust.

Alberico erwiderte nichts, schaute mich lange an, reglos und plötzlich todmüde. »Du hast recht«, beendete er sein Schweigen, jedes Wort einzeln betonend. »Und weiß du, wer diese Unglücksfälle überwinden muß?«

»Warum muß ich mich entscheiden?« mischte sich Marozia wieder ein.

»Ich!« rief Alberico. »Ich muß sie – überstehen, und ich will sie lebend überstehen. Jetzt laßt mich ziehen, Rom soll nicht diesem tyrannischen Usurpator in die Hände fallen.«

Ich sagte nichts mehr, noch immer zitternd vor Erregung.

»Warum hast du uns hierher schleppen lassen?« fragte Marozia eindringlich. »Willst du mich töten lassen, bevor Hugo die Stadt erobert?«

»Ich wollte euch holen, weil …« Ihm schien plötzlich der Grund entfallen zu sein, und er wirkte hilflos und überfordert. Rasch schwang er sich in den Sattel. Bevor er seinem Rappen die Sporen gab, rief er noch: »Falls Hugo wirklich in die Stadt einfällt, sollten wir ihn gemeinsam empfangen.«

Wir wurden mit mehreren Strohsäcken in einen fast dunklen Vorratsraum gesperrt, an den ich mich genau erinnerte. Auch Marozia wußte, wo wir uns befanden.

»Was bezweckt er damit?« fragte sie. »Sollen wir uns verstecken können, wenn Hugos Horden die Stadt erobern? Oder sollen wir freiwillig … Will er, daß ich meiner Mutter nachfolge?«

Durch einen kleinen Entlüftungsschacht fiel schwaches Licht in den Raum, so daß ich nach kurzer Gewöhnung begann, die Wände abzutasten und nach dem Hebel zu suchen, der die Geheimtür öffnete. Tatsächlich, ich fand ihn, er funktionierte noch, und mit einem leisen Knirschen ließ sie sich aufdrücken.

Ich suchte in dem Raum nach einer Fackel, einem Öllicht oder einer Kerze. Nichts war zu finden. Dann starrte ich in den schwarzen Gang, aus dem uns ein dumpfer, übler Geruch entgegenschlug. Um mich nicht umgehend zu übergeben, wandte ich mich ab. Auch Marozia hielt die Hand vor Mund und Nase und wich einen Schritt zurück.

»Ich soll wie meine Mutter verschwinden, vom Erdboden verschluckt werden … Dann braucht sich niemand die Hände schmutzig zu machen.«

Ich schüttelte den Kopf, weil ich keine Antwort wußte; weil ich überhaupt nicht mehr weiterwußte. So zog ich die Geheimtür wieder zu und ließ mich langsam zu Boden gleiten.

Stumm irrten meine Gedanken umher; doch sie fanden keinen Ausgang, keine Erleuchtung, keine Erkenntnis.

Später schob man uns einen Eimer, Wasser und trockenes Brot mit ein paar Oliven in den Raum.

Als das schwache Licht aus dem Schacht erlosch, legten wir uns beide nebeneinander auf die Strohsäcke, hielten uns die Hand wie ein altes, liebendes Ehepaar.

»Irgendwann muß ein Ende sein«, sagte Marozia mit leiser Stimme. »Wenn Hugo tatsächlich die Stadt erobert, weiß ich, was ich zu tun habe. Es ist mein Schicksal, meiner Mutter zu folgen, in Liebe und Haß und sogar auf ihrem Weg in den Tod.«

Ich wollte ihr zustimmen, weil mir das erneute Einsperren in einen düsteren Kerker allen Mut nahm, weil Anspannung und Unsicherheit meine Nerven bis zum Zerreißen spannten und mich zugleich zutiefst erschöpften. Ich dachte an Aaron und seinen unwürdigen Tod, und eine glühende Sehnsucht nach ataraxia in endgültiger Auflösung erfaßte mich.

Und doch widersprach ich: »Es darf noch nicht das Ende sein.«

Am nächsten Morgen wurden wir vor Alberico geführt, der, eingefallen und grau, ein karges Frühstück zu sich nahm. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet.

»Bitte, eßt mit mir!«

Während wir uns setzten, schüttelte Marozia stumm den Kopf. Ich trank einen Schluck Wasser und griff nach frischem Obst.

»Ich war die ganze Nacht auf der Stadtmauer. Heute fällt die Entscheidung.«

Er griff nach einem Becher mit Wein und nahm einen großen Schluck.

»Aber ich muß euch noch etwas anderes berichten.« Mit unsicheren Bewegungen goß er sich nach. »Papst Johannes ist heute nacht gestorben.« Seine Stimme klang nicht nur müde, sondern auch betroffen; er rieb sich die Augen, als versuche er klarer zu sehen.

»Er wurde ermordet«, entfuhr es Marozia, die nach einem Augenblick der Erstarrung begann, ihre Fassung zu verlieren.

Alberico reagierte nicht, sondern zog ein Holzbrett zu sich heran und begann, einen harten Käse in mehrere Teile zu schneiden.

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Gestern Aaron, heute Giovanni, Hugos Heer vor dem Sturm auf die Stadt – es war einfach zuviel …

Mit kaum merklichem Zittern bot uns Alberico die Käsestückchen und mit ihnen einige Oliven an.

»Danke«, sagte ich stimmlos und nahm eins.

»Du hast ihn in den Tod getrieben«, flüsterte Marozia.

Langsam schob sich Alberico ein Käsestückchen in den Mund und kaute bedächtig. »Nein, du hast ihn auf dem Gewissen, Mama«, sagte er schließlich, ohne seine Stimme zu heben, »und das weißt du auch. Dein unglücklicher Papstsohn litt bereits lange an schwärzester Melancholie. Willst du wirklich nichts?« Er hielt seiner Mutter erneut die Käsestückchen hm.

Als sie nicht reagierte, zog er sie zurück und fuhr fort: »In den letzten Jahren habe ich gelernt, ihn zu mögen. Nicht zu lieben, aber zu mögen. Wißt ihr eigentlich, daß er zum Schluß keine Messe mehr lesen konnte? Ja? Und wißt ihr auch, warum? Er kannte kaum noch eine Zeile aus der Bibel auswendig und wußte nicht, was er tun sollte. Er warf alles durcheinander und begann grundlos zu weinen – Kardinal Benedictus löste ihn dann meist ab. Abt Odo war im übrigen in seinen letzten Stunden bei ihm, hat ihm die Sakramente gespendet. Jetzt ist er bei König Hugo.«

»Spendet er ihm ebenfalls die Sakramente?« warf ich ein.

Es war nichts als bitterer Galgenhumor.

»Sechsundzwanzig Jahre war Giovanni erst alt«, sagte Marozia. Ihr Antlitz war zu einer Maske erstarrt, und sie griff sich wieder an die linke Brust. Ihre Mundwinkel zuckten, und als sie sich nicht mehr beherrschen konnte, versteckte sie ihr Gesicht hinter ihren Händen.

Alberico ließ langsam einen seelenwunden Blick über seine Mutter, dann über mich gleiten und aß weiter. Marozias trockenes Schluchzen unterbrach die Stille.

»Mama, wir anderen sind noch da«, sagte er leise.

Sie reagierte nicht.

Ich dagegen schob langsam meine Hand über den Tisch, als wollte ich mir ein Olive nehmen, doch ich ließ sie geöffnet neben dem Schälchen liegen. Es war eine Aufforderung an Alberico, sie zu ergreifen.

Eine Weile schien er sie zu übersehen, dann legte er eine Olive hinein und lächelte mich abgrundtief traurig an. Ich steckte sie mir in den Mund und hielt ihm erneut die Hand hin.

»Noch immer nicht satt?« fragte er.

Marozias Schluchzen war unterdessen verstummt, aber die Tränen tropften weiterhin auf die Tischplatte.

»Alberico!« Ich versuchte, all die hilflosen, verwirrten, gequälten Gefühle, die ich in dieser Stunde aufbringen konnte, in meine Worte zu legen. »Schließ mit deiner Mutter Frieden! Du möchtest es doch, das sehe ich dir an. Ich weiß, daß ihr euch liebt. Laß uns frei, damit wir unseren letzten Weg gehen können. Er wird uns nicht zu König Hugo führen, das verspreche ich dir.«

»Und wenn Hugo zu euch kommt – mitsamt seinen blutrünstigen Soldaten?«

Ich wußte keine Antwort.

»Wenn er nicht kommt – wohin wollt ihr dann gehen?«

Ich wußte noch immer keine Antwort.

»Ins Kloster«, stieß Marozia leise aus. »Oder gleich in den Tod.«

Er nahm nun meine Hand. Ich spürte, daß in ihm der Haß endgültig verschwunden war.

»Wißt ihr, was Abt Odo bei König Hugo versucht?« fragte er nach einer längeren Pause.

»Er versucht, Frieden zu stiften, den König zum Abzug zu bewegen. Er ist ein wahrer Heiliger.«

Trotz aller herzbrechenden Ereignisse der letzten Stunden keimte in mir Hoffnung auf.

»Glaubst du, daß es ihm gelingt?«

»Wir haben gehört, daß in dem Heer die Pest ausgebrochen ist, neben dem Fieber, das seit Wochen wütet. Die Soldaten sterben wie die Fliegen. König Hugo wird seinen zweiten Kampf um Rom auf jeden Fall verlieren, daran gibt es nach den neuesten Berichten keinen Zweifel mehr.« Er sagte es ohne Triumph. »Aber nicht allein Abt Odo wünscht Frieden, auch ich, denn ich möchte meine Reformen in Rom vollenden und die verkommene Kirche mit einem neuen Geist erfüllen.«

Mittlerweile hatte Marozia ihre Hände von dem verschmierten Gesicht genommen und schaute ihren Sohn an.

»Wie kommt es, daß du …?« fragte ich.

»Erinnert ihr euch noch daran, wie ich den 119. Psalm auswendig aufsagen wollte und nach ein paar Versen ins Stocken geriet? Ich erntete Hohngelächter und wurde sogar geohrfeigt.« Er wich dem Blick seiner Mutter aus.

»Junge, ihr wart Kinder damals«, antwortete ich. Tatsächlich habe auch ich diese Szene nie vergessen.

»Du schlugst deinen Bruder …« Marozia vollendete ihren Satz nicht.

Alberico ging nicht auf ihre Worte ein: »Abt Odo hat mir die Worte der Heiligen Schrift erläutert. Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen?« Er hielt kurz inne, um dann mit überzeugtem Ernst fortzufahren: »Ich hasse die anarchischen Zustände, wie wir sie in Rom oft erleben mußten. Und ich hasse die Bruderkämpfe in Italien. Wenn wir uns nicht einigen, wird uns irgendwann eine fremde Macht unterwerfen.«

»Warum erkennst du König Hugo nicht als Herrscher an?« fragte ich.

»Das fragst du noch? Willst du das etwa?«

»Weil er dich gedemütigt hat? Und ein Fremder ist?«

»Er ist ein Mörder, ein skrupelloser Usurpator. Denk nur daran, was er seinem Bruder Lambert angetan hat.«

»Wenn du dich ihm weiterhin widersetzt, wird er ein drittes Mal vor Rom auftauchen – vielleicht sogar die Ungarn rufen oder die Sarazenen. Ob du dann noch die Stadt schützen kannst, ist zweifelhaft.«

»Deshalb will ich mit ihm Frieden schließen – obwohl ich ihn hasse.«

Ich schaute ihn fragend an. Marozia, die in Nachdenken versunken war, blickte wieder auf.

»Abt Odo soll Hugo folgenden Vorschlag unterbreiten: Wenn er abzieht und auf mein Friedensangebot eingeht, heirate ich zur Besiegelung unserer Abmachung seine Tochter Alda.«

Marozia lachte stumm.

»Ist das dein Ernst?« fragte ich.

Er nickte. »Vielleicht lernen wir uns zu lieben«, sagte er mit einem Hauch von Ironie und nicht ohne beziehungsreich auf seine Mutter zu schauen. Nach einem weiteren Schluck Wein drehte er den Becher in seinen Händen und schaute auf die verbliebene blutrote Flüssigkeit.

Keiner wußte mehr etwas zu sagen. Alberico trank, ich nahm mir ein Käsestückchen, und diesmal griff auch Marozia nach einer Olive.

»Wie geht es übrigens unserer Berta? Und Konstantin?« fragte ich nach einer Weile.

»Konstantin herrscht als strenger Bischof in Nepi. Und Berta?« Er lachte auf, regelrecht erleichtert. »Unsere schüchterne Berta hat durch Crescentius den Enkel des Juden Aaron wiedergetroffen und unverzüglich ihr Novizinnengewand abgelegt. Sie wollen bald nach Antiochia reisen.«

»Heißt das …« Mir verschlug es die Sprache.

»Genau, das heißt es«, sagte Alberico lächelnd.

»Hast du gehört, Marozia, daß deine Tochter Berta … liebt!« Ich konnte meine Begeisterung nicht zügeln. »So ist es doch, Alberico?«

»So ist es.«

Marozia wirkte ungläubig und starr. Ich nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie, zog sie an mich und küßte sie auf die Stirn. »Berta zieht in die Heimat meiner Mutter!«

Noch immer zeigte sie keine Freude, überhaupt keine Regung.

»Und euch lasse ich auch ziehen, sobald König Hugo abmarschiert ist.«

»Wir werden … ganz frei sein?« fragte ich skeptisch.

»Vielleicht könnt ihr ja doch noch gemeinsam nach Konstantinopel reisen.« Er lächelte nahezu spitzbübisch.

»Ich reise nicht nach Konstantinopel«, sagte Marozia. »Ich gehe in ein Kloster.«

»Aber warum …?« entfuhr es mir. Ich brauchte nicht in Marozias Augen zu schauen, um die Gründe zu wissen, um auch zu wissen, daß ihre Entscheidung unumkehrbar war.

»Ich möchte auf der Isola Bisentina meine letzten Tage verbringen«, sagte sie ganz sachlich und ruhig. »Dort finde ich meinen Frieden und meine Freiheit. Und du, Aglaia, wirst nach Konstantinopel reisen, zu deinem Sohn.«

»Alleine?« Ich schüttelte den Kopf.

Alberico schob mir lächelnd einen Becher Wein zu.

70

Wie ein Traum endete der Sommer.

Papst Johannes XI., unser Giovanni, wurde drei Tagen nach seinem Dahinscheiden nach einer bescheidenen Totenmesse in einer Seitenkapelle der Petersbasilika beigesetzt. Alberico hatte uns erlaubt, daran teilzunehmen, aber Marozia schüttelte nur stumm und mit leerem Blick den Kopf. Abt Odo hatte mittlerweile erfolgreich einen Waffenstillstand zwischen König Hugo und Princeps Alberich ausgehandelt. Der König übergab seine Tochter dem Abt, der sie nach Rom führte, und zog mit seinem dezimierten Heer nach Norden ab. Alberico und Alda waren sich, so hörten wir noch, auf den ersten Blick nicht unsympathisch. Auf Grund der schwierigen Zeiten, der anstehenden Neuwahl eines Papstes und des abwesenden Brautvaters sollte die Vermählung ohne Pomp gefeiert werden. Leider fanden Marozia und ich keine Gelegenheit mehr, der Braut Glück zu wünschen. Immerhin begegneten wir noch einmal Berta und Jakob, deren strahlende Liebe uns so tief berührte, daß wir weder bei der Begrüßung noch gar beim Abschied angemessene Worte fanden.

Schließlich kehrten wir zu unserer Hütte in den vatikanischen Gärten zurück, und es dauerte nicht lange, da verkündete uns Anastasius, wie gewünscht könnten wir zum Lago di Bolsena aufbrechen.

Marozia schickte Anastasius mit einer Bitte zu Princeps Alberich. Er möge ihr erlauben, ein letztes Mal in die Familiengruft hinabzusteigen, damit sie dort von ihrem Vater, dem Geist ihrer Mutter, aber auch von seinem Vater Abschied nehmen könne.

Alberico gewährte ihr die Erlaubnis, und so wurden wir am Tag vor unserer Abreise zum Aventin gebracht. Kaum einer der Kammerdiener oder Mägde war zu sehen. Marozia trug schwer an dem Gefühl, den Palast der Eltern, den Ort ihrer früheren Herrschaft und ihrer größten Triumphe, ein letztes Mal aufzusuchen.

Ein Diener ging uns mit einer Fackel voraus, und langsam schritten wir die Treppe hinab in die Krypta, die Marozias Vater für das goldene Kreuz des Belisar und seine letzte Ruhestätte angelegt hatte. Die Luft war nicht ganz so dumpf wie in den Gewölben der Engelsburg, aber sie wirkte beklemmend. Marozia biß die Zähne zusammen und starrte auf den Sarkophag ihres Vaters, als wolle sie ihn zwingen, den Deckel zur Seite zu schieben und sich zu erheben. Mein Blick wanderte über den leeren Sarkophag zum dritten, in dem Alberich lag, und weiter zum goldenen Kreuz, das noch immer an derselben Stelle hing, an der es Theophylactus hatte anbringen lassen. Dennoch wirkte es auf mich, als wäre es ausgetauscht worden. Die Edelsteine wirkten wie gefärbtes Glas, das glanzlose Gold sah wie billiges Messing aus.

Marozia folgte meinem erstaunten Blick, schien aber nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Nach einer Weile sagte sie nur: »Belisar hat uns Gold gebracht und unser Glück genommen«, wandte sich entschieden ab, nahm dem überraschten Diener die Fackel aus der Hand und verließ eilig die Krypta.

Im Vestibyl begegneten wir unserem blonden Alberico, der erholt und zufrieden wirkte. Ernst und forschend schaute er seine Mutter an, ohne einen Anflug von spöttischer Ironie, mit der er sich vor abweisender Kälte hätte wappnen können – und sie erwiderte seinen Blick. Mein Herz begann wild zu pochen, es nahm rascher als mein Verstand wahr, daß zwischen beiden ihre hinter Mißachtung und Rachegefühlen verborgene Liebe durchbrechen wollte. Alberico nahm seine Mutter in den Arm.

»Mama!« Welche Sehnsucht, wieviel unterdrückte Sohnesliebe steckte in seinem Ausruf! »Kannst du mir verzeihen, was ich dir angetan habe?«

Sie schluchzte nur einmal kurz auf und barg ihr Gesicht an seiner Brust. »Du mußt mir verzeihen«, flüsterte sie.

Es dauerte lange, bis die beiden ihre Umarmung lösen konnten. Voller Glück darüber, daß sie endlich nach soviel Leid ihren Frieden geschlossen hatten, stand ich neben ihnen, bis auch ich in die Arme genommen wurde.

Am nächsten Tag brachen wir in aller Frühe mit Anastasius auf, der uns seine Begleitung angeboten hatte. Marozia und ich hatten in der Zwischenzeit kaum miteinander gesprochen, und auch jetzt blieben wir in unsere Gedanken versunken. Als wir die Porta Flaminia durchritten, spürte ich nicht einmal Erleichterung. Kurz darauf warf ich einen letzten Blick auf die Stadt, die sich bereits hinter ihrer Mauer verbarg.

Marozia hatte ebenfalls ihr Pferd angehalten und schaute zurück.

»Ich hätte hinabsteigen sollen in die Unterwelt«, sagte sie unvermittelt. »Dann wäre ich mit meiner Mutter vereint gewesen.«

Dieser Gedanke schien sie seit Tagen nicht mehr loszulassen.

»Mit deiner Mutter, die du nie geliebt hast?« entgegnete ich.

Sie schaute nachdenklich auf ihre Hände, die die Zügel hielten. »Vielleicht hätte ich mich mit ihr im Tod versöhnen können.«

»Noch hast du Zeit, dich mit ihr im Leben zu versöhnen.«

»Glaubst du wirklich?«

Sie wandte den Blick in die Ferne, und wir ritten weiter.

Ich fragte mich, ob wir beide auf der Insel unsere Ruhe finden könnten. Lathe biosas, hatte Epikur seinen Schülern empfohlen, lebe im Verborgenen, mische dich nicht in die politischen Händel ein, denn allzu leicht kommst du in ihnen um, und außerdem kannst du nur im Verborgenen die Seelenruhe finden, nach der du dich sehnst.

War nicht die Insel mitten im See ein verborgener Ort?

Anastasius hatte uns erzählt, die Gotenkönigin Amalaswintha sei einst auf die Nachbarinsel Martana verbannt und später dort ermordet worden. Dachte ich daran, nahm der Rat des Philosophen einen zweideutigen Klang an. Lebe im Verborgenen hieß dann: Stirb im Verborgenen! Verschwinde unbemerkt aus dem Leben! Finde dich damit ab, daß du vergessen wirst!

Und wenn wir auf der Insel doch Theodora begegnen würden?

Ich erzählte Marozia nichts von meinen Gedanken, zumal sich in mir das Gefühl der Befreiung verstärkte. Es war wie eine Traumbotschaft, die mir sagte: Harre aus, dann wirst du belohnt. Und siehe, es war gut.

Die erste Nacht verbrachten wir in einer Herberge am Rande des Lago di Bracciano. Als ich am frühen Morgen aufwachte, waren Marozias Augen noch geschlossen. Doch als ich sie wecken wollte, sprach sie, als hätte sie auf meine Stimme gewartet: »Ich habe soeben von Alexandros geträumt. Diesmal unterschied sich der Traum von meinen früheren Träumen: Wir saßen unter einem uralten Ölbaum im Licht der untergehenden Sonne und schauten über das ferne Meer.«

Was sollte ich darauf antworten? Natürlich hatte auch ich während der letzten Tage und Wochen häufig an meinen Sohn gedacht. Der Schmerz über seinen Verlust wühlte dumpf in mir, und doch war ich überzeugt, das Richtige getan zu haben, als ich mich entschloß, bei Marozia zu bleiben. Je mehr ich davon überzeugt war, desto blasser wurde der Sohn des Sergius, löste sich im Nebel der tausend sehnsuchtsgetränkten Erinnerungsbilder auf, desto lebendiger, strahlenumflossener, erlösender trat mein Sohn vor mich.

Am Abend des dritten Tages erreichten wir Capodimonte, von wo aus wir zur Insel gebracht werden sollten. Wir schliefen in einem kleinen Frauenkloster, dem das Inselkloster angegliedert war. Es wurde eine Nacht, die von fremden Geräuschen durchdrungen war, von flüsternden Stimmen und fernen Gesängen, in die ich schließlich stumm, nur mit bewegten Lippen einfiel. Es wurde eine Nacht, in der ich meine Eltern wiederfand. Der Traum ließ kein Erstaunen zu. Sie waren einfach da, so wie sie während meiner Kindheit da waren, und uns umringten meine Enkelkinder. Euthymides saß mit mir im Schatten. Uns gegenüber, auf einer Bank, lehnten Alexandros und Marozia wie Philemon und Baucis aneinander.

»Wir haben uns immer im Verborgenen geliebt«, sagte Marozia, und Alexandros fügte an: »Es war eine Liebe im ewigen Lächeln deiner ruhigen Seele.«

Der Schatten eines Vogels ließ sich im Granatapfelbaum unseres Gartens nieder. Ich merkte, daß ich nicht mehr träumte. Es war kein großer schwarzer Rabenvogel, wie ich anfangs geglaubt hatte, sondern ein unscheinbarer mit süßer Stimme: eine Nachtigall.

Aber singt am Ende des Sommers noch eine Nachtigall? Mit diesem Gedanken wachte ich endgültig auf. Frühlicht fiel in unsere Zelle. Marozia neben mir wälzte sich unruhig hin und her. Doch weder hörte ich den Gesang eines Vogels noch sah ich sein Gefieder. Ich hatte also geträumt, ich würde nicht mehr träumen.

Vorsichtig schälte ich mich aus dem Bett und trat ans Fenster. In der Ferne, über dem milchig-sanften See, trat die Insel Bisentina aus dem sich auflösenden Frühnebel. Am Ufer schwammen bereits zwei Schwäne in gleichmäßigen Bewegungen auf ein Boot zu, in dem ein Mann in einer schwarzen Mönchskutte hockte, den Kopf unter der Kapuze verborgen.

Als ich Marozia weckte, schlug sie erstaunt die Augen auf und sagte: »Bin ich doch nicht tot? Ich dachte, ich sei soeben gestorben.«

»Es war ein Traum«, antwortete ich. »Vor entscheidenden Wendungen im Leben träumt man immer besonders intensiv.«

»Unsere letzte Reise steht uns bevor«, flüsterte sie. »Eine Reise ins Vergessen.«

»Entscheidend ist, daß wir leben und zusammen sind.«

Marozia stand mit halbgeschlossenen Augen vor mir. Ich hielt ihre Tunika in der Hand, um ihr zu helfen, sie überzuziehen. So nackt, wie sie vor mir stand, nicht ohne Spuren der letzten Jahre, war sie noch immer eine schöne Frau. Sie fuhr sich mit ihren Händen in ihre grau gewordenen Haare, die wieder in vollen Wellen bis auf die Schultern fielen. Sie hatte im Kerker Maria Magdalena sein wollen: Jetzt war sie es.

»Und wenn wir nur träumen, daß wir noch leben?« sagte sie leise.

»Hoch die Arme!« befahl ich und ließ dann die leinenblasse Tunika über ihren Körper gleiten.

Anastasius wartete bereits vor der Zelle und führte uns stumm aus dem düsteren Kloster hinaus über eine mit Herbstblüten übersäte Wiese zu dem kleinen Hafen. Der Mönch, den ich bereits entdeckt hatte, sollte uns hinüberrudern zur Insel. Er drehte sich nicht um und begrüßte uns nicht, als wir das schwankende Boot bestiegen.

Anastasius stieß es vom Ufer ab und rief uns nach: »Ich werde für euch beten und euch nie vergessen.«

Mit kräftigen Schlägen ruderte uns der stumme Mönch hinaus auf die glatte Fläche des Sees. Ich ließ die Finger durch das warme Wasser gleiten. Keiner von uns sprach ein Wort. Natürlich fühlte ich mich an Charon und seinen Nachen erinnert. Vielleicht hatte Marozia recht, und wir bewegten uns in unseren Abschiedsträumen.

Unaufhaltsam trieben wir dem Ziel unserer letzten Reise entgegen. Eine kleine Möwe begleitete uns eine Weile, bis sie wieder abdriftete, und in der Tiefe des Wassers sah ich die Silberrücken kleiner Fische blitzen. Die Schwere der Trauer fiel von mir ab.

Auf halbem Weg zur Insel streifte der Mönch seine Kapuze vom Kopf.

Es erstaunte mich nicht mehr.

Vor uns saß Alexandros und lächelte uns an. »Ich bin euer Retter«, sagte er. »Ich hole euch nach Hause.«

Marozia neben mir gab einen Laut des Erstaunens von sich. Ihre Augen waren aufgerissen, ihre Lippen bildeten stumm einen Namen. Die Freude, so dachte ich, überwältigt sie.

Alexandros sprang auf, so daß das Boot fast gekentert wäre, schrie: »Meine Mariuccia! Du darfst nicht sterben!«

Jetzt erst begriff ich, daß es nicht die Freude war, die sie überwältigte, sondern das Entsetzen. Ein zweites Mal bildeten ihre Lippen ein Wort, und diesmal verstand ich, was sie sagte: »Sergius«.

Ich glaube, Alexandros hat sie nicht verstanden. Er nahm sie in den Arm, hielt sie, strich ihr über Antlitz und Haare, rief: »Ich bin dein Geliebter. Alles war abgesprochen. Es sollte eine Überraschung werden. Meine Frau und meine Kinder drängten mich, euch zu holen, und auch mich ließ euer Schicksal nicht ruhen. Du weißt doch: Wen der Pfeil der Schönen je getroffen … Ich führe euch nach Hause. Wir werden alle glücklich sein.«

Noch einmal bewegten sich Marozias Lippen, und diesmal nannte sie den Namen ihres einzig und für ewig geliebten Bruders.

Kein Kuß und keine Tränen konnten sie mehr aus ihrem Totentraum zurückholen.

Hoch über dem Wasser, auf einem kleinen Friedhof, neben einem namenlosen Kreuz, hoben Alexandros und ich ein Grab aus und bestatteten sie. Wir gaben auch ihr nur ein einfaches Kreuz ohne Namen, doch beschriftet mit dem Wort αταραξία, und beauftragten die Nonnen des Klosters, über den beiden Gräbern eine kleine Kapelle zu errichten.

Hiermit schließe ich meinen Bericht über das Leben meiner geliebten Milchtochter Marozia und ihrer Familie. Alexandros hatte seine Mutter nicht vergessen. Welcher Sohn kann schon seine Mutter vergessen? Er hatte vor drei Jahren mit Princeps Alberich verhandelt, traf später Abt Odo, dem er seine Geschichte erzählte. Das Herz des Abtes war gerührt von soviel unerschütterlicher Treue, die alle Sünde verzeihen läßt. Alberico wollte uns jedoch noch nicht in die Freiheit entlassen, und so reiste Alexandros nach Konstantinopel zurück, begleitete aber die nächste Gesandtschaft zu König Hugo und blieb bei ihm, als dieser Rom erobern wollte. Pest und Fieber verschonten ihn. Abt Odo, den er bei den Friedensverhandlungen wiedertraf, berichtete ihm von unserer geplanten Freilassung und Marozias Entschluß, auf der Klosterinsel ihren Frieden zu suchen. Als er hörte, daß ich auch diesmal bei meiner Mariuccia bleiben wollte, stand sein Plan fest.

Marozia hat mit uns nicht mehr den Weg ins ferne Konstantinopel antreten können. Hätte sie ihn angetreten, wenn ihr Herz stärker gewesen wäre? Ich weiß es nicht. Doch weiß ich, daß sie uns nie mehr verlassen wird.

Ihre Seele ruhe in Frieden! Wie auch die Seele ihrer Mutter in Frieden ruhen möge.

Es ist früher Morgen, und aus der glasigen Ferne hat sich die Sonne über den Horizont geschoben, der fast ununterscheidbar den Himmel von der Wasserwüste trennt. Es ist die Sonne über dem ägäischen Meer, das sich nun in sich kräuselndes Silber verwandelt. Das gleißende Licht beginnt uns zu blenden. Ich schreibe meine letzten Worte. Vorne am Bug des Schiffes steht Alexandros im leichten Wind wie ein versteinertes Denkmal. Und siehe, es war gut. Das Haus meiner Eltern, das Haus meiner Enkel erwartet mich mit dem Duft der Goldorangen und Limonen.