1
Wie konnte all dies nur geschehen?
Vor wenigen Augenblicken mußte ich Marozia noch tröstend in den Arm nehmen. Selten habe ich sie weinen gesehen, nun forderten Unsicherheit und Angst ihren Tribut. Während die Tränen flossen, schüttelte sie den Kopf. Sie wollte nicht begreifen, wie sich unser Leben innerhalb weniger Stunden geändert hatte. Gestern noch fühlte sie sich, die Herrin Roms und die Mutter unseres Papstes, als mächtigste Frau Italiens und zukünftige Kaiserin, heute liegt sie gestürzt und gedemütigt, geschlagen und voller Schmutz im tiefsten Kerker der Engelsburg. Gestern prunkte sie noch im dunkelglühenden Ornat ihrer Hochzeitsfeier, an der Seite eines Königs, der dabei war, Kaiser zu werden, gestern zeigte sie sich noch entschlossen, Italien zu einen, die brandschatzenden Ungarn endgültig zu vertreiben und den Sarazenen den Mut zu nehmen, über unsere Küsten herzufallen, heute sieht sie sich von einem rachsüchtigen Gott in eine dunkle Tiefe gerissen, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.
Langsam beruhigte sich Marozia wieder, legte sich auf eine der mit schmutzigem Stroh bedeckten Holzpritschen, starrte an die niedrige Decke. Ihre Lippen wurden schmal, ihre Zähne knirschten vor erneut hervorbrechender Wut. Dann schloß sie die Augen, und die Wut in ihrem Antlitz verwandelte sich in Verzweiflung.
»Warum nur?« flüsterte sie. »Aglaia, sag mir: Warum?«
Was sollte ich darauf antworten! Wußte ich denn, warum ein nichtiger Anlaß solch schreckliche Folgen nach sich ziehen und ihre Hochzeit mit König Hugo wie ein Alptraum enden mußte? Es war, als hätte der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Sturm hervorgerufen.
Sie seufzte, und eine letzte Träne quoll unter den geschlossenen Lidern hervor.
Eine Weile wanderte ich durch unser Verlies und ließ mich schließlich auf der zweiten Pritsche nieder, warf einen Blick auf Marozia, die wie eine marmorne Grabfigur ihrer selbst dalag, stumm und kraftlos, doch nicht ohne Stolz und Würde. Ich starrte an die schimmlige Wand, als könnte ich dort eine Antwort finden.
Die Hochzeitsfeier in der Engelsburg, in diesem uralten Mausoleum, zog quälend langsam vor meinem inneren Auge vorbei. Schon sie war ein Sakrileg, das nach Strafe schrie. Alberico, Marozias zweitgeborener Sohn, betrat den Raum, bewegte sich mit gezirkelten Schritten auf König Hugo, seinen Stiefvater, zu. Hugo brach in höhnisches Gelächter aus, und Alberico schritt zur sorgfältig geplanten Tat. Am meisten hat sich mir sein haßerfüllter Blick eingeprägt, den er, bevor er den Raum verließ, auf Stiefvater und Mutter warf. Am nächsten Morgen – gestern! – geschah dann, was niemand erwartet, ja, auch nur für möglich gehalten hatte und was uns schließlich in diesem stinkenden, stickigen und feuchten Kerker enden ließ.
Warum muß Alberico uns so bestrafen? Hätte es nicht gereicht, König Hugo in Fesseln zu legen? Weiß Alberico nicht, daß er mit seiner Tat eine Spirale der Gewalt in Gang setzt, in der einer untergehen muß: seine Mutter oder er?
Ich verstehe nach all dem Demütigenden, das er während der letzten Tage ertragen mußte, seinen Zorn, ich verstehe auch die Verletzungen, die er seit seiner Kindheit hat erleiden müssen – doch warum geht er so weit, alle Brücken der Verständigung abzubrechen? Niemand weiß besser als ich, daß er um die Liebe seiner Mutter kämpfte, daß er hinter seinem Bruder Giovanni zurückstand, dem Erstgeborenen, der auf Marozias Betreiben hin zum pontifex maximus gewählt wurde, während er auf das Erbe seines Vaters bis heute wartet.
Eins ist sicher: Wir alle haben ihn unterschätzt. Seinen Willen, seine Kraft und auch die Entschlossenheit seiner Anhänger.
Marozia öffnete wieder die Augen, als hätte sie nur kurz nachgedacht, und erklärte in die Stille des Kerkers hinein: »Er muß uns freilassen. Hugos Heer liegt vor den Mauern der Stadt und wird sie stürmen, wenn der König nicht bald zurückkehrt. Seine Soldaten werden sich furchtbar rächen, Alberico wird einen grausamen Tod erleiden …«
»Roms Mauern sind hoch und stark bewehrt«, entgegnete ich.
Marozia richtete sich auf und starrte mich verärgert an.
Ohne die Ruhe zu verlieren, ergänzte ich noch: »Vielleicht hat Alberico sogar den König umbringen lassen.«
Sie sprang abrupt auf und durchschritt unsere Zelle wie eine eingesperrte Löwin. »Selbst wenn Hugos Männer Rom nicht erobern, können sie die Stadt aushungern«, rief sie gegen eine der Wände.
»Bevor die Stadt ausgehungert ist, lebt keiner mehr von uns.«
»Das römische Volk steht hinter mir. Wenn durchsickert, wie Alberico mich behandelt, wird es einen Aufstand geben.«
»Es gab einen Aufstand – gegen dich und König Hugo. Kein Fischer vom Tiber, kein Wasserverkäufer und kein Straßenmädchen haben einen Finger für dich gekrümmt.«
Mein sachlicher Ton dämpfte Marozias Erregung. Die Stirn in Falten gelegt, setzte sie sich wieder auf ihre Pritsche und schwieg. Nach einer Weile erklärte sie: »Alberico hat sich nie damit abfinden können, daß ich seinen Bruder Giovanni zum Papst habe wählen lassen. Ob er auch ihn in den Kerker gesteckt hat?«
»Es wird nicht nötig sein.«
»Du hast recht. Sogar als Papst macht Giovanni, was ihm befohlen wird. Außerdem hat er seinem Bruder nie etwas Böses getan. Bei meiner Hochzeit mit Hugo behandelte er ihn zuvorkommend und vergoß während der Zeremonie Tränen … Er ist ein weicher Junge, mitleidig und unentschlossen – ängstlich … im Gegensatz zu Alberico, der verschlagen ist, voller Gewalt, wie sein Vater …«
»Du irrst dich, Marozia«, unterbrach ich sie, »weder der Junge noch sein Vater waren verschlagen und gewalttätig. Alberico sehnte sich nach Liebe und Anerkennung.«
Erneut legte sich Marozia auf den Rücken, schloß die Augen und flüsterte: »Vielleicht hast du recht.«
Als sie die Rivalität der beiden Brüder angesprochen hatte, war mir eine Szene aus ihrer Kinderzeit eingefallen, die ich nie vergessen habe.
Alberico, der wilde Junge, kam zu seiner Mutter gerannt, die soeben dabei war, sich von dem kirchlich gekleideten Giovanni den Beginn des 119. Psalms vortragen zu lassen, den er hatte auswendig lernen müssen.
»Ich kann ihn auch!« fiel Alberico seinem Bruder mit lautstarker Begeisterung ins Wort und drängte ihn zur Seite. »Ich habe ihn gelernt.« Er baute sich vor seiner Mutter auf.
»Na, dann laß hören«, sagte sie, nicht ohne Stirnrunzeln über seinen ungebührlichen Auftritt.
Alberico begann zu rezitieren, zuerst zögernd und vorsichtig, dann immer sicherer: »Ich danke Dir von rechtem Herzen, daß Du mich lehrest die Rechte Deiner Gerechtigkeit. Deine Rechte will ich halten; verlaß mich nimmermehr. Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? Wenn er sich hält nach Deinen Worten.« An dieser Stelle begann er stotternd, nach dem Anschluß zu suchen, der ihm offensichtlich entfallen war. Giovanni begann spöttisch zu kichern, und Alberico warf ihm einen wütenden Blick zu. »Ich habe ihn gerade noch gekonnt«, rief er. Nun lachte auch seine Mutter, nicht ohne Spott.
»Ich weiß, wie der Psalm weitergeht«, mischte sich Giovanni ein, im seltenen Triumph über seinen Bruder, und streckte sich hoheitsvoll. Doch schon hatte ihm Alberico einen heftigen Stoß versetzt, stürzte sich auf ihn, um ihn zu Boden zu ringen. Wie so häufig, begann Giovannis Nase zu bluten. Ich trennte die Brüder mit sanftem Nachdruck, während Marozia mit verärgerter Miene nach Alberico schlug, ihn mit einem schrillen »Raus!« aus dem Raum jagte und dann voll überfließenden Mitleids Giovanni an ihre Brust zog, ohne auf das Blut zu achten, das ihre Tunika befleckte.
Alberico blieb nach diesem Ereignis tagelang verstockt und ließ sich nur von seinem Vater trösten, der ihm geduldig die Tricks des Fechtens sowie die Künste des Reitens zeigte und ihm, als Alberico zu ermüden begann, von der Wolfsjagd erzählte, bei der ein Junge zu einem richtigen Mann werden könne.
Ich schreckte hoch.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo wir uns befanden, daß ich auf dem feuchten Stroh der Pritsche eingenickt war, womöglich sogar länger geschlafen hatte.
Die Kerkertür war geöffnet worden, und vor uns stand Alberico im Schein mehrerer Fackeln. Rasch setzte ich mich auf, fuhr durch meine Haare und suchte nach einem Tuch. Marozia lag neben mir, die Augen geöffnet.
Alberico, gerade und hoch gewachsen, mit starken Gliedern und wettergegerbter Haut, ragte auf wie ein zorniger Engel, seine helle Löwenmähne umflackert von unstetem Licht. Kinn und Wangen hatte er glatt geschabt, und seine zwei Grübchen ließen sich von tiefen Narben kaum unterscheiden. Man hätte ihn für den Erzengel Michael halten können, doch fehlte das Schwert in seiner Hand. Er trug allerdings einen Brustschutz aus Leder, und ich glaubte Blutspuren an seinem Arm entdecken zu können.
Noch immer sah er auf uns herab. Die Fackeln knisterten und schickten ihre rußenden Flammen zur Decke; hinter ihm, an den feuchten Wänden, umtanzten ihn Schatten wie wilde Dämonen.
Stöhnend setzte sich Marozia auf, strich sich ihr Obergewand glatt. Ohne ihren Sohn anzuschauen, sagte sie mit heiserer Stimme: »Hast du endlich Vernunft angenommen? Oder willst du mich in diesem Loch verrecken lassen?« Augenlider und Lippen zitterten.
Ich wollte ihr ins Wort fallen, denn offensichtlich hatte sie ihre Lage noch immer nicht begriffen, und machte eine abwiegelnde Geste. Ich befürchtete, Alberico könnte in einen ungehemmten Wutanfall ausbrechen; zugleich sah ich in seinen Augen eine tiefe Verletzung, ja, Verzweiflung.
»Was hast du mit Hugo gemacht? Ihn ermordet?« Ihr Ton war unangemessen herrisch.
»Ich hätte ihn gleich über die Klinge springen lassen sollen«, antwortete Alberico. »Oder blenden – das hätte er verdient.«
Marozia verzog angewidert ihren Mund.
Tatsächlich wirkte Alberico nicht so sicher, wie er nach seinem Sieg über Stiefvater und Mutter hätte sein müssen. Dies schien Marozia zu spüren.
»Hugos Männer werden Rom stürmen und dich wie eine Ratte erschlagen.«
Alberico lachte auf, doch sein Hohn klang wenig überzeugend. »An Roms Mauern haben sich schon ganz andere Heere die Zähne ausgebissen – und bevor ein feindlicher Soldat die Stadt betritt, bist du tot.«
»Willst du wirklich wagen, dich am Leben deiner Mutter zu vergreifen?« Marozia hatte ihre Stimme so gesenkt, daß sie kaum zu verstehen war.
»Wenn du mich zwingst …«
Jetzt lachte Marozia auf, künstlich und schrill.
Alberico beherrschte sich nur mühsam.
»Gut, ich habe verstanden«, erklärte sie, nun weniger provokant. »Dann erlaube mir, Rom zusammen mit dem König zu verlassen. Hugo wird auf den Kaisertitel verzichten – und du wirst uns nie wiedersehen.« Ihre Stimme wurde weich. »Quäle deine Mutter nicht länger in dieser stinkenden Gruft!«
»Meine Mutter …« Alberico hatte den Ausdruck verächtlich wiederholen wollen, doch unvermittelt brach seine Stimme weg, und er klang nach Klage, bitterem Vorwurf und tiefer Verletzung.
Noch einmal wiederholte Alberico das Wort Mutter, um sofort »Du blutschänderisches Weib!« auszustoßen, als wollte er die Wirkung des vertrauten Klangs ersticken. »Du wirst hier bleiben, bis dich die Ratten aufgefressen haben, und deinen heimtückischen Hugo soll ebenfalls der Teufel holen!«
Sie schluckte. Nach einer Weile fragte sie: »Was forderst du?«
Weil sie sich erheben wollte, streckte sie Alberico die Hand entgegen. »Hilf mir auf!«
Er trat einen Schritt auf seine Mutter zu, doch statt ihr zu helfen, gab er ihr einen heftigen Stoß, so daß sie fast von der Pritsche gefallen wäre.
»Wie kannst du es wagen, du Bastard!« zischte sie.
»Giovanni ist der Bastard«, antwortete Alberico, zitternd vor unterdrückter Wut, »ich bin dein legitimer Sohn, der Nachfolger meines Vaters Alberich und meines Großvaters Theophylactus. Ich bin princeps Romanorum, Adel und Volk stehen hinter mir, die Tore der Stadt sind geschlossen, kein Fremdling wird hereingelassen, schon gar kein Soldat des Usurpators aus der Provence« – Alberico zögerte wie vor einem Geständnis – »der sich feige davongestohlen hat.«
Ich wollte nicht glauben, was ich hörte, auch Marozia starrte ihren Sohn mit offenem Mund an.
»Ja, ihr hört richtig: König Hugo hat letzte Nacht die Wachen bestochen und sich aus dem Gefängnis abgeseilt.« Wütend ballte er die Faust. »Aber seine Helfer mußten bereits für ihre Tat bezahlen: Ich ließ ihnen die Hände abhacken und sie dann aufknüpfen, mit Hilfe des Taus, das deinem Gemahl zur Flucht verhalf. So wird es allen Verrätern gehen.«
Er versuchte, sich zu mehr Ruhe zu zwingen. »Damit nicht auch du versuchst, deine Wachen zu bestechen, sollte ich dich erwürgen lassen. In diesen Gemäuern sind bereits andere erwürgt worden, wie du weißt. Es wäre nur ausgleichende Gerechtigkeit.«
Selbst in dem schwachen Licht der Fackeln sah ich Marozia erbleichen. Nach einem Hustenanfall veränderte sie grundlegend ihren Ton und flüsterte: »Mein Sohn … Ich bin deine Mutter, die dich unter dem Herzen trug und unter Schmerzen gebar. Ich liebte deinen Vater, ich liebte auch dich, war stolz auf deine Stärke, selbst wenn ich es nicht immer zeigen konnte.«
Als Alberico nicht reagierte, versuchte sie gewinnend zu lächeln: »Ich verstehe, daß du zornig bist. König Hugo hat sich dir gegenüber nicht richtig verhalten, er hätte sich entschuldigen sollen, aber er ist aufbrausend und unbeherrscht …«
»Du hast mir das Erbe meines Vaters vorenthalten«, unterbrach sie Alberico. »Und wer sagt mir, daß Hugo nicht plante, mich aus Rom zu vertreiben, mich sogar zu … töten.«
Marozia bedeckte theatralisch ihr Gesicht mit den Händen.
»Die Würfel sind gefallen«, trumpfte Alberico auf.
Ich muß gestehen, so bedrohlich die Situation war: Seine Worte klangen ein wenig hohl.
»Und was willst du jetzt tun?« fragte Marozia mit dumpfer Stimme.
»Aglaia darf gehen. Sie hat immer versucht, mir deine fehlende Liebe zu ersetzen, sie ist gerecht und voller Verständnis. Sie lasse ich in ihre Heimat zurückkehren.«
Er reichte mir die Hand, zog mich auf die Beine, drückte mich kurz an seine Brust. Ich konnte kaum atmen, so erschrocken war ich.
»Alberico«, stammelte ich.
»Du bist keine Sklavin mehr.« Er lächelte mich an, ohne Arglist.
»Laß auch deine Mutter frei«, bat ich ihn. »Hol sie wenigstens aus dieser Gruft heraus. Ihr könnt euch einigen. Es soll Frieden sein.«
»Sie wird nie Frieden halten können.« Er hatte sich abgewandt und gab das Zeichen zum Aufbruch. Mir winkte er. »Komm mit mir, ich stehe zu meinem Wort.«
»Ich kann deine Mutter nicht allein lassen«, beschwor ich ihn, »ohne zur Verräterin an meinem Kind zu werden …« Ich nahm seine Hand und schaute ihn flehend an: »Es ist genug Schreckliches geschehen. Du mußt den Kreislauf der Gewalt beenden.«
Alberico hatte mich protestierend unterbrechen wollen, beherrschte sich jedoch und ließ mich ausreden, während er seinen Körper straffte. »Genau dies will ich tun«, erwiderte er schließlich. »Die Zeit der Willkür ist vorbei. Ich werde den Römern ein gerechter Herrscher sein. Hilf mir dabei!«
Verzweifelt schaute ich auf Marozia.
»Geh mit ihm, Aglaia!« Ihre Stimme klang nun schwach und gebrochen.
Ich schüttelte den Kopf.
»Alberico hat recht. Du solltest endlich in deine Heimat zurückkehren, auch ich gebe dich frei.«
Als ich noch immer zögerte, fügte sie an: »Denk an Alexandros, deinen Sohn, suche ihn! Du wirst ihn finden und von mir grüßen, von seiner Milchschwester, seiner einzigen, unvergessenen Liebe.«
»Nein, ich kann nicht! Ich …« Ich war verzweifelt.
Bevor Alberico uns verließ, ohne seine Mutter eines weiteren Blickes zu würdigen, rief er mir noch zu: »Du kannst es dir jederzeit anders überlegen, Aglaia.«
Die schwere Kerkertür fiel dumpf ins Schloß, die Riegel wurden mit mächtigem Schlag zugeschoben, und schlurfend entfernten sich die Schritte der Wärter. Ihre Stimmen wurden leiser und verschwanden.
Marozia fiel wie gefällt auf ihre Pritsche.
Gelähmt stand ich neben ihr. Ich hatte nicht vermocht, sie allein zu lassen.
Unsere Kerzen flackerten, als wollten auch sie ihre Verzweiflung ausdrücken.
»Warum bist du nicht gegangen?« fragte Marozia tonlos. »Willst du unseren Alexandros nicht wiedersehen?«
Seit Tagen sitzen wir nun in unserem Verlies. Marozia schwankt zwischen zornigen Ausbrüchen, düsterer Mutlosigkeit und beschwörendem Beten.
Immerhin sind wir versorgt mit Kerzen und frischem Wasser, Brot, Wein und Öl sowie einem Eimer, der regelmäßig geleert wird.
Und einem Stapel Pergament!
Alberico war nicht mehr erschienen, doch gelang es mir, ihm über einen der Wärter eine Bitte zu übermitteln: Ich wünschte mir eine Möglichkeit zu schreiben, um die stumpfsinnigen Stunden der freiwilligen Kerkerhaft leichter ausfüllen und ertragen zu können. Und tatsächlich, mir wurde mein Wunsch erfüllt!
Nun habe ich die ersten Blätter beschrieben und fühle mich gefaßter.
Soll ich etwa hadern, stöhnen und weinen? Nein, ich habe ganz andere Zeiten voll Schmerzen und Schmach, Erniedrigung und Todesnähe ertragen müssen. Das geschriebene Wort hilft, den Schrecken zu bannen, es dämpft die Aufwallungen des Herzens, es gibt der Seele die Ruhe, deren sie in stürmischen Zeiten bedarf.
Marozia ist in ein undurchdringliches Schweigen gefallen. Ich suche ihren Blick, doch sie hat eine abweisende Maske aufgesetzt. In der beklemmenden Stille wachsen ihr Atem, das Kratzen der Feder und das Knistern der Fackeln zu bedrohlichen Geräuschen. Die Worte, die eine Weile willig flossen, stellen sich nur noch mühsam ein …
Melden sich Zweifel an meiner Entscheidung? Helfe ich Marozia wirklich, wenn ich bei ihr bleibe? Kann ich nicht, ohne Fesseln, besänftigend auf Alberico einwirken und mit unserem Giovanni sprechen, dem Papst …?
Die Verlockungen der Freiheit sind wie fruchtbare Tiere: Sie vermehren sich rasch. Schon sage ich mir: Du bist nicht als Sklavin geboren. Hast du nicht lange genug gelitten, ohne zu klagen? Hast du nicht sogar das dir zugeteilte Los angenommen? Der Allmächtige reicht dir die Hand zur Freiheit, weise sie nicht hochmütig zurück! Alberico wird seine Mutter nicht lange in Gefangenschaft halten, auch sie wird bald wieder unter der Sonne Roms lustwandeln.
Am meisten lockt mich eine Hoffnung, die Marozia bereits andeutete: In Kürze wird eine Gesandtschaft aus Konstantinopel eintreffen, die eine Antwort bringt auf Marozias Angebot, ihre jüngste Tochter Berta dem zukünftigen Kaiser von Byzanz als Gemahlin zu geben. Könnte es nicht sein, daß mein Sohn Alexandros diese Gesandtschaft begleitet? Würde es nicht ihm – und mir – das Herz brechen, erführe er von unserem Schicksal und könnte nichts tun, als unverrichteter Dinge in seine Heimat zurückzukehren?
Die Kerzen flackern, die lähmende Kälte unseres Kerkers kriecht in meinen Körper wie ein Gift, das sich meiner bemächtigen möchte. Es gibt nur ein Gegenmittel: Ich muß meinen Blick zurückschweifen lassen in ferne Zeiten, muß mich wappnen und wärmen durch die Erinnerung an Tage des Glücks. Sie spenden uns Trost wie der thebaische Mohn, sie helfen, das undurchschaubare Schicksal hinzunehmen, die Ratschlüsse des Allmächtigen, die häufig ungerecht erscheinen, wie selbst Hiob, der Gerechte, erfahren mußte. Ich lasse die Tage des Verlusts und der Versklavung im tiefen Schatten meines Gedächtnisses, richte das Licht des Gedenkens auf die Wunder der Rettung und das Glück der Mutterschaft: Zweiundvierzig bewegende Jahre ist es nun her, daß kurz nacheinander mein eigener Sohn Alexandros und Marozia, mein Milchkind, zur Welt kamen.
Da ruhten sie in meinen Armen und tranken, die Augen selig geschlossen. Meine kleine Marozia, von mir häufig Mariuccia genannt, legte ihr Händchen auf meine Brust, streckte und beugte die Finger, als wolle sie mich kraulen. Später, als kleines Kind, strahlte sie, wenn ich sie anlächelte und hochnahm, und nicht nur mich begrüßte sie mit diesem Strahlen, auch ihre Eltern, die Kammermädchen, Diener und Wachen, sogar die Besucher des Hauses. Sie tollte mit den Hunden, streichelte die Katzen und sang mit den Vögeln. Nie scheute sie sich vor einer Berührung und genoß die Bewunderung all der Menschen, denen sie begegnete – ein dunkellockiges Engelwesen, das mit seinem lächelnden Liebreiz bereits als Kind Hof zu halten wußte. Als junge Frau verzauberte sie jeden, der in ihre Nähe trat, am meisten Alexandros, er sank vor ihr auf die Knie, und in federnder Anmut bewegte sich ihr Körper wie im Tanz.
Als ihre Amme, Kinderfrau und Lehrerin durfte ich Marozia nur selten verlassen, blieb ihre Vertraute und Beraterin in allen Lebenslagen, und gleichwohl stellt sie für mich bis heute ein Rätsel dar – das Rätsel der Sphinx? Die Liebe ist kein Instrument der Erkenntnis; vielleicht hat sie mich verblendet. Hätte ich Marozia nicht oft genug verurteilen müssen? Und doch ist sie Teil meines Herzens – nie werde ich aufhören, sie zu lieben, was immer auch geschieht.
Wer Marozia angeschaut mit Augen, ist der Sehnsucht schon anheimgegeben, dichtete einst Alexandros, wen der Pfeil der Schönen je getroffen, ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe – welch prophetische Worte!
Nein, ich werde sie nie verurteilen.
Neigen wir nicht ohnehin dazu, der Schönheit, gepaart mit Liebreiz, alles zu verzeihen? Erschreckt sie uns nicht zugleich, weil wir befürchten, daß ein Gott sich rächen wird mit Aussatz und Verfall? Bereits die griechischen Götter waren neidische Wesen; der christliche Gott übertrifft sie noch an herrischer Eifersucht. Gelegentlich denke ich, so wie Marozia sah Lilith aus, Adams erstes Weib, das Zauberwesen, das in die Hölle gestürzt wurde, um als Nachtgespenst, als Todesengel wieder aufzuerstehen.
Während ich schrieb, hatte sich Marozia erhoben, war vor der Wand stehengeblieben und zog mit einem Finger langsam eine Linie durch den Schimmel, der auf den schweren Quadern blühte. Schließlich wandte sie sich mit einem Ausdruck tiefen Bedauerns von der Kerkerwand ab und suchte meinen Blick.
»Weißt du, an wen ich denken muß?« fragte sie und wartete auf keine Antwort: »An deinen Alexandros, meinen Geliebten –«
Hatten sich meine Gedanken auf sie übertragen? Hatte sie einen Blick auf das Pergament geworfen und seinen Namen entziffert, obwohl sie Griechisch kaum lesen kann?
»Er hätte mich bis zum letzten Atemzug verteidigt. Wäre er in Rom geblieben …«
»… hättest du ihn wahrscheinlich längst geheiratet, ich weiß«, fiel ich ihr ins Wort, selbst erschrocken über meinen barschen Ton.
Marozia blickte mich erstaunt an. »Ich hätte vor allem nicht Albericos Vater geheiratet.« Als wäre ihr eine Erkenntnis gekommen, unterbrach sie sich und schaute auf ihre Hände. »Ich habe in dem Sohn tatsächlich zu sehr den Vater gesehen. Er sah ihm ja auch so ähnlich: diese Löwenmähne und dann die beiden Grübchen auf den Wangen … Wäre Alexandros nicht spurlos verschwunden, hätten wir seine Söhne aufziehen können, und alles wäre gut geworden.«
Ich starrte in eine Kerze, schwieg. Sie belog sich selbst; sie weiß genau, daß ihre Mutter Theodora eine Vermählung mit dem Sohn einer Sklavin nicht zugelassen hätte. Alles, was ihre Mutter tat, sollte Macht und Einfluß der Familie vergrößern – was bedeutete da schon die Liebe von Kindern!
»Ein Meer von Tränen haben wir um Alexandros vergossen«, fuhr Marozia nachdenklich fort, »aber keine Träne hat die Trauer um ihn gelindert. Ich mußte mich ablenken, wollte ihn vergessen und mein Heil anderswo suchen – und dennoch verging kaum eine Nacht, in der ich nicht von ihm träumte … Weißt du das eigentlich?«
Nein, ich wußte es nicht und erwiderte nichts auf ihre Frage.
»Er streckt mir seinen Arm entgegen; wenn ich ihn ergreifen will, verwandelt sich sein Gesicht in eine abstoßende Fratze, und eine unsichtbare Macht zieht mich zurück. Kannst du mir sagen, warum er sich plötzlich verändert, welche Kraft mich daran hindert, seine Hand zu ergreifen, mich an seine Brust zu werfen und sein wahres Gesicht zu ertasten?«
Sie hielt inne und zog einen zweiten Strich durch den Schimmel, betrachtete dann ihren verschmierten Finger. »Warum ist er nicht längst nach Rom zurückgekehrt? Meine Mutter hat er doch seit Jahren nicht mehr zu fürchten. Nie werde ich ihr verzeihen, daß sie ihn davongejagt hat, als ich ihn am meisten brauchte.«
Sie schaute noch immer auf ihren Finger, rührte sich nicht, als wäre sie zu einer Salzsäule erstarrt. »Oder glaubst du, daß er tot ist?«
Ohne zu antworten, erhob ich mich und legte ihr tröstend den Arm auf die Schultern. Auf diese Weise tröstete ich mich auch selbst, denn Alexandros verbindet uns in Sehnsucht und Schmerz – und könnte uns trennen wie nichts anderes auf der Welt.
Beide standen wir am Eingang des tiefen Gangs, der in die Katakomben der Vergangenheit führt, und suchten zugleich das Licht am Ende des Labyrinths.
Bis heute verberge ich die Wahrheit in der dunkelsten Kammer meiner Seele: Vor langer Zeit mußte ich Alexandros wegschicken, bevor ein Dolch ihn traf. Nicht Theodora hat ihn verjagt, wie Marozia glaubt: Ich habe ihm die Flucht befohlen, um sein Leben zu retten. Es sind vierundzwanzig Jahre vergangen, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr habe ich gezählt.
Alles Schreckliche, was das Schicksal mir bisher beschert hat, konnte ich letztlich bejahen, doch seinen Tod hinzunehmen wäre ich nicht in der Lage. Die Angst, ich müßte den Fluß des Vergessens überqueren, ohne meinen Sohn wiedergesehen zu haben, schnürt mir die Kehle zu, läßt meine Hand nur noch zittrig schreiben. Nie darf mich diese Hoffnung verlassen – und mit ihr die Hoffnung, meine Heimat wiederzusehen: die Frühsonne über Konstantinopel, diese Woge rosigen Lichts, die sich über die erwachende Stadt ergießt, begleitet vom Gesang der Vögel, die in ihren Käfigen vor den Fenstern die Augen öffnen und sich nun gegenseitig von ihren Träumen erzählen, von der Sehnsucht nach einem grenzenlosen Himmel, in den sie sich schwingen können.
Ich weiß nicht, wie lange seit unserer Einkerkerung vergangen ist. In unserem Verlies gibt es keine Zeichen von Tag und Nacht, nicht einmal die Wärter kommen regelmäßig, so scheint es mir, um die Eimer auszutauschen und uns etwas zu essen zu bringen. Noch nie habe ich mich so wesenlos gefühlt, so im eigenen Dämmer gefangen, müde und trostlos. Marozia muß es ähnlich ergehen. Wir tigern durch unseren Kerker, stoßen aufeinander, fauchen uns an, gereizt und zugleich abgestumpft. Es gibt Momente, in denen wir nur noch schreien, um kurz darauf zusammenzubrechen. Dann sehen wir in der Entleibung den einzigen Ausweg: Wir könnten uns gemeinsam ein Messer in das Herz stoßen. Bereits beim nächsten Atemzug sprechen wir uns erneut Mut zu und versuchen, die Wut nicht gegen uns selbst zu richten, doch bald schon verursacht die lähmende Leere einen eisigen Schmerz. In diesem Zustand vermag ich mich nicht einmal aufzuraffen, mich über das Pergament zu beugen, das mir hilft, dieser nichtigen und zugleich bedrohlichen Gegenwart zu entfliehen.
Gestern kratzte ich wie eine Irre Buchstaben in die Wand: αταραξία – ataraxia. Ruhe des Gemüts. Trost und Seelenfrieden. Das Lächeln des Herzens. Alles ist gut, so wie es ist. Dein Körper umschließt dich wie ein Gefängnis, deine Seele indes kann niemand fassen und fesseln. Sie ist frei, mit dir hinaus ins Licht zu fliegen, zurück in das reiche Glück der Kindheit, nach vorne in den Morgen der Verheißung.
Leide und meide, ruft mir Epiktet zu.
Was soll ich meiden, rufe ich klagend zurück. Ich bin gemieden, bin abgesunken in den tiefsten Zustand der Meidung. Und dies nur, weil ich Marozia nicht verraten und allein lassen will.
Ich könnte frei sein, frei!
Dulde, mein Herz! Du hast eine härtere Kränkung erduldet, flüstert mir Odysseus ins Ohr.
Zehn Jahre Kampf um Troja, zehn Jahre irrfahrende Heimkehr! Und ich? Fast ein halbes Jahrhundert Leben als Sklavin in tiefster Erniedrigung und Trauer, doch auch in Luxus, Zufriedenheit und Augenblicken des Glücks.
Glück?
Das Wort klingt wie äußerster Hohn, betrachte ich die schwarzglänzenden Wände. Wir sind eingemauert wie Antigone – die Leidensgenossin. Vieles ist ungeheuer, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch. Hat jemand etwas Wahreres gesagt? Und steht nicht auch bei Sophokles geschrieben: Wen Gott verderben will, verblendet er zuvor. O kleine, altgewordene Mariuccia – ereilt dich jetzt der Fluch der bösen Tat?
Ich kratzte weiter, bis der Stein sich erweichen ließ: αταραξία. Die Buchstaben starrten mich an, stumm und für kommende Generationen geschaffen. Das Wort wird bleiben, bis diese Gewölbe unter dem Gewicht der toten Seelen zusammenbrechen und nichts außer einem Ruinenhaufen zurücklassen.
Trotz der düsteren Gedanken erfrischte anschließend tiefer Schlaf unsere Seelen. Zärtlich strich ich nach dem Aufwachen über die Buchstaben im Stein, und tatsächlich gab es heute nicht nur besseres Essen, sondern auch einen Krug Wein und einen zweiten Eimer zum Waschen. Dafür fiepen die Ratten verstärkt, und Marozia fiebert leicht. Auf der Kopfhaut juckt es, und nicht nur da. Doch nach dem Waschen und dem Genuß des Weins fühlten wir uns beide deutlich wohler.
»Hugo wird einen Weg finden, uns hier herauszuholen.« Marozia hatte es sich, soweit dies möglich war, auf ihrer Pritsche bequem gemacht.
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte ich leise.
»Es müßte ihm ein Leichtes sein, Römer zu bestechen, die uns aus der Engelsburg fliehen lassen. Vielleicht findet er auch willige Hände, die Alberico und seine Kumpane kalt … stellen.«
Um Marozia auf weniger blutige Gedanken zu bringen, suchte ich verstärkt nach friedlichen Wegen des Ausgleichs und der Befreiung. »Du solltest Alberico rufen lassen und ihm erklären, daß du dich ins Kloster zurückziehst – und zuvor solltest du dich für deine womöglich nicht ausreichende Mutterliebe entschuldigen.«
Marozia zog die Augenbrauen hoch. »Er wird mich auslachen – ins Kloster! Und für die Mutterliebe ist es zu spät.«
»Für Mutterliebe ist es nie zu spät.« Mir traten Tränen in die Augen, die ich zu verbergen suchte.
»Außerdem bin ich verheiratet, und mein Gemahl lebt! Ich kann nicht einfach in ein Kloster gehen. Und glaubst du etwa, Hugo würde Rom und den Kaisertitel aufgeben, weil sein sich überschätzender Stiefsohn die römischen Adelsfreunde gegen ihn aufwiegelte? Er wird auf Rache sinnen und sie zerquetschen wie Läuse auf der Kopfhaut eines Bettlers.«
Sie kratzte sich unwillkürlich am Kopf, und ihre Lider zuckten. »Wenn ich wirklich diesen Kerker lebend verlassen sollte, werde ich das alte Spiel weitertreiben müssen.«
Eine Weile dachte sie nach, dann fuhr sie fort: »Meine Zeit ist abgelaufen, so oder so – deswegen solltest wenigstens du deine Freiheit suchen. Ich habe es dir bereits gesagt: Hier unten kannst du mir nicht mehr helfen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Denk an Alexandros! Die kaiserliche Delegation aus Konstantinopel müßte mittlerweile eingetroffen sein: Du könntest unsere unschuldige Berta zum byzantinischen Hof begleiten, ihr die Mutter ersetzen – in deiner Heimat, Aglaia! Ich weiß, an wen deine Gedanken sich heften. Ob Alexandros die Gesandtschaft begleitet, weiß ich nicht, aber in Konstantinopel wirst du ihn sicher finden können. Und wenn du Bertas Kinder wiegst, wirst du an mich denken, an deine kleine Tochter …«
Marozias Worte hören nicht auf, in mir nachzuklingen. Sie führen mich heim an die Gestade des Bosporus und des Marmarameers. Ich tauche in den Fluß des Erinnerns, in dem der teure Schimmer der versunkenen Dinge vorbeitreibt. Nicht nur, um mir die Stunden zu verkürzen, will ich die Seiten füllen. Es gibt ein wichtigeres Ziel: Damit mein Sohn dereinst, wenn er seine Mutter nicht mehr lebend antreffen sollte, wenigstens von ihr lesen kann, sollen die letzten Spuren meines flüchtigen Lebens zu schwarzen Schatten auf dem Pergament zusammenfließen.
Am Anfang unseres Lebens, so lehrt uns die Heilige Schrift, lebten die ersten Menschen im Paradies. Dies gilt für jeden von uns, noch immer: Das Paradies leuchtet uns aus unserer Kindheit entgegen, liegt in der Erinnerung an eine Zeit, in der jeder Tag ein Abenteuer war, voller Licht und Wunder.
Am Anfang meines Lebens war alles gut, und ich war glücklich. Die Sonne Konstantinopels erhob sich im Strahlenkranz, die Kuppeln der Hagia Sophia ragten, golden überstrahlt, in den blaßblauen Himmel, und in der Ferne winkte der Kaiserpalast mit seinen Wundern und Weihen. Der Duft der Goldorangen und Limonen durchzog die Luft unseres Gartens, die Zitronen blühten und die Myrten flossen über vor weißem Flor. Die sanfte Stimme meiner Mutter lockte, ermunterte und tröstete mich, das lichte Lächeln ihrer Augen wird mich ewig begleiten, selbst wenn ich nie mehr den Abenddämmer über dem Marmarameer, die Gerüche meiner Heimat, die helle Stimme meines Sohnes erleben werde. Je schwächer die Kerzen ihre unruhigen Lichter durch unser Verlies schicken, desto stärker flimmert das Spiegelbild des Mondes auf dem Bosporus – doch bald schon erhebt sich die Sonne wieder aus der Vereinigung von Himmel und Meer.
Geweckt werde ich durch den Gesang der Vögel, die mich vorsichtig aus meinen Träumen holen und mich in Freude und Neugier die Augen aufschlagen lassen. Jeder Morgen ist wie die Erschaffung der Welt, und der Tag eine nicht endende Entdeckungsreise. Vor unserer Loggia, in die ich singend trete, wiegen sich die Palmzweige und reichen mir die süßen Datteln. Neben den Säulen wächst der Lorbeer empor und umrahmt einen Feigenbaum, dessen Früchte kaum weniger süß sind. Gegenüber beugt sich ein Granatapfel mit seinem blutroten Fleisch.
Mein Vater nimmt mich auf den Arm und gibt mir einen Kuß, er reicht mich meiner Mutter, die umgeben ist von schwebenden und schwingenden Seidentüchern wie von Fittichen großer Traumvögel. Alle lächeln, lachen und necken mich. Selbst die Hunde scheinen lachend zu bellen und mich zu umspringen, die Katzen streichen an meinen Beinchen vorbei, und der kleine Singvogel pickt mir das Futter von den Lippen.
Später bahnen wir uns einen Weg durch die Labyrinthe der Gassen, in denen das Geschrei der Händler, Ausrufer und Kutscher sich bricht, an Ständen vorbei, in denen Duftwässer und Riechsalben, Schönheitspulver und würzige Kräuter verkauft werden, damit sich vor den Mauern des Kaiserpalasts eine Mauer der Wohlgerüche erhebe. Weihrauch umwabert uns, bis wir vor den geöffneten Flügeln des riesigen Portals stehen und in das Allerheiligste eintreten dürfen. Himmelragende Säulen und Marmor, der in allen Farben und Mustern schimmert, kostbare Gewänder und gedämpftes Stimmengemurmel. Wir werden zum Kaiser geleitet, der mich freundlich begrüßt und mir Naschereien in den Mund steckt. Ich rieche noch den Duft von Zeder und Aloë, sehe seine spitzen Finger, höre die hohe Stimme und lausche dem Gesang, der sich in den hohen Hallen bricht. Wir küssen die Ikonen, und später zeigt mein Vater dem Kaiser silberglänzende Teller, die er an alle Küsten der Meere verschickt, um so den Ruhm und Reichtum unserer Familie und des Reichs zu mehren, und der Kaiser überreicht ihm ein kostbares Gewand und eine Kette aus Gold.
Schon früh genieße ich es, mit meiner Mutter unter den Kolonnaden der Mese zu lustwandeln und durch die Läden zu schlendern, in denen Seidentücher und Elfenbeinschnitzereien verkauft werden. Ermüden wir, lassen wir uns in einer Sänfte zu den Bädern des Zeuxippos tragen, wo die reichen Damen sich treffen, um die wichtigen Neuigkeiten und den letzten Klatsch auszutauschen.
In den Stunden, in denen draußen die Hitze glüht, liebe ich auch, mich im kühlen, winddurchhauchten Raum mit einem Lehrer über die Buchstaben der Bücher zu beugen. Als ich älter wurde, sprach mein Vater mit mir über die Bedeutung von Recht und Frieden, die es ermöglichen, daß die Menschen in Fleiß und Erfindungsgabe sich entfalten, in Handel und Wandel dem Wohlergehen der Familie, der polis und des Reichs dienen und so den Wohlstand mehren können. Leider ziehe der Wohlstand auch Neid nach sich, räuberische Gier, doch gebe es kein besseres Mittel, Frieden und Recht zu erhalten.
Weil mein Vater kein Mann der Theorie war, sondern der Praxis, zeigte er mir, wie er seinen Wohlstand erschaffen hatte und am Leben hielt, er führte mich in die Werkstätten der Handwerker und ließ mir ihre Kunst vorführen, Keramikkrüge und silbergetriebene Teller zu schaffen. Anschließend sprach er über die Bedürfnisse der Menschen im Reich und darüber hinaus in den westlichen Ländern, nicht nur wie die Hunde aus einfachen Holztellern zu essen, sondern aus verziertem Ton und edlem Silber. Mein Vater ging sogar so weit, mir und meiner unersättlichen Wißbegierde die Grundlagen der Buchhaltung zu erläutern.
Natürlich wußte er, daß dies seiner Tochter nicht genügen würde, und so fand er Euthymides, einen bärtigen Griechen aus der Schule des Epikur, der mich Latein, dann auch Grammatik, Rhetorik und Dialektik lehrte, schließlich Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, der mit mir die Schriften der großen Schriftsteller las, Boëthius natürlich, Homer und Herodot, Aischylos und Sophokles, später auch Platon. Wir sangen die Lieder der Sappho, wanderten im Schatten der Säulengänge und sprachen über den Philosophen des Glücks. Ich liebte meinen Lehrer sehr, denn er war nie aus der gelassen lächelnden Ruhe zu bringen. »Αταραξία, ataraxia, mein Kind, ist der eine Schlüssel zum Glück. Um Seelenfrieden und Gleichmut eines heiteren Gemüts zu erreichen, müssen die Schmerzen dich meiden, so schwer dies zu erreichen ist. Απουία, aponia, ist also der zweite Schlüssel.«
»Wie erlange ich diese Schlüssel?« fragte ich ihn. »Durch Reichtum, wie mein Vater, oder durch Macht, wie der Kaiser? Durch ruhmreiche Siege auf dem Schlachtfeld, wie der kluge Stratege und der tapfere Schwertkämpfer?«
Euthymides schüttelte den Kopf, und ich sah, während ich ihn neugierig anschaute, ein paar seiner grauen Härchen in der Sonne leuchten. »Du wirst nie auf einem Schlachtfeld kämpfen, mein Kind, und ob du einen Kaiser heiratest, steht in den Sternen. Was den Reichtum angeht: Du hast keine Brüder, wirst also vermutlich das Vermögen deines Vaters erben. Aber Reichtum macht noch nicht glücklich – und schnell kann er verloren gehen.«
»Wie hast du sie denn erlangt, die ataraxia?« fragte ich. »Du bist nicht reich, bist nicht einmal ein freier Mann, sonst müßtest du dich nicht verdingen.«
»Ich bin so frei, wie ich mich fühle«, antwortete er mir und schaute mich lange an. »Einst lebte ich in Athen und steckte all mein Geld, das ich von meinen Vorfahren geerbt hatte, in ein Handelsunternehmen, in ein einziges Schiff, das seine Ware nach Venedig bringen sollte, Seide und Glas, Schmuck, Gewürze und Sklaven. Die Ladung versprach einen sagenhaften Gewinn.«
Ich werde nie vergessen, was mit dem Schiff, der Ladung und dem Gewinn geschah, mit dem Kapitän, den Ruderern, Schiffsjungen und Sklaven. Sie fielen einem sarazenischen Seeräuberboot in die Hände. Euthymides hatte alles verloren. Er beendete seine Erzählung durch einen Satz, der sich mir tief einprägte. Er sagte nur: »Und dann war ich frei.«
»Frei?« antwortete ich skeptisch.
Lächelnd fügte er an: »Weißt du, welchen Rat Epikur seinen Schülern gab, wenn sie mit ihm im schattigen Garten lustwandelten und den Weg zur Weisheit suchten? Λαθε βιωσας, lathe biosas, lebe im Verborgenen, meide den Jahrmarkt, das Schlachtfeld und die Tauschbörse des Lebens, meide die Paläste und Hinterzimmer der Macht. Der Garten ist der Ort des Glücks, und gute Freunde sind seine Gärtner.«
Als ich zu einer jungen Frau herangewachsen war, erhielt mein Vater den Auftrag des Kaisers, eine Gesandtschaftsreise nach Rom zu unternehmen. Er belud eines seiner Schiffe mit den schönsten Waren und außerdem mit wertvollen Geschenken des Kaisers. Er befand, ich sei nun alt genug, mehr von der Welt zu sehen als unsere Villa und die Straßen von Konstantinopel. Meine Mutter wollte uns nicht alleine reisen lassen.
Beim Abschied von Euthymides flossen die Tränen. Er allerdings blieb gelassen und drückte mich an sein Herz. »Was immer auch geschieht«, flüsterte er mir zu, »vergiß meine Lehren nicht. Ich werde bei dir sein.«
Bald segelten wir, begleitet und geschützt von einer Dromone, durch das gleißende Licht der Ägäis. Abends ankerten wir in einem belebten Hafen der Kykladen. Als hätten sie mich gestern umfangen, erinnere ich mich noch an die Nächte im sanften Schaukeln der Wellen, die Weltenschöpfung am Morgen und schließlich an den Gesang der Ruderer vor dem letzten ungetrübten Sonnenuntergang.
Bevor wir die Meerenge von Messina durchsegelten, traf uns ein heftiger Sturm, der den Mast der Dromone brach. Mein Vater wollte nach Abflauen des Unwetters nicht auf unseren Begleitschutz warten und auch dessen Ruderern nicht zumuten, den restlichen Weg nach Rom in den Riemen zu liegen, und so ließen wir das Schiff den nächsten byzantinischen Hafen ansteuern und segelten allein weiter.
Wir durchpflügten das tyrrhenische Meer, als sich ein unbekanntes Segel über den Horizont schob. Mein Vater wurde bleich und ließ die Ruder aufnehmen. Dennoch kam das fremde, schlanke Schiff näher. Wie wir bald erkannten, trug es keine Waren und Geschenke, nur Männer in Waffen, und diese näherten sich uns offenkundig nicht in friedlicher Absicht. Schwerter blitzten in der Sonne, erste Pfeile zischten in das Wasser oder blieben mit einem dumpfen Laut im Rumpf des Schiffes stecken. Wir, die wir bisher unbehelligt durch die Frische klarer Sonnentage gesegelt waren und den Sturm überstanden hatten, mußten der Heimsuchung der Meere begegnen – und obwohl die Ruderer vor gehetzter Anstrengung keuchten, gelang uns nicht die Flucht. Der Blick meines Vaters verdüsterte sich, und als er mich und unsere Mutter in den Arm nahm, um uns die Angst zu nehmen, lächelte er in panischem Leid.
Die sarazenischen Seeräuber hatten unser Schiff bald eingeholt und begannen es unter dem heiserem Geschrei von Allahu akbar zu entern. Sofort entstand ein Gewimmel aus blitzenden Klingen und drohenden Fäusten. Mit ihren barbarischen Lauten sprangen immer mehr Angreifer an Deck. Unsere kleine Soldatenschar, die dem Schutz der Menschen und Waren dienen sollte, kämpfte, angeführt von meinem Vater, mit dem Mut der Verzweiflung, mit der Tapferkeit der Treue, doch hatte sie keine Chance. Manche Männer wurden kurzerhand über Bord gestoßen, andere sanken nieder, durchbohrt von spitzen Klingen, im erwürgten Schmerzensgebrüll. Die Sarazenen schrien sich Mut zu, und ihre Wut steigerte sich, als einige von ihnen fielen.
Ich sah ihre Augen begehrlich auf meine Mutter und mich gerichtet, auf die Truhen mit den Keramik- und Silbertellern, den Goldschmiedearbeiten und Duftwässern und den verschnürten Ballen mit ihren kostbaren Stoffen. Dem ersten, der sich mir näherte, schlug mein Vater die Hand ab, das Schwert klirrte zu Boden, mir vor die Füße, und ich bückte mich blitzschnell, um es zu ergreifen.
Zum ersten Mal in meinem behüteten Leben hatte ich die Städte und Gewässer meiner byzantinischen Heimat verlassen – und schon begegnete uns die Geißel der Meere. Unserem Schiff erging es so wie dem Schiff meines Lehrers. Hätte ich kämpfen – oder mich entleiben sollen, um dem zu erwartenden Schmerz, der untilgbaren Schande zu entgehen? Ich konnte mich nicht entscheiden und unterließ beides – zu Recht! Lag mein Schicksal nicht in der Hand eines Gottes, dessen Ratschlüsse unerforschlich sind? Hatte nicht mein griechischer Lehrer den Philosophen zitiert, daß niemand vor seinem Tode glücklich – aber auch nicht unglücklich – zu schätzen sei? Hatte nicht Epiktet geschrieben, daß unsere Gegner nur unserem Körper schaden können, nicht der unsterblichen Seele, vorausgesetzt, sie folgt den labyrinthischen Wegen des Schicksals, ohne sich aufzulehnen?
Der dunkelhäutige Sarazene starrte einen Moment auf seinen Armstumpf, bevor er bewußtlos niedersank. Mein Vater starrte nicht minder entsetzt auf das, was er angerichtet hatte – da traf ein Schwert die Fibel, die seinen Umhang auf der Schulter zusammenhielt, zum Glück, denn sie rettete ihn vor einem sofortigen Tod. Er torkelte zur Reling, wich dort so unglücklich – oder glücklich – einem weiteren Stoß aus, daß er rückwärts über Bord kippte.
Als mehrere blutverschmierte Hände nach mir griffen, wehrte ich mich kaum. Unter gierigem Brüllen wurde meine geliebte Mutter zu Boden gedrückt, die Hände über dem Kopf gefesselt. Als sie einige Worte auf Arabisch herauspreßte, warfen sich ihre Peiniger einen erstaunten Blick zu, um dann in Gelächter auszubrechen. Die letzten Verteidiger des Schiffs wurden überwältigt und hektisch unter erneutem Anrufen des angeblich so unbesiegbaren arabischen Gottes am Segelmast aufgeknüpft, Todesschreie gellten herüber. Einige unserer Ruderer versuchten sich mit einem beherzten Sprung ins Wasser zu retten. Die Sarazenen schickten ihnen Pfeile nach.
Ich wurde an einen Stoffballen gedrückt, in dem sich Seide aus Byzanz für den Heiligen Vater befand, und spürte die Hände, die an meiner Kleidung zerrten. Was ich noch heute in unvergeßlicher Deutlichkeit sehe, ist ein starres, totes Auge und ein behaarter Handrücken mit einer breiten Narbe.
Wir schrieben das Jahr des Herrn 887, ich war damals achtzehn Jahre alt – ich kannte die Verse Homers und die Dramen des Sophokles, ich sang wie Sappho, beherrschte das Trivium und das Quadrivium, war neugierig auf die Welt, von der ich, bevor ich mich einem Ehemann hingab, etwas sehen sollte und wollte – Seide riß, die perlenbestickte Seide meines eigenen Gewands, nicht weit entfernt meine Mutter …
Ich schloß die Augen, weil ich vom bloßen Anblick zu sterben glaubte.
Doch man stirbt nicht vom Schauen, man stirbt auch nicht vor Scham, nicht einmal vom Ertragen der Schande. Mein Körper, entblößt, rutschte über die glitschigen Planken. Triumphierendes Johlen ging in fletschendes Knurren über – es war, als wollte man mir meine Glieder nach allen Seiten auseinanderreißen … Ich spürte einen Schmerz, der wie die Spitze eines Dolchs in mich eindrang und sich dann wie ein aufloderndes Feuer ausbreitete … Alle Geräusche rückten in eine aufsaugende Ferne, der Schmerz zog sich zusammen, erbrach sich pulsierend, schien an sich selbst zu ersticken – und ich verlor das Bewußtsein.
Noch heute bedrängen mich die Erinnerungen an diese dunkelste Stunde meines Lebens und, überlagert von anderen dunklen Stunden, verwischt und aufgehellt von Glücksmomenten, verschwimmen sie wie hinter einem purpurroten Vorhang, der teils einem schweren Brokatstoff, teils durchsichtiger Seide gleicht – sogar heute und hier in der Gruft der Engelsburg, katakombentief, rattenverseucht, seufzerschwer, drängen sie mich, niedergeschrieben und festgehalten zu werden, um so ihre Schrecken zu verlieren. Sie sind der Schatten, der sich über das Licht der Kindheit gelegt hat. Sie zeigen das Unglück, durch das ich das Glück zu messen in der Lage bin.
Fünfundvierzigmal wiederholte sich der Tag meiner Geburt seitdem, ein Wunder, daß ich die Höhen und Tiefen eines stürmischen Lebens durchschreiten konnte, ohne unterzugehen in seinen fauchenden, aufheulenden Winden, in seinen wild aufschäumenden Wogen. Immer wieder stand ich am Eingang zu der Welt des Vergessens – doch unser Schöpfer ließ mich nicht eintreten. Er will, daß ich das Unglück bestehe, sogar bejahe, er will, daß ich sage: Und siehe, es war gut.
Damals, auf unserer Reise nach Rom, mußte ich dem Bösen in seiner unverfälschten Form begegnen: Noch spüre ich die Narbe, aber seit langem schmerzt sie nicht mehr. Die Wunde, die man mir riß, verheilte, wenn auch in mir ein Gefühl abgetötet wurde, das Frauen, so weiß ich von Marozia und ihrer Mutter Theodora, bis in den Wahnsinn treiben, das sie vor Glück schreien und vor Unglück sterben lassen kann. Ich vermag keine Lust mehr zu spüren, keine Wollust in den Gliedern und auf der Haut, kein Begehren nach Verschmelzung und Vereinigung. Statt dessen vermag ich Liebe zu verströmen: Liebe, die ich meinem Sohn Alexandros schenkte und meinem Milchkind Marozia, Mariuccia, Mariechen, der Herrscherin Roms, der Königin Italiens, die an meiner Seite sitzt und, gezeichnet vom niederschmetternden Geschehen der letzten Tage, auf meine Schreibfeder schaut, ohne die griechischen Buchstaben entziffern zu können, die ich schreibe.
Ich atme tief durch und lächle sie an, und sie lächelt zurück. Für einen Augenblick sehe ich den alten Liebreiz, sehe im tiefen Schatten des Unglücks einen Funken letzter Hoffnung aufglimmen.
So klar mir die Kaperung des Schiffes noch vor Augen steht, so unscharf werden die folgenden Jahre. Mein Leben schien zerstört, wie ein Bild, das in tausend Einzelteile zerschlagen wurde – und doch entwickelte sich ein neues Bild, ein Mosaik, mit tausend feinen Rissen.
Irgendwann fiel die Nacht über unsere Schiffe, eine Nacht, in der ich aus einem Schmerz bestand, der wie ein halbgelöschtes Feuer glühte, immer wieder aufflackerte, um schließlich in sich zusammenzusinken. Vermutlich waren es nur die Wellen der Ohnmacht, die mich erlösten – bis tatsächlich mehrere Eimer Wasser die Glut löschten. Über mir sah ich einen schwarzbärtigen Mann aufragen, der anderen etwas befahl. Ich wurde aufgerichtet, mit Seide bedeckt, die aus den Ballen gerissen wurde, und auf ein Lager gebettet, das weich mit Stroh und Wollstoffen ausgepolstert war.
Den nächsten Tag verbrachte ich im gedämpften Licht einer Zeltplane. Ein Mann, vielleicht ein Arzt, setzte mir eine Schnabeltasse an die Lippen, versorgte meine Wunden mit einer Salbe und gab mir etwas zu essen. Ich fiel erneut in tiefen Schlaf, aus dem mich der Mann weckte, der die unaufhörliche Schändung meines Körpers beendet hatte. Schnell begriff ich, daß es der Kapitän des Schiffes war und daß ich sein Eigentum sein sollte. Eine gewisse Erleichterung ergriff mich, die sich verstärkte, als er mich anlächelte.
»Umm?« stieß ich als ersten Laut aus. Er mußte ihn verstehen, es war das Wort für Mutter in Arabisch, so wie ich es zu Hause gehört hatte. Der Mann lachte und sagte dann etwas, was ich nicht verstand.
»Wo ist meine Mutter?« fragte ich flehend. »Ist sie noch am Leben?«
Lachend zeigte er auf sich.
Nachts mußte ich ihm zum ersten Mal zu Diensten sein. Bewundernd, so schien es mir, schob er seine Hand über meinen Körper, als sei ich eine Skulptur des Praxiteles. Ich versuchte, die Schmerzenslaute zu unterdrücken, was mir nicht gänzlich gelang. So befriedigte er sich schnell und schickte dann wieder den Arzt zu mir.
Während der zweiten Nacht, als der Kapitän schnarchend neben mir lag, schlich ich aus unserem Zelt und wollte meine Mutter suchen. Trotz des Mondscheins stolperte ich über ein Bündel Kleiderfetzen; schon wurde ich gepackt und zurück in das Zelt gestoßen.
Am nächsten Tag erreichten wir einen Hafen an der Flußmündung des Garigliano, wie ich später erfuhr. Dort konnte ich meine Mutter erspähen, die mit den überlebenden Ruderknechten in die Sklaverei verkauft werden sollte. Ich rief ihr etwas zu, was sie zusammenzucken und sich umdrehen ließ, winkte heftig. Ihr Gesicht war kaum wiederzuerkennen: blauschwarz, geschwollen, verdreckt. Als man sie vorwärtsstieß, bedeckte sie es mit dem Tuch, das sie über den Kopf geschlagen hatte. Wie Vieh wurden die Gefangenen zu einem staubigen Platz getrieben und eingepfercht.
Es war das letzte Mal, daß ich meine Mutter erblickte. Der Schmerz, den mir ihr Verschwinden bereitet, läßt nicht zu, daß ich an ihren Tod glaube. Alle Wahrscheinlichkeit sagt mir, daß sie ihr geschundenes Sklavinnendasein nicht lange überleben konnte – und doch gibt es noch heute Augenblicke, in denen ich hoffe, sie lebend in die Arme schließen zu können.
Während der nächsten Wochen blieb Yussuf, mein Kapitän, im Lager am Garigliano. Es dauerte eine Weile, bis die Waren und Sklaven weitergegeben oder verkauft waren, das Schiff mußte neu ausgerüstet werden, und außerdem zog er mit seinen Männern und einer weiteren Truppe auf Beutezug in Richtung Rom. Ich hatte zwar bereits gehört, daß die Sarazenen nicht nur die Schiffahrt bedrohten, sondern sich sogar südlich von Rom festgesetzt hatten, um die Ländereien im mittleren Italien auszurauben und die ewige Stadt zu umlauern. Wie fern war dies alles in unserer heimatlichen Villa, während ich Lieder der Sappho sang. Mein Vater hatte nie davon gesprochen, daß eines seiner Handelsschiffe bedroht oder gar aufgebracht worden war – vermutlich hatte ihm bis dahin das Glück gelächelt, sonst hätte er uns nicht mit auf die lange Seereise genommen und wäre schon gar nicht ohne den Schutz der Dromone weitergesegelt.
Während Yussuf Dörfer und Gehöfte ausraubte, blieb ich im Lager am Garigliano, mißtrauisch und zugleich gierig umschlichen von den Männern, die es bewachten. Yussufs Stellung hielt sie davon ab, sich an mir zu vergreifen, aber an Flucht war nicht zu denken.
Tage später kam der Beutetrupp, reich beladen, ins Lager zurück, und wir schifften uns nach Tunis ein. Jede Nacht bestieg Yussuf mich wie der Hengst seine Stute, und ich befürchtete, schwanger zu werden. Zum Glück blieben meine Befürchtungen unbegründet.
Ich weiß heute nicht mehr, was ich tagsüber tat. Ich erinnere mich nur noch daran, daß ich die Stellen aus den Gesängen Homers, die ich auswendig wußte, leise vor mich hinsummte, während das Schiff träge durch die stumme Meereswüste glitt, die Männer schliefen oder mit Knöchelchen würfelten. Yussuf hörte mir einmal heimlich zu, als ich, an der Reling stehend und übers Meer schauend, Odysseus' Sirenenabenteuer den Wellen zurief. Plötzlich tauchte ich in Schwärze: Yussuf hielt mir die Augen zu und drückte mich ungewohnt sanft an sich.
Noch immer konnten wir uns nicht verständigen. Ich weigerte mich, Wörter seiner Sprache zu sprechen, obwohl ich mittlerweile das eine oder andere verstand, und er wurde ärgerlich, wenn ich Griechisch oder Latein sprach. Er flüsterte mir einige Worte ins Ohr und schob gleichzeitig seine Hand unter den Mantel, den ich von ihm erhalten hatte, als wolle er fühlen, ob ich schwanger sei. Ich verstand nur Alf Laila und dann noch Schehrazad. In der folgenden Nacht erkannte er mich nach der Art der Christen und ließ sogar seine Zunge mit meinen Ohrläppchen spielen.
Obwohl Sarazene und beutegieriger Räuber, der meine Eltern auf dem Gewissen hatte – aber fühlte er überhaupt so etwas wie ein Gewissen? –, war er kein schlechter Mann. Ich ließ ihn gewähren und sah vor mir den Schimmer der Abendröte über dem heimatlichen Feigenbaum, hörte meine Mutter ein Kinderlied aus ihrer fernen Heimat singen und mußte weinen. Als Yussuf meine Tränen schmeckte, stemmte er sich hoch und schaute mich forschend an. Ich sagte nur »umm« und drehte meinen Kopf zur Seite. Das Bild des zerschlagenen Gesichts meiner Mutter verfolgte mich bis in meine Träume.
In Tunis blieben wir zum Löschen der Ladung und zum Aufnehmen neuer, meist schwarzer Sklaven. Dann ruderten wir wieder nach Norden. Nach Tagen erreichten wir den Hafen von Amalfi. Wie ich später erfuhr, hatte sich die Stadt schon lange mit den Sarazenen arrangiert und trieb lebhaften Handel mit ihnen. Yussuf hatte mich seit meinem Tränenausbruch nicht mehr angerührt und brachte mich nun in das Haus eines offensichtlich reichen Händlers, mit dem er lange verhandelte. Schließlich wurden ihm Goldmünzen in die Hand gedrückt, er warf einen letzten, in meinen Augen bedauernden Blick auf mich, und ich war verkauft.
Der jüdische Händler, der, wie sich bald herausstellte, Tyros, den Geburtsort meiner Mutter kannte und in mir jüdisches Blut wähnte, erkannte rasch meinen – in seinen Augen unglaublichen – Grad an Bildung und Wissen. Ich hatte damals von den italischen Grafschaften und Herzogtümern nichts gesehen, wußte nicht, daß das Roma aeterna, verglichen mit Konstantinopel, ein Dorf voll gigantischer Ruinen war, die als Steinbrüche genutzt wurden und zwischen denen Wein und Weizen wuchsen, Ziegen und Schafe weideten, Schweine sich herumtrieben und Verbrechergesindel sich häuslich eingerichtet hatte. Das südliche Umland der Stadt war jenseits der Albaner Berge über weite Strecken verwildert, teilweise menschenleer, nur in dem nördlichen und östlichen fanden sich noch die großen Domänen der römischen Adelsfamilien, dazu kleine Weiler und Dörfer, welche die Stadt mehr oder weniger ausreichend ernährten.
In der südlichen Campania hatten die heidnischen Sarazenen mehrere Stützpunkte errichtet; sie bearbeiteten keinen Boden, stellten keine Schwerter und Pflüge her oder trieben ehrlichen Handel, sondern lebten von Plünderung und Beute. Mein Lehrer Euthymides hatte von ihnen in einer Mischung aus Verachtung und Hochachtung gesprochen: Auf der einen Seite gebe es die Sarazenen, die nichts anderes könnten, als friedliche Bauern, Mönche und Handeltreibende auszurauben, zu ermorden oder zu versklaven, auf der anderen Seite seien Städte voller Luxus und Verfeinerung entstanden, kluge Männer hätten die Schriften der alten Griechen entdeckt und übersetzt, andere hätten eine bewunderungswürdige Heilkunst entwickelt. Allerdings sei er selbst nie in Bagdad oder Alexandria gewesen, nicht einmal an der phönizischen Küste, der Heimat meiner Mutter, deren Wurzeln tief in den arabischen und jüdischen Boden reichten.
Der Händler, der mich Yussuf abgekauft hatte, stieß nicht nur Laute der Bewunderung aus, als ihm ein Priester aus Amalfi bestätigte, daß mein Latein makellos sei. Meine griechische Muttersprache verstand der Händler besser, und als er von meinem Lehrer, den zahlreichen Sklaven unseres Haushalts und dem geräumigen, säulengesäumten Peristyl unserer Villa hörte, sah er in mir eine Hochgeborene, fast eine kaiserlich Purpurgeborene. Ich mußte über seine Begeisterung lachen, obwohl es in meiner Lage wenig Anlaß zum Lachen gab.
Er strich mehrfach um mich herum, kratzte sich in seinen schwarzen Haaren und durchkämmte mit den Fingern seinen langen Bart. »Schön wie Rahel, wie Sulamith, wie Bathseba und Susanna zusammen, wie eine Lilie unter Dornen, mit Brüsten weich wie Gazellenzwillinge, mit Taubenaugen und einer Haut wie ein Balsambeet …«
Mein Lachen erstarb, weil er den Namen meiner Mutter, Sulamith, genannt hatte. Er verstand meinen Stimmungswechsel nicht, führte mich schweigend in sein Haus am steilen Hang der Stadt und ließ mich völlig entkleiden.
»Hat man dir etwas angetan, mein Kind?« fragte er mit einer Miene aus Unschuld und Schläue. »Man sieht keine Spuren mehr.« Vorsichtig fuhr er mit seiner ringbewehrten Hand über meine Haut, prüfte die Festigkeit meiner Brüste und öffnete meine Lippen, um einen Blick auf meine Zähne zu werfen. »Wie alt bist du, meine Schöne?«
»Achtzehn Jahre, und ich bin nicht schön.«
Ich durfte mir wieder mein Gewand überwerfen.
»Du bist nicht schön? Aber ja! Und kostbar wie ein Juwel aus den Schatztruhen von Byzanz. Eine junge Frau, nicht nur schön, sondern auch klug, voller Geist und Gesang, anmutig im Gang – nur leider keine Jungfrau mehr, leider … Meine Kunden mögen die unberührten Lippen, die sich ihnen freiwillig und honigsüß öffnen.«
Während der folgenden Tage wurde ich mit Datteln gefüttert, die ich mit fetter Ziegenmilch herunterspülen mußte, bekam Sauerbrot und saftige Hühnerschenkel vorgesetzt. Als ich einer der Hetären von Amalfi zugeführt wurde, dachte ich bereits, ich sollte eine von jenen werden, welche die Händler und Seeräuber, die Adligen und Bischöfe von Salerno und Neapel mit der Kunst der Liebe und der anspruchsvollen Unterhaltung beglücken – wozu ich mich kaum geeignet hätte. Der Anblick des männlichen Lustorgans ließ Ekel in mir hochsteigen, ließ mich zittern und steif werden. Doch die Hetären sollten mich allein in die Kunst des Verschönerns einweihen: Die Wangen wurden sanftrot belegt, die Augenlider schwarz nachgezogen, die Lippen sollten kräftiger leuchten. Lange kämmte man meine dunklen, fast schwarzen Haare aus und besprengte mich mit ambrosischen Düften. Kaum hatten sich meine Hüften und Wangen wieder gerundet, wurde mir eine seidene Tunika geschneidert und eine bestickte Stola umgelegt, ich bestieg mit einer Reihe niederer Sklavinnen aus aller Herren Länder ein Schiff, und wir segelten die Küste entlang bis nach Portus, wo wir in ein kleineres Schiff umstiegen und den Tiber hinauf nach Rom gerudert wurden.
So gelangte ich zu dem Mann, der mein weiteres Schicksal bestimmen sollte: zu Diaconus Sergius aus altem römischen Adel, der in einem Palast an der Via Lata residierte. Er war damals Ende dreißig, mit seltsam blaßgrauen, verschatteten Augen und einer feingeschnittenen Nase und schmalen Lippen, ein jagdversessener, ehrgeiziger Mann, der, wie sich rasch herausstellte, das Papstamt anstrebte. Er gehörte zu der Gruppe angesehener Familien, die im Viertel um die Via Lata wohnten und die den Verfall der fränkischen Oberherrschaft, die anarchischen Zustände in Rom und die Schwäche der kurialen Spitze nutzen wollten, um die Macht in der ewigen Stadt unter sich aufzuteilen und die Besetzung der höchsten Kirchenämter zu steuern, wenn nicht gar selbst zu übernehmen. Zu seinen Freunden zählte die Familie des unweit wohnenden römischen Senators Theophylactus, dessen Gattin Theodora ich bald kennenlernen sollte.
Die Tinte in der Schreibfeder trocknete ein, als meine Bewegungen stockten und ich zu sinnieren begann über die Jahre, die so weit zurückliegen. Wieviel Wasser, sauberes und verseuchtes, ist unterdessen den Tiber heruntergeflossen und hat an manchen Tagen Teile der Stadt überschwemmt, dabei Unrat hinweggespült und die Ratten an die Oberfläche kommen lassen! Wie viele Erinnerungskadaver verschwanden für ewig, hinweggetragen und versunken in den trüben Fluten der Zeit!
Marozia unterbrach ihre Kratzwut, durch die sie ihre verschmutzte Haut malträtiert, und stöhnte: »Ich ertrage das Jucken nicht mehr, überall Aussatz und Krätze, die Haare fallen mir aus, und der Gestank macht mich verrückt! Alberico begräbt uns lebendig!«
Ich nahm liebevoll ihre Hand, mit der sie blutige Striemen über ihre Haut zog, und drückte sie an meine Lippen.
»Wie kannst du unter diesen Bedingungen nur so viel schreiben!« Über mich gebeugt, fuhr Marozia mit ihrem langen Fingernagel die Rundungen der griechischen Buchstaben nach.
»Ich habe begonnen, die Erinnerungen an mein Leben festzuhalten.«
»Wirklich? Du mußt mir alles vorlesen und übersetzen.« Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und flüsterte: »Du bist so klug, so stark, so unerschütterlich. Du kannst verzeihen, klagst nicht, nimmst das Schicksal hin …«
Mit sorgfältigen Bewegungen schob ich die verrutschten Pergamentseiten zusammen.
»Ich dagegen«, fuhr sie fort, »mußte so viele Menschen hassen, obwohl ich sie im Grunde lieben wollte … Glaubst du, daß Alberico deine Aufzeichnungen lesen wird?«
»Könnte es nicht sein, daß sie dereinst zu Alexandros gelangen?«
Marozia richtete sich auf. »Ach, darauf hoffst du!«
»Bücher haben ihre Schicksale.«
»Die meisten werden ein Raub der Flammen. Hast du mir nicht selbst vom Brand der großen Bibliothek in Alexandria erzählt?«
»Einige bleiben wie durch ein Wunder verschont. Sie dürfen ihr Wissen weitergeben an zukünftige Generationen.«
Diaconus Sergius war stolz, mich erworben zu haben. Er lud noch in den ersten Tagen seine Adelsfreunde ein und führte mich vor: Ich mußte von Konstantinopel erzählen, von unserer Villa und der Tätigkeit meines Vaters, ich sollte die Verse Homers deklamieren und schließlich singen. Am liebsten hätte mich Sergius unbekleidet gezeigt, doch angesichts der zahlreichen Frauen und jungen Mädchen unterließ er es. Vielleicht kümmerte ihn auch weniger die Scham der Frauen als der neidische Blick der Männer. Als ich mich verabschieden durfte, näherte sich mir eine etwa gleichaltrige Frau und fragte mich flüsternd, ob ich bereits ein Kind auf die Welt gebracht hätte.
Ich schüttelte den Kopf.
»Und was geschah, nachdem man euer Schiff gekapert hatte? Keine Folgen?« Sie flüsterte noch immer.
»Ich will es vergessen«, antwortete ich leise, mit gesenktem Blick.
»Schau mich an!«
Ich zögerte, doch dann verließ mich meine Scheu, obwohl ich merkte, daß der Diaconus uns beide beobachtete. Zwei weit geöffnete, braune Augen unter schmalen, rasierten Brauen fixierten mich. Ich wich ihnen aus und studierte die anmutig geschwungenen Lippen, die leicht spöttisch zu lächeln schienen. Unter den Ohren bewegte sich ein feines Schmetterlingsgehänge aus Gold. Die Haare formten, von einem durchsichtigen Schleier bedeckt, einen Schneckenkranz hinter dem Kopf.
Noch immer blickte sie mich derartig forschend an, daß ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Ich heiße Theodora, wie eine eurer ehemaligen Kaiserinnen, stamme aus tuszischem Geschlecht und bin vor kurzem mit Senator Theophylactus, einem Mann aus höchstem römischen Adel, vermählt worden. Ich sehe mich in deinen Augen gespiegelt – wie eine Schwester.«
Heute vermag ich ihre Worte besser in ihrem Wahrheitsgehalt oder in ihrer prophetischen Bedeutung einzuschätzen, doch damals dachte ich: Ich habe zwar braune Augen wie du, aber meine Brauen sind voll und buschig, und mein Blick ist nicht so kalt.
Mich hatte sofort die Mitleidlosigkeit in ihrem Blick getroffen, obschon normalerweise braune Augen weich und verständnisvoll wirken. Oder war es Hochmut? Die Starrheit eines Basiliskenblicks? Die Neugier der Sphinx, die sich ein neues Opfer auserkoren hat?
Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher schält sich Theodoras Antlitz mit den beiden forschenden Augen aus dem Nebel der Vergangenheit. Gleichwohl, kann es nicht sein, daß sich der Blick einer späteren Theodora vorschiebt und die frühe überlagert? Daß mir eine Theodora vor Augen tritt, die von der bevorstehenden Hochzeit Marozias spricht und Alexandros erwähnt: mit einem Blick, der von der Kälte eines eisernen Willens geprägt ist?
Noch am Abend machte mich Sergius zu seiner Geliebten. Oder sollte ich Bettsklavin sagen? Ich denke, er wollte mir ein für allemal klarmachen, daß ich eine, seine Sklavin sei und er der Herr über Leben und Tod. Ich mußte mich entkleiden, und er fiel über mich her wie ein ausgehungerter Wolf, der bereits nach wenigen Augenblicken laut schnaufte, stöhnte, sich aufbäumte und bald darauf zusammenschnurrend zur Seite wälzte. Er wollte etwas sagen, unterließ es jedoch.
Ich betrachtete seinen schlanken, muskulösen Körper, der noch keine Spuren des Verfalls zeigte. Seine kräftige Bauernhand, die im auffallenden Gegensatz zu seinem feingeschnittenen Gesicht stand, wanderte über meine Brüste, zugleich kniff er die Lippen in unterdrücktem Zorn zusammen. Ich folgte seiner Hand, als sei es etwas Fremdes, was er berührte, spürte nichts. Schließlich befahl er mir, mich auf seinen Unterleib zu setzen. Nach einer Weile wuchs er mir entgegen, zog meinen Oberkörper zu sich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Gib mir die Sporen!«
Bevor ich reagieren konnte, schwand er bereits wieder unter mir wie ein Regenwurm im Wüstensand.
»Du bist tot«, preßte er hervor.
Ich reagierte nicht, obwohl ich innerlich erschrak. Seine Worte klangen, als wolle er sagen: ›Du wirst nicht lange leben.‹
Er stieß mich von sich und zwang mich dann zu der Haltung von Hengst und Stute, wurde grob, bis ich die ersten Schmerzenslaute ausstieß, die er vielleicht für Laute der Lust hielt – ich selbst wußte nicht, wie Laute weiblicher Lust klingen, zumindest nicht die meiner eigenen Lust, die ich nie habe empfinden können.
Mir ging es im Haus von Diaconus Sergius nicht schlecht, und ich will ihn, trotz allem, was später geschehen sollte, nicht verdammen. Ich blieb seine wichtigste Bettgenossin – außer mir gab es noch eine hüftstarke, grobknochige Sklavin aus dem fernen Slawenland, mit der ich leider kaum sprechen konnte, weil sie nur drei Worte Latein sprach und in einem anderen Trakt des Hauses untergebracht war. Als sie schwanger wurde, verschwand sie spurlos, und niemand konnte oder wollte mir sagen, was mir ihr geschehen war.
Ich fragte Sergius, ob er nicht ein Buch eines altrömischen oder griechischen Dichters besitze. Er gab mir die Bibel und befahl mir eines Abends, während er uns rotfunkelnden Wein vorsetzen ließ, das Hohelied Salomos zu lesen. Manche Stellen weiß ich in Griechisch auswendig, und so ergänzte ich das Latein mit den melodischer und weicher klingenden Lauten meiner Muttersprache.
Sergius seufzte und erklärte mir, als Mann der Kirche, der Papst zu werden beabsichtige, dürfe er nie in den Stand der Ehe treten, und für die sündige Liebe mit Sklavinnen und Kurtisanen müsse er Buße zahlen. Zum Glück sei er reich genug. Kinder seien ihm ebenso verwehrt, es sei denn, er verstecke sie. »Eigentlich liebe ich Kinder – und verstehe in der Tiefe meines Herzens das Zölibatsgebot auch nicht. War nicht sogar der heilige Petrus, auf dessen Fels wir unsere Kirche bauen, verheiratet? Und sprach nicht Gott der Herr: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.«
Er schaute mich mit einem schwer zu deutenden Blick aus seinen seltsam blaßgrauen, verschatteten Augen an, seufzte erneut und trank einen großen Schluck Wein. Dann zog er mich wie ein Kind auf seinen Schoß, barg seinen Kopf an meiner Brust und liebte mich ausdauernder und intensiver, als ich es gewöhnt war.
Im Anschluß trank er den Krug Wein leer und ließ sich einen zweiten bringen. Sein Blick wurde starrer, seine Zunge glitt nicht mehr so elegant über die Hürden der Sprache.
»Formosus heißt das Schwein!« rief er plötzlich und unerwartet aus. »Er macht mir den Papsttitel streitig und spaltet sowohl die Kurie als auch den römischen Adel. Nachdem die Franken hier nicht mehr das Sagen haben, werden wir es wieder sein, aus deren Mitte die Päpste gewählt werden, wir, die ihren Stammbaum bis zu den alten Römern oder den Byzantinern zurückverfolgen. Formosus aber ist nicht nur machtgierig und falsch, sondern stammt aus langobardischem Geschlecht. Am liebsten würde ich ihn umbringen, so verhaßt ist er mir.« Er stierte mich an und lallte: »Weißt du, was Haß ist? Richtiger, weißglühender Haß?«
Ich glaube sogar, ich lächelte ihn an.
Er versuchte, sich erneut zwischen meine Beine zu schieben, doch gelang ihm nicht, was er beabsichtigte, und nach zornigem Knurren schlief er ein.
Bald darauf merkte ich, daß ich schwanger war. Als ich mich der Römerin anvertraute, die in der Küche das Sagen hatte, schaute sie mich mitleidig an und gab mir einen bitteren Kräutersud zu trinken. Er verursachte einen heftigen Aufruhr in meinen Gedärmen, der jedoch nach ein paar Tagen abklang. Als ich ihr davon berichtete, verzog sie ihren Mund und zuckte die Achseln.
Mit der Zeit begann mein Leib zu wachsen und das werdende Leben sich zu bewegen. Ich streichelte liebevoll über meinen Körper und aß mehr als gewöhnlich, zumal mich wie eine Löwin Hungeranfälle überkamen. Sergius glaubte zuerst, ich würde endlich die fleischigen Formen annehmen, die er an Frauen bevorzugte, doch eines Tages gingen ihm die Augen auf, und ich gestand ihm meinen gesegneten Zustand in der Hoffnung, er würde sich über ein Kind freuen, wenn wir es auch verstecken müßten.
Sergius kämpfte mit sich, das sah ich. Ich lächelte, nahm seine Bauernhand und ließ sie über meinen Leib gleiten. Immer fester preßte er seine Lippen zusammen, während zugleich seine Augen in noch tiefere Schatten fielen. Dann sagte er nur: »Ihr werdet beide sterben müssen. Die nächste Papstwahl kann nicht mehr lange auf sich warten lassen, und ich darf Formosus und seinen Leuten keine wohlfeilen Argumente liefern.«
Bis heute habe ich seinen in sich zerrissenen, aber entschlossenen Gesichtsausdruck nicht vergessen. Damals wollte ich nicht glauben, was er mir ankündigte. Ich war zwar seine Sklavin, gleichwohl: Konnte er einfach einen Menschen töten? Dazu sein Kind? Ein Christ, ein Mann Gottes, der sogar Nachfolger der Apostel werden wollte?
»Du darfst mich nicht töten«, sagte ich. »Herr«, fügte ich noch an. »Es wäre eine Sünde. Außerdem hast du mehrere Goldmünzen für mich bezahlt.« Ich hielt das Vorbringen dieses Arguments für klug, merkte aber, wie meine Stimme zitterte.
Er lachte kurz auf, wie über eine unangenehme, jedoch unvermeidliche Tat.
»Dann töte mich, bevor das Kind das Licht der Welt erblickt. Töte mich gleich!«
Sergius starrte stumm vor sich hin und richtete umständlich die seidene, durch zwei wollene Purpurstreifen geschmückte Dalmatika, die eigentlich für seine liturgischen Aufgaben vorgesehen war, die er aber auch häufig im Haus trug.
Natürlich meinte ich meine Aufforderung nicht ernst. Das Kind in mir ließ einen Lebenswillen ausbrechen, der nach den Ereignissen auf unserem Schiff nur noch gedämpft vorhanden gewesen war.
Er schaute auf und ließ lange einen düsteren Blick auf mir ruhen. In ihm kämpfte es unaufhörlich. Sollte ich jetzt bitten und betteln?
Nein, mir mußte gelingen, unbemerkt zu entkommen. Aber wohin sollte ich fliehen, an wen konnte ich mich wenden? Ich hatte, seit mich Sergius gekauft hatte, nicht mehr das Haus verlassen, war nicht einmal in einer Kirche gewesen, hatte den Ponte Sant' Angelo nicht betreten, nicht einmal gesehen, nicht die Engelsburg und auch nicht die Basilika des Apostelfürsten Petrus. Außerdem war der Hauseingang abgesperrt und bewacht.
Ich saß in der Falle. Es gab keinen Ausweg, als mich dem Schicksal zu überlassen – oder meinerseits auf Mord zu sinnen.
Vorerst geschah nichts; nur mein Bauch wuchs. Sergius holte mich nachts nicht mehr in sein Bett. Ich weiß nicht einmal, ob er eine andere Sklavin ausgewählt hatte, eine Kurtisane besuchte, sich gar mit einer hochgeborenen Geliebten vergnügte – oder einfach nur enthaltsam leben wollte.
Ich saß häufig an einem der kleinen Fenster, die auf die Via Lata blickten, und beobachtete das Treiben auf der Straße. Was war Rom für ein Kuh- und Hühnerdorf, verglichen mit Konstantinopel! Die Via Lata entspricht der Mese in meiner Heimatstadt, die breit, kolonnadengesäumt, von weiten Plätzen unterbrochen sich durch die Stadt zieht und nachts sogar beleuchtet ist. Unter den Arkaden bieten Geschäfte feinste Seiden und Duftwässer an, Elfenbeinschnitzereien, Reliquiengefäße, Schmuck, juwelenbestickte Brokatstoffe; dort sieht man Menschen aus aller Herren Länder promenieren und ihre kostbaren Kleider zeigen, man kann den Damen der Adligen und reichen Fernhändler in ihren Sänften begegnen, gelegentlich sogar in Kutschen – meine Mutter hat mich oft mitgenommen, und uns umfing eine bunte, laute, verführerische Welt.
Und hier in Rom? Der Gestank, der hereinweht, ohne daß er durch Kräuterduft gemildert wird, läßt an unsere unterirdischen Abwässerkanäle denken. Dabei soll es hier noch die cloaca maxima geben. Warum stinkt es dann so? Ich sehe verlumpte Pilger, billige Straßenmädchen, die sich in jeden dunklen Eingang schieben lassen, teure Huren, die sich anmalen, als hätte ein Kind in einen Farbtopf gegriffen. Überall picken Hühner im Kot und gockeln ihre Hähne, Schweine werden zur nächsten Schlachtung geführt, Schafherden blöken zur Piazza dei Fiori, selbst die purpurnen Würdenträger müssen hohe Schuhe tragen oder kleine Sprünge vollführen, wollen sie nicht im Unrat versinken. Die Häuserwände sind schwarz vom Schmutz und Rauch der letzten Brandschatzung, die Menschengedenken zurückliegt, deren Spuren aber noch nicht überall beseitigt sind.
Und was die Köchin mir von den Ruinenfeldern beim alten Forum Romanum berichtete, vom Colosseum, dessen Marmor Stück für Stück abgeschlagen wird, von sich weit über den Monte Celius hinziehenden Weinbergen, von Kuhwiesen und Gemüsegärten am Monte Pincius, von bröckelnden Kirchenfassaden … Ja, sie hat selbst erlebt, daß bei dem österlichen Hochamt in der Lateranbasilika ein Teil der Decke herabstürzte und mehrere Menschen tötete. Das Volk habe gebetet, die Erschlagenen hinausgeschleift und ein Unglück herannahen sehen, Papst Stephan jedoch und seine Kardinäle hätten weiter den Weihrauch schwenken lassen. Bisher wäre kein einziger Baumeister oder Handwerker in der Basilika erschienen, die vor oder neben San Pietro das Zentrum der Christenheit sei.
Wenn ich da an die Hagia Sophia denke, an die himmelbildenden Kuppeln, die ehrfurchtsgebietenden Mosaiken, den geheimnisvollen Schimmer des Lichts, das sich in den Weihrauchschwaden bricht, von außen durch die Fenster hereinfließend und von innen verstärkt durch Tausende von Leuchtern – und ich saß eingesperrt an einem winzigen Fenster mit Blick auf eine von Verkaufsbuden verstopfte, stinkende Straße, ohne Buch, ohne Lehrer, ohne Kinder, eine schwangere und zugleich vom Tod bedrohte Sklavin … Nein, ich muß diese düstere Stunde verlassen!
Eines Tages sah ich von meinem Beobachtungsposten aus zuerst Sergius nach Hause kommen, getragen von vier dunkelhäutigen Sänftesklaven, kurz darauf Theodora. Ich glaube sogar, daß sie mich entdeckte, bevor das Portal sich vor ihr öffnete.
Ich wurde zu Sergius in den Empfangssaal gerufen, wo es grabeskalt war, obwohl ein Kaminfeuer vor sich hin rauchte. Theodora, die bei ihm stand, richtete sofort ihren forschenden Blick auf mich, tastete mich regelrecht ab.
»Ich kaufe sie dir ab«, sagte sie zu ihm.
Mir wurde wieder deutlich, daß ich eine Sklavin war, die man verschacherte wie eine Stute. Rasch begriff ich aber, daß dieser Kauf mein Leben und das Leben meines Kindes retten sollte.
»Gesund muß sie sein«, fügte Theodora an.
»Das ist sie! Außerdem habe ich sie seit langem nicht mehr angerührt.«
»Das ist gut! Wieviel willst du für sie haben?«
Sergius gab mir einen Wink zu verschwinden. Ich wollte mich zurückziehen, doch bevor ich ging, zog mich Theodora an sich, als wollte sie mir einen Kuß auf die Stirn geben. Sie roch allerdings nur an mir und strich mir über die Haare. Ich blickte in ihre Augen: Sie waren weicher geworden, und in ihnen verbarg sich unzulänglich ein triumphierendes Strahlen. In diesem Augenblick verstand ich, warum sie mich kaufte.
Nachdem ich den Raum verlassen hatte, blieb ich hinter der Tür stehen, um das Gespräch zu belauschen. Es war mir gleichgültig, daß ich von einigen der Diener und Mägde, sogar von Sergius' Leibwachen beobachtet wurde. Alle schienen sie meine Lage zu kennen und die Gefahr, die mir drohte.
»Nichts!« hörte ich. »Wenigstens kein Geld.«
»Das ist sehr großzügig. Und welchen Gefallen soll ich dir tun?«
Ich spähte durch den Türspalt: Sergius flüsterte Theodora etwas ins Ohr, und sie lachte spöttisch auf.
»In meinem Zustand halte ich sogar Theophylactus von mir fern. Ich will kein Risiko eingehen. Du weißt, was die Kirche davon hält, wenn eine Frau im gesegneten Zustand von einem Mann besucht wird – selbst wenn es ein schöner und mächtiger Diener der Kirche ist.« Wieder lachte sie, und als Sergius seine Hand nach ihr ausstreckte, schlug sie scherzhaft nach ihr, um anschließend sein Kinn zu kraulen. »Haben wir nicht noch einiges gemeinsam vor?« fragte sie neckisch.
»Gut, dann behalte ich einen Wunsch frei.« Sergius ging auf ihren Ton ein, ergriff die Hand, die ihn soeben gekrault hatte, drückte einen Kuß auf die Finger und zog Theodora an sich.
Ich bin kein Mann, doch konnte ich Sergius verstehen. Theodora war damals eine junge Frau von nicht einmal zwanzig Jahren, üppig, hochbusig, mit dunkelbraunem, dichtem Haar und einem verführerischen Lächeln, das ihre Tochter erben sollte. Einer Stimme, die selbst mich vibrieren ließ. Mit Augen, die jeden festhielten und bannten. Und ihre kalte Entschlossenheit machte Angst.
Noch am selben Tag wechselte ich von Diaconus Sergius zu dem Haus des jungen Senators Theophylactus und seiner Gemahlin Theodora, die ebenfalls in der Via Lata residierten. Der Senator, ein breitschultriger Hüne mit Hakennase und gepflegtem Bart, ließ lange seinen wohlwollenden Blick auf mir ruhen.
»Als Amme unseres Kindes soll es dir an nichts fehlen«, erklärte Theodora. »Die Milch einer so schönen und gebildeten Frau aus hohem Haus, die zudem gesund und kräftig ist, wird den Charakter unseres Kindes veredeln und aus ihm einen Papst oder eine Kaiserin machen. Wenn dir das gelingt, werden wir dich freilassen, und du kannst in deine byzantinische Heimat zurückkehren.«
Im Traum kam ich nieder. Über mir säuselten die Palmwedel, Flöten wetteiferten mit dem Gesang des Windes und den Melodien der Vögel, die von Zweigen hoch über mir neugierig auf mich schauten. Über den milchblauen Himmel zogen in Reih und Glied gehorsame weiße Schäfchen. Meine Mutter und Theodora beugten sich lächelnd über mich, kamen immer näher, bis ich nur noch die glänzenden Zähne sah und laut schrie. Schön wiegten die beiden ein Kind im Arm und sangen ein Kyrie eleison.
Mit glücklichem Herzschlag wachte ich auf. Unsere Zelle war hell erleuchtet von laut knisternden Fackeln, und Alberico beugte sich über mich. Den Schlag einer Wimper lang dachte ich: Endlich bereut er seine Taten und befreit uns, aber er ließ sich einen unserer Becher reichen, füllte ihn aus dem Eimer und ließ das Wasser auf die Stirn seiner Mutter tröpfeln. Marozia zuckte hoch, schaute verwirrt in das blendende Licht der Fackeln, ließ sich wieder zurückfallen und stieß in flüsternder Verzweiflung aus: »O Herr, nimm mich auf und sei mir gnädig!«
Alberico lachte glucksend über den Kinderscherz, den er sich erlaubt hatte. Als wir nicht reagierten, richtete er sich auf und hob seinen Arm, als sei er Gaius Julius Cäsar persönlich: »König Hugo marschiert mit seinem Heer nach Norden, verehrte Mutter, die Ratte zieht sich nach Pavia oder in seine sarazenenverseuchte Provence zurück. Rom atmet auf: Der fremde Usurpator kann die ewige Stadt nicht mehr schänden und in ein Hurennest verwandeln.« Wie ein Wanderprediger hielt er nun beide Arme in die Höhe und fuhr in singendem Tonfall fort: »Laßt alle Hoffnungen fahren dahin, denn siehe, euer Sohn hat die Feinde Roms mit dem Schwert geschlagen und wird sie verfolgen bis ins siebte Glied.«
»Hör auf!« krächzte Marozia. »Mach dich nicht zum Idioten!«
In einem kurzen Wutanfall packte Alberico sie an ihrer Tunika und wollte sie von ihrer Pritsche hochreißen, zog seine Hand aber rasch in gespieltem Ekel zurück. »So wie du bist, kann ich dich kaum den byzantinischen Gesandten vorstellen, nachdem sie sich bereits mit Naserümpfen durch unser römisches Ruinenfeld haben tragen lassen, vorbei an Misthaufen und Schweinekoben. In höflichen Worten teilten sie mir mit, ihr Interesse an meiner Schwester Berta als kaiserlicher Braut sei erlahmt, nachdem dem König Hugo sie aufgeklärt habe über ihre Mutter und Großmutter.«
Ich mochte nicht aufschauen, weil Albericos gestelztes Gerede, falls es der Wahrheit entsprach, eine unserer letzten Hoffnungen zunichte machte.
Marozia tat so, als hätte sie nicht zugehört, und wischte sich die Reste des trüben Schlafs aus den Augen.
Alberico, eingerahmt von den Fackelträgern und Wächtern, erklärte nun, der römische Senat habe ihn zum princeps omnium Romanorum ernannt, man spreche von Albericus patricius und habe die Verwaltung der Stadt in seine Hände gelegt. »Auch mein geliebter Bruder Giovanni, der sich als Papst bekanntlich Johannes der Elfte nennt, fiel vor mir auf die Knie und erwies mir seine Reverenz. Daraufhin befreite ich ihn von seinem Hausarrest. Allerdings bedeutete ich ihm, ich würde ihn umgehend seines Augenlichts berauben, wenn er gegen mich irgendwelche Ränkespiele anzettelt.«
»Und was ist mit Berta?« fuhr ihn Marozia an.
»Berta betet im Kloster Sancta Maria auf dem Aventin – für das Seelenheil ihrer Mutter, die, so scheint es, noch immer nicht ihre Lage begriffen hat und sich eines unziemlichen Tones befleißigt.«
»Hör auf!« schrie sie. Die reine Verzweiflung ließ ihre Stimme erzittern, und sie bedeckte ihr von Flohstichen gezeichnetes Antlitz mit der Stola, die sie in diesem kalten Loch unzureichend wärmte.
Ich ergriff Albericos Hand. »Laß uns frei!« flehte ich ihn an. »Du hast erreicht, was du wolltest, deine Mutter kann dir nicht mehr gefährlich werden …«
Ein kurzes spöttisches Lachen unterbrach mich.
»Warum soll jetzt noch deine kleine Schwester büßen? Hat sie dir jemals etwas getan?«
Alberico entzog mir seine Hand. »Berta muß leider ein Opfer bringen für Roms Zukunft und für die Fehler ihrer Mutter büßen. Ich will selbst eine byzantinische Prinzessin heiraten.«
»Du?«
»Warum nicht? Als Roms princeps und patricius!«
»Dann wünsche ich dir Erfolg.«
Ich meinte meinen Wunsch ernst, nur blutete mein Herz für Berta, die immer ein hübsches, wenn auch verhuschtes Mädchen gewesen war, aber durch die Vorstellung aufgeblüht war, im marmorweißen Gynaikeion, dem Frauenpalast in Konstantinopel, Kaiserin zu werden. Vielleicht braucht sie nur mehr Licht, um zu gedeihen. Im Kloster jedoch wird sie verdorren.
Marozia hockte auf ihrer Pritsche wie ein grauer Stein.
Mich berührte nicht nur das Mitleid um Berta, sondern bedrängte der Gedanke an Alexandros, der sich im Gefolge der Gesandtschaft befinden mochte und womöglich fieberhaft nach seiner Mutter fahndete.
»Alberico«, nahm ich erneut das Wort auf.
»Hast du dich endlich entschieden, mich in die Freiheit zu begleiten, um …« – er machte eine beziehungsreiche Pause – »um von deinen Landsleuten das Neueste aus Byzanz zu erfahren?«
Ohne seine Frage zu beantworten, sprach ich an, was mir am meisten am Herzen lag: »Befindet sich in der Gesandtschaft ein Mann namens Alexandros, der so alt ist wie deine Mutter? Er spricht sicher Latein und müßte auch den römischen Dialekt beherrschen …«
Alberico nahm einem seiner Wachen eine Fackel ab und beleuchtete damit mein Gesicht. Mir war nicht klar, ob er wußte, von wem ich sprach.
»Könnte sein«, antwortete Alberico nach einer Pause. »Alexandros – ich glaube, ja … Woher kennst du ihn? Ist er ein Spion meiner Mutter, ein Helfershelfer, den ich schleunigst aus der Stadt jagen muß?«
Unterdessen hatte Marozia die Stola von ihrem Gesicht gezogen. Ihre Augen blickten gerötet und müde. Ich wollte ihr die Hand reichen, doch sie schüttelte nur den Kopf.
Erneut näherte sich die Fackel und mit ihr Alberico meinem Gesicht. »Komm mit mir!« bedrängte er mich. »Ich will nicht, daß du hier verreckst. Wer ist dieser Alexandros?«
In diesem Augenblick dachte ich: Manchmal hilft nur die Wahrheit, und ich sagte: »Mein Sohn.«
Albericos Blick wanderte ungläubig von mir zu Marozia und wieder zurück. Schließlich richtete er sich auf. »Der Sohn, dem meine Mutter die Milch gestohlen hat, die ihm zustand?«
»Ich besaß reichlich davon.«
»Ich dagegen mußte hungern, daran erinnere ich mich.«
»Ach, mein kleiner Alberico …«
Er spielte den römischen Cäsar und war zugleich noch ein Kind, das sich nach der Mutterbrust sehnte. Erneut wollte ich seine Hand ergreifen, doch er wich zurück, wandte sich abrupt ab und winkte seinen Begleitern. Er hatte unsere Zelle bereits verlassen, als ich ihm nachrief: »Du mußt ihn von mir grüßen. Sag ihm, daß ich lebe, daß er in Rom bleiben soll …«
»Ich will sehen, was sich machen läßt«, hörte ich durch die sich schließende Tür.
Was wir befürchtet hatten, war ebenso eingetreten wie das, was wir erhofft hatten, aber nicht wirklich zu glauben wagten. Ich starrte auf die Buchstaben αταραξία, die der Schimmel bereits wieder zu überwuchern drohte, kratzte sie frei, als könnten sie so ihre magische Wirkung erhöhen – denn meine Gemütslage war keineswegs ruhig. Ich fühlte mich von widerstreitenden Kräften zerrissen: von der Liebe zu meiner Mariuccia, die mich zum Hierbleiben nötigte, der Sehnsucht nach meinem Sohn und der Freiheit, die auf Erfüllung drängte.
»Wieso hast du gesagt: ›Sag ihm, daß ich noch lebe‹, und nicht ›daß wir noch leben‹?« Marozias Stimme war so schneidend, daß ich unwillkürlich zusammenzuckte, als hätte sie mich bei einer Unrechtstat ertappt.
»Kannst du dir das nicht denken? Du weißt doch, wie wütend Alberico auf dich ist – er wird dir keinen Gefallen erweisen wollen, mir dagegen schon, zumal ihn ein schlechtes Gewissen plagt, weil er mich einsperrt.«
Ein kurzer Blick auf Marozia zeigte mir, daß sie mir nicht glaubte.
»Alexandros ist unsere Chance«, fügte ich an.
Sie reagierte nicht.
»Käme Alberico auf den Gedanken, du könntest Alexandros lieben, würde er ihn unter einem Vorwand aus der Stadt schicken …«
Marozias Gesicht verzerrte sich vor zorniger Verachtung.
Lange Zeit herrschte Schweigen in unserem Verlies. Nur unser Atem ging schwer, unterbrochen von ihrem Husten. »Du solltest endlich Albericos Angebot folgen«, sagte sie, während sie sich die schmerzende Brust hielt.
Verletzt schwieg ich. Es herrschte eine böse, ja, vergiftete Atmosphäre. Rettung, so dachte ich, gibt es für uns beide nur, wenn wir, gestützt durch unsere Liebe, gemeinsam durchhalten.
»Habe ich dich in deinem Leben jemals allein gelassen?« fragte ich schließlich, das Beben meiner Stimme mühsam unterdrückend. »Wie du weißt, wurde ich nicht als Sklavin geboren.«
»Es ist alles so sinnlos«, seufzte sie.
Beide vermieden wir, daß sich unsere Blicke trafen. Der feuchtkalte und ungezieferverseuchte Kerker zerstörte nicht nur unsere Gesundheit, wie ich an dem Blut feststellen konnte, das Marozia gelegentlich auswarf, er zerstörte auch unser Vertrauen, unsere Liebe und zersetzte meine Lebensbejahung, den Glauben an das Gute, das in jedem Menschen vorhanden ist.
Ich nahm die Pergamentseiten und überflog das bisher Geschriebene. Tatsächlich durchströmte mich eine unerwartete Wärme. Den Verlust der Eltern, der Jungfräulichkeit und der Freiheit hatte ich schwer verletzt überlebt. Aber meine Seele hatte, wie von Epiktet vorausgesagt, nur wenig Schaden genommen und sich rascher erholt, als ich es glauben wollte. Als müßte das Schicksal einen Ausgleich schaffen für die Verluste, umgab es mich nach kurzer Zeit erneut mit Luxus. Ich vergaß die Demütigungen meines Körpers und freute mich an dem Leben, das in mir wuchs. Die Freude hielt an: Mit nur geringen, heute längst vergessenen Schmerzen gebar ich einen Jungen, der, so glaubte ich zumindest, seinem Vater nicht ähnelte. Theodora folgte mir und brachte, ebenfalls ohne Schwierigkeiten, ein Mädchen zur Welt, so daß ich zwei Kinder in den Armen halten durfte. Glücklich schmatzend lagen sie an meiner Brust, während neben mir Theophylactus und Theodora knieten, als wären sie die Weisen aus dem Morgenland. Einer fehlte, zum Glück: Diaconus Sergius, der Mann, der hoffte, bald Papst zu werden.
Ich erinnere kaum noch Einzelheiten aus jenen Jahren, nur dieses fast schmerzhaft intensive Glückgefühl, während ich die beiden Kinder stillte und auf ihre Härchen pustete.
»Du warst von Geburt an ein hübsches Kind«, sagte ich. »Sonnig, zufrieden, hellwach, gesund. Sobald es etwas zu trinken gab, strahltest du. Wurdest du gestreichelt oder bewegten wir deine Ärmchen und Beinchen, krähtest du vor Freude. Alle im Haus beteten dich an.«
Marozia wendete sich mir zu: Zuerst skeptisch, dann milder gestimmt. »Und wie war Alexandros?« fragte sie, während sich ihr Antlitz verklärte.
»Stiller als du, zurückhaltender. Er lernte spät sprechen, während du früh zu plappern begannst. Auch er war ein freundliches Kind. Schon als kleiner Junge wirkte er nachdenklich, konnte sich lange über Dinge beugen, die ihm auffielen, ein Muster im Mosaikboden, einen Marienkäfer, der über ein Blatt kroch. Als ihr dann beide durch das große Haus tolltet, ließ er dir immer den Vortritt, nicht weil er das Sklavenkind war und du die Tochter eines römischen Senators, sondern weil ihm unser Schöpfer Höflichkeit und Rücksicht bereits in die Wiege gelegt hatte.«
Ein Schatten zog über Marozias gezeichnetes Antlitz.
Erkannte ich meine Tochter überhaupt noch in diesen trüben Augen, in diesen eingefallenen Wangen und tiefen Falten? Bisher hatte ich immer das Kind oder die junge Frau vor mir gesehen, auch als Marozia älter wurde und das Leben seine Spuren hinterließ, jetzt jedoch hockte mir eine gequälte Frau gegenüber, unversehens fern und fremd.
Ein sehnsüchtiger Schleier legte sich über ihre Augen, als sie sprach: »Ich erinnere kaum etwas aus dieser Zeit. Alexandros vielleicht, den Spielkameraden, den Bewunderer – ja, in seinem Blick konnte ich mich sonnen, da gab es keine Zweifel und keine Forderungen, nur dieses unverbrauchte Leuchten. Auch mein Vater liebte mich sehr, er hielt mich stundenlang auf seinem Schoß, streichelte und küßte mich … War ich als Kind eigentlich jemals traurig?«
»Du wirst sicher einmal traurig gewesen sein«, erklärte ich. »Ich erinnere allerdings eher deine Wutanfälle, wenn dir ein Wunsch abgeschlagen wurde, was selten geschah. Einmal schmückte sich deine Mutter mit einem kostbaren Perlendiadem, das ihr jemand geschenkt hatte – ich weiß nicht, wer.«
»Vermutlich einer ihrer Geliebten …«
Ich überging den Einwurf. »Sie setzte also das Diadem auf und ließ sich einen silbergefaßten, aus Konstantinopel eingeführten Spiegel reichen. Du mußt noch klein gewesen sein, aber bereits damals wolltest du, daß man auch dich mit dem Diadem schmückte. Deine Mutter dachte jedoch nicht daran, und du brachst in ein ungehöriges Schreien und Toben aus, das darin gipfelte, daß du irgend etwas zerbrachst. Ich glaube sogar, es war das Diadem, das dir deine Mutter schließlich entnervt reichte. Ich erinnere mich jetzt genau daran. Auch Alexandros war dabei und schaute erschrocken auf dich. Dein Vater kam hinzu, du flüchtetest dich zu ihm, deine Mutter war außer sich vor Zorn …«
»Sie strafte mich mit tagelangem Schweigen und Verachtung.«
»Das weiß ich nicht mehr. Kannst du dich wirklich daran erinnern? Du warst noch nicht sehr alt.«
»Ich weiß es genau. Ich fürchtete dieses Schweigen, auch später, ihre stumme Verachtung … Nein, ich will mich nicht an meine Mutter erinnern. Laß uns lieber über Alexandros sprechen. Ali nannte ich ihn, Ali, den Diener.«
Ja, so war es tatsächlich gewesen. Ich beobachtete damals mit Unbehagen, daß Alexandros sich zum Knecht machen ließ, zum gehorsamen Höfling, dabei floß nur edles Blut in seinen Adern. Mein Vater Philippos entstammte einem alten makedonischen Geschlecht, meine Mutter Sulamith einer jüdisch-syrischen Sippe. Sergius prahlte mit seiner nobilitas aus altrömischen Wurzeln.
Ali, der Diener! Unglaublich! Der Makedone Alexandros hat die Welt erobert. Sein Lehrer hieß Aristoteles, mit Platon und Epikur einer der größten Philosophen, die bisher auf Erden wandelten. Im barbarischen Rom hat man allerdings wenig von ihm gehört.
Übe dich in Demut, Aglaia! rief ich mir damals in Gedanken zu. Der Herr über Leben und Tod hat dich vom Sockel deiner hohen Geburt gestürzt. Doch wer sagt, daß dein Sohn nicht dereinst wenn nicht die Welt, so wenigstens Rom erobern wird?
Ich begann davon zu träumen, daß beide Kinder, die dieselbe Brust genährt hatte, diese Einheit und Einigkeit nie vergessen würden – nicht als Herrin und Diener, sondern als Mann und Frau. Vielleicht hätte ich diesen Traum nie träumen dürfen – die einzige Wunde meines Lebens, die nie heilen sollte, wäre mir erspart geblieben.
Denke ich zurück an diese Jahre, auch an die folgenden, in denen die beiden Kinder im Schutz starker Mauern heranwuchsen, so kann ich mich nur wundern, daß die Stürme, die damals nicht nur über Rom, sondern über ganz Italien hinwegbrausten, kaum zu spüren waren im Brunnengeplätscher unseres Atriums, im Säuseln der Platanenblätter und im bewegungslosen Wachdienst der Zypressen. Ich erinnere in erster Linie das Glück der von Kinderlachen erhellten Jahre, erinnere die Gespräche, die Theodora mit mir führte. Sie wußte meine Bildung und meinen im Denken geübten Verstand, meine Beobachtungsgabe und Urteilsfähigkeit zu schätzen. Theodora brannte vor Ehrgeiz. Sie sah das ränkereiche und ehrlose, unfromme, aber machtgierige Getriebe in Kurie und Adel: Senatorentitel wurden von Familie zu Familie vererbt, ohne daß sie irgendwelche Bedeutung hatten, eine Stadtverwaltung fand praktisch nicht statt. Sie durchschaute die Kämpfe zwischen den Anhängern des Sergius und und den Anhängern des Formosus, die beide den Papsttitel und damit die Herrschaft in Rom anstrebten, und sie verschloß nicht die Augen vor der Anarchie, die in Italien herrschte, und gerade deswegen sah sie ihre Chance. Das Haupt eines Adelshaushalts in der unkrautüberwucherten Hauptstadt verfallender Ruinen zu sein genügte ihr nicht. Ihre ägyptisch geschminkten Augen richteten sich auf höhere Ziele.
Die Sarazenen hatten fast ganz Sizilien erobert und sich, wie ich bereits gesehen hatte, am Garigliano, zwischen Rom und Neapel, ein festes Lager geschaffen, von wo aus sie die Ländereien südlich der ewigen Stadt ausraubten, die Klöster von Subiaco, Farfa, Monte Cassino bedrohten oder sogar in Brand steckten. Fünfzig Jahre zuvor hatten sie das Viertel um die Basilika des heiligen Petrus und die Kirche selbst geplündert und Rom direkt bedroht. Der damalige Papst Leo hatte eine Mauer um das vatikanische Viertel bauen lassen und die Aurelianische Mauer instand gesetzt, aber die Bedrohung blieb. Immer wieder tauchten die Sarazenen im Umland auf, so daß die Römer befürchten mußten, wie einst von den Vandalen und Goten erobert und gebrandschatzt zu werden.
»Warum wehren wir uns nicht?« fragte Theodora ihren Mann erregt, als, wie häufig, die Nachricht überbracht wurde, daß eine ihrer Domänen mit einem angrenzenden Kloster niedergebrannt worden sei, die Männer ermordet, die Frauen vergewaltigt und mitsamt den Kindern, dem Vieh und den Reliquienschätzen verschleppt worden seien. »Warum ruft der Papst nicht zum Kreuzzug gegen die Ungläubigen auf italischem Boden auf? Warum verbündet sich die Stadt nicht mit den Markgrafen von Spoleto und Tuszien, ja, auch mit den Fürsten im Süden und dem Kaiser des byzantinischen Reichs, um die sarazenische Pest abzuwehren und zu vernichten? Alle leiden doch unter ihr. Solange wir uns hinter unseren Mauern sicher fühlen, unternehmen wir nichts. Das ist schändlich!«
Theophylactus gab ihr recht, fühlte sich allerdings nicht stark genug, eine Allianz gegen das Raubgesindel zu schmieden. »Du weißt genau, meine Löwin, daß jeder an sich selbst zuerst denkt, dem anderen mißtraut und Verrat befürchtet.«
»Ihr Römer seid beschnittene Kapaune! Kraftlos, fett und feige!«
Ihr Mann, der zwar an Gewicht zugelegt hatte, aber in seiner hünenhaften Gestalt alles andere als kraftlos wirkte, nickte und überging ihre Beleidigung ohne Kommentar.
Theodora schaute ihn verächtlich an, warf ihm im Weggehen noch zu: »Ich habe zu Schreckliches erlebt, als daß ich Weichlinge ertragen könnte. Das weißt du. Wenn du dich nicht aufraffen kannst, etwas zu unternehmen, dann werde ich das Heft in die Hand nehmen und Männer suchen, die zu kämpfen wissen.«
Wen sie im Auge hatte, war mir klar.
Sie rauschte mit mir in den Frauentrakt des Hauses, wo uns die Kinder entgegengetragen wurden. Theodora gab ihnen einen flüchtigen Kuß und forderte mich auf, mich mit ihr in den Schatten eines Feigenbaums zu setzen. Noch immer kämpfte sie mit ihrer Erregung.
»Verstehst wenigstens du mich?« fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. »Nicht nur Italien zerfällt, sondern auch Rom mit seinem wankelmütigen und geldgierigen Pöbel und einem ehrlosen Adel, der sich befehdet und dabei vor Wortbruch und Mord nicht zurückschreckt, statt sich um einen entschlossenen Mann zu scharen. Es ist ein Wunder, daß noch immer Pilger nicht gänzlich ausgeraubt ihren Weg in die heilige Stadt finden und dazu beitragen, daß der Bauch der Kirche satt wird, die Wirte und Bettler, die Zöllner und Wasserträger, die Huren und Händler ihren Anteil einstreichen können. Es ist ein weiteres Wunder, daß die Campania überhaupt noch Rom ernähren kann. Und es ist eine Schande, daß wir Amalfi und Gaëta erlauben, mit der sarazenischen Beute schwunghaften Handel zu treiben. Es sind ja nicht nur oströmische Schiffe, die überfallen werden, sondern auch unsere Domänen, Dörfer und Klöster.« Sie schaute mich an, als wüßte ich nicht, wovon sie sprach.
»Pecunia non olet«, sagte ich. »Geld stinkt nicht.«
Theodora nickte und fuhr mit ihrer Philippika fort.
»Ich verstehe Theophylactus nicht: Wir erhalten von unseren Besitzungen an den Hängen der Albaner Berge kaum noch Naturalien geliefert, ganz zu schweigen von Geld. Warum kümmert er sich nicht darum? Er verschuldet sich lieber beim Juden! Ich sage dir eins: Erst wenn die Brandschatzung der Ländereien und die Bedrohung der Pilger derartige Ausmaße annehmen, daß die Pilger gänzlich ausbleiben und Hungersnöte auf die herrschenden Familien übergreifen, wird sich ein Mann finden, der uns eint und den Kampf gegen die Ungläubigen aufnimmt. So lange will ich aber nicht warten.«
Auch ich habe mich häufig gefragt, was stärker ist: die Sucht, auf den eigenen Vorteil zu schauen, die Gier zu herrschen, die Lust an Streit und Kampf, an Quälerei und Mord, an Raffen und Brennen – oder die Einsicht in die Notwendigkeit der Gemeinsamkeit, der Herrschaft des Rechts, des sicheren Handels und Wandels. Warum begreifen wir so wenig, daß Einigkeit stark macht? Warum hören wir nicht auf die Stimme der Vernunft, gehorchen so selten den Geboten des dreieinigen Gottes? Selbst die, die seine obersten Diener sind, haben mit seiner Botschaft nichts im Sinn.
Theodora erhob sich und stand nun neben mir, aufrecht und stolz, schön unter ihrer Maske aus Salben und Puder, ohne die sie sich nicht unter die Menschen mischte, und verkündete: »Wenn sich Theophylactus weiterhin zurückhält, dann werde ich die Initiative ergreifen.«
Sie winkte die Kinder, die in der Loggia spielten, herbei und nahm entschlossen ihre Tochter Marozia auf den Arm, warf sie in die Luft, drückte sie an sich und küßte sie. »Wir beide werden es dem Männergeschlecht zeigen, nicht wahr, mein Kind?«
Alexandros streckte mir seine Ärmchen entgegen, so daß ich ihn ebenfalls hochnahm. Mit großen Augen blickte er auf das Triumphspiel von Mutter und Tochter. Und noch ein anderer beobachtete es: Theophylactus, der im Rahmen eines Fensters stand. In seinen Augen leuchteten Stolz und Zuversicht.
»Uns wird nichts aufhalten!« rief Theodora, während sie die juchzende Marozia in die Höhe hielt.
Ich drückte Alexandros an mich, weil mich jäh eine unerklärliche Angst beschlich.
Bald darauf – es tobte gerade ein heftiges Gewitter über der Stadt, der Regen rauschte auf Dächer und Straßen, und das Wasser suchte sich gurgelnd seinen Weg – donnerte und krachte es nicht nur über uns, auch von den Straßen drang heftiger Lärm durch die Mauern. Unser Hausverwalter und Procurator Martinus, ein sachlicher Mann mit treuen Augen, die sich in der letzten Zeit häufiger auf mich hefteten und denen ich mit einem freundlichen Lächeln begegnete, flüsterte mir zu, Papst Stephan sei gestorben, und wie immer in Zeiten der Sedisvakanz würden Fehden in ihr blutiges Stadium treten und alte Rechnungen beglichen, Pilger dahingemeuchelt, der Pöbel verliere jegliche Scham und Scheu, und die Diener im Vatikan plünderten hemmungslos die Gemächer des Dahingegangenen. Natürlich schlösse sich ihnen allerlei dunkles Gelichter an, die Stadthuren witterten ihre Chance, weil mehr Beutegeld vorhanden sei, der Wein flösse in Strömen, Freudentänze brächen aus, der Tiber sähe trunkene Bacchanalien, den Verlust so mancher Jungfräulichkeit und trüge ungerührt die Leichen davon. »Es ist am besten, man verläßt das Haus nicht – oder nur in Begleitung einer handfesten und gutbezahlten Bewachung.«
Martinus hatte mir die letzten Worte verschwörerisch ins Ohr geflüstert und sich mir so genähert, daß ich ihn zurückschieben wollte. Auch er hatte offensichtlich an den Freudentänzen teilgenommen und zu tief in den Weinkrug geschaut. So nahm ich, Vertraulichkeit und Wissen vortäuschend, seine Hand und fragte, ebenso flüsternd: »Was glaubst du, wer nächster Papst wird? Diaconus Sergius?«
Er grinste, weil er wie alle wußte, wer der Vaters meines Alexandros war, und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Die Anhänger des Formosus sind stark und wollen ihren Kandidaten unbedingt auf den Stuhl Petri setzen, obwohl er ja bereits Bischof von Portus ist und nach kanonischem Recht nicht Bischof von Rom und damit Papst werden darf.«
»Aber wird nicht gegen diese Bestimmung immer wieder verstoßen?«
»Für eine griechische Sklavin kennst du dich in Rom gut aus.« Er nickte anerkennend und drückte mich in die Ecke eines Gangs, der zu den Vorratsräumen führte, als gehe es um den Austausch weiterer Geheimnisse, und berührte mit seiner Hand meine Brust.
Ich schob sie zur Seite und hielt sie fest. Um ihn abzulenken, stellte ich ihm eine Frage, die mich bereits eine geraume Weile beschäftigte: »Unsere Herrin, Theodora, mit ihrem griechischen Namen – stammt sie wirklich aus Tuszien?«
»Angeblich hat sie der Senator von einem Freundschaftsbesuch bei Markgraf Adalbert mitgebracht. Es hieß sogar, sie sei die fürstliche Tochter – aber wenn du mich fragst: Theophylactus hat sie von der Straße aufgelesen. Sie war eine Gauklerstochter mit magischen Fähigkeiten – mit schwarzer Magie … und einem Goldschatz … Das erzählt man sich wenigstens.« Seine Lippen näherten sich meinem Ohrläppchen. »Eine Hexe, die jeden mit ihren starren Augen in Bann zieht.«
Das Gewitter tobte über uns, und der gebrochene Schein der Blitze zuckte immer wieder über Martinus' lächelndes Gesicht. Er hatte mich mittlerweile derart in den Schatten der Gangecke geschoben, daß uns niemand mehr sehen konnte. »Aber du, mit deinem wiegenden Gang, mit deiner Nachtigallenstimme …«
Ich lachte kurz auf und versuchte, mich ihm zu entziehen.
Der Procurator, deutlich älter als ich und aus einer tuszischen Händlerfamilie stammend, hatte sich mir gegenüber bisher immer höflich verhalten, ja, unterwürfig. Ich stand als Marozias Amme unter dem besonderem Schutz der Herrin, außerdem legte die Tatsache, daß ich lesen und schreiben konnte, daß ich als Frau das klassische Latein beherrschte und sogar Griechisch, eine unsichtbare Barriere um mich.
Martinus umarmte mich nun heftig, küßte mich, flüsterte mir abgehackt wie ein verliebter Jüngling zu: »Ich liebe dich! Seit ich dich zum ersten Mal sah! Und wie du mit den Kindern umgehst! Dein Gang, so königlich! Laß uns fliehen, nach Lucca, wo mein Onkel lebt. Der nimmt uns auf, du wirst frei sein!«
Als ich nicht reagierte, fuhr er noch hektischer fort: »Im Augenblick herrscht völliges Durcheinander in der Stadt. Ich habe den Schlüssel für das Portal und kann uns nachts herauslassen. Wir nehmen dein Kind und schleichen davon … Wenn du willst, können wir auch nach Konstantinopel fliehen. Mein Onkel handelt mit Wolle und Seide, verstehst du? Ich werde für ihn arbeiten, er sucht seit langem einen zuverlässigen Mann, der für ihn die Geschäfte am Bosporus führt. Er wird dich ebenso lieben!«
Ich unterbreche den Fluß der Erinnerungen, weil sie sich selbständig machen, weil sie wie Procurator Martinus mit mir nach Hause, in meine Heimat fliehen wollen … Mich zieht ein Sog hinaus, Albericos Angebot verlockt mich, obwohl mich Pflicht und Neigung bei Marozia halten … Damals lehnte ich Martinus' Angebot ab, zu überrascht war ich, erschrocken – und fühlte ich mich nicht als Theodoras Schwester?
Es muß der September des Jahres 891 gewesen sein, Marozia war ein gutes Jahr alt, ebenso Alexandros, sie lernten laufen, schliefen damals sehr unruhig, als spürten sie etwas von der Unruhe jenseits der Mauern. Auf den Straßen tobte das Volk, in der Via Lata wurde sogar gekämpft: Söldner des Sergius gegen Anhänger des Formosus. Und dann plötzlich ein Schrei, ein Jubeln und betrunkenes Rufen, bis zum Überdruß wiederholt: »Habemus papam! Vivat Formosus!«
Theophylactus war zwei Nächte nicht nach Hause gekommen, Theodora tigerte besorgt durch alle Gänge und ließ schließlich in der Küche ein Huhn schlachten und sorgfältig zerlegen. Als die Köchin die Innereien herausnehmen wollte, studierte sie sorgfältig das dampfende Gekröse. Die Köchin hat es mir selbst berichtet, nicht ohne sich zu bekreuzigen.
Doch dann erschien Theophylactus unversehens mit einer Truppe bewaffneter Männer, von denen manche verwundet waren, sowie Diaconus Sergius, der sich, als einfacher Mönch verkleidet, bleich und mit vor Müdigkeit geröteten Augen, in den Schutz unseres Hauses flüchtete. Ich stand im Hintergrund, als er Theodora fluchend berichtete, daß die Anhänger des Formosus unverzüglich nach dessen Wahl sein Haus geplündert hätten, die Pferde gestohlen, seine Diener erschlagen, die Mägde verschleppt. »Dafür wird er nochmal zahlen!«
Theophylactus legte den Arm auf seine Schulter. »Du kannst bei uns bleiben«, beruhigte er ihn. »Wir werden doppelt zurückholen, was du verloren hast. Ein Großteil der Via Lata steht hinter dir – und auch die Mehrheit des Senats.«
Theodora fixierte Sergius mit ihren Kleopatra-Augen und befahl mir, die Kinder zu holen. Ich trug sie auf dem Arm herbei, setzte sie vor Theodora ab, die sie zu den Männern schob.
»Es ist jetzt nicht der Augenblick …«, zischte ihr Theophylactus zu.
»Hast du gesehen, Sergius, wie Marozia gewachsen ist? Schaut sie nicht wie ein Engel aus? Und sieh dir deinen Sproß an, entwickelt er sich nicht ebenso prächtig?«
Sergius warf einen prüfenden Blick auf Alexandros, nickte dann knapp, ohne ein Wort zu sagen.
»Ihr dürft den Kampf nicht aufgeben«, fuhr Theodora im gleichen Ton fort. »Denkt an die Kinder und ihre Zukunft.«
Sie griff nach ihrer Tochter, und bevor jemand reagieren konnte, hatte sie die kleine Marozia Sergius in den Arm gedrückt. Unsere Tochter reagierte ohne Scheu, brachte sogar mit ihren Händchen den Haarkranz des Diaconus in Unordnung. Ein wenig hilflos ging er auf ihre Spielchen ein. Die Kleine lächelte und patschte ihm die Wange.
»Kinder sind ein Geschenk Gottes«, antwortete Sergius, an Theodora gewandt. »Mir werden sie verwehrt bleiben.« Es klang bedauernd. Dabei vermied er, Alexandros und mich anzuschauen – der Vater meines Sohnes, der Mann, der mich und das Kind hatte umbringen wollen. Heute, so viele Jahre später, weiß ich nicht mehr, was ich damals empfand: Haß oder Glück oder Dankbarkeit – oder alles zusammen?
»Komm in den Empfangsraum!« rief ihm Theophylactus zu. »Wir müssen besprechen, wie wir die Stadt unter unsere Kontrolle bringen können.«
Formosus blieb mehrere Jahre unangefochten Papst, bis Sergius und seine Anhänger eine neue Chance witterten, ihn unter Druck zu setzen. Sie hatten die Herrscher von Spoleto und Tuszien, also Roms direkte Nachbarn, auf ihre Seite ziehen können und ihre bewaffneten Milizen, als Knechte getarnt, verstärkt.
Theodora hatte während dieser Zeit immer wieder Theophylactus angetrieben, Sergius zu unterstützen, doch brachte sie zwei Jahre nach Marozias Geburt eine weitere gesunde Tochter zur Welt, die nach ihrer Mutter Theodora genannt wurde, und war eine Weile abgelenkt. Auch für mich gab es nun mehr zu tun, obwohl ich diesmal das Kind nicht mehr stillen konnte.
Marozia und Alexandros waren fünf Jahre alt geworden, als Sergius wieder häufiger in unserem Haus auftauchte und unter Theophylactus und Theodora Hektik und Nervosität ausbrachen. Ein Teil der Diener wurde bewaffnet, darüber hinaus bezog eine kleine Kämpfertruppe unter der Führung eines blondgemähnten, gladiatorstarken Langobarden einen Seitentrakt unseres Hauses. Auf seinen Muskeln ließ Theodora gern ihre wohlwollenden Augen ruhen. Daß mit diesem meist gutgelaunten und Witze erzählenden Langobarden namens Alberich ein Mann in unser Leben getreten war, der in unserer familia später eine wichtige Rolle spielen sollte, begriff ich damals noch nicht.
Ich hörte von Theodora, Papst Formosus fühle sich von seinen Gegnern in Rom, Spoleto und Tuszien bedrängt und habe sich daher einen neuen Bundesgenossen gesucht, den ostfränkischen oder auch deutschen, wie man neuerdings sagt, König Arnulf. Er habe ihn gebeten, nach Rom zu kommen und für Ordnung zu sorgen, zum Dank erhalte er die Kaiserwürde.
Was war die Folge? Ein Aufschrei unter den Römern, besonders laut beim gekauften Pöbel. Wie könne der Papst einen Fremden zum Kaiser ernennen wollen, einen deutschen Bastard noch dazu, wo es doch mit Wido von Spoleto bereits einen Kaiser gab. Unerträglich!
Sergius und seine Anhänger heizten die Stimmung in der Stadt mit Brot und Oboli an, ließen Menschenmassen durch die Straßen stürmen und den Papst unter geschüttelten Fäusten verwünschen. »Nieder mit dem Usurpator Formosus!« hörte man. »Werft ihn in den Kerker, ertränkt ihn im Tiber! In die Hölle mit ihm!«
Vorerst erschien König Arnulf jedoch nicht in Rom, und daher ließ der Druck auf Papst Formosus auch nicht nach, als Kaiser Wido von Spoleto unerwartet das Zeitliche segnete. Im Gegenteil: Sergius und seine Adelspartei sowie Adalbert von Tuszien forderten unverzüglich, Widos schmucken Sohn Lambert zum Nachfolger zu krönen. Wieder zogen bewaffnete Horden von der Basilika des heiligen Petrus zum Lateran und drohten, die päpstlichen Gemächer zu stürmen. Formosus beugte sich dem Druck und krönte Lambert von Spoleto zum Kaiser, schickte aber zugleich Gesandte zu Arnulf und bat ihn erneut um Hilfe, was Sergius durch Spione im päpstlichen Dienst vermeldet wurde.
Daß dem Hilferuf an den fränkischen König diesmal mehr Erfolg beschieden war, merkte ich daran, daß Sergius in unserem Atrium mehrfach in Verwünschungstiraden ausbrach und das Waffengeklirr unserer Söldnerschar zunahm. Der blonde Langobardenrecke, dessen Wangen zwei tiefe Grübchen zierten, veranstaltete täglich mit seinen Leuten Fechtübungen. Anschließend sah man ihn mit Theodora zusammenstehen und scherzen.
Kaum hatten alle gemeinsam, Gegner wie Anhänger des Formosus, die Weihnachtsmesse in der Basilika des heiligen Petrus gefeiert, als auch schon die Nachricht die Runde machte, der Bastard Arnulf nähere sich tatsächlich mit zwei Heersäulen der ewigen Stadt. »Die Barbaren kommen!« scholl es durch die heiligen Hallen, noch bevor das Ite missa est gesprochen war.
Sie kamen tatsächlich.
Papst Formosus frohlockte, während Sergius versuchte, seine Anhänger bei der Stange zu halten, insbesondere den jungen Kaiser Lambert, der schon die Pferde sattelte, um sich mit seinen Männern aus dem Staub zu machen. Er hatte jedoch nicht mit seiner Mutter Agiltrud, Widos energischer Witwe, gerechnet, die ihm kurzerhand befahl, in der Stadt auszuharren und mit Hilfe des Sergius Papst Formosus gefangenzusetzen. Das römische Volk sei auf ihrer Seite, weil es fremde Eroberer und ihre plündernden Horden aus leidvoller Erfahrung hasse wie nichts auf der Welt.
Agiltrud schätzte die Römer richtig ein. Armut, Pestwellen und Überschwemmungen wurden hingenommen, zerfallende Straßen, Kirchen und Brücken schienen wenig zu stören, man ließ sich mit Brot und Denaren bestechen, ließ heute diesen Kaiser und morgen jenen Papst hochleben; man jubelte beim Tod des Heiligen Vaters, weil es wieder Anlaß zu Plünderungen gab, jubelte bei der Ernennung des neuen, weil Geschenke verteilt wurden – aber fremde Soldaten duldete man unter keinen Umständen innerhalb der Mauern, unter der Tunika, wie man sich auszudrücken pflegte.
Im römischen Ruinenlabyrinth und in den innerstädtischen Weinfeldern und Obstgärten kämpfe jeder Römer um die unbefleckte Ehre seiner geliebten Stadt, so verkündete die starke Kaiserwitwe und Kaisermutter Agiltrud, die selbst langobardischem Blut entstammte und mit einem Mann fränkischer Abstammung verheiratet gewesen war. Den Goten und Vandalen habe man sich ergeben müssen, führte sie am Rande unseres Atriumbrunnens aus, aber bereits die Sarazenen seien nicht bis ins Herz der Stadt vorgedrungen, weil der Römer eher sein Leben opfere als die Ehre seiner Stadt verrate. Falls der Fremde aus dem Norden wirklich wagen sollte, die Mauern der Stadt zu stürmen, würden ihre Gassen, Kirchen, Häuser und Ruinen zu seinem Grab.
Noch heute sehe ich Agiltruds grünliche Wolfsaugen vor mir und höre ihre im Zorn knurrende Stimme, die die Kinder so verschrecken konnte, daß sie sich in den Garten flüchteten.
Bevor die Barbaren vor den Mauern standen, stürmten Sergius und Agiltrud mit ihren Privatmilizen tatsächlich den Vatikan, setzten Papst Formosus gefangen und sperrten ihn in die Engelsburg. Die schweren Stadttore wurden geschlossen, und auf den Mauern schoben Römer und Kämpfer aus Spoleto und Tuszien gemeinsam Wache.
Arnulf, der Teutone, wie ihn die Römer mittlerweile nannten, erschien vor den Mauern der Stadt und errichtete erst einmal sein Lager auf den Neronischen Feldern, forderte Rom zur Öffnung seiner Tore sowie zum ehrenwerten Empfang auf und dämpfte den Eroberungswillen seiner Soldaten, die sich – so ist anzunehmen – Ruhm und fette Beute versprachen. Als die Spoletaner unter Agiltruds Führung, die Tuszier und die Römer selbst Arnulfs Aufforderung höhnisch zurückwiesen, vermochte der Teutone seine Soldaten nicht mehr zurückzuhalten. Tumultartig forderten sie die Erlaubnis zum Sturm, wie uns einer unserer Pferdeknechte, der als Milizionär Wache geschoben hatte, berichtete. Schon bald lehnten die Leitern an den Mauern der Leostadt, des vatikanischen Teils jenseits des Tiber, und es wurden Pferdesättel aufeinandergetürmt, um auf diese Weise dem furor germanicus freien Lauf zu lassen und den Verteidigern Roms mit dem blutgierigen Schwert den Schädel zu spalten. Streitäxte schlugen auf das Holz der Portale, Rammböcke lockerten die Verankerungen, und schon am Abend hatten die fränkischen, alemannischen, sächsischen und bairischen Männer den Vatikan besetzt und Papst Formosus aus der Engelsburg befreit.
Agiltrud sah nun keinen Sinn mehr in sinnlosen Opfergängen und setzte sich heimlich mit ihrem Kaisersohn und den Spoletanern aus Rom ab, ebenso die Tuszier, so daß den Römern nichts anderes übrigblieb, als sich schleunigst zu ergeben und dem Teutonen zuzujubeln.
Theophylactus war an diesem Abend in unserem Haus ebensowenig zu sehen wie Sergius und Alberich, der blonde Langobarde. Theodora befahl, die Eingänge mit allem, was zur Verfügung stehe, zu verbarrikadieren. Es wurde gebetet und vor Angst geschwitzt, obwohl es Ende Februar war und reichlich kühl. Ich nahm die Kinder unter meine Fittiche und erzählte ihnen die spannenden Geschichten vom trojanischen Krieg, denen sie immer gerne lauschten. Alexandros wollte von Telemachs Suche nach seinem Vater und der Heimkehr des Odysseus hören, während Marozia die Geschichte von Helenas Entführung liebte, sich aber auch gern vom trojanischen Pferd und der anschließenden Eroberung Ilions erzählen ließ.
Auf der Straße herrschte ungewöhnliche Ruhe, regelrecht Grabesstille. Jeder erwartete den Sturm der Barbaren – doch nichts geschah, als die Nacht voranschritt, nicht einmal roter Lichtschein erhellte das andere Tiberufer.
Erstaunlicherweise war ich an diesem Februarabend kühl und ruhig geblieben. Auch ich als Sklavin wäre in den Eroberungsstrudel hineingezogen worden, das wußte ich, ein erneutes Schicksal wie auf unserem Schiff hätte mir gedroht, und zudem schwebten unsere Kinder in Lebensgefahr. Dennoch verspürte ich keine Furcht. Warum, weiß ich nicht. Mein Gottvertrauen war nicht stark ausgeprägt, so daß ich zwar mit der gesamten familia Stoßgebete gen Himmel sandte, aber insgeheim nach Worten der deutschen Dialekte suchte, mit denen ich die Soldaten hätte empfangen können. Leider hatte mich Euthymides keine gelehrt, und in unserem Haus verkehrten weder sächsische Pilger noch alemannische Mönche, weder bairische Händler noch fränkische Grafen.
Als Theophylactus auftauchte, befahl ihm Theodora, sofort seine Waffen abzulegen, sich eine Senatorentoga aus uralten Zeiten überzuwerfen und zu König Arnulf zu eilen. »Verbeuge dich vor ihm in stolzer Ergebenheit und schwöre ihm ewige Treue. Die Deutschen sollen, so hat man mir gesagt, viel von Treue halten. Also rede ihnen nach dem Mund.«
»Verstehen sie überhaupt unsere römische Sprache?«
»Irgendeiner wird schon Latein sprechen.«
»Aber ich beherrsche es nur unzulänglich. Dann muß Sergius das Wort führen.«
»Sergius? Bist du verrückt? Dem schneiden sie sofort die Kehle durch. Dafür wird Formosus schon sorgen.«
»Und was ist mit mir?«
»Tu so, als seist du immer sein heimlicher Anhänger gewesen, was weiß ich, laß dir was einfallen, nur geh jetzt!«
Theophylactus umarmte sie theatralisch, dann seine Kinder. »Wenn ich nicht mehr zurückkehre, gedenkt meiner in Liebe«, rief er mit bebender Stimme und schlug mit einer großen Geste die Toga über die Schulter.
»Fordere am besten den Papst auf, König Arnulf unverzüglich zum Kaiser zu krönen. Natürlich muß dieser Arnulf dabei sein und dich verstehen. Und schicke ihn nach der Krönung den Spoletanern hinterher, teile ihm mit, sie seien heimtückisch und müßten aufgerieben werden, weil sie ihm sonst in den Rücken fielen …«
»Ja, ja!« Theophylactus streckte seinen mächtigen Körper. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, eine Stirntolle zu bändigen. Dann richtete er sich zu seiner beeindruckenden Größe auf, winkte ein letztes Mal und verschwand.
Keiner wollte es glauben, aber die Soldaten, die so gierig die Erstürmung Roms gefordert hatten, mußten die Leostadt wieder verlassen, weil König Arnulf nicht auf den Schilden seiner Soldaten in die ewige Stadt getragen werden wollte, sondern auf einen ehrenhaften und freiwilligen Empfang von Papst, Adel und Volk bestand und noch stärker bejubelt werden wollte. Tatsächlich neigten die Römer ihr Haupt, grölten höhnisch Vivat, rex Teutonicus, schwenkten Fähnchen und Tücher, Papst Formosus zelebrierte, unterstützt von seinen Kardinälen und im Beisein aller vornehmen Familien der Stadt, eine erhebende Messe, an deren Ende König Arnulf zum caesar augustas romanorum gekrönt wurde.
Die einflußreichsten Männer Roms, unter ihnen der erlauchte Senator Theophylactus, schworen dem neuen Kaiser ›bei allen Mysterien Gottes‹ die Treue, der Gehuldigte nahm den Schwur an, setzte einen seiner bairischen Getreuen zum Präfekten der Stadt ein, befahl zwei Adligen, die an der Einkerkerung des Papstes mitgewirkt hatten, ihm zu folgen und somit ins Exil zu gehen, und brach nach zwei Wochen mit seinem Heer auf, um die bissige Wölfin Agiltrud und den Gegenkaiser Lambert in Spoleto niederzuringen.
Während betrunkene Volksmassen im Freudengeheul und unter lallender Verhöhnung des caesar teutonicus durch die Via Lata strömten, brachte ich die Kinder zu Bett. Unsere Mägde schickten Dankgebete gen Himmel für die Gnade der intakt gebliebenen Keuschheit, ließen sich jedoch kaum davon abhalten, sehnsüchtig aus den vergitterten Fenstern auf die Straße zu schauen. Auf dem Campo dei Fiori gab es, so hatten sie gehört, trotz der Fastenzeit ein Volksfest mit gebratenen Ochsen und ausgelassenem Tanz. Theodora rief uns alle zu einem Dankgebet zusammen. Als ich schließlich dazustieß, nachdem auch Alexandros eingeschlafen war, entfuhr mir unwillkürlich ein leiser Schrei des Erstaunens: Sergius hielt die Andacht.
»Woher kommt denn der Diaconus?« fragte ich Martinus, der mich mit sanften Augen anschaute und mir zuflüsterte: »Er hielt sich in einem unserer Vorratskeller versteckt, hinter der Ölpresse.«
Die Stadt feierte noch mehrere Tage. Als sie erschöpft niedersank, um ihren Rausch auszuschlafen, eilte, wie auch immer es entstanden war, das Gerücht durch die Stadt, der barbarische Hurensohn Arnulf, der sich als teutonischer Trottel von den gerissenen Römern wie ein Tanzbär an der Nase habe herumführen lassen, sei vergiftet worden, noch bevor er Spoleto habe erobern können. Martinus flüsterte mir das Gerücht zu und schüttelte zugleich ungläubig den Kopf. Ich erwartete erneut Menschenmassen im Freudentaumel, aber diesmal blieb, bis auf wenige Betrunkene, die Via Lata ruhig.
Zwei Tage später berichtete Theodora, der Teutone Arnulf sei tatsächlich vergiftet worden, allerdings noch nicht tot.
Am Abend traf Sergius mit einer kleinen Schar von Adligen ein, die zum harten Kern der gegen Papst Formosus gerichteten Partei gehörten, und besprach sich mit Theophylactus und Theodora, die darauf bestand, daß ich zuhören solle, um mögliche Verräter an ihrer Mimik und Gestik zu erkennen. Natürlich gab sich niemand als Verräter zu erkennen, aber ich erfuhr von den soeben eingetroffenen Kundschaftern, daß der kaiserliche Barbar Arnulf, geschwächt wahrscheinlich weniger vom Gift als von der Liebeskraft römischer Kurtisanen, darniederliege und, unfähig zu reiten und daher in Sänften getragen, fluchtartig nach Norden eile. Es wurde unter Schulterklopfen dröhnend gelacht, bis Sergius in die Runde rief: »Als nächster muß Formosus unter der Masse weiblicher Schenkel ersticken.«
Wieder Gelächter und der Einwurf: »Vor lauter Enttäuschung über die Abreise des Teutonen soll er bereits das Bett hüten.«
Sergius rief: »Das ist unsere Chance. Wir müssen Nägel mit Köpfen machen.«
Alle waren sich einig.
Und tatsächlich starb Papst Formosus bald darauf, am 4. April 896 nach der Menschwerdung des Herrn; seine Gemächer wurden mit Freuden geplündert, die Exequien fielen kurz, das Begräbnis bescheiden aus.
»Jetzt wird Sergius Papst«, flüsterte mir Theodora triumphierend zu, »und das wird unser großer Gewinn sein.«
Es kam alles anders: Nach dem Tod des Formosus wurde nicht Sergius auf den Stuhl Petri gesetzt, sondern ein hoher Prälat der Formosus-Fraktion namens Bonifatius VI. und zwar unter Umgehung aller ohnehin vagen Wahlregularien. Erneut Aufstände, tobende Volksmassen – niemand wußte genau, wer gegen wen die Fäuste schüttelte. Bonifatius nahm seinen Platz ein, hielt seine erste Messe als Bischof von Rom und höchster geistlicher Würdenträger der Kirche und war nach zwei Wochen tot.
Jedem war klar, daß er ermordet worden sein mußte, doch niemand wußte, von wem. Natürlich fiel der Verdacht auf die Partei des Sergius und seiner Freunde aus Spoleto und Tuszien. Aus diesem Grund stellten seine Anhänger nicht ihn selbst zur nächsten Wahl, sondern eine seiner Marionetten, und tatsächlich gelang es ihnen, diese Marionette zu inthronisieren. Der neugewählte Papst, Stephan VI. mit Namen, entstammte wie Sergius dem römischen Adel und hatte mit ihm die Klosterschule besucht.
Kaum hatte er sich im Lateran eingerichtet, geschah etwas Unglaubliches: Als eine der ersten Amtshandlungen befahl der neue pontifex maximus, seinem längst beigesetzten Vorvorgänger Formosus nachträglich den Prozeß zu machen. Der halb verweste Formosus wurde aus seiner Gruft in der Petrus-Basilika gezerrt, in päpstliches Ornat gekleidet und auf einen Thron im Konziliensaal gesetzt, wo gegen ihn wegen seiner angeblich unrechtmäßigen Wahl und anderer Vergehen die Anklage erhoben werden sollte.
Da Theodora befand, daß die Kinder nicht ununterbrochen von mir beaufsichtigt werden müßten, nahm sie mich mit zu dem Toten-Tribunal, obwohl wir Frauen in dem Konziliensaal des Vatikans nichts zu suchen hatten. Aber Theodora hatte längst begonnen, sich die Rechte zu nehmen, die im Prinzip nur ihrem Mann zustanden, und niemand wagte Einspruch zu erheben.
Wir beide befanden uns neben dem alle überragenden Theophylactus inmitten einer Gruppe von Zuschauern, die in atemloser Beklemmung dem Tribunal lauschten. Ein unerträglicher Leichengeruch hing in dem Saal, als ein von Papst Stephan und Sergius bestellter Ankläger dem augenlosen, von Maden zerfressenen Gesicht unter der roten Samtkappe zurief: »Warum hast du aus Ehrsucht den Apostolischen Stuhl usurpiert, da du doch zuvor Bischof von Portus warst? Wußtest du nicht, daß das kanonische Recht den Ortswechsel eines Bischofs verbietet?«
Der Verteidiger des Leichnams brachte mit zittriger Stimme eine Antwort hervor, in der er auf andere Beispiele der Papstgeschichte verwies und die damalige Ausnahmesituation herausstellte.
Der Ankläger schnitt ihm das Wort ab und beschimpfte den Leichnam, der immer wieder in sich zusammenfiel und aufgerichtet werden mußte, mit unflätigen Worten, warf ihm angeblich unrechtmäßige Taten der Vergangenheit vor und beantragte, ihn zu verdammen, abzusetzen und all seine Ordinierungen und Beschlüsse für ungültig zu erklären.
Ein Raunen ging durch die Menge, denn dieses Urteil würde eine nicht geringe Anzahl von Bischöfen treffen.
Der Verteidiger des Formosus wußte nichts mehr zu sagen, kniete nieder und betete das Pater noster. Die drei von Sergius eingesetzten Richter erhoben sich und sprachen ihr Urteil, das der Anklage in allen Punkten folgte. Hilfskräfte oder Henker der Kirche sprangen auf, zerrten der Leiche die Samtkappe vom Schädel, rissen ihr Stola und Pallium von der Schulter, zerrten an der Dalmatika, zogen an den Pantoffeln, bis schließlich ein halbverwester Nackter von seinem Thron kippte und als stinkende, graue Masse vor uns liegenblieb. Theodora mußte sich, wie eine ganze Reihe anderer Personen auch, übergeben. Ich hielt ein Leinentüchlein vor Mund und Nase, stützte Theodora. Theophylactus hatte den Raum verlassen.
Die Henkersknechte hatten ihre Arbeit noch nicht gänzlich erledigt. Sie versuchten, den Leichnam wieder aufzurichten, hielten die rechte Hand in die Höhe, soweit dies möglich war. Ein Messer zuckte auf, die Männer schrien sich etwas zu, und dann schnitten sie die drei Finger der rechten Hand ab, mit denen der Papst den Segen erteilt hatte.
Ein ungeheures Geschrei durchtobte den Saal, als müßte jeder von uns sich die beschmutzte Seele aus dem Leib pressen. Formosus' Leichnam, oder was davon übriggeblieben war, wurde aus dem Saal gezerrt, hinaus in eine vor Hitze flirrende Stadt, durch die Straße zur Engelsburg und zum Tiber, wo er von der Brücke ins Wasser gestoßen wurde.
Eine riesige Menschenmenge hatte sich unterdessen herbeigedrängt, um das Schauspiel zu beobachten. Sie hielt den Atem an, als Formosus' Leichnam in das Wasser platschte. Nichts geschah. Die Hitze brütete weiter, kein Donner erscholl, kein Blitz vernichtete die Frevler. Nicht einmal das Schwert von Erzengel Michael rührte sich. Und so brach die Menschenmenge in ein unmenschliches Aufstöhnen aus, in Heulen und Brüllen, das der allmächtige Vater im Himmel schweigend überging.
Anschließend zerstreute sie sich. Auch wir schritten stumm zu unserem Haus, wo uns Theophylactus sofort allein ließ, um zu Sergius zu eilen und mit ihm zu Papst Stephan, wie er Theodora zuflüsterte. Die Stadt schien tagelang in Angst vor einem vernichtenden Strafgericht zu erstarren. Jeder sprach mit gesenkter Stimme, zahlreiche Menschen weinten auf offener Straße. Theophylactus erhöhte die Anzahl der Wachen im Haus, weil ein Gegenschlag der Formosus-Partei befürchtet wurde. Aufs Land ziehen, in eine der Villen, die bei den Domänen der Familie lagen, konnte man wegen der Sarazenengefahr nicht.
Es folgte ein lähmender, stickiger Sommer, an dessen Ende Theodora mir augenzwinkernd das Erscheinen eines ansehnlichen jungen Mannes aus Camerino ankündigte. Sie erklärte, er sei ein Vertrauter der Agiltrud und Freund ihres Sohnes Lambert, ein unschlagbarer Schwertkämpfer, ein kluger Stratege zudem und im Haus nicht ganz unbekannt. Als er auftauchte mit seiner blonden Löwenmähne und den zwei Grübchen, wußte ich, wen sie meinte: Es war der gutgelaunte Langobarde Alberich, auf dem Theodoras wohlwollende Augen schon einmal geruht hatten.
»Und welche Aufgabe soll er übernehmen?« fragte ich sie.
»Er unterstützt unsere Seite gegen die Formosianer, die noch immer nicht klein beigeben. Er ist ein Mann der Zukunft.«
Alberich lachte noch immer häufig und laut, erzählte Witze, über die er sich selbst am meisten amüsieren konnte, und sein athletischer Körper erinnerte mich an die Akrobaten, die im Hippodrom zu Konstantinopel zwischen zwei Wagenrennen ihre Kunststücke zeigten. Stets trug er sein Schwert bei sich und übte oft in unserem Garten Fechtkampf, Lanzenwerfen und Bogenschießen. Die Wachen, die ihm als Fechtpartner dienen mußten, hatten keinen leichten Stand und wurden regelmäßig verletzt, obwohl sie in Rüstung kämpften und Alberich, insbesondere wenn Theodora zuschaute, seinen Oberkörper unbekleidet präsentierte. Er trug dann nur eine Art Röckchen und darunter einen Lendenschurz. Die strammen Beine ließ er ebenfalls nackt. Dies alles war ungewöhnlich und provozierte Gelächter unter den Mitgliedern der familia, aber Alberich verstand nicht immer den Humor seiner Zuschauer und konnte recht grob werden.
Auch Marozia und Alexandros waren gern dabei, wenn sein Schwert Funken sprühte oder der Pfeil in das schwarze Zentrum seines Ziels schwirrte. Marozia klatschte begeistert in die Hände, wenn Alberichs Gegner stöhnend am Boden lag und er, den Kopf triumphierend erhoben, ihm in gladiatorischer Pose den Fuß auf die Brust setzte. Er freute sich über ihre Begeisterung, rammte sein Schwert in den Boden, gab dem Besiegten lachend einen Fußtritt, nahm Marozia auf den Arm und warf sie so hoch in die Luft, daß sogar den harkenden Gartensklaven der Atem stockte.
Meine Mariuccia wollte keine Angst zeigen und rief: »Nochmal!« Erneut flog sie in die Höhe, wirbelte dann, an Fuß und Hand gehalten, um Alberichs Körper; schließlich forderte er sie auf, sich zu strecken und ganz steif zu machen, und er stemmte sie auf einem Arm dem Himmel entgegen. Als er sie auf seiner emporgestreckten Hand stehen lassen wollte, brach Theodora das Spiel ab.
Alberich lachte wieder, und ehe Theodora sich versah, wurde sie selbst spielerisch in die Höhe gestemmt. Sie kreischte vor Erschrecken auf, ein theatralischer Ruf der Empörung folgte und ein fast zärtlicher Schlag auf Alberichs blonde Mähne. Schon stand sie wieder auf dem Boden, einen Augenblick unsicher, ob sie unseren Gast zurechtweisen sollte. Alberich verneigte sich tief. Die Kinder klatschten, mit ihnen die Dienerschaft. Ich hielt mich zurück.
Nun gab Theodora Alberich einen leichten Klaps auf die Wange. Wie von einem schweren Schlag gefällt, ließ er sich vor ihre Füßen fallen, um sich sofort wieder im Handstand aufzurichten. Seine Muskeln traten schweißnaß hervor und sein Röckchen fiel über den Lendenschurz. Die kleine Marozia versuchte es ihm nachzumachen, fiel jedoch in ein Beet. Schon stand Alberich auf den Füßen, hob sie empor, küßte sie auf die Wangen, stellte sie auf den Boden und klopfte den Schmutz von ihrem Kittel.
»Genug der Vergnügungen!« rief Theodora und gab Alberich mit dem Kopf einen Wink, ihr ins Haus zu folgen. Die Dienerschaft nahm die Arbeit wieder auf, die Kinder bedrängten mich, vor dem Lernen noch ein wenig im Garten herumtollen zu dürfen.
In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes.
Wie aus dem Nichts heraus umfing uns ein tiefes Grollen, und schon hörten wir die ersten schrillen Schreie, wir wankten und packten das Nächstbeste, das uns Halt geben konnte. Mein Herzschlag setzte aus, bis ich begriff, was geschah: Die Erde bebte. Zuerst war es nur ein kurzes Rucken, doch dann verstärkte sich das Grollen und Rumpeln, der Boden bewegte sich in heftigen Stößen, die Angst ließ mir die Knie weich werden. Die ersten Ziegel schepperten von den Dächern und zerbrachen auf den Marmorböden, die Säulen wankten, das Holz der Dachkonstruktionen krachte. In Panik kamen Männer und Frauen, die Hände über den Kopf haltend, aus dem Haus gerannt. Einige bluteten. Ich rief den Kindern zu, nur ja im Garten zu bleiben, und wollte ins Haus eilen, um nach Theodora zu sehen, doch bevor ich die erste Säule der wankenden Loggia erreichte, eilte sie mir bereits entgegen, gefolgt von Theophylactus und Alberich. Sie stürzte zu den Kindern, riß die vor Angst zitternden Mädchen an sich.
Alexandros stand breitbeinig dabei, fing ungewöhnlich ruhig, ja, in ehrfürchtigem Staunen, die Erdstöße ab und beobachtete das Schwanken der Zypressen. Ich wollte ihn an mich drücken, er wirkte jedoch so in sein Staunen verloren, so abweisend und zugleich zerbrechlich, daß ich nur kurz über seine Haare strich – was er überhaupt nicht wahrzunehmen schien.
Die Erde konnte nicht lange gebebt haben, und doch zog sich das Rumpeln, Grollen und Schwanken hin, als wolle es nie enden. Dann war es plötzlich vorbei. Vorsichtig traten wir auf, als könnte der Boden unter uns wegbrechen. Tatsächlich kam ein letzter Stoß, der heftiger war als die vorherigen und einen breiten, gezackten Riß durch eine Mauer zog. Aus der Ferne hörten wir lautes Krachen und Gepolter: Vermutlich stürzte ein Gebäude ein.
Eine Weile warteten wir noch, verängstigt lauschend, bis alle gleichzeitig zu rufen und zu schreien begannen. Procurator Martinus wagte sich als erster ins Haus, gefolgt von Alberich, um nach möglichen Verletzten und Schäden zu sehen. Theophylactus befahl einigen der Haussklaven, die zerbrochenen Ziegel aufzulesen und die lockeren auf den Dächern zu befestigen.
»Ihr bleibt im Garten«, rief er uns zu, bevor er ebenfalls im Haus verschwand.
Zum Glück hatte sich niemand ernsthaft verletzt, und auch die Schäden an unserem Gebäude waren gering.
Auf der Straße tobte, wie so häufig, heftiger Lärm. Ich schaute heraus. Die Händler, deren Verkaufsbuden zusammengefallen waren, bemühten sich unter Geschrei und Gefuchtel, die Tische und Zeltplanen wieder zu errichten und ihre Waren vom Boden aufzulesen. Zugleich strömte immer mehr Volk nach Süden, und aus den Rufen hörte ich das Wort Luterano heraus. Theophylactus trat auf die Straße und hielt einen ihm bekannten Senatorensohn an, der nichts Genaues wußte. Ein vorbeieilender Zimmermann rief ihm zu, die Lateran-Basilika und das Patriarchum seien eingestürzt, dies sei die Strafe Gottes für den Frevel an Papst Formosus.
Nun war kein Halten mehr. Theophylactus rief seine Leibwächter und Alberich herbei, der sich seine Tunika überzog, das Schwert umgürtete und wie ein sprungbereites Raubtier auf die Via Lata trat.
»Wohin wollt ihr?« Theodora packte ihren Mann an seinem Gewand, doch er hatte keine Augen für sie.
»Zum Lateran!« rief er seinen Männern zu und begann, sich mit ihnen einen Weg durch die immer dichter werdende Masse zu bahnen. Alberich war bereits vorausgeeilt.
Theodora blieb verunsichert im Hausportal stehen. Dann winkte sie mich herrisch herbei. »Wir müssen ihnen folgen«, erklärte sie und befahl Martinus, das Haus zu sichern, die Kinder unter zuverlässige Aufsicht zu stellen und keinen Fremden einzulassen. Da ein Großteil der Bewaffneten bereits unterwegs war und der Rest unbedingt zum Schutz unseres Anwesens zurückbleiben mußte, entschied sie sich, mit mir allein loszuziehen. Sie warf sich eine weite Stola über Kopf und Schultern und zog mich auf die Straße, wo uns die aufgeregte Menge in Richtung Lateran schob.
Je mehr wir uns der Basilika näherten, desto langsamer kamen wir voran. Wir hörten Worte wie Gottesfrevel und Strafe des Herrn, sogar Rufe nach Rache am Papst wurden laut: »Schlagt ihn tot wie einen räudigen Hund!«
Wir stolperten über einen Toten, der von der über ihn trampelnden Menge bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden war. Verletzte schrien, niemand achtete auf sie. Alle drängten weiter.
Uralte Mietshäuser, in denen Roms Arme zusammengepfercht hausten, waren eingestürzt und hatten zahlreiche Bewohner unter sich begraben. Die Überlebenden versuchten mit bloßen Händen, ihre Angehörigen auszugraben. Feuer waren ausgebrochen und verbreiteten einen schwarzen, süßlichen Rauch.
Endlich erreichten wir die Basilika: ein riesiger Trümmerhaufen unter einer Wolke aus Staub und Dreck, bedeckt von Menschentrauben, die auf ihm herumkrabbelten wie gierige Fliegen. Ich fragte mich, ob während des Erdbebens eine Messe oder eine Pilgerversammlung stattgefunden habe, ob die Menschen also nach Überlebenden suchten, aber ich begriff rasch, daß sie nichts als plündern wollten: die kostbaren Reliquienbehälter und Weihegeschenke, die hier aufbewahrt waren, den Gold- und Silberschmuck, die Altaraufsätze, Monstranzen und Hostiengefäße. Auch der angrenzende Lateranpalast war schwer in Mitleidenschaft gezogen, aber nicht gänzlich eingestürzt, wie es geheißen hatte. Obwohl sich ihnen hohe kirchliche Würdenträger in den Weg stellten, drangen beutegierige Männer, teilweise bewaffnet, in ihn ein. Und nun sahen wir auch die ersten, die ihr geraubtes Gut triumphierend davonschleppten. Kinder waren dabei, Frauen aus den ärmsten Schichten, bedrängt von Männern, die ihnen ihre Beute entwenden wollten.
Theodora war stehengeblieben, kletterte auf eine umgestürzte Säule, um einen besseren Überblick zu haben. Ich folgte ihr. »Kannst du unsere Männer entdecken?« schrie sie mir ins Ohr. Ich schüttelte den Kopf.
Wir entdeckten sie auch später nicht, und als endlich wieder ein Durchkommen war, machten wir uns auf den Weg nach Hause. Ein Wunder, daß niemand Theodora ihre kostbare Stola entriß. Als wir schließlich verdreckt und mit vor Staub brennender Kehle unser Haus erreichten, waren Theophylactus und Alberich noch nicht zurückgekehrt. Theodora begann sich Sorgen zu machen, ich brachte erst einmal die Kinder ins Bett, dann tranken wir einen Becher Wein.
Spät in der Nacht erschienen endlich die Männer. Sie schleppten ein schweres Teil herbei, das eingehüllt war in Wolltücher und zerrissene liturgische Gewänder. Theophylactus ließ es in der Hauskapelle ablegen und nahm erst einmal mit Alberich ein Bad. Theodora winkte mir, als die Männer sich noch abtrocknen und walken ließen; wir schlichen in die Kapelle und schlugen die Stoffe zurück: ein goldenes Kreuz mit Inschriften, eingelegten Perlen und Edelsteinen glänzte uns entgegen.
Während Theodora sich bekreuzigte, flammten ihre Augen gierig auf. Sie strich mit der Hand über das kostbare Metall und die nicht minder kostbaren Steine. »Es muß das Kreuz des Belisar sein«, flüsterte sie.
Es war das Kreuz des Belisar: ein Weihegeschenk aus der Zeit, als das byzantinische Reich und die Goten um die Herrschaft in Rom kämpften. Der oströmische Feldherr hatte es der ewigen Stadt in Erinnerung an seine Siege geschenkt: Es sollte Rom schützen und seine Unabhängigkeit und Größe zu bewahren helfen. Ich wußte allerdings von Euthymides, daß ihm weder das eine noch das andere gelang, daß es geschenkt wurde in einer Zeit, als Rom durch die anhaltenden Kriege unter Seuchen und Hungersnöten litt, als die schon mehrfach eroberte Stadt zu einem Ruinenfeld verkam und die Bevölkerung auf einen Bruchteil der ursprünglichen Größe schrumpfte.
War nicht der Segen, den es bringen sollte, ein verborgener Fluch?
Als ich Theodora und den Männern von den verheerenden Gotenkriegen erzählte, lachte Alberich laut auf und zwickte mich in die Wange. »Schau dir die Sklavin an: Sie muß damals dabeigewesen sein. Wahrscheinlich als Geliebte des Belisar. Schön genug ist sie ja, was, Phyli? Und üppig.«
Theophylactus winkte unwirsch ab. »Keinesfalls darf irgendeiner berichten, woher wir dieses Kreuz haben«, befahl er. »Es gehört seit langem unserem Geschlecht, war nur geliehen, versteht ihr? Mein Urahn war ein Adjutant des Belisar!« Mit einem scharfen Blick auf mich dämpfte er drohend seine Stimme: »Wer redet, dem schneide ich eigenhändig die Zunge heraus.«
»Aglaia wird schweigen«, fuhr ihn Theodora an. »Sorge lieber dafür, daß deine Männer nicht eure Heldentat in alle Welt posaunen.«
»Darum wird sich Alberich kümmern.« Theophylactus schlug ihm auf die Schulter, boxte ihn anschließend verschwörerisch auf die Brust und wandte sich wieder dem Kreuz zu, über das er seine langen, kräftigen Finger gleiten ließ. »Das goldene Kreuz wird ein Garant sein für den Aufstieg unserer Familie. Gott meint es gut mit uns.«
Ich zog mich zu den Kindern zurück, die aufgeregt gewartet hatten und nun, alle durcheinander redend, ihre Ängste bei mir abladen mußten. Auch ich wußte nicht, ob das Erdbeben zurückkehren würde mit dem Brüllen eines ausgehungerten Tieres; ob es Gottes stirnrunzelnde Strafe für das Totentribunal war oder nur ein angeekeltes Aufstoßen der Erde.
Ich ließ die Kinder an meiner Seite schlafen, und sie kuschelten sich alle zusammen, wurden spät still. Während der Nacht schlief ich kaum, fiel in wirre Träume, in denen Theophylactus und Theodora einem Richter vorgeführt wurden, einem Mann in päpstlichem Ornat, mit einem Totenschädel statt einem Kopf. Er befahl ihre Hinrichtung an einem goldenen Kreuz, doch sah ich sie nicht sterben.
Am nächsten Morgen erschien Sergius, gehetzt und aufgeregt. Während ich bei den Kindern weilte, hörte ich laute Stimmen aus dem Empfangssaal, verstand jedoch nichts. Martinus setzte sich kurz zu mir und flüsterte: »Es brodelt in der Stadt. Der geschändete Papst wird seine verstümmelte Hand gen Himmel recken und zur Rache aufrufen.«
Ob er es tat, weiß ich nicht. Das Volk auf jeden Fall, angestachelt oder aus purer Lust an Anarchie und Aufstand, tobte durch die Via Lata, raubte dem Bäcker sein Brot und stahl dem Metzger sein Fleisch, schlug auch gegen unser Portal, das jedoch den Knüppelschlägen und Axthieben widerstand.
Wie sich bald herausstellte, hatte der Pöbel den Vatikan gestürmt, Papst Stephan in seinen Gemächern aufgestöbert, durch die Peterskirche getrieben, ihn eingekreist und mit wilden Fausthieben zu Boden gestreckt, seiner Gewänder beraubt und halbtot in einen Kerker geworfen, wo er schließlich erwürgt wurde.
In aller Deutlichkeit hatte das Erdbeben Kurie, Adel und Volk Gottes Zorn gezeigt, und dieser Zorn mußte, bevor er noch stärker die Grundfesten der Stadt erschütterte, durch die Bestrafung der spoletanischen und tuszischen Partei besänftigt werden. Ein namenloser Mönch aus einem der zahlreichen Klöster der Stadt, der besonders laut den Zorn Gottes herabbeschworen hatte, wurde von der fäusteschüttelnden Volksmenge zum Vatikan geführt und dort jubelnd auf den Stuhl Petri gesetzt: Man nannte ihn einfach nur Romanus, er segnete die Menschen, die darauf die Weinkammern des Vatikans aufbrachen und sich bis zur Sinnlosigkeit betranken. Am nächsten Morgen waren der Boden der Petrus-Basilika und die Straßen des Leo-Viertels übersät mit bleichen Weinleichen, in denen nur zögernd die Lebensgeister erwachten. Papst Romanus hatte mittrinken müssen. Sah man ihn überhaupt ein einziges Mal die Messe lesen? Auf jeden Fall war er nach vier Monaten tot.
Sein Nachfolger, den die wieder erstarkten Anhänger des Formosus, diesmal geordneter, aus den Reihen ihrer kurialen Würdenträger wählten, trug nur zwanzig Tage die Tiara, bevor auch er den düsteren Weg alles Irdischen antrat.
Unterdessen hatte sich die spoletanisch-tuszische Partei unter der Führung des Sergius neu gesammelt und trat nun mit Versprechungen, Bestechungen und Drohungen zum Kampf um das höchste Amt der Christenheit an. Es wurden Gerüchte ausgestreut, Morddrohungen ausgesprochen und vergifteter Wein sichergestellt. Noch immer schien das Beben der Erde die Menschen umzutreiben, der Einsturz der Lateranbasilika war zweifelsohne die göttliche Antwort auf das Totentribunal, und Papst Stephan hatte zu Recht büßen müssen. Doch wer hatte den Tod der beiden nachfolgenden Päpste verursacht? Waren es die Anhänger des Diaconus Sergius, die jede Schuld von sich wiesen, die kanonischen Sünden der letzten Papsterhebungen anprangerten und zugleich glänzende Denare sowie Brotrationen verteilten?
Diesmal versammelten sich die wahlberechtigten Mitglieder der Kurie in vorgesehener Ordnung im Konziliensaal. Zwei Parteien standen sich unversöhnlich und lauthals gegenüber: Diaconus Sergius als Kandidat der Römer, wie er sich bezeichnete, gegen einen Teutonen, einen benediktinischen Kardinaldiaconus aus Tibur: Zu aller Überraschung wurde Sergius' Widersacher gewählt. Er nannte sich Johannes IX. und kündigte an, im Zeichen der Reinigung des Tempels ein Exempel zu statuieren. Sergius verstand, daß er nicht länger in Rom bleiben konnte, ohne um sein Leben fürchten zu müssen, und floh ins tuszische Exil.
Theophylactus betete mit der gesamten familia lange vor dem glänzenden Goldkreuz des Belisar, bat den Allmächtigen um Gerechtigkeit, erflehte den Schutz der Verfolgten, kündigte Bußgänge eines Unwürdigen an, Stiftung neuer Klöster, ein sündenloses Leben und schlug sich, laut »mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa« rufend, an die Brust.
Das Gold glänzte ungerührt, die Edelsteine funkelten.
Theodora warf mir einen Blick zu und verdrehte die Augen, schaute dann verstohlen nach Alberich, der ihren Blick mit feinem Lächeln erwiderte, im Anschluß an das Gebet jedoch nach Spoleto aufbrach, weil, wie er verkündete, das Land die Hilfe einer starken Hand benötige.
Als er auf dem Weg dorthin den Tiber überquerte – so erfuhren wir bald darauf –, begegnete er dem jüngsten Sproß der alten Wölfin Agiltrud, dem letzten Erben der Markgrafenfamilie von Spoleto. Es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung, in der schließlich die Schwerter gezückt wurden. Zurück blieb ein junger Mann in seinem Blut. Alberich bestieg sein Pferd, fuhr sich durch seine Löwenmähne und setzte hocherhobenen Hauptes seinen Weg nach Spoleto fort.
»Ja, so war Alberich«, kommentierte Marozia, »zielstrebig, unerschrocken, skrupellos. Er konnte einem Sklaven den Kopf abschlagen und sich über das lustig sprudelnde Blut amüsieren; wenn er sich nach dem Liebesakt von dir löste, mußte er lachen. Ich glaube, er lachte sogar noch, als er zur Hölle fuhr.«
Sein Ende erinnere ich anders. Ich meine mich sogar zu erinnern, daß er bereits lange zuvor sein Lachen verlernt hatte.
Nach Tagen quälenden Schweigens und ungewohnt ausgedehnten Betens war Marozia aus ihrem inneren Gefängnis aufgetaucht und hatte mich aufgefordert, ihr meine letzten Eintragungen vorzulesen. Wie nicht anders zu erwarten war, lauschte sie besonders aufmerksam, als Alberich die Bühne unseres Lebens betrat.
»Der blonde Alberich, der Abenteurer mit seinen Grübchen«, sinnierte sie. »Sein Lachen verbarg etwas, es baute eine Wand auf, gegen die er mich laufen ließ. Und seine schmutzigen Witze! ›Was ist der Unterschied zwischen einem Furz Gottes und einem päpstlichen Furz? Aus dem ersten weht dich der Heilige Geist an, aus dem zweiten der Gestank der Hölle.‹ Niemand lachte außer ihm selbst. Und dann folgte Der betende Papst auf dem Kackstuhl.«
»Ja, ich erinnere mich, diesen Witz liebte er besonders. Wir alle wanden uns vor Peinlichkeit, er aber wieherte vor Lachen.« Ich lächelte wehmütig, weil uns heute niemand mehr mit schrecklichen Witzen aufheitern wollte. »Du hast recht«, fuhr ich fort. »Er trug lange Zeit eine Maske, hinter der er seine Ängste verbergen konnte.«
»Weißt du eigentlich, was seine Wurzeln waren?« fragte sie nach einer Weile. »Er hat mir nie viel aus seiner Vergangenheit erzählt, wahrscheinlich, weil er aus dem Nichts kam.«
»Dein Vater hat sich gelegentlich über ihn geäußert. Schon in jungen Jahren muß sich Alberich als begnadeter Schwertkämpfer in Spoleto hervorgetan haben, dann in Tuszien. Zwischendurch diente er sich Berengar von Friaul an. Überall galt er als unbesiegbarer langobardischer Recke. Ich denke, Agiltrud hat ihn zurückgeholt und ihm Camerino zur Belohnung gegeben. Angeberisch nannte er sich Graf von Camerino und ließ sich rasch den Titel von Kaiser Lambert bestätigen.«
»Glaubst du, er war Agiltruds Liebhaber?«
»Das kann ich mir gut vorstellen, trotz des Altersunterschieds. Als er ihren jüngsten Sohn auf der Tiberbrücke erschlug, dürfte die Liebe allerdings erloschen sein und sich in unstillbaren Haß verwandelt haben.«
»Aber weshalb ging er nach Spoleto zurück? Er mußte doch ihre Rache befürchten.«
»Er schloß sich Kaiser Lambert an, Agiltruds älterem Sohn.«
Ich konnte nicht ganz den Spott in meiner Stimme unterdrücken, weil damals und auch später noch die Königs- und Kaisertitel so blutig umkämpft waren und gleichwohl wenig bedeuteten, kaum Machtzuwachs, keine Befehlsgewalt über Herzöge und Grafen, keine Steuereinnahmen. Wer wie ich in Konstantinopel aufgewachsen und einen wohlgeordneten Staat mit einem Kaiser, einem Heer von Beamten und der Herrschaft eines ausgeklügelten Rechts gewohnt war, der konnte sich immer nur wundern über das anarchische Italien und das nicht minder anarchische Rom, über die Herrschaft der blanken Gewalt und der Intrige, der Bestechung und des Pöbels.
»Lambert«, fuhr ich fort, »war nicht unglücklich über den Tod seines Bruders. Sie mochten sich nicht – so etwas soll vorkommen. Auf jeden Fall gab es für Lambert nun niemanden mehr aus seiner Familie, der ihm seine Herrscherrolle streitig machen konnte, und er hätte unangefochten die von seinem Großvater gegründete Dynastie fortsetzen können. Allerdings hätte er dann lieber Söhne zeugen als Wildschweine jagen sollen.«
Marozia schaute mich fragend an.
»Der starke Alberich«, so fuhr ich fort, »hat seinen Jagdgenossen nicht retten können, als der Eber Lambert die Hauer in den Bauch rammte. Sein Spieß kam zu spät für Kaiser und Markgraf – und gerade richtig, um die Herrschaftsnachfolge in Spoleto neu zu regeln. Alberich hat immer berichtet, Lambert habe ihn, kurz bevor er in die himmlischen Jagdgründe aufbrach, zum Nachfolger ernannt. Alle Mächtigen Spoletos seien anwesend gewesen, die wolfsäugige Agiltrud habe ohnmächtig und blaß vor Wut zusehen müssen, wie er von ihnen zum Markgrafen von Spoleto gewählt worden sei. Dann ist sie ja auch bald gestorben, und der Papst hat die Wahl Alberichs bestätigt.«
Marozia nickte nachdenklich. »Glaubst du«, fragte sie, »daß er auch mit meiner Mutter …?« Sie zeigte diesmal keinerlei Spuren von später Eifersucht oder verspätetem Zorn.
»Ich weiß es nicht.«
Tatsächlich habe ich nie mit Sicherheit herausgefunden, ob dieser starke junge Mann, der uns Frauen mit Leichtigkeit in die Höhe stemmen konnte, in Theodora ihre leicht zu entflammende Lust an der Liebe entzündet oder ob sie ihn gar mit Hilfe ihres Körpers angeworben hatte. So offen Theodora mir gegenüber fast immer war, in diesem Punkt hielt sie sich bedeckt.
Marozias Miene verdüsterte sich plötzlich. »Meine Mutter hat sich sicher von Alberich bespringen lassen, damit er nicht zur Gegenpartei überlief. Als ich dann heranwuchs, gab es ein wirksameres Mittel, ihn an unsere Familie zu binden. Alberich – ich kann den Namen nicht mehr hören! Hätte ich damals gewußt, daß sein Sohn einmal meine Macht, meine Träume und mein Leben zerstören wird, hätte ich auf dem Hochzeitslager nicht nur Schweineblut fließen lassen.«
Sie hatte sich abgewandt und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Ich sah ihre Brust zucken: Sie weinte. Als ich mich zu ihr begab, um ihr tröstend den Arm auf die Schultern zu legen, faltete sie die Hände, und ihre Lippen bewegten sich stumm.
Vor mir die schwarzglänzende Wand. Αταραξία, meine eingravierte Losung. Was ist mit unserer Seelenruhe – ähnelt sie nicht der Grabesruhe? Hat man uns nicht eingemauert wie einst Antigone? Selbst wenn wir mit allem versorgt sind, was wir wünschen: Abgesehen von den Wärtern sind Ratten, Wanzen, Flöhe und Läuse die einzigen Lebewesen, die uns besuchen. Wenn ich aber daran denke, daß womöglich Alexandros in Rom weilt und schließlich enttäuscht und verzweifelt aufgibt, seine Mutter zu suchen, bohrt sich die Verzweiflung wie ein Dolch in mein Herz.
Ich greife wieder nach der Feder, um mich abzulenken, ich lasse meine Seele zurückfliegen in eine Zeit, die Aufbruch und Wandel versprach.
Nachdem Sergius ins Exil gegangen war, beruhigten sich die Zustände in Rom, die fäusteschüttelnden Massen tobten nicht mehr so häufig durch die Via Lata, die Morde nahmen ab, und das Geschlecht des Theophylactus gedieh.
Während dieser Zeit erweiterte sich mein Lebenskreis. Ich war anwesend, als die Kinder das Reiten lernten, und ritt selbst wieder, was mir große Freude bereitete. Theodora nahm mich regelmäßig zu den Messen in der Petrus-Basilika mit und besprach mit mir die politische Lage in Rom und in Italien. Mir wurde erlaubt, in Begleitung des Procurators Martinus einzukaufen, und nachdem die Kinder eingeschlafen waren, hockte ich mit ihm zusammen, um mich über Rom, seine Familien, die Machtverhältnisse und die wirtschaftliche Versorgung, über Pilger, Handel und Handwerk aufklären zu lassen. Er berichtete mir auch von den anderen Zentren Italiens und ihren Herrschern, erzählte mir vom reichen Tuszien, vom Wollhandel seiner Familie. Und natürlich erfuhr ich jede Menge Klatsch über die Würdenträger des Vatikans.
Gierig sog ich alles auf, was ich erfahren konnte, denn bereits Euthymides hatte mich eins gelehrt: Wissen ist Macht. Wissen bedeutet Einfluß. Wissen kann sich sogar in Gold verwandeln.
Ich durfte schließlich dabei sein und schriftliche Notizen machen, wenn Senator Theophylactus seine politischen Weggenossen aus Spoleto und Tuszien empfing, ich sollte die Briefe schreiben, die er an Sergius und Alberich richtete. Mir wurde erlaubt, Familiendokumente zu sichten, und ich begann, wie ich es von zu Hause her kannte, Buch zu führen über die Besitztümer der Familie, die Abgaben, die Verluste durch die Plünderungen der Sarazenen, über die Schulden – und Theophylactus wie Theodora gingen die Augen auf, wie reich sie hätten sein können und wie arm sie zugleich waren.
Eines Tages begriff ich, daß ich, Aglaia, die Tochter eines der reichsten Fernhändler im byzantinischen Reich und zugleich eine geschändete und verkaufte Sklavin, die Seele eines römischen Adelsgeschlechts war, das danach strebte, die Macht in der ewigen Stadt und zugleich im Vatikan zu erobern, das aber nicht recht vorankam in seinem Streben. Es gab Augenblicke, in denen ich sogar feststellte, daß ich ihr Streben teilte – und unvermutet durchströmte mich Freude am Leben, ein beunruhigendes und zugleich erhebendes Glücksgefühl.
Ich hatte in einer tiefen Nacht des Lebens den Kelch der verzweifelten Erniedrigung, des demütigenden Schmerzes austrinken müssen. Die dunkle Nacht neigte sich dem Ende zu, ging in die Morgendämmerung über, um vom aufgehenden Licht überstrahlt zu werden. Ich stellte fest, der Kelch war leer.
Brauchen wir nicht die Nacht, um uns am Tag erfreuen zu können? Wissen wir nicht erst dann den Reichtum zu schätzen, wenn wir die Armut kennen? Und brauchen wir nicht die Fessel, um zu wissen, was Freiheit überhaupt bedeutet?
Im Frühjahr anno domini 898 kam es zu einer entscheidenden Aussprache, in der ich Theophylactus und Theodora die wirtschaftliche Lage der familia darlegte. Nach Gesprächen mit dem Procurator Martinus und dem Studium der Urkunden über die Besitztümer im Umland, die Bestätigungen der vatikanischen Kanzlei über Rechte auf Zolleinnahmen und Wirtschaftstätigkeiten in der Stadt, die vor Urzeiten ausgestellt waren, aber seit langem nicht mehr in Anspruch genommen wurden, nach der Durchsicht eines Dokuments, auf dem der jüdische Fernhändler und Geldleiher Aaron aus Antiochia Theophylactus' Schulden aufgelistet hatte, überlegte ich mir, wie die wirtschaftliche Lage unseres Hauses zu bessern sei.
Theophylactus entstammte, wie ich aus manchen kaum noch leserlichen Papyri zu entnehmen glaubte, der Familie eines Präfekten, den Byzanz nach den Gotenkriegen zur Verwaltung der Stadt eingesetzt hatte, war also, wie ich nicht ohne Erstaunen feststellte, griechischen Ursprungs. Auf Grund dieser Stellung und der damit verbundenen Privilegien war ihm Grundbesitz im Umland von Rom überschrieben worden – wobei überschreiben kaum das rechte Wort war für den Erwerb der Rechtstitel. Es fanden sich keine Urkunden mehr, einzig Listen von Domänen, Dörfern und Klöstern, die viel später, unter der Herrschaft der Franken, angelegt worden waren und nach denen Abgaben gezahlt werden sollten – ohne daß klar wurde, ob je auch nur ein Denar geflossen war. Und was die Privilegien wie die Monopole in der Stadt anging, so entdeckte ich zwar Hinweise, aber nirgendwo Abrechnungen oder Berichte über tatsächlich erhobene Zolleinnahmen, über den Salzhandel mit den Salinen am Meer, über Mühlen am Tiber.
Da unser Procurator Martinus Rom und seine Geheimnisse gut kannte und ich seinem Sachverstand vertraute, bat ich ihn, mir bei meinem Vorhaben beizustehen. Er schaute mich skeptisch an, lächelte liebevoll-spöttisch, weil er in mir eine gebildete Lehrerin sah, die sich offensichtlich für alte Urkunden, Listen und Schuldverschreibungen interessierte, aber doch nicht wirklich eine Person, die sich um die wirtschaftlichen Verhältnisse einer der mächtigsten Familien in Rom zu kümmern in der Lage war. Ich hatte jedoch mit Euthymides nicht nur Sappho und Epikur gelesen, Rhetorik und Dialektik studiert, sondern auch erfahren, wie mein Vater Haushalt und Fernhandel führte – schließlich sollte ich als einziges Kind sie irgendwann einmal weiterführen.
Als ich Martinus mit zunehmender Begeisterung von Konstantinopel erzählte, dem Luxus unseres Lebens, dem Reichtum meines Vaters, seinen guten Kontakten zum kaiserlichen Hof, verlor sich sein spöttisches Lächeln, und sein Blick füllte sich mit Bewunderung.
»Wie hast du nur die Gefangennahme und das Leben als Sklavin aushalten können?« fragte er mich schließlich. »Und dazu noch in solchem Gleichmut, stets mit freundlicher Stimme und guter Laune.«
Ich mußte laut über ihn lachen und legte ihm die Hand auf den Arm – ohne Hintergedanken, vermutlich, weil ich seine Verwunderung genoß. Er ergriff auf jeden Fall meine Hand und drückte sie an seine Lippen.
»Ach, Martinus!« sagte ich, entzog ihm die Hand, strich ihm jedoch über den Kopf. »Wir beide.« Lachte erneut, lachte auch über mich selbst, denn ich behandelte den deutlich älteren Martinus wie ein Kind. Dann legte ich ihm meinen Plan dar, den ich Theophylactus vorzutragen gedachte, und bat ihn um Unterstützung.
Er nickte nur stumm.
Ich forderte also Theophylactus auf, er solle sich ein Bild von seinen Besitzungen im Umland von Rom machen, um festzustellen, warum so gut wie keine Abgaben mehr flossen. In einem zweiten Schritt müsse man sich überlegen, wie man die Situation bessern könne. Anschließend gelte es, die alten Rechte und Privilegien in der Stadt gewinnbringend zu beleben.
Theophylactus starrte mich in einer seltsamen Mischung aus gelangweiltem Überdruß und erstaunter Neugier an, schüttelte dann den Kopf: »Habe ich mir alles schon überlegt. Aber in den Albaner Bergen und weiter südlich muß man mit Angriffen der Sarazenen rechnen, sogar im etrurischen Latium und in der Sabina wurden sie gesichtet – und die Römer? Die sind faul und bestechlich, geborene Lügner, die ihr kostenloses Brot haben wollen, streitsüchtig, bereit, einem Volksverhetzer hinterherzulaufen, wenn er ihnen nur Sand in die Augen und ein paar Oboli in die Hände streut. Allein die Pilger kann man noch ein wenig ausnehmen …«
»Und wenn die Pilger ausbleiben?«
Theophylactus zuckte mit den Schultern, warf einen fragenden und zugleich fordernden Blick auf Theodora, die sich nun zu einer Äußerung bequemte: »Wir müssen dafür sorgen, daß Sergius endlich Papst wird. Dann kann Theophylactus einen entscheidenden Posten in der Kurienverwaltung übernehmen …«
»Sergius ist weit«, unterbrach sie ihr Mann. »Er findet im Augenblick keine ausreichende Unterstützung in Rom. Die verdammte Teutonenfraktion ist zu stark. Vielleicht war der Prozeß gegen die Formosus-Leiche doch keine so gute Idee, der hat uns Anhänger gekostet. Nicht einmal Alberich kann uns helfen, solange er sich in Spoleto oder sonstwo herumtreibt.«
Ich brachte meinen Vorschlag erneut ein, Theophylactus indes ließ mich nicht ausreden: »Um all das zu unternehmen, was du vorschlägst, brauche ich eine starke Schutztruppe, und die will bezahlt sein. Wir haben aber kein Geld, es sei denn …« – er schaute Theodora auffordernd an, die seinen Blick kalt und abweisend erwiderte – »wir rühren die goldene Mitgift meiner geliebten Gemahlin an.«
»Kommt nicht in Frage!« Theodora sprach leise, aber mit stählerner Schärfe. »Meine Eltern sind dafür zu Tode gefoltert worden. Noch heute klingen mir ihre Schreie in den Ohren … Das Gold wird nicht angerührt!«
Ich schaute Martinus in das entstehende Schweigen hinein fragend an. Er hob kaum merklich die Schultern.
»Wenn ich wenigstens Alberich an meiner Seite hätte …«, sagte Theophylactus nach einem tiefen Seufzer.
»Dann ruf ihn nach Rom!« erwiderte ich bestimmt, selbst überrascht von meinem fordernden Ton. »Versprich ihm, daß der Mord auf der Tiberbrücke nicht gesühnt wird. Papst Stephan hat dir doch den Titel Judex verliehen, du bist für die Verfolgung und Ahndung von Verbrechen in der Stadt zuständig …«
Theophylactus und Theodora lachten beide spöttisch auf.
»Wir könnten uns mehr Geld bei dem Juden Aaron leihen«, fuhr ich ungerührt fort.
»Du hast selbst zusammengerechnet, wie viele Schulden wir bereits bei ihm angesammelt haben. Die wird er ohnehin nicht wiedersehen. Da er dies weiß, wird er uns nichts mehr geben.«
»Und wenn wir ihm Sicherheiten bieten?« sagte ich.
Theophylactus lachte nicht einmal mehr, zog nur die Augenbrauen verächtlich nach oben. »In Rom gibt es keine Sicherheiten!«
Ich ging aufs Ganze: »Es gibt den Goldschatz – und außerdem das Kreuz des Belisar. Wenn pures Gold winkt … und wenn der Fernhändler von euren Vorhaben hört, an denen ihr ihn beteiligen könntet, wenn er eure Entschlossenheit spürt …«
Theodora schaute mich verärgert an, schwieg jedoch.
»Es wäre zu überlegen«, murmelte Theophylactus. »Wenn allerdings der Papst erfährt, wer das bei dem Erdbeben verschwundene Kreuz … aufbewahrt, dann …«
»Es muß niemand erfahren: Geldverleiher sind verschwiegene Leute, das gehört zum Geschäft«, warf ich ein.
»Ich muß mich von einer Sklavin belehren lassen … Du bist mit dem Teufel im Bunde!« rief Theophylactus. Seine Worte klangen bewundernd. In diesem Augenblick kamen die Kinder, Marozia voran, hereingestürmt.
»Denkt an die Kinder und ihre Zukunft«, sagte ich noch.
Theodora nahm ihre Töchter in den Arm und drückte ihnen einen Kuß auf die Stirn. Alexandros hatte vom letzten Verkleidungsspiel eine verschlissene Toga behalten. Ich weiß nicht, was ihn trieb: Er zog die über die Schultern geworfene Toga wie eine Schleppe hinter sich her, verneigte sich formvollendet vor Theophylactus und sagte, so bedeutend er konnte: »Gruß und Gottes Segen dem verehrten Senator der Römer, ich bringe eine Botschaft vom basileus, dem Kaiser der Griechen und Herrn über die halbe Welt. Eure Tochter Marozia soll meinen Sohn Alexandros heiraten, auf daß Euer und mein Geschlecht blühe bis ans Ende aller Tage.«
Theophylactus schüttelte lächelnd den Kopf. »Ihr seid mir eine Bande«, sagte er und schaute nicht ohne Stolz auf die Kinder.
In diesem Augenblick wußte ich: Ich hatte gewonnen.
Bis wir aufbrechen konnten, um Theophylactus' Güter zu inspizieren, dauerte es noch ein ganzes Jahr. Zuerst mußte Aaron gewonnen werden, was Theophylactus seinem Procurator und mir überließ, weil er sich nicht mit einem Juden einlassen wollte, da dies seinem Ruf im Vatikan womöglich hätte schaden können. Martinus kannte Aaron bereits von früheren Geldgeschäften und stellte mich als Tochter eines byzantinischen Fernhändlers von Silberwaren und Keramik vor.
Der Jude, ein kleiner, glatzköpfiger Mann in einem Kaftan mit lebendigen Augen und schnellen Bewegungen sah mich neugierig an. Ich hatte mir von Theodora eine schmucklose, allerdings seidene Tunika mit Stola ausgeliehen, so daß meine Kleidung kaum einen Rückschluß auf die Person zuließ. Es konnte freilich sein, daß Aaron bereits von der griechischen Sklavin im Hause des Theophylactus gehört hatte. Auf jeden Fall behandelte er mich zurückhaltend-höflich, bis ich erwähnte, daß meine Mutter Sulamith aus Tyros stamme. Dies begeisterte ihn, zumal, wie er betonte, ein Teil seiner Familie dort ebenfalls ansässig sei. »Und Sulamith: die Friedliche! Das Hohelied singt von ihr. Meine Großmutter hieß ebenfalls Sulamith und auch die Tante meines Vaters. Oder war's die Großtante? Gleichwie!«
Er erkundigte sich nach dem Vaternamen meiner Mutter, und als ich ihm diesen nannte, steigerte sich die Begeisterung noch, denn er behauptete, die Familie meines Großvaters zu kennen und mit ihr in seiner Jugend bereits einträgliche Geschäfte getätigt zu haben. Außerdem fließe in meinen Adern zweifellos jüdisches Blut, dies schaffe Vertrauen.
»Womit kann ich der hochwohlgeborenen Familie des verehrten Theophylactus und seiner Gemahlin Theodora dienen?«
Er kramte in einer Reihe zusammengebundener Pergamentrollen, die in der Holzwand steckten, entfaltete wie nebenbei die Liste der Schulden und nannte murmelnd eine Zahl, die wohl die aufgelaufenen Zinsen bezeichnen sollte.
Procurator Martinus nannte den Wunsch seines Herrn nach einem neuen umfangreicheren Darlehen und erntete ein leidendes Stirnrunzeln, das von Lauten höchsten Bedauerns begleitet war. Aaron fiel in ein Lamento über schamlos raffenden Raub im Umland der ewigen Stadt sowie über Lethargie und Anarchie im einstmals so großen Rom, über den Niedergang von Bauernfleiß, handwerklichem Können und Handelsmöglichkeiten. »Sogar die römischen Senatoren und Judices verkriechen sich in ihren verfallenden Häusern, statt Rom wie einst unter den Cäsaren zu verwalten – zum Heil von Stadt und Land, von Handel und Wandel«, rief Aaron in pathetischer Klage.
»Genau dies soll sich ändern«, erklärte ich. »Und dazu sollst du beitragen, kluger Aaron, Sohn des weisen Nathan aus Antiochia.«
Der Jude schaute mich erstaunt und belustigt an, als könne er erst jetzt meine Gesichtszüge studieren. »Meine Tochter aus großem syrisch-jüdisch-makedonischem Geschlecht, dein Wunsch und Wille ehrt dich, dein Zutrauen und deine Zuversicht in meine schwachen Kräfte ebenfalls, aber ein verachteter, verfolgter Ahasver, der sich als Krämer und Trödler gerade so über Wasser hält, der in feuchten Mauern am Tiber haust, wo täglich der Fluß über die Ufer treten kann, um ihn wegzuschwemmen, heimzuführen in die Gefilde, wo die Urväter warten, der täglich auf den düsteren Rücken eines Grabmals schaut, seines eigenen Endes gedenk …«
»Verehrter Aaron, weniger Kunst, mehr Inhalt sei in deiner Rede!« Ich verbeugte mich. »Es gibt Sicherheiten, die dich überzeugen werden.« Ich nahm die Liste der Schulden und blies den Staub vom Pergament.
»Was ist in diesen Zeiten schon sicher! Sicher ist nur der Tod.«
»Sicher ist reines Gold.«
Aaron zuckte zusammen, was Martinus die Andeutung eines Lächelns entlockte. »Ja, träumen wir nicht alle von den funkelnden Schätzen der Kalifen, von den Goldtalenten, die einst die römischen Cäsaren anhäuften, von den Nomisma der byzantinischen Kaiser …«
»… genau davon spreche ich«, fiel ich ihm ins Wort. »Und von goldenen Reliquien, unschätzbar wertvoll und heilig – seit Zeiten des großen Justinian im Besitz der Familie.«
Mit ungläubigem Blick verstummte Aaron.
Martinus nickte. »Aglaia hat recht.«
Bis sich der Jude wieder zu einer Antwort aufraffen konnte, verging einige Zeit. »Die frommen Christen verachten Gold und Geld, ihr Prophet Jesus von Nazareth hat die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben – aber Reliquien … Aus purem Gold, sagt ihr?«
»Ein Kreuz aus purem Gold, reich verziert mit Perlen und Edelsteinen.« Martinus hatte sich auf einem Schemel niedergelassen, und Aaron beeilte sich nun, mir ebenfalls eine Sitzgelegenheit zuzuschieben und sie mit einem Kissen, bezogen mit kostbarem Brokat, zu bedecken.
»Ein Kreuz, verziert mit Perlen und Edelsteinen … welche Glückseligkeit, eine solche Schutzmacht im Haus zu wissen … ein Kreuz wie das Kreuz des Belisar, das einst in der lateranischen Basilika hing, bevor der Herr in seinem unerforschlichen Ratschluß geruhte, sie in Trümmer zu legen und das Kreuz zu begraben.«
»So ähnlich.«
»Wie geruhen, Meister Martinus?«
»Unser Kreuz ähnelt der crux benedicta des Belisar – aber seit wann weißt du als Ungläubiger, was in der Basilika des römischen Bischofs aufbewahrt wurde? Hast du dich vielleicht taufen lassen? Oder wolltest du ein wenig spionieren …?«
Aaron begriff sofort die Drohung, die in Martinus' Worten steckte, glättete das Pergament, auf dem unsere Schulden verzeichnet waren. »Laßt uns über die Darlehenssumme sprechen«, begann er in geschäftsmäßigem Ton, »und natürlich über Zinshöhe und Sicherheiten.«
»Wir gedenken, dich an den römischen Unternehmungen, die wir planen, zu beteiligen. Dies soll ein Teil der Sicherheit sein.«
Aaron schaute skeptisch auf: »Welch ungewöhnlicher Vorschlag. Brauchen wir dazu nicht das Placet des römischen Konsuls, wer immer dies auch sei, und der Kurie, die in uns Juden die Mörder ihres Herrn sieht und uns daher nur duldet …? Besitz ruht auf Recht und Gesetz, Recht auf einer Macht, die gewillt ist, die Geltung der Gesetze zu gewährleisten, aber wo, meine Tochter, wo, verehrter Procurator, finden wir in Rom Gewährleistung, Gesetz und Geltung?«
»In den Machtbefugnissen, die Theophylactus in Zukunft erweitern wird. Die römischen nobiles viri werden ihn demnächst zum Konsul ernennen, Markgraf Alberich von Spoleto wird für den persönlichen Schutz auch derjenigen sorgen, die auf seiner Seite stehen, und wenn erst Diaconus Sergius aus einer der ältesten und vornehmsten Familien Roms auf den Stuhl Petri gelangt, werden wieder Recht und Gesetz in der Ewigen Stadt herrschen.«
Ich hatte jede mögliche Überzeugungskraft in meine Stimme gelegt, und Martinus bestätigte meine Worte durch ein entschiedenes »So wird es sein!«
Und so wurde es. Am Ende des Sommers hatte Aaron dem Senator und Judex Romanorum Theophylactus eine beträchtliche Summe an Goldmünzen und Silberdenaren geliehen und dafür als Sicherheit ein nicht näher bezeichnetes goldenes Kreuz erhalten. Außerdem solle er, so wurde niedergeschrieben, an den Gewinnen aus den Walk- und Getreidemühlen am Ufer des Tiber, die Theophylactus aufzustellen das verbriefte Recht hatte, sowie aus dem Salzhandel zwischen Rom und den Salinen bei Portus mit fünfzig Prozent beteiligt werden. Aus dieser Beteiligung sollten die Zinsen bezahlt sowie die Darlehenssumme getilgt werden. Damit alles nach Recht und Gesetz verlief, ließ Theophylactus dem Fernhändler und Geldleiher Aaron aus Antiochia von der päpstlichen Kanzlei ein Privilegium ausstellen. Die Kosten hierfür trug der besagte Jude Aaron.
Unterdessen waren geheime Boten zu Alberich gesandt worden. Sie kehrten mit der Botschaft zurück, Alberich werde, wenn er seine Geschäfte in Spoleto erfolgreich abgeschlossen habe, mit einer schlagkräftigen Truppe nach Rom eilen, um seinem alten Freund und Genossen Theophylactus zur Seite zu stehen.
Im Frühjahr des folgenden Jahres war endlich mein Plan so weit gediehen, daß Theophylactus mit Alberich und seiner berittenen Truppe, mit Procurator Martinus und mir nach Etrurien aufbrach, um den Zustand der Domänen und Klöster zu inspizieren. Die Kinder ließen mich nur unter Tränen ziehen. Theodora dagegen, bei der ich mehr Widerstand erwartet hatte, äußerte keine Einwände. Im Gegenteil, sie wirkte aufgeräumt und regelrecht verjüngt, versprach mir, sich um Alexandros wie um einen eigenen Sohn und Erben zu kümmern.
Heute weiß ich, warum sie bei unserem Abschied die unwiderstehliche, ja majestätische Schönheit einer Venusstatue ausstrahlte. Ihr Leben hatte eine unerwartete Wendung genommen, eine Wendung, die ihren Aufstieg beschleunigen sollte und in der bereits der Keim lange ungesühnter Verbrechen steckte.
Wir verließen Rom auf der alten Via Flaminia, um, im etrurischen Latium beginnend, die Domänen, Siedlungen und Klöster, die Theophylactus gehörten oder ihm abgabenpflichtig waren, zu besuchen. Alberichs bewaffnete Reitertruppe stellte einen Schutzschild dar, der Räuberbanden aller Art abschrecken sollte. Die Landstriche nördlich von Rom schienen von den Sarazenen noch nicht übermäßig heimgesucht zu sein, obwohl die Menschen in Angst lebten und bei unserem Anblick in Panik flohen und sich versteckten. Als wir dies begriffen, schickten wir Boten voraus, um unser Erscheinen anzukündigen.
Rasch zeigte sich, daß die meisten der Domänen heruntergewirtschaftet waren. Die unfreien Bauern bearbeiteten ihre eigenen Gärten und Felder und dachten nur selten daran, Abgaben an den Verwalter weiterzuleiten, der sie dann nach Rom hätte bringen sollen. Was er an Naturalabgaben erhielt, verbrauchte er selbst; das Münzgeld, das gezahlt werden mußte, steckte er in die eigene Tasche. Viele der unfreien Knechte und Sklaven waren geflohen, so daß die Weizenfelder, Weinberge und Olivenhaine von Unkraut überwuchert waren. Das Vieh wirkte nicht ausreichend versorgt, teilweise krank. Jeder behauptete, die Pferde, Rinder und Schweine gehörten ihm persönlich. Seit Menschengedenken habe man weder einen Herrn aus Rom noch seinen Abgesandten gesehen, die Domänen seien unabhängig. Überhaupt müsse man sich gegen Räuberei und Sarazenen selbst schützen; bereits diese Tatsache weise darauf hin, daß es einen Herrn, der seine Schutzpflicht erfülle, nicht gebe.
Theophylactus hörte sich die Einwände ruhig an, ersetzte anschließend fast die gesamte Verwalterschicht im nördlichen Latium oder zwang sie unter Androhung von Leibstrafen, ihn als Herrn anzuerkennen und jedes Jahr zwanzig Prozent der Ernte abzuliefern, dazu noch einen Teil des Viehbestands und Zusätzliche Geldsummen. Zugleich versprach er, in Zukunft für den nötigen Schutz zu sorgen. Mit den Klöstern, die zu seinem Besitz gehörten, verfuhr Theophylactus nachsichtiger. Sie mußten zehn Prozent abliefern. Traf man allzu viele Konkubinen und deren Kinder im Klostergelände an, wurde der Abt seines Amtes enthoben und durch einen vertrauenswürdigen Mönch ersetzt, der seinen Eid auf den Herrn leisten mußte.
Je weiter wir die römische Campania nach Süden durchquerten, desto mehr trübte sich unsere Stimmung ein. Zahlreiche Olivenbäume waren umgehackt, Weinberge und Weizenfelder verwüstet, Höfe und Dörfer, dazu ganze Klosteranlagen niedergebrannt. Vieh war in manchen Gebieten überhaupt nicht mehr zu finden. Dafür streunten verwilderte Hunde umher, und nachts heulten die Wölfe und näherten sich uns bis auf Steinwurfweite. Tagelang trafen wir nur wenige Menschen. Gelegentlich griffen wir halb verhungerte Kinder auf, die kaum sprechen konnten; manche waren vom Aussatz befallen, andere litten an schwärenden Wunden. Frauen hockten bewegungslos am Boden, hoben nicht einmal ihre erloschenen Augen, die von Qual und Schande zeugten.
Wo die Männer seien, fragten wir.
Die Männer seien hingemetzelt.
Wer hier sein Unwesen getrieben hatte, brauchten wir nicht zu fragen.
Ob alle Männer tot seien? Keine Antwort. Ein Alter, dessen Augen verkohlten Löchern glichen und der kurz davor war, zu verdursten, krächzte: »Sie sind in den Bergen, hausen in den Wäldern. Niemand hat uns hier je geholfen.«
Als wir weiterzogen, entdeckten wir Landschaften, die wie durch ein Wunder verschont geblieben waren. Dort erfuhren wir Genaueres über die Raubzüge der Sarazenen vom Garigliano. Viele Familien hätten rechtzeitig ihre Höfe verlassen, so hörten wir noch, und seien nach Rom gezogen, um dort durch Betteln ihr Leben zu fristen, andere seien nach Tuszien oder ins Herzogtum Benevent aufgebrochen; wer es nicht so weit schaffe, vegetiere in den Bergen dahin, lebe von Beeren und Fallenstellerei oder suche bei den großen eingefriedeten Klöstern um Hilfe, so sie nicht ebenfalls niedergebrannt seien.
Je mehr wir uns den Pontinischen Sümpfen näherten, desto menschenfeindlicher wurde das Gelände, das einst die alten Römern entwässert hatten. Längst waren die Gräben zugewuchert, und so waren weite Gebiete zu einer sumpfigen Brutstätte blutsaugender Insekten verkommen. Sie dünsteten mephitische Dämpfe aus, die das Fieber verbreiteten. Von den wenigen hohlwangigen Menschen, die sich in die Sümpfe gerettet und bisher überlebt hatten, erfuhren wir, daß die Sarazenen wohlweislich diese Gegend mieden.
Rasch zogen wir uns aus dem Morastgelände zurück, in dessen fahlem Himmel die Geier kreisten. Abends umschwebten uns Mückenwolken, die nur durch qualmende Feuer fernzuhalten waren. Zugleich schienen hier zahllose Reiher, Gänse, Enten und kleine Wasservögel in Frieden zu gedeihen, so daß wir reiche Jagdbeute machten.
Entgegen unseren Erwartungen waren wir bisher noch keinem Sarazenentrupp begegnet. Vor diesem Zusammenstoß fürchtete ich mich insgeheim am meisten. Nachts träumte ich von Yussuf und sah ihn sich über mich beugen. Ich wurde auf ein Schiff gebracht, von dem ich in einem unbewachten Augenblick ins Wasser sprang. Da ich an die anderen Gefangenen gefesselt war, zog ich alle über Bord. Das Wasser wich vor uns zurück, wir fielen und fielen, bis ich schweißnaß und schreiend aufwachte.
Als ich die Augen öffnete, saß Martinus an meiner Seite und hielt meine Hand.
Ich war ihm unendlich dankbar, obwohl ich vor hilflosem Stottern die Dankbarkeit kaum ausdrücken konnte. Er bettete meinen Kopf an seine Brust und strich mir über die Haare, bis ich wieder einschlief.
Als die ersten Fälle von tödlichem Dreitagesfieber auftraten, eilten wir ohne Unterbrechung in die Albaner Berge. Hier berieten wir die trostlose Lage.
»Wir müssen die Sarazenen zum Teufel jagen«, erklärte Alberich, der während der vergangenen Tage sein Lachen verlernt zu haben schien und auch keine Papstwitze mehr erzählte. »Wenn die Campania endgültig ausgeplündert ist, werden die Ungläubigen vor den Toren Roms stehen.«
»Um sie zu vertreiben, brauchen wir eine ganze Armee«, antwortete Theophylactus dumpf und ohne Hoffnung. »Sinnlos, das Ganze.«
Martinus starrte über die verkohlten Balken eines Dorfes. In Reichweite sammelten sich streunende Hunde, und wie aus dem Nichts tauchten abgezehrte Kinder auf und schoben sich stumm, mit ausgestreckten Knochenfingern, immer näher an uns heran. Ich konnte diesen Anblick nicht länger ertragen und verteilte einen Teil unseres Proviants an die Bettelnden. Sie stürzten sich wie Tiere über die Brote und das Vogelfleisch, schlugen sich, traten die Kleinsten nieder. Zum Schluß blieb ein vielleicht vierjähriges Mädchen tot am Boden liegen.
Als sich die Hunde ihm näherten, schrie ich und warf mit Steinen nach ihnen, aber sie knurrten mich nur mit gefletschten Zähnen an und ließen sich nicht vertreiben. Ich wollte nicht aufgeben, obwohl Alberichs Männer mich auslachten, griff mir eine verkohlte Latte und rannte auf die Hunde zu, schlug nach ihnen, bis sie sich zurückzogen. Als ich hinter einer niedergebrannten Hütte auf eine halbverweste, von Krähen und Geiern übel zugerichtete Leiche stieß, sank ich auf die Knie und mußte mich heftig übergeben. Endlich jagten die Männer die wieder heranschleichenden Hunde davon, und Martinus zog mich auf die Beine. Von ihm gestützt, schleppte ich mich zu dem toten Mädchen, um es in ein Tuch einzuwickeln und zu begraben.
Während der folgenden Nacht verfolgten mich die Bilder des Schreckens derart, daß ich überhaupt nicht zu schlafen vermochte. Während Theophylactus, Alberich und seine Kämpfer laut schnarchten, hielt Martinus mit zwei anderen Männern Wache. Ich sorgte für das Feuer, das ich hochlodern ließ, starrte in die Flammen, bis die Augen ebenfalls zu brennen schienen.
Am nächsten Morgen entdeckten wir in der Ferne einen Sarazenentrupp, der sich uns näherte. Nach kurzer Beratung zogen wir uns höher in die Berge zurück, um ihn besser abwehren und bekämpfen zu können, und machten Jagd auf Vögel und Kaninchen, da unser Proviant aufgebraucht war.
Die Sarazenen schienen sich wieder zurückgezogen zu haben, denn wir sahen sie nicht mehr. Abends schlugen wir in einem Waldstück unser Lager auf, diesmal ohne Feuer, um sie nicht anzulocken. Trübsinnig hockten wir zusammen, Decken um die Schultern geschlungen, und schwiegen uns an. Schließlich knurrte Alberich, der Papst und alle Fürsten müßten sich zusammentun, um diese Pest zu vernichten. »Und auch die Verräter von Gaëta und Amalfi müssen sich beteiligen. Sie kaufen den Ungläubigen die Sklaven und das Raubgut ab, statt eine Flotte auszurüsten und sie von der Küste zu vertreiben.«
Theophylactus nickte schweigend.
Martinus glaubte nicht an eine gemeinsame Aktion der italischen Fürsten. »Da denkt jeder nur an sich.«
Keiner wollte ihm widersprechen.
»Und was soll aus unseren Domänen werden?« fragte ich in die angespannte Stille. »Wir müssen das Land wieder bewirtschaften lassen. Wenn nichts geschieht, wird Rom in absehbarer Zeit hungern.«
»Aglaia hat recht«, pflichtete mir Martinus bei. »Wenn Rem hungert, wird es Aufstände geben, das Volk wird die Häuser der Reichen plündern. Unser Portal zum Beispiel hält einem ernsten Ansturm nicht stand. Was dann?«
Erneut trat eine lange Pause ein, während Alberichs Söldner weintrinkend ihre Waffen säuberten und schliffen.
»Wir müssen die Menschen im Umland von Rom ganz anders siedeln lassen«, unterbrach ich das ratlose Schweigen. Theophylactus starrte mich an, als hätten die Erlebnisse der letzten Tage meinen Geist verwirrt, Alberich lachte wie über einen guten Witz. Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen. »Die Dörfer und Domänen in der Ebene sind nicht zu verteidigen, schon gar nicht die Einzelgehöfte. Die Menschen müssen auf die Berge ziehen und dort ihre Siedlung mit einer Mauer oder zumindest einem Palisadenwall sichern. Auf diese Weise können sie sich besser verteidigen.« Als niemand widersprach, fuhr ich fort: »Theophylactus muß ihnen Schutz versprechen, und dafür sollen sie zahlen. Je mehr sie zahlen, desto besser der Schutz. Überall sollten Fluchtburgen entstehen, deren Procurator mit seiner Besatzung dann gleichzeitig dafür sorgt, daß die Abgaben regelmäßig fließen. Insbesondere die Unfreien werden zum Burgenbau und allen anderen nötigen Arbeiten herangezogen.«
»Ich glaube, Aglaia hat recht«, sagte Martinus, »auch wenn ihr Gedanke ungewöhnlich, sogar schwer zu realisieren klingt. Wer verläßt schon gern den Ort, an dem er geboren ist – aber wenn nur noch schwarze Balken stehen …«
Dankbar lächelte ich ihn an und fuhr fort: »In Rom sollten wir etwas Ähnliches auf die Beine stellen. Unsere alte domus an der Via Lata leidet noch immer unter den Schäden des Erdbebens. Innerhalb der aurelianischen Mauer gibt es weite Flächen, auf denen Wein, sogar Getreide angebaut wird, wo Obst- und Olivenbäume stehen und Kühe, Ziegen und Schafe grasen. Wie ich den alten Urkunden entnommen habe, besitzt die Familie des Theophylactus große Flächen auf dem Aventin. Dort sollten wir eine villa, mehr noch, ein palatium bauen, mit Stallungen und einem Gebäude für die Wachen. In der Via Lata können die Geschäfte abgewickelt werden, die Verwaltung der Walk- und Getreidemühlen, die gleich nebenan auf unserem Gelände am Tiber aufgestellt werden müßten.«
Theophylactus schüttelte nur noch den Kopf, meine Begeisterung jedoch nahm zu. »Wir haben ein altes Privileg, die Salinen bei Portus und Ostia zu betreiben und außerdem für Transporte auf dem Tiber Zölle zu nehmen. Wenn wir den Fluß schützen und mit ihm die Salinen, kann wieder regelmäßig produziert und gehandelt werden. Alberich wird seine Truppe vergrößern und dadurch seinen Einfluß erweitern. Auch in Rom selbst wachsen ihm Schutzaufgaben zu. Seit langem kann man sich nicht mehr ohne Gefahr auf die Straße trauen, überall lauert Diebsgesindel, ganze Räuberbanden treiben ihr Unwesen und lassen kaum einen Pilger ungeschoren. Wir versprechen den Menschen in Rom und ebenso den Pilgern Sicherheit – und lassen sie dafür bezahlen. Davon profitiert jeder. Bis auf die, die sich unrechtmäßig und bisher weitgehend ungestraft am Hab und Gut ihrer Mitmenschen vergreifen.«
Natürlich dachte ich nicht nur an die Räuber in Rom und im Umland, ich dachte an all die Menschen, die sich das Recht herausnahmen, sich durch Ausplünderung der Wehrlosen zu bereichern.
»Du meinst, ich soll auf dem Aventin einen Palast bauen?« fragte Theophylactus.
Ich nickte.
»Woher soll ich das Geld nehmen?«
»Und wie soll ich die Männer bezahlen, die überall zum Schutz eingesetzt werden?« warf Alberich ein. »Bevor die Handwerker und Pilger mir einen Denar in die Hand drücken, muß die Schutztruppe vorhanden sein.«
»Wer bezahlt sie denn jetzt?«
»Der Jude.«
»Richtig«, sagte ich. »Der Jude leiht uns Geld, das wir später vermehrt einnehmen. Theophylactus zeigt durch seinen Palast auf dem Aventin, daß er nicht nur irgendein vir nobilis ist wie die anderen auch, wie Sergius, Gregorius, Gratianus, Leo, Crescentius, Benedictus und wie sie alle heißen, sondern daß er der illustrissimus ist, Senator, Judex und Konsul, und als solcher in Rom das Sagen hat. Und Markgraf Alberich zeigt durch seine Truppe, daß ohne euch und eure Zustimmung keine Wahl mehr im Vatikan durchgeführt werden kann …«
»Das Mädchen hat recht. Wenn wir nur auf dem Arsch sitzenbleiben, geschieht nichts.« Alberich wirkte plötzlich überzeugt. »Irgendwann werden uns die Sarazenen überrennen. Wir müssen ihnen das Schwert an die Gurgel setzen und sie an ihrem Allahu akbar ersticken lassen.«
Theophylactus starrte nachdenklich auf den Boden und sagte leise: »Dies alles hier war einst fruchtbares Land, das Rom ernährt und uns vermögend gemacht hat. Jetzt sieht es aus wie nach den sieben Plagen Ägyptens. Aber ich will mich nicht vom Juden abhängig machen, der jetzt bereits das Kreuz des Belisar in seinen Händen hält. Daraus könnten mir meine Gegner einen Strick drehen.« Ein Einfall erleuchtete plötzlich sein Gesicht. »Es gibt ja noch Theodoras Goldschatz. Warum sollen wir ihn nicht einsetzen, um unseren Palast auf dem Aventin zu bauen? Und ich will mich nicht nur Konsul nennen, sondern die Stadt tatsächlich wie ein Konsul regieren. Wenn erst Sergius Papst ist, der Mann mit der stählernen Faust, ja, dann jagen wir die Teutonenfraktion aus der Stadt – und ich werde außerdem saccellarius und verwalte die Finanzen der Kurie …«
»Auch die Schenken und Herbergen müssen Schutzgeld zahlen, damit die Pilger in Ruhe ausgenommen werden können …«, rief Alberich lachend.
Theophylactus schien nun seine Skepsis zu überwinden. »Als Konsul werde ich Ämter verkaufen, und für jedes Amt müssen Goldstücke fließen. Macht das der Vatikan nicht ebenso? Wer Bischof werden will, muß seine Pfründe in Gold aufwiegen. Geld regiert die Welt und stinkt außerdem nicht. Das wußten bereits unsere Vorfahren.«
Die Männer ließen mich hochleben und leerten die letzten noch gefüllten Weinkrüge, sie begannen zu singen und sich zu umarmen – bis einer ins Gebüsch trat, um sich zu entleeren. Wir hörten einen kurzen Aufschrei und ein gurgelndes Geräusch, und schon brach die Hölle los. Aus den Büschen sprangen säbelschwingende Sarazenen, unsere Männer vergaßen Wein und Gesang, griffen nach ihren Waffen und stießen manchem Angreifer, der sich unvorsichtig auf sie stürzte, das Schwert durch die Brust. Alberich sprang auf die Füße, brüllte auf – es klang, als würde er lachen – und ließ sein Schwert so um die eigene Achse kreisen, daß mehrere Angreifer getroffen zu Boden stürzten. Ohne mich zu besinnen, griff ich nach einem sarazenischen Säbel, der zu Boden gefallen war, und wehrte einen Schlag ab. Als ich vor seiner Wucht in die Knie ging, sprang Martinus herbei und stieß einem Angreifer den Fuß derart in den Unterleib, daß er sich stöhnend zusammenkrümmte. Theophylactus, bereits blutend, mußte sich dreier Männer erwehren, bis ihn Alberich freihieb.
Und plötzlich, ebenso schnell, wie sie über uns hergefallen waren, verschwanden die Sarazenen. Acht Tote oder Schwerverletzte hatten sie liegengelassen, vier Tote hatten wir zu beklagen. Alberichs Kämpfer schrien noch ein höhnisches Allahu akbar in die Dunkelheit hinein, aber als niemand mehr zu sehen war, stürzten sie sich auf die schwerverletzten Sarazenen, schnitten ihnen die Kehlen durch, rissen ihre Waffen an sich und durchwühlten die Kleidung der Toten.
Es stank nach Blut und Angstschweiß. Keiner konnte, keiner wollte mehr schlafen. Wir begruben unsere Gefallenen und warfen die Leichen der Angreifer in die Büsche, um Wölfe, Hunde und Geier mit einem fetten Mahl zu versorgen. Als der erste Schein den östlichen Himmel erhellte, brachen wir auf, um vor Dunkelheit die Mauern Roms zu erreichen. Martinus wich nicht von meiner Seite, und weil er mich immer wieder mit großen Augen anschaute, sagte ich leise: »Du hast mir das Leben gerettet – und mir auch sonst geholfen. Ohne dich … Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
»Ich will keinen Dank«, antwortete er mir ebenso leise, »sondern etwas anderes.«
Ich senkte den Blick.
Als wir kurz nach Sonnenuntergang in unser Haus in der Via Lata einzogen, erwartete uns eine Überraschung: Theodora hatte Besuch. Der Bischof von Bologna, Johannes, saß mit ihr im Empfangsraum und begrüßte den Hausherrn mit beherrschter Würde, indem er ihm seine Hand mit dem bischöflichen Ring entgegenstreckte. Theophylactus verbeugte sich knapp. Sein Blick wanderte mißtrauisch von Theodora zum Bischof und wieder zurück.
Alberich begrüßte den kirchlichen Würdenträger mit mehr Respekt, ebenso Martinus. Mich konnte Bischof Johannes nicht einordnen – als Sklavin war ich nicht zu erkennen, da ich Reitkleidung trug und ebenso winddurchweht, wettergebräunt und verschmutzt wie die Männer war; so reichte er mir ebenfalls seinen Ring zum Kuß. Ich ging in die Knie und beugte mich über die edle, schmale Hand eines Mannes, der um die vierzig sein mochte, zehn Jahre älter als ich. Sie war gepflegt und roch angenehm. Ich küßte ein zweites Mal den Ring, als wollte ich meine christliche Demut unterstreichen, dabei ging es mir nur um den Duft, der mich an jemanden erinnerte. Als ich schließlich meinen Kopf hob und leicht verwirrt in das milde lächelnde Antlitz des Bischofs schaute, wußte ich, an wen er mich erinnerte.
Ich lächelte zurück und war sofort von dem Bischof angetan. Sein glattrasiertes Gesicht mit hellen Augen unter feingezogenen Brauen, einem kräftigen Kinn, aber weichgeschwungenem Mund wirkte offen, weniger gütig als ehrlich und zugleich auf eine seltsame Art sinnlich. Er schaute mich forschend an, bevor er einen fragenden Blick zu Theodora sandte. Sie deutete ein Nicken an. Hatten die beiden zuvor über mich gesprochen?
Bischof Johannes wandte sich nun wieder Theophylactus zu und erklärte: »Wie ich soeben deiner Gemahlin mitteilte, wurde Berengar von Friaul, der, wie bekannt sein dürfte, nach Lamberts Tod zum neuen König von Italien gewählt wurde und nun Anwärter auf den Kaisertitel ist, in einer erschreckend blutigen Schlacht an der Brenta von den Magyaren geschlagen. Man nennt sie auch Ungarn. Ihre schnellen Reitertruppen ergießen sich ungehindert über die fruchtbare und bevölkerungsreiche Po-Ebene: Sie verwüsten alles, was sich ihnen in den Weg stellt, brandschatzen die Klöster, Dörfer und Städte, töten Mönche, Bürger und Bauern, lassen die Mädchen und jungen Frauen, aneinandergefesselt wie Vieh, in ihre pannonische Heimat bringen, damit sie ihnen zu Diensten sein können. Die älteren Frauen werden erschlagen oder dienen den Bogenschützen auf ihren wendigen Pferden als Zielscheibe. Ihr seht also, daß nicht nur ihr von Invasoren heimgesucht seid. Um den Heiligen Vater von unserem Unglück in Kenntnis zu setzen, bin ich nach Rom geeilt – und statte nun allen adligen Familien der Stadt einen Besuch ab, um sie zu Einigkeit aufzurufen und Hilfe zu erbitten.«
Theophylactus antwortete mit finster verzogenem Gesicht: »Und wo bleibt eure Hilfe? Wir haben soeben gesehen, was die Sarazenen in unserem Umland anrichten, mußten sogar einen Angriff zurückschlagen – hier, seht!« Er entblößte seinen Arm und zeigte Theodora und dem Bischof seine verkrustete Wunde.
Johannes zeigte sich unbeeindruckt. »Der Allmächtige straft Süden wie Norden gleichermaßen. ER will uns zur Einheit zwingen. Doch muß ich hören, daß manche italischen Fürsten nicht mehr Berengar unterstützen, sondern den Provencalen Ludwig ins Land rufen.«
»Wir haben andere Sorgen«, antwortete Theophylactus ruppig.
»Unter den von mir genannten Fürsten ist Adalbert von Tuszien, euer Verbündeter, und ich befürchte …«
»Der Bischof von Bologna hat recht«, fiel ihm Theodora ins Wort. »Wir besiegen unsere Feinde nur, wenn wir einig sind.«
»Das sag' ich doch die ganze Zeit«, rief Alberich.
Theophylactus grummelte. »Berengar und seine teutonenfreundlichen Anhänger spalten das Land – und Rom.«
»Da muß ich widersprechen«, sagte Bischof Johannes.
Die Diskussion nahm immer hitzigere Züge an. Ich tauschte einen kurzen Blick mit Martinus, der, die Hände vor seinem Bauch gefaltet, schweigend dabeistand und, wie ich, von niemandem beachtet wurde. So zog ich mich unauffällig zurück, um endlich zu den Kindern zu eilen. Im schwachen Licht einer Kerze lagen sie alle beieinander, wie die Engel so rein, friedlich und selig schlummernd. Auf Zehenspitzen schlich ich an ihre Bettstatt, um ihnen einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken. Wie ich mich hinunterbeugte, tauchte vor meinen Augen ungerufen das Bild des toten Mädchens auf, das die Hunde hatten zerreißen wollen, und die süßen Gesichter der drei Kinder verzerrten sich zu einem Bild stummer Schmerzen.
Ich richtete mich auf und spürte mein Herz mit heftigen Schlägen gegen die Brust pochen. Wellen der Angst überschwemmten mich, ließen mich zurücktaumeln und in den Garten fliehen. Zum Glück schien der zunehmende Mond so hell, daß ich keine Fackel benötigte. Im Schatten von drei düsteren Zypressen fand ich einen Sitz, während im Innern des Hauses noch immer die vier aufgeregt und lauthals diskutierten.
Ich weiß nicht, ob mich die Müdigkeit übermannt oder eine Ohnmacht erfaßt hatte – auf jeden Fall fand ich mich, bedeckt mit einer Wollstola, in der weichen und warmen Ausstrahlung eines Körpers wieder. Ich saß auf dem Kiesboden neben der Bank, an Martinus gelehnt, der mich umschlungen hielt, seinen Kopf auf meinen gelegt hatte, stumm und bewegungslos.
»Du bist mein Engel«, flüsterte ich, als der erste Lichtsaum glasig über den östlichen Himmel zog.
»Nein, du bist mein Engel«, entgegnete er.
Wir schwiegen beide, bis die Strahlen der aufgehenden Sonne die Wipfel der Bäume vergoldeten. Draußen, jenseits der Mauer, erschollen die ersten Rufe der Tiberschiffer und der Wasserträger, und im Haus rührten sich die Mägde. Bald würde auch Alexandros erwachen, der immer vor den Mädchen aufstand, die sich morgens gerne noch ein wenig räkelten und von mir mit Honigbrot aus dem Bett gelockt werden mußten.
Martinus schien zu merken, daß ich mich erheben wollte, und so drückte er mich fester an sich. Es war mir nicht unangenehm, weil er mich wie ein Bruder hielt. Oder wie ein Vater. Mir fiel sein Angebot ein, mit ihm nach Lucca und weiter nach Konstantinopel zu fliehen – er hatte es nie wiederholt. Er hatte mich auch nicht ein zweites Mal in eine dunkle Ecke gedrängt – und doch sprach sein Blick, bei dem ich ihn gelegentlich ertappte, eine unverkennbare Sprache. Ich mochte ihn, nicht nur wegen seiner Hilfe während der vergangenen Monate, seiner Aufrichtigkeit und Treue, seines Gleichmuts – von Epikur hatte er nie gehört, und doch schien er in seine Schule gegangen zu sein. Ich mochte den straffen Körper dieses bereits grauhaarigen Mannes, seine ebenso blauen wie sehnsüchtigen Augen.
»Hast du gemerkt, wie mißtrauisch und eifersüchtig Theophylactus auf den Besuch des Bischofs reagiert hat?« Martinus' Frage riß mich aus meinen Träumereien. »Ich hörte mich am späten Abend noch ein wenig um und denke, daß er allen Grund dazu hat. Theodora soll vor Leidenschaft glühen, erzählte mir ihre Kammerfrau, ihr Zimmer habe nächtens wie von einem Vulkanausbruch gebebt.«
Ich mußte lachen. »Ich kenne sie gar nicht so poetisch.«
Martinus war ernst geblieben. »Unserem Haus droht eine Gefahr von innen.«
»Der Bischof wird bald abreisen. Und ist Theodora nicht eine kühl denkende Frau, der es ebenso wie ihrem Mann um Einfluß und Macht in Rom geht?«
»Wie ich sie kenne, denkt sie kühl und fühlt leidenschaftlich. Während der ersten Jahre ihrer Ehe gab es regelmäßig nächtliche Vulkanausbrüche; später floß nur noch glühendes Gestein, das mit der Zeit erkaltete.«
»Woher weißt du das alles? Hast du gelauscht?«
Diesmal mußte Martinus lachen. »Unter der Dienerschaft wird viel geklatscht, und außerdem lassen Vorhänge Ausbrüche von Leidenschaft durchaus nach außen dringen. Lauschst du nie der verborgenen Sprache der Nacht? Auch in unserer domus wird geflüstert und geschmatzt, geseufzt und gestöhnt.«
»Ich schlafe bei den Kindern und achte darauf, daß sie in Ruhe die Nacht verbringen und träumen können …« Ich wollte dieses Gespräch nicht fortsetzen, wollte endlich zu den Kindern gehen, damit sie mich sahen, wenn sie die Augen aufschlugen.
Auch Martinus erhob sich. Als ich mich von ihm verabschiedete, nicht ohne ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange zu drücken, flüsterte er mir zu: »Es ist mir ernst. Alle unsere Pläne können nur gelingen, wenn Theophylactus und Theodora sich einig sind und nicht von Eifersucht und Abscheu zerfressen. Sonst wird ihr Geschlecht untergehen und wir mit ihm. Beten wir! Der Herr möge Theophylactus ein weites Herz geben …«
Kaum hatte ich die Kinder begrüßt, mit ihnen gefrühstückt und mir ihre Berichte über die vergangenen Tage, ihre Spiele im Garten, den neuen Lehrer und die Eifersüchteleien zwischen Marozia und der kleinen Theodora angehört, wurde ich zu ihrer Mutter gerufen, die mich unter vier Augen sprechen wollte und mir ohne Umschweife von Bischof Johannes berichtete, dessen Anblick, nein, dessen Ausstrahlung sie wie ein Blitz getroffen, dem sie sich noch in der ersten Nacht hingegeben habe, den sie bereits jetzt vermisse, ohne den sie nicht mehr leben könne.
Theodora näherte sich damals ihrem dreißigsten Lebensjahr, hatte also bereits den Zenit ihrer weiblichen Blüte überschritten, und doch sprach sie, als wäre sie zum ersten Mal verliebt. Ich konnte ihre Gefühle nicht nachempfinden, obwohl ich sie zu verstehen versuchte, sah die Gefahr, von der Martinus gesprochen hatte. Gleichwohl: Ihre Augen leuchteten derart, daß ich begriff, wie überwältigt sie war. Ich spürte sogar einen kleinen Stich aus Neid.
Weil sie ein Bad nehmen wollte, schälte sie sich aus ihren Decken. Sie hatte nackt geschlafen und rief nach den Kammerfrauen, die das Wasser bereiten sollten. Ein weiches Licht fiel auf ihren Körper, der mir während der vergangenen Tage oder Wochen voller, fester und schöner geworden zu sein schien. Noch zeigte ihre Haut kaum Spuren des Alterns; ihre Brüste hatten die beiden Töchter nicht stillen müssen und sich besser gehalten als meine.
Als ich sie so, ein Bein spielerisch angewinkelt, wie eine Statue der Venus vor mir stehen sah, schämte ich mich plötzlich meines eigenen Körpers. Nicht wegen der schweren Brüste, sondern weil ich mich beschmutzt fand, von damals für immer entstellt und gebrandmarkt. Immer wieder suchte ich an meinem Körper die Spuren von Mißbrauch und Schändung, entdeckte keine und war dennoch der Meinung, sie seien sichtbar für jeden, der mich liebte und erkennen wollte. Mein nackter Körper schien nichts als eine fremde Masse, die dem Befehl meines Willens gehorchte, darüber hinaus aber nicht zu mir gehörte. Wenn ich mich abends entkleidete, vermied ich den Blick an mir herunter, ich benutzte nur selten den Spiegel, den Theodora mir geschenkt hatte.
Sie badete ausgiebig und schminkte sich anschließend wie Kleopatra. Kaum hatte sie sich in ein verführerisches Wesen mit schwarzumlegten Augen verwandelt, deren Ränder sich über die Schläfen zogen, bestand sie darauf, auch mich anzumalen. Nach getaner Arbeit hielt sie mir stolz einen ihrer kostbaren Spiegel vor: Ich sah eine männermordende Sphinx vor mir, eine erstarrte Tiermaske. Theodora wunderte sich über das, was ich in mir sah, und lachte mich aus.
»Du bist schön, weißt du das?« sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf, wagte nicht mehr, in den Spiegel zu schauen, weil es mich sonst vor Abscheu zerrissen hätte.
»Du hast schwarze, seidige Haare und Augen wie Kohle, und dein Gang ist so anmutig wie der einer Gazelle.«
»Im kaiserlichen Tiergarten meiner Heimat gab es Gazellen«, antwortete ich. »Wenn ich mich recht erinnere, staksten sie.«
Theodora lachte laut auf. »Aber sagt man nicht so?«
Ich schwieg und rieb mir die schwarzen Striche aus dem Gesicht.
»Denkst du manchmal an Sergius, den Vater deines Kindes?« fragte Theodora unvermittelt und schaute mich dabei ernst an.
Ich versuchte, ihre Frage zu überhören.
»Oder an das, was vorher geschehen ist?«
»Nein, nie«, antwortete ich barsch.
Sie glaubte mir nicht, das sah ich.
»Ich an deiner Stelle wäre von Rache besessen. Ich würde nicht eher ruhen … Verstehst du das?«
»Rachegefühle zerfressen dich selbst«, antwortete ich, noch immer ruppig. »Ich versuche, das Gute der Gegenwart zu sehen, meine Seele ruhig und gelassen zu halten, mich an den Kindern zu freuen.«
»Aber du hast doch längst die Rolle der Amme und Kinderfrau hinter dir gelassen, hast dich als weiblicher Procurator bewährt – wir könnten Martinus nach Hause schicken, weil wir jetzt dich haben.«
»Bitte nicht!« entfuhr es mir viel drängender, als ich beabsichtigte.
»Aha«, rief Theodora triumphierend. »Da hat sich doch jemand in dein Herz geschlichen.«
Als ich nicht antwortete, reichte sie mir einen Kamm und bat mich, ihre Haare auszukämmen und anschließend zu einem Kranz zu flechten.
»Er paßt nicht zu der Art, wie du dich geschminkt hast«, sagte ich.
»Du hast recht, ich sehe entstellt aus.« Sie winkte eine ihrer Kammerfrauen herbei. »Entferne mir diese Striche wieder aus dem Gesicht! Nimm dazu das Rosenöl, ich will gut duften.«
Als ich sie allein lassen wollte, um nach den Kindern zu schauen, bestand sie darauf, daß ich blieb. »Wie findest du den Bischof von Bologna?« Aus der befehlenden Herrin wurde unvermittelt eine junge Frau mit zitternder Neugier in der Stimme.
»Er wirkt sympathisch und liebenswürdig«, antwortete ich.
Da brach es zum zweiten Mal aus ihr heraus: Wie sie beide bei ihrer ersten Begegnung gewußt hätten, daß sie füreinander bestimmt seien, obwohl Johannes Bischof sei und sie verheiratet. Keine umständlichen Worte hätten die Sprache ihrer Körper verstellt, die Lust habe sie schier zum Wahnsinn getrieben. »Ich kann keine Rücksicht auf Theophylactus nehmen oder darauf, daß man mich als Hure verschreien wird. Es gibt etwas, das stärker ist als Vernunft und Vorsicht.«
Sie schaute mich forschend an und wünschte sich Bestätigung und Unterstützung, das spürte ich. Ich jedoch schwieg.
»Als ich Theophylactus kennenlernte, war es ähnlich. Damals waren wir jünger und gaben uns ununterbrochen der Liebe hin. Ich war sehr gelenkig, mußt du wissen, hatte meine Akrobatenkunst noch nicht verlernt. Sie machte Theophylactus ganz verrückt.« Selbstvergessen lachte sie.
Bei ihren Worten war in mir eine Abscheu gewachsen, die mir den Atem nahm. Ich fühlte Schmerzen im Unterleib, Krämpfe und Stiche, dann ein wütendes Brennen, und schloß die Augen. Doch nun tauchten die Gesichter meiner Peiniger auf, ihre blutunterlaufenen Augen, ihre stinkenden Zähne, die Zungen, die sich wie fette Wülste im aufgerissenen Rachen wälzten.
»Was ist mit dir?« hörte ich von ferne eine Stimme rufen.
Ich öffnete die Augen und schaute der erschrockenen Theodora ins Gesicht.
»Es geht schon«, flüsterte ich.
Sie befahl, mir einen Kräuteraufguß zu reichen, der Wärme und Leichtigkeit durch meine Glieder fließen ließ und mich beruhigte. Als ich nach einer Weile wieder meine Sinne beisammen hatte, fragte ich: »Was für eine Akrobatenkunst?«
Das Wort hatte sich in mir festgehakt, und ich fühlte mich in das Hippodrom von Konstantinopel zurückversetzt, umgeben von Tausenden von Menschen, die wie ein einziges Riesenwesen atmeten und stöhnten, aufsprangen und schrien, wenn sich dort unten die Rennpferde aus den Kehren drängten, wenn ein Wagen umkippte und die trommelnden Hufe der rasenden Tiere den Lenker zermalmten. Zwischen zwei Rennen vollführten Gaukler ihre Kunststücke, balancierten leicht bekleidete Frauen oder Kinder auf den Schultern der Männer, schlugen Salti, verbogen sich, bis ihre Körper auseinanderzubrechen drohten.
»Du glaubst, daß ich dem tuszischen Herrscherhaus entstamme?«
Ich schaute sie nur forschend an.
Theodora lachte leise. »Womöglich war meine Familie vor Urzeiten vornehm, damals, als sie aus dem byzantinischen Reich nach Italien zog, um zu helfen, das nach den Gotenkriegen verwüstete Land zu besiedeln und zu verwalten.«
»Du entstammst wie ich und Theophylactus einer byzantinischen Familie?« Ich fühlte mich verwirrt, weil ich zu ahnen begann, daß uns mehr verband, als ich bisher wußte. Natürlich war der Name Theodora griechischen Ursprungs, doch war er längst in Rom heimisch geworden, wie zahlreiche andere griechische Namen. Daher hatte ich mir nichts dabei gedacht.
»Mein Vater verwaltete einen großen Fronhof in der Nähe des Klosters Farfa. Einer seiner Vorfahren war dort eingesetzt worden. Meine Mutter stammte aus Sizilien, hatte aber vor den Sarazenen fliehen müssen.« Theodoras Miene wurde sehr ernst, ihre Stimme kalt und zugleich brüchig. »Als ich sieben Jahre alt war, wurde die Domäne von den Sarazenen überfallen. Ich spielte gerade mit anderen Kindern in der Nähe. Wir hatten an einem Berghang eine Höhle gefunden und uns dort ein kleines Lager eingerichtet – plötzlich brach diese Horde ein: Männergebrüll, aufwiehernde Pferde, kreischende Hühner und wildes Hundegebell. Ich hörte unsere Männer ihre Kinder rufen, Frauen schrien, und dann prasselten schon die ersten Flammen aus den Dächern. Ich starrte aus dem Eingang unserer Höhle nach unten. Der schwarze Rauch verdeckte immer wieder das zusammengetriebene Vieh, die durchbohrten Männer und die Frauen, die zu entkommen versuchten oder sich verzweifelt wehrten. Nein, ich kann das nicht schildern.
Wir Kinder blieben zitternd in unserer Höhle, jeden Augenblick konnten wir entdeckt werden, hörten nur noch das Tosen der Flammen und Schreie, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Es muß mein Vater gewesen sein, den sie folterten, damit er ihnen ein Versteck verrate. Vielleicht taten sie es auch nur aus Lust am Quälen, die Bestien …«
Theodora schwieg lange vor Erregung. Ihre Lippen und Wimpern zitterten, ihr Gesicht war bleich, die Augen wie tot.
»Du brauchst es nicht zu erzählen«, flüsterte ich und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich weiß, wovon du sprichst.«
»Irgendwann stürzte ein Mädchen aus der Höhle, alle anderen folgten ihm in Panik. Ich weiß nicht warum. Vielleicht hielten sie die Angst vor dem Entdecktwerden nicht mehr aus oder glaubten, an dem süßlich stinkenden Rauch zu ersticken. Sie liefen direkt in ihr Verderben. Nur ich blieb hocken. Es war meine Rettung. Die Sarazenen waren so mit dem Einsammeln der Beute beschäftigt, daß sie nicht darauf achteten, woher die Kinder plötzlich auftauchten. Sie störten nur mit ihrem irren Geschrei und wurden wie tollwütige Hunde erschlagen …«
Erneut versagte Theodora die Stimme, und sie schwieg lange. Schließlich fuhr sie leise fort: »Ich blieb in meiner Höhle. Niemand entdeckte mich. Als ich vorsichtig herausschaute, sah ich die Sarazenen mit dem Vieh davonziehen. Noch immer loderten die Flammen in den Himmel, bis die Balken einbrachen und die Häuser endgültig niedergebrannt waren. Als es zu dämmern begann, wagte ich mich aus meinem Versteck. Was ich sah, hat sich mir wie mit einem glühenden Eisen eingebrannt. Keiner lebte mehr bis auf den struppigen Hund eines Schäfers, den ich gut kannte. Winselnd kam er zu mir gekrochen, als ich mitten unter den verstümmelten, verkohlten Leichen hockte, halb tot vor Entsetzen. Er rettete mir das Leben, weil er mich immer wieder mit seiner kalten Schnauze anstieß und mich aus meiner Erstarrung holte. Ich nannte ihn Jesus, wie den Erlöser.
Als die Nacht hereinbrach, suchte ich wieder Zuflucht in meiner Höhle, schlaflos, zitternd, an Jesus geklammert. Im ersten Licht des anbrechenden Morgens begrub ich von meinen Eltern, was von ihnen übriggeblieben war. Ich muß auch in die angrenzenden Wälder gezogen sein, um Beeren und Früchte zu sammeln. Wie lange ich im verbrannten Dorf und in der Höhle blieb, weiß ich nicht mehr. Einmal hörte ich Stimmen und rührte mich nicht, hielt Jesus die Schnauze zu. Es waren wahrscheinlich Mönche vom Kloster Farfa, das die Sarazenen nicht hatten verwüsten können, weil seine Mauern zu hoch waren. Ich glaube, sie beerdigten die Leichenteile, die noch überall verstreut lagen.
Als ich kaum mehr stehen konnte vor Schwäche, nachdem ich tagelang so gut wie nichts gegessen hatte, wurde ich von einer Gauklertruppe entdeckt, die nach Rom zog. Einige ihrer Männer hatten sich angeschlichen und Jesus mit einem Fleischstückchen geködert, so daß er nicht bellte. Ich wurde eine von ihnen, ein Gauklerkind, eine Akrobatin, die auf den Männerturm kletterte, sich verbog und andere unsinnige Dinge tat, über die die Zuschauer staunten.«
Als sie nicht mehr weitererzählte, fragte ich: »Und wie hast du Theophylactus kennengelernt?«
»Er entdeckte mich auf dem Campo dei Fiori. Ich war nun älter, mußte aber noch immer auf der Spitze der Männerpyramide stehen. Beim Aufstieg war ich einmal unaufmerksam; ich rutschte ab, klammerte mich an einem Arm fest und brachte die ganze Pyramide ins Einstürzen. Einige unserer Männer brachen sich die Knochen, andere kamen glimpflicher davon; ich wurde von ihnen an Ort und Stelle fürchterlich verprügelt. Das Publikum johlte vor Begeisterung – bis mich Theophylactus rettete. Wie ein Gott tauchte er in seiner Größe auf, warf den Männern meiner Truppe ein paar Goldstücke zu, rief: ›Ich kauf sie euch ab!‹ und zerrte mich durch die höhnisch klatschende Menschenmenge, halb nackt, wie ich war, mit meinen blauen Flecken, Schürfwunden und einem verstauchten Knöchel.«
»Und dann hat er dich geheiratet? Das klingt ja wie ein Märchen.«
»Ja, es war so ähnlich wie im Märchen. Aber er hat mich erst später geheiratet, obwohl er mich bereits am ersten Abend in sein Bett zog. Meine blauen Flecken schmerzten schrecklich.«
»Jetzt beginne ich zu verstehen, warum du mich aus den Klauen des Sergius gerettet hast.«
»Wir könnten fast Schwestern sein.« Theodora lachte nun, und ihr Lachen klang so befreiend, daß ich einfiel, um nicht weinen zu müssen. Wir umarmten uns, bis Theophylactus im Türrahmen auftauchte, die Kinder an der Hand. Er sah müde und zerquält aus, die Kinder jedoch strahlten und stürzten sich juchzend auf mich. Alles ist gut geworden, dachte ich, es gibt trotz allem einen gerechten Gott. Oder ein Schicksal, das besänftigt.
Als ich, Alexandros an der Hand, Theophylactus und Theodora mit den Mädchen allein ließ, warf ich einen kurzen Blick auf meine Retterin. Ihr Antlitz lächelte in befreitem Schmerz und in Erwartungsglück: Doch dieses Lächeln verbarg etwas, und ich ahnte, daß sie mir noch nicht alles erzählt hatte.
Mittlerweile habe ich fast völlig das Gefühl für die gegenwärtige Zeit verloren. Werde ich müde, lege ich die Feder beiseite oder beobachte die Ratten, die uns regelmäßig besuchen und sich über die Essensreste freuen. In unserem neuen Wärter haben sie keinen Freund. Bei seinem ersten Besuch brach er einer besonders fetten mit einem blitzschnellen Tritt das Genick und schob sie dann wortlos mit dem Fuß aus dem Verlies. Anschließend brachte er mir einen Hocker, dazu zwei Böcke mit einer Platte, so daß ich jetzt, fast wie ein Mönch in seinem Scriptorium, vor dem langsam wachsenden Stapel des beschriebenen Pergaments sitze.
Gelegentlich bereiten mir meine Augen Schwierigkeiten: Schreibe ich lange, beginnen sie zu schmerzen, und die Buchstaben verschwimmen. Überhaupt wundere ich mich, daß ich noch so gut sehen kann: Wer so alt wird wie ich, erkennt seine Mitmenschen meist nur schlecht, und lesen gelingt ihm ganz selten, so er es überhaupt gelernt hat.
Marozia, die fast zwei Jahrzehnte jünger ist als ich, sieht ebenfalls recht gut, doch wird sie seit neuestem von Schmerzen im Unterleib heimgesucht, die aus ihr ein zusammengekrümmtes, wimmerndes Bündel machen – was mich sehr beunruhigt. Zumindest ihr Husten mit dem blutigen Auswurf hat sich nicht verschlimmert.
Sie glaubt nicht mehr an eine Befreiung, obwohl sich die Chancen zu vergrößern scheinen. Alberico hat offensichtlich etwas mit uns vor oder will seine Mutter noch intensiver bestrafen – sonst hätte er uns längst verhungern oder vergiften lassen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Das Essen wird immer besser, die Reinlichkeit ebenso, unser neuer Wärter – er heißt im übrigen Anastasius und könnte ein ehemaliger Priester sein, könnte sogar aus dem Osten stammen – behandelt uns mit Freundlichkeit und Ehrerbietung.
Gern bleibt er vor meinem Losungs- und Lieblingswort αταραξία stehen, nickt verständnisvoll, lächelt sogar schmerzhaft, bevor er sich ein letztes Mal in unserer Zelle umschaut, als wollte er den Glanz des blühenden Schimmels prüfen. Unaufgefordert eröffnet er auch kleine Schwätzchen mit uns. Das heißt: mit mir, denn Marozia, obwohl von ihm mit erlauchte Mutter unseres Fürsten oder verehrte Papstmutter angesprochen, reagiert nicht auf seine Erkundigung nach ihrem Befinden.
Gestern sprach er mit sanfter Stimme von dem milden Licht des schönen Herbsttags über dem Tiber und von den kostbaren Kleiderstoffen, welche die byzantinischen Gesandten trügen, die sich in ihrem Hospiz ganz in der Nähe des hadrianischen Grabmals niedergelassen hätten. »Es geht wohl um die Eheanbahnung mit einer kaiserlichen Prinzessin«, fuhr er nach einer bedeutsamen Pause fort. Als wir nicht reagierten, warf er einen begehrlichen Blick auf den Pergamentstapel, den ich zur Sicherheit an mich nahm, wobei ich so tat, als wollte ich ihn ordentlich zusammenlegen.
»Man könnte denken, du schreibst ein ganzes Epos«, sagte er freundlich.
»Willst du mich aushorchen, Anastasius?« erwiderte ich, ebenso freundlich. »Erzähl mir lieber etwas von der byzantinischen Gesandtschaft.«
Mit feinem Lächeln zog er ab.
Marozia hatte sich nicht gerührt und hockte mit gefalteten Händen zusammengekauert auf ihrer Pritsche. Als ich ihr meinen letzten Eintrag vorlesen wollte, in dem die Sprache auf Bischof Johannes kommt, unterbrach sie mich mit einer hektischen Bewegung und erklärte, sie habe genug gehört, an den Rest meiner Geschichte erinnere sie sich selbst. Anschließend betete sie.
Ich weiß natürlich, daß sich meine Erinnerungen nun einer Zeit nähern, die Marozia eine schwere Prüfung auferlegte, ich weiß auch, daß sie auf die Namen Sergius und Johannes mit Abwehr, Haß und schuldbewußter Trauer reagieren wird. Doch angesichts der Lage, in der wir uns befinden, sollte man Frieden mit seiner Vergangenheit schließen und sich auf die ewige Reise vorbereiten. Ändern läßt sich nichts mehr, und ob man durch Beten Buße und Sündenerlaß erlangt, ist ungewiß, obwohl unsere christlichen Priester uns dies weismachen wollen. Wird sich der oberste Richter im Himmel mit bloßen Worten und wohlfeilen Selbstanklagen abspeisen lassen? Wenn er sich überhaupt mit unseren Sünden abgibt, dann werden wir auf seine Gnade hoffen müssen. Ist nicht sein Sohn am Kreuz gestorben, damit wir erlöst werden können?
Marozia sieht dies alles anders. Sie behauptet, das fensterlose Dunkel unserer Zelle sei die Vorstufe des Fegefeuers, und fastet seit Tagen oder Wochen. Ja, sie spricht von sich sogar als einer Märtyrerin, die nun bereit sei, endlose Dunkelheit und brennende Qualen auf sich zu nehmen, um am Jüngsten Tag als Heilige dem Kerkergrab zu entsteigen.
»Waren nicht die größten Heiligen einst große Sünder?« fragte sie mich mit einem frommen Augenaufschlag, den ich nicht von ihr kannte und der mich beinahe lachen ließ.
»An wen denkst du?«
Eine Weile überlegte sie, um schließlich zu antworten: »An Maria Magdalena.«
Ich erwiderte nichts, weil ich mit ihr keine religiöse Debatte führen wollte. Bisher hatten wir uns nicht übermäßig für die Bibel, für Heilige und religiöse Fragen interessiert – warum dann jetzt? Weil unser Ende bevorsteht? Ich versuche, mich an das zu halten, was einst Demokrit erkannte und Epikur lehrte. Unsere Seele besteht wie unser Leib aus Atomen, die sich im Tod zerstreuen, so daß wir ihn nicht mehr empfinden. Wir wissen nicht, ob sich unsere Seelenatome in neuen Gestalten wiederfinden, in einer anderen, besseren Welt. Ich möchte glauben, daß mit dem Tod ein tiefer Frieden einkehrt, eine gnadenreiche Erlösung, ein Aufgehen in dem göttlichen Wesen, das vielleicht nichts anderes ist als die Summe aller Atome.
Aber natürlich betrachten die Kirche und mit ihr alle Priester dies als eine böse Ketzerei, als ungläubiges Gedankengut aus einer noch nicht erleuchteten Zeit; sie beschwören die lodernden Flammen des Fegefeuers und die unaussprechlichen Qualen der Hölle, sie sprechen vom Jüngsten Gericht und dem höchsten Richter, von Sünden, Sühne und Büßen, von Zerknirschung oder ewiger Verdammnis …
»An Maria Magdalena«, wiederholte Marozia, »die dem Herrn die Füße salbte.«
Mir Marozia als eine Heilige vorzustellen reizte mich erneut zum Lachen. Doch unterdrückte ich es, weil ich sie nicht verletzten wollte. Immerhin war sie auf den Namen Marozia getauft, auf Mariuccia, wie das Volk sagt, Mariechen. Und wenn Bußgebete und Fasten ihr über die Qual der Kerkerhaft hinweghelfen, dachte ich, soll sie sich ruhig als Märtyrerin fühlen.
»Wenn uns Anastasius das nächste Mal besucht, müssen wir versuchen, den Spieß herumzudrehen, und ihn aushorchen«, sagte ich, um auf ein naheliegenderes Thema auszuweichen.
Sie schaute mich erneut mit diesem frommen Augenaufschlag an und hauchte: »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt, sagt der Herr.«
»Da hast du recht«, antwortete ich. »Geliebt hast du wirklich viel.« Sie überhörte den Spott. »Wie dem auch sei«, fuhr ich fort, »ich denke, Alberico hat etwas mit uns vor.«
»Er wird mich töten lassen«, sagte sie dumpf und wandte sich ab. »Laß mich beten!«
Kopfschüttelnd beugte ich mich wieder über mein Pergament, strich es glatt, rückte die Kerzen näher heran, spitzte die Feder, las mir noch einmal meine letzten Eintragung durch.
Die Jahre der Ruhe vor dem Sturm hatten in meiner Erinnerung an Farbe gewonnen, ich hörte wieder die Stimmen, sah die Bilder der Zerstörung, fühlte aber auch die Zufriedenheit, die mich erfüllte. Am wenigsten sehe ich seltsamerweise die Kinder der damaligen Jahre vor mir: Sie wuchsen heran, blieben gesund, lernten eifrig, erfreuten uns täglich durch ihr fröhliches Lachen und trieben ins Vergessen.
Vielleicht hängt dies damit zusammen, daß ich mich weniger um sie als um den Aufstieg des Hauses Theophylactus kümmerte. Meine Vorschläge waren auf fruchtbaren Boden gefallen, sogar Theodora hatte sich von ihnen überzeugen und von meiner Begeisterung anstecken lassen. Bischof Johannes war mittlerweile wieder nach Bologna abgereist, Theophylactus unterdrückte seine Eifersucht erfolgreich – zumindest für eine Weile – und kam mit seiner Gemahlin überein, daß beide unter allen Umständen an einem Strang ziehen sollten: ihren Einfluß zu vergrößern, den Reichtum zu vermehren und die Herrschaft über Rom zu erlangen. Markgraf Alberich solle ihnen dabei zur Seite stehen, und auch Sergius müsse, unterstützt von seiner Anhängerschaft, unbedingt die Stellung in Rom besetzen, die er seit langem anstrebe. Beide Männer seien auf jeden Fall als Freunde zu behalten. Darüber hinaus waren sie sich mit mir einig, daß die Sarazenen im Süden zurückgedrängt werden müßten und daß den Ungarn im Norden der Weg zu versperren sei, weil das gelobte italische Land andernfalls zwischen Skylla und Charybdis zerschmettert werde.
Das Geld, das man bisher von Aaron erhalten hatte, war noch nicht aufgebraucht, doch reichte es nicht, den Bau des Palasts auf dem Aventin in Angriff zu nehmen. Erneut suchten wir den Geldleiher auf. Aaron schien Theophylactus' Aufforderung, ihm weiteres Geld zu leihen, zu überhören und fragte nach dem Goldschatz, mit dessen Hilfe man den Palast habe bauen wollen. Wir alle, Theophylactus und Theodora, Alberich, Martinus und ich, standen mit ihm in seinem verstaubten Geschäftszimmer im ersten Stock des stark gesicherten Hausturms, und es entstand ein gespanntes Schweigen.
Theophylactus, sich räuspernd, ging nicht auf die Frage ein, sondern erkundigte sich nach dem Ort, an dem Aaron das Kreuz des Belisar aufbewahrt habe. »Wir müssen es schließlich im Falle von Plünderungen in Sicherheit bringen können. Und wer garantiert mir, daß seine Existenz ein Geheimnis bleibt? Von Generation zu Generation wurde es vererbt, in ihm liegt der Segen meines Geschlechts – mich von ihm auf Dauer zu trennen läge außerhalb meiner Vorstellung und würde den Segen in einen Fluch verwandeln.«
Aaron atmete tief ein. »Illustrissimus, verehrter Konsul und Senator, ich gebe Euch Brief und Siegel und dazu das Ehrenwort eines Mannes, dessen untadeliger Ruf über jeden Verdacht und Zweifel erhaben ist, wie Ihr Euch auf allen Meeren wie auf allen Wegen, in Antiochia, Konstantinopel und Venedig vergewissern könnt.«
»Was gilt schon das Ehrenwort eines Juden, dessen Volk unseren Heiland ans Kreuz genagelt hat«, fuhr ihn Alberich an. »Wenn du deine Zunge nicht hüten kannst, werde ich sie dir eigenhändig herausschneiden.«
Aaron entgegnete, unbeeindruckt von der Drohung und mit regelrecht samtener Stimme: »Verschwiegenheit ist die Seele des Geldverleihens, Vertragstreue läßt die Zinsen sinken, während Rechtlosigkeit und Gewalt sie in die Höhe treiben. Sorgt dafür, lieber Markgraf von Spoleto, daß die Handwerker ungestört eure Mühlen bauen können und die Bäcker ihr Mehl mahlen, daß Weizen wachsen kann und nach Rom gebracht wird, die Straßen in der Stadt sicherer werden, vom Umland ganz zu schweigen – und uns allen wird der Segen des Herrn gewiß sein, den das Goldkreuz des Belisar so blitzend und funkelnd verspricht.«
Alberich wollte etwas erwidern, doch Theophylactus hielt ihn zurück, und ich erklärte in die entstehende Unruhe hinein: »Unser gemeinsames Interesse ist der beste Garant für das Gelingen unserer Ziele.«
Auflachend rief Alberich: »Unser gemeinsames Interesse! Das Wort einer Sklavin aus einem Krämergeschlecht!«
»Der Goldschatz!« Aaron brachte das Gespräch zurück auf die finanziellen Grundlagen der Planung und die Sicherheiten, die er erwartete. »Ist er womöglich nur ein Phantom?«
Auch ich hatte mich dies damals des öfteren gefragt. Insbesondere Theodora ließ deutlich innere Widerstände spüren, wenn das Gespräch ihren Schatz umkreiste. Nicht einmal mir hatte sie bisher verraten, wo er versteckt war und woher sie ihn besaß.
»Gut«, sagte sie schließlich, »damit ihr mir glaubt und wir den Bau auf dem Aventin beginnen können, werde ich hundert Goldstücke als Beweis und Anzahlung holen.«
Eine von Aaron vorbereitete Urkunde über zusätzliche Darlehen wurde schließlich nach Feilschen über Zinssätze unterzeichnet. Bedingung für die Auszahlung war der Nachweis der hundert Goldstücke.
Und tatsächlich, am folgenden Tag forderte mich Theodora während der neunten Stunde auf, ihr unauffällig zu folgen. Wir begaben uns in einen der unterirdischen Vorratsräume, in dem in großen, bauchigen Amphoren Wein und Öl gelagert wurde. Zu meiner Überraschung band mir Theodora die Augen zu. Ich hörte anschließend ein Geräusch, als würde ein schweres Portal geöffnet, und wurde von ihr wie ein Blinde in eine dumpfe Kühle geleitet.
»Warum vertraust du mir nicht?« fragte ich, als ich unsicher vor mich hin tappte.
Theodora nahm mir die Binde ab. Sie hielt ein Öllicht in der Hand, das einen in die Tiefe führenden Gang schwach beleuchtete. Mir winkend ging sie schweigend voran. Nach einer Weile teilte sich der Gang, traf auf eine Art unterirdische Halle mit einem Steinaltar, auf dessen Vorderseite ein Stieropfer eingemeißelt war. Von hier zweigten mehrere Stollen ab.
»Bist du sicher, daß du zurückfindest?« wagte ich Theodora zu fragen.
Sie reagierte nicht.
»Wer sich in diesem Labyrinth verläuft, kehrt nie wieder ins Leben zurück.«
»Das ist richtig«, erwiderte Theodora kalt und schritt schneller voran.
Ich hörte ein entferntes Plätschern und Fiepen von Ratten.
»Die cloaca maxima.« Theodora wies vage in eine seitliche Richtung.
Verwesungsgeruch umfing uns nun. Hier waren wohl auch noch andere Menschen ihren geheimen Geschäften nachgegangen, hatten sich verirrt und waren wahrscheinlich verhungert.
Während wir voranschritten, öffneten sich immer wieder neue Gänge, bis wir schließlich eine Art Raum betraten, an dessen Wänden ich ausgehöhlte Nischen entdeckte, und ich wußte, daß wir uns jenseits der Aurelianischen Mauer befanden, in Roms Katakomben, in denen die Urchristen ihre Toten beerdigt hatten. Von allen Seiten grinsten mich Totenköpfe an, neben ihnen stapelten sich Gebeine.
Theodora ließ sich nicht aufhalten. Nach einer Weile erreichten wir eine weitere Beinhalle voller Knochen und Schädel. Konzentriert schritt sie die Wände ab, hielt dabei ihre Hand über die Skelette in den Grabnischen. Bevor ich mich's versah, griff sie nach einem Totenkopf, der ziemlich schwer zu sein schien. Ich schaute genauer hin: Hinter den leeren Augenlöchern entdeckte ich ein graues Tuch, und bevor ich noch etwas sagen oder tun konnte, schlug Theodora den Schädel gegen die Wand. Er zerbrach in mehrere Teile. Zugleich hörte ich ein Klimpern. Sie reichte mir einen Beutel, hob die Teile des Schädels auf, legte sie an ihre alte Stelle zurück und winkte mir, zu folgen.
Schweigend betrat sie einen anderen Gang als den, durch den wir gekommen waren. Als ich sie darauf hinwies, nickte sie nur bestätigend. Nach mehreren Abzweigungen wurden jedoch ihre Schritte langsamer, und sie mußte sich an die Wand lehnen. Mich durchfuhr ein Hitzestrahl der Angst. Wir werden sterben, dachte ich.
Auf Theodoras Stirn trat Schweiß. »Es geht schon wieder«, flüsterte sie und wankte weiter.
Als ich sie zu stützen versuchte, fuhr sie mich an: »Laß das! Trag lieber das Gold!« Sie hörte nicht auf zu wanken und mußte sich schließlich in den Staub setzen. Ihre Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Ich schüttelte sie, und sie kam wieder zu sich.
»Wirst du den Ausgang finden?« fragte ich voller Angst. »In dieser Unterwelt möchte ich nicht sterben!«
Sie schaute mich mit einem fast erloschenen Blick an.
»Vater, was haben sie aus dir gemacht?« flüsterte sie. »Mutter, warum finde ich dich nicht?«
»Ich bin Aglaia!« rief ich.
»Euer Schweigen rettete mir das Leben«, stieß sie kurzatmig aus, beschwörend, flehend. »Sie haben den Schatz nicht gefunden. Noch im Tod werde ich euch dankbar sein.«
Erneut verdrehte sie die Augen und verstummte.
Es gelang mir damals, Theodora wieder ins Leben zurückzurufen, wir fanden in die Via Lata zurück, und die ersten hundert Goldmünzen überzeugten nicht nur Aaron von der Existenz des Goldschatzes, so daß er bereit war, seine Darlehen auszuzahlen, sie erzeugten auch ein Gerücht von dem bisher geheimen, jetzt aber offenkundigen grenzenlosen Reichtum unseres Hauses. Dieses Gerücht verbreitete sich in der Stadt, wie mir der hervorragend informierte Martinus berichtete, gewann weitere Nahrung, als der Palast auf dem Aventin aus seinen Fundamenten wuchs, als man die Mühlen am Tiberufer instandsetzte und gleich nebenan Bäckereien baute. Es blieb auch nicht verborgen, daß wieder Getreide sowie andere Naturalabgaben und Vieh aus Latium zum Haus des Theophylactus gebracht wurden. Die Ölpressen begannen zu arbeiten, die Mühlen zu mahlen, die ersten Brote wurden gebacken und kostenlos unter die Armen verteilt, die Müller und Bäcker stellten sich unter den Schutz des Senators.
Man hörte davon, daß eine Truppe des Alberich von Spoleto täglich die Straßen nach Latium abreite und jedem Räuber, den sie erwischte, ohne Umschweife zuerst die Hand und dann den Kopf abschlage. Die Via Francigena, die Pilgerstraße, und ihre Hospize wurden bis nach Tuszien hinein gesichert, und man erzählte sich, der Markgraf von Tuszien stehe in engem Kontakt mit Theophylactus und Alberich, und auch der verbannte Diaconus Sergius sei in Rom gesichtet worden.
Neugierige pilgerten zur Baustelle auf den Aventin und berichteten von dem raschen Fortschritt des Palasts, was zum einen Teil darauf beruhte, daß die Materialien, insbesondere der Marmor und die Säulen, aus alten römischen Ruinen herausgebrochen wurden, zum anderen darauf, daß die Handwerker pünktlich ihren Lohn erhielten, in Denaren wie Lebensmitteln – was ungewöhnlich war und auffallend viele fleißige Männer herbeiströmen ließ. Auch die Schutztruppe des Alberich wuchs, je erfolgreicher sie die Sicherheit in Stadt und Land verbesserte. Daß sie für ihre Leistung einen Beitrag von den Geschützten verlangte, war zwar ebenfalls ungewöhnlich, jedoch einsichtig. Sogar das Heer der Huren, die den Pilgern wie Klerikern zu Diensten war, stellte weniger Gewalt auf den Straßen der Stadt fest sowie eine zunehmende Zahlbereitschaft der Kunden. Mancher Soldat aus Alberichs Truppe wurde kostenlos bedient, pries die Willfährigkeit, Geschicklichkeit und Sauberkeit der jungen Frau und durfte schließlich teilhaben am Verdienst seines Schützlings.
Es dauerte kein Jahr, da spürte auch der neue Papst Benedictus IV., noch immer ein Mann aus der Fraktion der Formosus-Anhänger, und mit ihm die gesamte Kurie eine Entwicklung, die dem Vatikan zwar mehr Einkünfte brachte, aber zugleich weniger Anhänger unter den wichtigen Adelsfamilien der Stadt. Eins ließ sich nicht leugnen: Senator Theophylactus war ein richtiger Konsul im altrömischen Sinne geworden und hatte die Gesetzlosigkeit in der Stadt spürbar abnehmen lassen. Die Folgen: klingende Münzen nicht nur in den Händen von Herbergsbesitzern und Huren, sondern auch in den Opferstöcken. Die Summe der Bußgelder stieg, die vatikanischen Truhen füllten sich. Daß Theophylactus vor den Toren der Stadt eigene Zollstellen errichtete, wurde von der päpstlichen Kanzlei zuerst stillschweigend geduldet und schließlich durch Ausstellung von Privilegien-Urkunden abgesegnet: Sie dienten der Sicherheit der Pilger- und Warenströme, so ließ Alberich als Theophylactus' Beauftragter mitteilen.
Martinus und ich hatten damals viel zu tun, den Aufbau und die Absicherung der neuen Verhältnisse zu organisieren und zu kontrollieren. Wir kamen wöchentlich mit Aaron zusammen, der sein Geschäfts- und Wohnhaus an der Engelsbrücke erweitert sowie ein angrenzendes Gebäude samt Garten erworben hatte und dessen Ratschläge und Hinweise uns eine unersetzliche Hilfe waren. Er erweiterte unsere Kenntnisse über die weite Welt des Handels und die Gesetze des Wirtschaftens, er erläuterte uns einmal mehr, warum es sinnvoll und richtig sei, trotz des christlichen Verbots Zinsen zu nehmen, denn Geld habe die wundersame Eigenschaft, sich selbst zu vermehren, so es richtig eingesetzt und nicht einfach nur verpraßt werde. Aaron informierte uns auch über die Kämpfe der Großen in Italien, über Kriege und Verschwörungen bis weit über die Alpen und das Meer hinaus.
»Wissen ist die Grundlage für Wohlergehen und Reichtum«, pflegte er zu sagen, wenn er uns verabschiedete, »dazu die Herrschaft des Rechts und, nicht zuletzt, die Notwendigkeit der Toleranz.«
Nicht nur in Rom ging es aufwärts, sogar der Aufbau der neuen Anlagen auf den Höhen der Albaner Berge und in der Sabina zeigte Fortschritte. Die Menschen wohnten jetzt in Dörfern zusammen, deren Befestigung sie selber errichten mußten. Dafür überließ man ihnen einen Teil des Landes zur privaten Bewirtschaftung. Der andere Teil gehörte dem Grundherrn, in unserem Fall also Theophylactus, der von einem Verwalter vor Ort vertreten wurde. Für diesen Teil mußten die Bauern ebenfalls ihre Arbeit zur Verfügung stellen. Da ihr Grundherr ihnen Schutz versprach, sogar eine kleine Wachmannschaft in einer steinernen Burganlage stationierte – die die Gemeinschaft natürlich zu unterhalten hatte –, akzeptierten die Bauern die Fronarbeiten und zusätzlichen Abgaben, zumal sie klar geregelt waren und ihnen letztendlich einen Vorteil verschafften.
Trotz der anhaltenden Bedrohung durch die Sarazenen strömten Menschen, die zuvor nach Rom geflüchtet waren und dort durch Bettelei und räuberisches Unwesen ihr Überleben gesichert hatten, wieder zurück aufs Land. Auch aus anderen Landesteilen schlugen sich verarmte Bauernfamilien bis zu den ersten befestigten Lagern durch, wo sie Arbeit fanden.
Während Martinus und ich unseren wirtschaftlichen Aufstieg ausbauten und auf eine sichere Grundlage stellten, sorgten Theophylactus und Alberich für die politische Festigung der neugewonnenen Stellung. Die alten Freunde aus den adligen Geschlechtern schauten zwar nicht ohne Neid auf Theophylactus' Erfolg und den zwangsläufig sich einstellenden Machtzuwachs, aber sie versprachen sich davon auch eine eigene Zunahme an Einfluß. Einige ahmten sogar seine wirtschaftlichen Maßnahmen nach.
Die Gegner aus der Formosus-Fraktion, die mit dem Teutonen Arnulf und seinem langobardischen Helfershelfer Berengar paktiert und bei der letzten Papstwahl noch immer die Mehrheit gestellt hatten, erkannten, daß der Wind des Wandels ihnen heftiger ins Gesicht blies. Theophylactus war weder durch eine spitze Klinge noch durch wirksames Gift aus der Welt zu schaffen, im Gegenteil, Alberichs Männer beherrschten mit Hilfe ihrer Schwerter die Straßen der Stadt und konnten jederzeit die Adelsvillen stürmen, die vatikanischen Gebäude oder das Patriarchum im Lateran besetzen. Weil dies so war, akzeptierte mancher der Formosus-Anhänger, der vor Jahren noch Sergius ins Exil getrieben hatte, die neuen Machtverhältnisse und wechselte die Seiten. Andere versprachen wohlwollende Neutralität.
Auch Papst Benedictus konnte nicht leugnen, daß die Horden der Ungarn Berengar, den neuen Anwärter auf den Kaisertitel, vernichtend geschlagen hatten, so daß seine Macht und sein Königsheil vorerst zerbrochen war. Die Tuszier jedoch, die zusammen mit Berengars Gegnern im Norden Italiens den Provencalen Ludwig ins Land gerufen hatten und die seit langem mit Theophylactus und Alberich paktierten, geleiteten ihre Galionsfigur in die ewige Stadt, wo er von Theophylactus und seinen Anhängern als der zukünftige Kaiser mit großen Ehren empfangen wurde. Papst Benedictus beugte sich den Machtverhältnissen und krönte in der Basilika des heiligen Petrus während einer weihrauchgeschwängerten, brokatschweren, seidendurchrauschten und waffenblitzenden Zeremonie Ludwig zum Kaiser des römischen Reichs.
Alle wichtigen Familien nahmen an der Feier teil, auch die Frauen, sogar manche Diener und Sklaven wie Martinus und ich. Ich hatte die Kinder zu beaufsichtigen. Alexandros beobachtete das Geschehen mit neugierigen Augen, und Marozia zeigte sich begeistert von dem feierlichen Prunk. Sie wolle auch einmal gekrönt und gesalbt werden, flüsterte sie mir zu, entweder zur Päpstin oder zur Kaiserin.
»Päpstin?« flüsterte ich zurück und mußte ein Lachen unterdrücken. »Das wird nicht möglich sein, wie du weißt.«
Marozia zog eine Schnute.
»Aber vielleicht kannst du ja Kaiserin werden.«
»O ja!« rief sie so laut, daß sich einige Teilnehmer der Feier umdrehten. Marozia lächelte ihnen zu und neigte huldvoll ihr Haupt, als wäre sie bereits Kaiserin, und hob ihre Hand, als wollte sie den päpstlichen Segen erteilen.
In unserer Nähe entdeckte ich, nicht ohne Unbehagen, Sergius, den Vater meines Sohnes. Als Verbannter hatte er offensichtlich nicht gewagt, unter den Kardinälen und Bischöfen im Chor Platz zu nehmen, sondern saß neben Alberich und dessen Hauptleuten und mußte sich wohl einen der berüchtigten Papstwitze anhören. Er schien seine Exilierung, vermutlich im Vertrauen auf Alberichs Schwert, beenden zu wollen, daher verzog er seine Lippen zu einem gequälten Lächeln.
Im Gegensatz zu Sergius saß der Bischof von Bologna im Pulk der von Norden angereisten kirchlichen Würdenträger mit heiterer, regelrecht glücklicher Miene. Ich warf einen Blick auf Theodora, die in der ersten Reihe Platz genommen hatte, kerzengerade unter ihrem perlenbestickten Schleier und der seidenen Stola. Obwohl ich von meinem Sitz aus ihre Augen nicht erkennen konnte, entging mir nicht, daß sie immer wieder verliebt nach dem Bischof schaute.
Die Wahl des Kaisers bewies sogar dem verstocktesten Formosus-Anhänger, daß in Rom eine neue Zeit angebrochen war. Während der folgenden zwei Jahre des Pontifikats von Benedictus wurde der Palast auf dem Aventin so weit vollendet, daß unsere gesamte, stark gewachsene familia dort einziehen konnte. Unser altes Haus in der Via Lata wurde eine Kanzlei, von der aus die verschiedenartigen Unternehmungen, an denen Theophylactus beteiligt war, geleitet wurden. Zugleich richtete sich Alberich mit der Führung seiner Stadtmiliz dort ein.
Sergius war nach der Krönung mit Kaiser Ludwig und dem Markgrafen von Tuszien nach Lucca gezogen, wurde aber bald darauf abermals in Rom gesichtet, stets in Begleitung von Alberich, häufig auf dem Weg zum Aventin, zu dem prächtigen neuen Palast, der im Glanz edlen Marmors erstrahlte, in dem schlanke Säulen Innenhöfe rahmten, massige Säulen Dächer und Gesimse trugen, skulpturengeschmückte Friese und reichgeschmückte Kassettendecken.
Nicht nur Sergius verkehrte in unserem neuen weitläufigen Zuhause – wobei er mir und unserem Sohn, wenn er sich unbeobachtet fühlte, einen seiner verschatteten Blicke zuwarf –, auch Bischof Johannes, der nach der Kaiserkrönung offensichtlich viel im Vatikan zu erledigen hatte und häufig der Gemahlin des Konsuls seine Aufwartung machte.
Theodora war noch immer heftig in ihn verliebt und konnte ihre Gefühle selbst in Anwesenheit ihres Gatten kaum zügeln. Theophylactus war von seiner neuen Machtstellung derartig in Beschlag genommen, daß er kaum Zeit für anstrengende Eifersuchtsattacken aufbringen konnte. Er schien sich mit der Tatsache abgefunden zu haben, daß die kleine Akrobatin, die er gerettet und später geheiratet hatte, sich einem Liebhaber hingab.
Gelegentlich fragte ich mich, warum Theophylactus nicht einfach Alberich – oder einen gedungenen Mörder aus Roms Mietskasernen – beauftragte, seinen Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen. Ich denke heute, daß er Theodoras Rache fürchtete. Ein anderer Grund mag darin gelegen haben, daß sie ihn zwar unverblümt betrog, wenn Bischof Johannes in Rom weilte, daß sie sich aber zu Zeiten, in denen der Bischof in Bologna war, durchaus nicht zierte, sich ihrem Manne hinzugeben. Und daraus wurden keine langweiligen Augenblicke routinierter Liebesverschmelzung, sondern Ausbrüche angestrengter, womöglich sogar neuentdeckter Akrobatik.
Ich war mit der Kontrolle der wirtschaftlichen Unternehmungen derartig angefüllt, daß ich mich wenig um unsere Kinder kümmern konnte. Die beiden Mädchen hörten auf zu lernen, schminkten sich dafür häufig und tanzten voreinander und vor Alexandros, der seine endlose Lektüre beenden und sie bewundern mußte. Wenn Marozia sich vor ihm drehte und ihre Hüften schwenkte, wurde sein Blick schwer vor Sehnsucht, und in ihrem Blick lag eine unverhohlene Aufforderung, sie zu begehren – obwohl sie beide in einem Alter waren, in dem die fleischliche Lust erst zu knospen begann.
Eines Tages – es war heller, lichtdurchfluteter Nachmittag – hörte ich Theodora in ihren Gemächern Johannes empfangen. Kein Taubengurren konnte übertönen, was sich in lärmender Leidenschaft abspielte. Ich war erst darauf aufmerksam geworden, als ich Marozia suchte und sie schließlich am Vorhang stehen sah, der das Gemach ihrer Mutter vor neugieren Blicken schützte. Ich schlich näher. Marozia nahm mich nicht wahr, so gebannt schaute sie dem Treiben der Liebenden zu. Als ich mich leise räusperte, fuhr sie erschrocken zusammen. Die Akrobaten der Liebe bemerkten zum Glück nichts. Ich wollte Marozia wegziehen; sie weigerte sich jedoch, von ihrem Beobachtungsposten zu weichen. Um von Theodora nicht als Zuschauerin entdeckt zu werden, zog ich mich zurück, warf indes mehrfach einen Blick auf Marozia, die noch immer das Treiben ihrer Mutter verfolgte.
Plötzlich ertönte ein erschrockener Schrei. Ich spähte um die Ecke des Gangs und sah gerade noch, wie Marozia in das Zimmer ihrer Mutter gezogen wurde. Als ich hinzuspringen wollte, warnte mich eine innere Stimme, einzugreifen. Ich hörte Theodora lachen und dann die ruhige, wohltönende Stimme des Bischofs. Eine von seltsamen Geräuschen und Lauten unterbrochene Stille folgte.
Ich überwachte den Vorhang, erstickte dabei fast an der Erstarrung, zu der ich mich zwang.
Schließlich erschien Marozia, nackt, lächelnd – ein Körper mit den ersten Sprossen erwachender Weiblichkeit, mit kleinen Hügelchen auf der Brust und dunklen Fäden, die noch keine Scham bedecken konnten. Sie sprang wie ein Kind auf mich zu und drückte sich an mich. In ihrem Antlitz las ich weder Ekel noch Entsetzen, keine Abscheu, keine Angst – eher etwas verklärt Engelhaftes. Da ich kein Kleidungsstück zur Hand hatte, führte ich sie, an mich gedrückt, zu den Gemächern der Kinder. Als erste entdeckte ihre Schwester Theodora sie und brach in kreischendes Gelächter aus. Dann erschien das neugierige Gesicht meines Sohnes. Sein Blick wanderte langsam über Marozias Körper, bis sich der dunkle Schatten der Scham über seine Augen legte und er sich abwandte.
Noch heute sehe ich seine Augen vor mir, diesen Blick, in dem sich aufkeimendes Begehren im Schatten der Scham verbarg. Alexandros kam auch später nicht auf Marozias Nacktheit zu sprechen, während die kleine Theodora ihre Schwester und mich bestürmte, zu erzählen, was vorgefallen sei. Marozia jedoch setzte eine hoheitlich-verächtliche Miene auf, die Theodora heftig reizte, und umgab sich mit einer Mauer aus Schweigen.
Am Abend saß sie im Peristyl, träumerisch versunken an eine Säule gelehnt, ihren Blick auf das kleine Wasserbecken mit der Venusfigur gerichtet. Um sie flackerten einige Fackeln und ließen die Schatten tanzen, durch das Viereck des Himmels funkelten die Sterne herab, und aus dem Krug, den die Venus über ihrer Schulter leerte, floß plätschernd ein Wasserstrahl.
An diesem Abend – es war im Sommer des Jahres 903 – hörten wir, daß Papst Benedictus den Weg ins Himmelreich angetreten habe, im Vatikan und auf den Straßen der Stadt die gewöhnliche Gesetzlosigkeit herrsche und die Menschen weintrunken tanzten. Drei Tage später war zu aller Überraschung Leo V. zum pontifex maximus ernannt. Es herrschte in unserem Palast heftiges Treiben, Johannes und Sergius, mit ihnen eine Reihe der Adelshäupter und Kardinäle trafen sich in unserer marmorglänzenden Empfangshalle und sprachen alle so laut durcheinander, daß ich, die ich mich zur Verfügung hielt, um ein Protokoll anzufertigen, nichts verstand. Ich sah nur Sergius Drohreden mit der Faust unterstreichen, Johannes beruhigend die Arme schwenken und Alberich lachen.
Schließlich gingen alle auseinander, ohne daß ein Beschluß gefaßt worden war.
Einen Monat später wurde Papst Leo von Kardinal Christophorus vom Stuhl Petri gestürzt und mußte unfreiwillig den Weg aller Sterblichen gehen. Christophorus erklärte sich selbst zu seinem Nachfolger und ließ sich von den Kardinälen im päpstlichen Amt bestätigen – was stummes, aber wissendes Kopfschütteln hervorrief.
Ich sprach mit Martinus über die Vorgänge. »Warum läßt sich Sergius nicht endlich zum Papst wählen? Danach trachtet er doch bereits seit einem Jahrzehnt. Und auch Theophylactus wünscht das Pontifikat seines Freundes. Was soll dieser blutige Stellvertreterkampf – oder geben die Formosus-Anhänger noch immer nicht auf?«
»Leo gehörte früher tatsächlich zur Partei des Formosus«, flüsterte Martinus. »Er wurde ermordet, was nicht gerade sehr christlich ist.«
»Was ist schon christlich in dieser Stadt!« sagte ich mit gedämpfter Stimme.
Wir saßen auf einer steinernen Bank unter einem Rosenbogen im hinteren Teil des weitläufigen Parks. Der Mond schien, so daß wir keine Lichter brauchten; es war eine milde, grillendurchzirpte Nacht.
»Dieser Christophorus ist sicher einer von Sergius' Handlangern.«
Als hätte das von mir verwendete Wort ihn angeregt, nahm Martinus meine Hand und legte sie in seine. »Weißt du, daß du für uns alle unentbehrlich geworden bist?«
Ich mußte lachen. »Keiner ist unentbehrlich.«
»Auch Aaron betonte kürzlich, daß sogar Rom dir viel zu verdanken hat – so viel wie einem guten Papst! Bevor wir ihn damals, vor Jahren, aufsuchten, hatten die jüdischen Fernhändler bereits überlegt, Rom als Stützpunkt gänzlich aufzugeben. ›Zuviel Verfall, zuviel Rechtlosigkeit und Verwahrlosung‹, sagte er zur Begründung.«
»Ich bin doch nur eine byzantinische Sklavin.«
»Du bist ein byzantinisches Wunder. Klug, entschlossen, noch immer schön« – langsam hob er meine Hand zu seinen Lippen – »und liebenswert.«
Ich ließ ihm meine Hand, antwortete aber nicht.
»Mein Onkel hat wieder geschrieben. Er plant eine große Expedition nach Konstantinopel und sucht zugleich jemanden, der für ihn nach Venedig geht.« Als ich weiterhin schwieg, fuhr er fort: »Du hast hier alles erreicht, was du erreichen konntest. Venedig wäre eine Herausforderung für dich – für uns. Und du könntest deine Heimat wiedersehen.«
»Als Sklavin kann ich nicht einfach gehen.«
»Du hast so viel für Theophylactus getan: Er wird dir die Freiheit schenken.«
»Und was wird aus meinem Sohn?«
»Ihn nehmen wir natürlich mit. Ich werde ihn wie einen eigenen lieben.«
Ich schwieg.
Im Haus herrschte noch immer keine Ruhe. Bischof Johannes besuchte Theodora, und Sergius saß mit Theophylactus und Alberich zusammen. Ich verstand die Vorgänge im Vatikan im Augenblick wirklich nicht. Warum ließ Sergius zu, daß Christophorus Papst Leo ermordete und handstreichartig den Stuhl Petri eroberte? Warum hatte er sich nicht wenigstens nach Leos Tod wählen lassen? Befürchtete er zu viel Widerstand? Ging es ihm darum, mögliche Konkurrenten auszuschalten?
Ich versuchte, den Sinn im augenblicklichen Machtgeschacher zu ergründen, um meine hervorbrechenden Sehnsüchte beiseite zu schieben: Hörte ich von Venedig und Konstantinopel, roch ich den Duft von Goldorangen und Limonen, sah den Himmel über dem Bosporus und den Glanz des kaiserlichen Palasts, hörte die griechischen Laute meiner Muttersprache und spürte plötzlich wieder die Nähe meiner Eltern. Seitdem wir auf dem Aventin in großzügigem Luxus wohnten, frischere Luft atmeten und einen freien Blick auf die Ruinen des Palatin und den in Gemüsegärten und kleine Weinfelder umgewandelten Circus Maximus ›genießen‹ konnten, ertrug ich die von Unkraut überwucherte, vor Abfall stinkende und von Mückenschwärmen heimgesuchte Trümmerstadt Rom noch schlechter als zuvor. Nicht einmal die römische Bischofskirche im Lateran, neben der Basilika des heiligen Petrus das Zentrum des christlichen Glaubens, war nach dem Erdbeben wieder aufgebaut worden. Immerhin hatten wir einiges erreicht, die Lethargie aufgehalten, durch die alles noch mehr verfiel, Räuberei und Bettelwesen zurückgedrängt, die Trunksucht, die sittliche Verwahrlosung – aber es brauchte herkulische Kräfte, diesen Augiasstall auszumisten. Ich war nur eine schwache Frau, und weder Theophylactus noch Sergius ähnelten Herkules.
Wenn nun Theodora und Theophylactus mich wirklich freigeben würden?
»Was soll mit meiner Mariuccia geschehen?« fragte ich.
Martinus schaute erstaunt auf, weil er mit einer solchen Frage wohl nicht mehr gerechnet hatte. »Sie wird dir bald über den Kopf wachsen.« Der Mond spiegelte sich in seinen Augen. »Und dich dann nicht mehr brauchen.«
»Sie wird mich noch lange brauchen«, erwiderte ich – ohne zu wissen, welch prophetische Worte ich sprach.
»Laß mich nachdenken!« sagte ich schließlich und stand auf.
Martinus ließ zögernd meine Hand los und schaute zu mir hoch. »Du denkst zuviel.«
»Niemand kann zuviel denken.«
»Fühlst du denn gar nichts?«
»Was für eine Frage!«
Ich wandte mich ab und schritt langsam über den Kiesweg zur Loggia, drehte mich noch einmal um und winkte Martinus' Schatten. Als ich die Gemächer der Kinder betrat, vergewisserte ich mich, daß sie bereits schliefen, Marozia diesmal nicht neben ihrer Schwester, sondern an Alexandros' Seite. Ich hielt meine Kerze über sie und schaute in ihre Gesichter.
Seit langem hatte ich nicht mehr eine solche Unruhe gespürt. Würde meine kleine Mariuccia mich wirklich bald nicht mehr brauchen? Liebte sie Alexandros so wie er sie? Durfte sie ihn überhaupt lieben? Wie würde Theodora reagieren, wenn sie davon erführe? Und Theophylactus, der sicherlich bereits eine Heiratsallianz plante?
Mir fiel noch etwas auf, was ich bisher so nicht wahrgenommen hatte und auch nicht wahrnehmen wollte: Alexandros begann, seinem Vater ein wenig zu ähneln.
Die Unruhe ließ mich während der Nacht kaum schlafen. Der Mond schickte einen Lichtstreifen in meinen Raum, der langsam an der Wand entlangwanderte. Die ersten Hähne schrien. Ich war wieder zu Hause in Konstantinopel, die Sonne ergoß sich in glühenden Wellen über das Land. Als ich die Augen aufschlug, war es dunkel in meinem Zimmer, das Licht des Monds verschwunden.
Am nächsten Morgen wagte ich Martinus kaum anzuschauen.
Die Tage und Wochen verstrichen mit ungewohntem Streit zwischen Theodora und ihrem Mann, bei dem es um den zukünftigen Papst ging. Theophylactus zweifelte nicht daran, daß Sergius trotz aller ›Verzögerungen‹ bald den Thron Petri besteigen werde; Theodora dagegen lachte höhnisch über den ›ewigen Kandidaten‹ und wollte lieber Bischof Johannes als pontifex maximus sehen, obwohl man auch bei dieser Wahl gegen das kanonische Recht verstoßen müsse.
»Du willst ihn ja nur in deiner Nähe haben, damit ihr eure Wollust austoben könnt«, warf ihr Theophylactus vor.
»Du hast recht«, entgegnete sie kalt. »Außerdem ist er der fähigere Mann. Sergius ist machtgierig und haßerfüllt, er kennt keine Skrupel und scheut vor keinem Mord zurück. Selbst seine Anhänger lieben ihn nicht, deswegen wird er nicht gewählt, und ohne das Papstamt kann er uns nicht mehr nützen.«
»Wie soll Johannes uns nützen? Er ist nicht einmal ein Römer und hat in der Stadt keine Hausmacht.«
»Doch, er hat uns.«
»Sergius wird ihn umbringen lassen, ohne daß wir etwas dagegen tun können.«
Die Lautstärke der Auseinandersetzung hatte sich bis zu diesem Punkt gesteigert und fiel nun in sich zusammen, weil Theodora nicht antwortete. Ihr war aufgefallen, daß ich mich im Raum befand; sie schaute mich an, zornig und zugleich voller Angst.
»Was sagst du dazu?«
Ich empfand in diesem Augenblick einen so unaussprechlichen Ekel vor diesen Macht- und Mordspielen, daß ich keinen Laut herausbrachte. Ich dachte nur an Martinus und fragte mich, warum ich seinem Vorschlag nicht längst gefolgt war.
Theophylactus antwortete an meiner Stelle: »Es ist bereits alles abgesprochen.«
»Seit wann fühlst du dich an ein gegebenes Wort gebunden?« Theodora verzog höhnisch die Lippen.
»Seitdem wir abgemacht haben, daß ich nach Sergius' Wahl zum saccellarius und arcarius ernannt werde und damit die Finanzen der Kirche verwalte. Was das bedeutet, kannst du dir denken. Wenn alles gut geht, können wir sogar die Sarazenen vom Garigliano vertreiben, verstehst du? Das lasse ich mir doch nicht durch deinen Liebhaber kaputtmachen.«
Er war wieder laut geworden, aber Theodora ließ sich nicht provozieren.
»Johannes könnte eure Abmachungen ebenso erfüllen.«
»Und was ist mit Sergius? Du mußt ihn vorher um die Ecke bringen. Nie wird er kampflos weichen.«
Theodora erhob sich, um den Raum zu verlassen. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um: »Auch ich werde nicht kampflos weichen.«
Ohne eine weitere Bemerkung verschwand sie.
Unentschlossen ging Theophylactus ein paar Schritte auf und ab und ließ dann nachdenklich seinen Blick auf mir ruhen. »Was hältst du von der Liebschaft meiner Frau?«
Zuerst überlegte ich mir, ob ich überhaupt antworten sollte; schließlich sagte ich: »Es ist nicht nur eine Liebschaft, sondern eine Leidenschaft. Man sollte sie nicht unterschätzen.« Wobei ich offenließ, ob ich mit sie Theodora oder die Leidenschaft meinte.
»Das tue ich nicht, wahrhaft nicht. Ich kenne meine Frau.« Er starrte an die Wand.
Ich verbeugte mich und zog mich zurück.
Während der folgenden Monate herrschte gespannte Ruhe im Haus wie in der Stadt. Am Ende des Winters hieß es plötzlich, Papst Christophorus sei wegen verräterischer Machenschaften und nachgewiesenem Mord an seinem Vorgänger abgesetzt und in ein Kloster gesperrt worden. Keine Woche später wurde verkündet, der abgesetzte Papst habe sich freiwillig vor den strengen Richterstuhl des Herrn begeben, und bevor das Volk sich auf eine neue Freudenzeit einstellen konnte, war die nächste Papstwahl bereits vollzogen und vom Balkon des Vatikans mit lautem habemus papam verkündet. Anschließend trat der frühere Diaconus und jetzige Papst Sergius III. an die Brüstung und sprach seinen Segen über das Volk von Rom.
Martinus und ich standen inmitten der Menge, als er die drei Finger zum Segenszeichen erhob. Wir schauten uns an und wußten, daß wir beide an das gleiche dachten: an die drei Finger eines Toten.
»Jetzt hat Sergius endlich sein Ziel erreicht. Nun wird er den Kampf in unser Haus tragen«, sagte Martinus leise. Ich verstand ihn nur halb, fragte aber nicht nach, weil ich seinen traurigen Blick auf mir fühlte. »Wir hätten längst gehen sollen, wir beide, mit deinem Sohn.«
Papst Sergius III. hielt seine Versprechen: Er ernannte Theophylactus zum saccellarius und arcarius und sorgte auf diese Weise dafür, daß alle Finanzen der Kirche von ihm kontrolliert wurden und auf diese Weise so mancher Solidus, zahlreiche Silberdenare und zahllose Oboli in die Truhen unseres Hauses flossen. Sogar die Goldmünzen der Sarazenen, die Mancusi, verachtete man nicht. Pecunia non olet, wie wir alle wissen. Selbst Aaron zeigte Freude, weil er seine Darlehen auf Denar und Obolus verzinst zurückerhielt und dann das goldene Kreuz des Belisar zurückgeben durfte.
Theophylactus ließ unter unserem Palast allein für dieses Segenskreuz eine Krypta tief in den Erdboden graben. Zahllos waren die Funde, die dabei ans Tageslicht kamen: Knochen und Tonwaren, altrömische Münzen, sogar wertvoller Schmuck, den Theophylactus von einem Goldschmied herrichten ließ und seinen Töchtern schenkte. Das Kreuz wurde als Reliquie des Heils und des Sieges aufgehängt, und bei der Einweihung, die von Papst Sergius eigenhändig vorgenommen wurde, bestimmte Theophylactus die Krypta zugleich zu seiner Gruft. Als ahne er sein Ende voraus, erklärte er, wie Hadrian, der imperator augustus, wolle er in einem Porphyrsarkophag ruhen, bis er nach dem Jüngsten Gericht seinen Weg ins Himmelreich antreten dürfe.
Theodora schaute mich kurz an und verdrehte die Augen, Alberich gähnte, und Papst Sergius ließ das Weihrauchfaß schwenken. Die Kinder zitterten – ich weiß nicht, ob vor Kälte oder vor Angst. Ich warf einen Blick auf Bischof Johannes, der Papst Sergius assistiert hatte, nun jedoch in den Hintergrund trat und uns alle aufmerksam beobachtete. Am längsten ließ er seinen Blick auf Marozia ruhen, was mir trotz des mageren Lichts nicht entging. Und Marozia erwiderte ihn lächelnd, ohne Scheu.
Bei der anschließenden Feier prunkte unser Haus mit seinem Reichtum. Musikanten spielten auf, und nach altrömischem Brauch sollten wir die Mahlzeit im Liegen einnehmen. Es gab in Milch eingelegtes Schwanenfleisch, mit Pistazien und Gewürznelken garniert und mit Pfeffer und Safran so überlegt, daß Zunge und Rachen brannten und das Fleisch zwar gelblich leuchtete, aber kaum noch zu schmecken war. Der Geruch und Geschmack der nicht mehr ganz frischen Tiberfische wurde ebenfalls von den teuren Zutaten übertönt. Den Wein tranken wir sogar aus Gläsern, die Theophylactus Händlern aus Amalfi abgekauft hatte. Zum Säubern der Hände wurde Rosenwasser in Silberschalen gereicht, und zum Schluß sollten wir uns an Früchten erfreuen, die in Honig eingelegt waren.
Während der Wein nach den süßen Früchten säuerlich schmeckte und gleichzeitig die Speisen in unserem Magen unwillig rumorten, trat eine Gauklertruppe auf, die uns von der Verdauung ablenkte und die Sinnenlust wieder auf Auge und Ohr richtete. Ein Dichter sang von der Größe des Theophylactus und seiner Herkunft aus dem Geschlecht des Justinian. Ja, sein Urvater sei zwar nicht Abraham – es erscholl Gelächter –, sondern der Größte aller großen Kaiser: Konstantin, der dem Christentum zum endgültigen Sieg verholfen und der Stadt am Bosporus seinen Namen verliehen habe.
Rechtzeitig, bevor wir uns zu langweilen begannen, tanzten Bären miteinander, umhüpft von geschorenen, kläffenden Hunden, und ein Affe brachte durch seine Streiche sogar Papst Sergius zum Lachen, während mein Alexandros erstaunlich ernst blieb. Am lautesten lachte natürlich Alberich, der schließlich, als die Akrobatengruppe sich aufbaute, es sich nicht nehmen ließ, uns allen seine ungestüme Kraft zu beweisen und den weiblichen Engel des Menschenturms auf einer Hand hochzustemmen.
Als die Nacht fortschritt, brachte ich die Kinder zu Bett. Der kleinen Theodora hatte am besten der freche Affe gefallen, Marozia dagegen mochte die Bären, deren Tanzbewegungen sie nachzuahmen versuchte, was Alexandros zu einem Lachanfall reizte. Sie nahm seinen Spott nicht krumm. Plötzlich aufgekratzt, ahmte er in übertriebener Pose den Dichter und seine Hymne auf Theophylactus nach, sprach jedoch nicht von ihm, sondern von Marozia, und aus der Lobeshymne wurde ein Liebesgedicht. Obwohl er erst vierzehn Jahre alt war, gelangen ihm die Versmaße, und auch die passenden Worte stellten sich flüssig ein. Ich war so gerührt, daß meine Augen feucht wurden, zumal die Liebesworte von melancholischer Sehnsucht zeugten.
Marozia wußte nicht recht, wie sie darauf reagieren sollte, ob sie mit Theodora kichern oder ob sie ergriffen verstummen sollte. Vermutlich war ihr dieser poetische Ausbruch meines Sohnes anfangs peinlich, doch schließlich berührte sie seine metaphorisch ausgeschmückte, hinter zahlreichen Bildern und Vergleichen verborgene Liebeserklärung derart, daß sie ihm nach seinem Verstummen einen Kuß gab. Dieser fiel so stürmisch aus, daß beide auf das Bett fielen. Ihre Anspannung löste sich in Gelächter auf, und sie verstärkten es noch, indem sie sich kitzelten und schließlich balgten. Theodora wollte sich hinzugesellen, wurde allerdings von Marozia recht unsanft weggetreten und suchte durch lautes Schluchzen meine tröstende Aufmerksamkeit zu erregen.
Als sich die Kinder wieder beruhigt hatten, las ich ihnen aus Homers Odyssee vor, und zwar das Kapitel von der schönen Nymphe Kalypso, in deren Armen der Held lange Jahre Glück im Vergessen genoß. Obwohl sie ihm ewige Jugend und Unsterblichkeit schenken wollte, mußte sie ihn auf Befehl der Götter ziehen lassen, weil seine Sehnsucht nach der Heimat, nach seiner wartenden Ehefrau Penelope und seinem Sohn Telemachos alles Glück in der abgeschirmten Grotte überstieg. In einer Geste großmütiger Überwindung und opferstarken Verzichts half sie ihm sogar beim Bau seines Schiffes, auf dem er dann davonsegelte, hinaus auf das im silbrigen Glanz schimmernde Meer.
Als die Geschichte endete, war die kleine Theodora längst eingeschlafen. Marozia, die sich in Alexandros' Arme gekuschelt hatte, murmelte mit geschlossenen Augen: »Ich hätte ihn nicht gehen lassen.« Als ich schon glaubte, sie sei ebenfalls eingeschlafen, flüsterte sie noch, ohne ihre Augen zu öffnen, Alexandros zu: »Du mußt immer bei mir bleiben.«
Mein Junge wagte sich nicht zu bewegen und starrte verloren an die Decke, reagierte nicht einmal, als ich ihm leise »Gute Nacht« zurief.
Während ich mich zum Festsaal begab, verfolgte mich das Bild meiner beiden Kinder. Daß sie sich liebten, hatte ich mir immer gewünscht; mir gefiel indes nicht, daß Alexandros derart von Melancholie geprägt war und Marozia bereits jetzt wie eine Prinzessin durch den Tag tändelte, von allen Kniefall und Bewunderung erwartend. Alexandros' Liebe war tief verwurzelt, wie eine Pflanze auf trockener Erde, ihre dagegen wirkte auf mich so flatterhaft wie ein Schmetterling vor dem bunten Reich der Blumen.
Marozia entwuchs damals ihrer kindlichen Schlaksigkeit und blühte in verführerischer Weiblichkeit auf. Dennoch ging sie mit ihrem Milchbruder in naiver Unschuld um, so unbefangen, daß Theodora skeptisch zu schauen begann. Sie küßte ihn am Tisch, wenn ihr danach war, und zog ihn tief in den Park, bis beide aus unserem Blickfeld verschwunden waren. Häufig fand ich sie morgens in seinem Bett liegen, und sie erzählte dann immer, sie habe schlecht geträumt, sei voller Angst aufgewacht und habe bei ihm Schutz gesucht. Alexandros kommentierte ihre nächtlichen Besuche nie.
Vielleicht war er auch deshalb so melancholisch, weil er seinen Vater lange Zeit nicht kannte. Er wußte, daß ich Marozia genährt hatte und nun, obwohl Sklavin, eine wichtige Rolle in der familia des Theophylactus spielte. Er mochte sich wohl fragen, wer er selbst war: Ebenfalls ein Sklave – oder Marozias Bruder?
Nachdem Marozia ihn darauf angesprochen hatte, stellte er die bereits von mir befürchtete Frage nach seinem Vater. Als ich nicht sofort antwortete, sagte er: »Ist es Martinus?«
»O Kind!« rief ich. Mehr fiel mir nicht ein.
»Ist er es nun?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Theophylactus?«
In seinen Augen stand bange Erwartung.
»Nein, nein«, sagte ich rasch.
»Dann muß es ein Sarazene sein.« Die Bangigkeit verwandelte sich in Bestürzung. »Ich bin ein Kind der Schändung durch einen Ungläubigen.« Es war mehr als Bestürzung, eher Entsetzen.
»Woher nimmst du diese Worte? Nie hast du so etwas von mir gehört.«
Sein Blick zeigte mir, daß ich nicht länger ausweichen konnte. »Du bist der Sohn von Papst Sergius«, erklärte ich so sachlich wie möglich. »Wie es dazu kam, ist eine lange Geschichte, die ich dir jetzt nicht erzählen kann. Aber eins möchte ich betonen: Wir verdanken Theodora und ihrem Mann unser Leben. Dies dürfen wir nie vergessen. Ewig werden wir in ihrer Schuld stehen.«
Alexandros schien erleichtert zu sein. »Ich bin also nicht Marozias Halbbruder – und auch nicht der Bastard eines Sarazenen.«
»Nein«, sagte ich bestimmt und ebenfalls erleichtert.
In den Tagen und Wochen danach kam Alexandros nie wieder auf das Thema zu sprechen. Allerdings verdunkelte sich sein Blick, wenn er, wie an dem Tag unseres prunkvollen Festes, seinem Vater begegnete.
Auf dem Weg zurück zu unserer noch immer reich geschmückten und im Licht hunderter Kerzen erstrahlenden Aula begegnete ich Papst Sergius, der soeben dabei war, in Begleitung mehrerer Kardinäle das Fest zu verlassen. Zuerst wollte ich mich in einen Seitenraum drücken, doch dann spürte ich den Protest des Stolzes in meiner Brust und wich ihm nicht aus. Im letzten Augenblick verließ mich der Mut, ich senkte den Blick und deutete einen Kniefall an: Statt wie früher an mir vorbeizuschreiten, ohne mich zu beachten, blieb der Papst stehen und reichte mir den Ring zum Kuß. Ich fiel auf die Knie und näherte meine Lippen dem in Gold gefaßten Edelstein, als Sergius mit seiner Bauernhand meine Wange umfaßte und mein Kinn hob. Hätte ich auch jetzt noch demütig die Augen niederschlagen sollen? Ich befürchtete, unter seinem forschenden Blick zu erröten, doch ich spürte nur bleiche Kälte und hielt seinem Blick stand. Er lächelte und forderte mich auf, mich zu erheben.
»Du tief Gestrauchelte und hoch Gestiegene, mögen dir die Folgen deiner Taten wie die Frucht deines Schoßes noch lange Jahre Freude bereiten«, sagte er mit leiser, klarer Stimme, deutete einen priesterlichen Segen an und wandte sich dem Ausgang zu. Noch immer trug sein Antlitz dieses Lächeln, das mich verwirrt und unsicher zurückließ.
Im Saal flackerten die meisten Kerzen nur noch von Stummeln, und die Diener waren dabei, die Reste der Mahlzeit abzuräumen und sich dabei selbst zu bedienen. Ich sah in einer Ecke Theodora mit ihrem Johannes beisammensitzen, in der anderen Theophylactus und Alberich. Martinus dirigierte das Abräumen und achtete persönlich darauf, daß die kostbaren Gläser nicht zerbrachen und keine der Silberschüsseln gestohlen wurde. Er lächelte mir zu, verzog anschließend das Gesicht zu einer Grimasse, um anzudeuten, daß die Stimmung zwischen Theodora und Bischof Johannes angespannt sei. Ich wußte nicht recht, zu wem ich mich begeben sollte, und beschloß, mich zurückzuziehen, als mich Theophylactus zu sich rief.
Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen, so daß seine Gesten ausgreifend und zugleich fahrig wurden, seine Stimme laut, seine Sätze kurz, seine Zunge schwer.
»Ein großartiges Fest, und alle sind zufrieden!«
Ich nickte und war dabei, seine Worte zu bestätigen, als er mich plötzlich umarmte und mir zwei schmatzende Küsse auf die Wange drückte. Ich wurde stocksteif, doch er merkte dies nicht und küßte mich ein weiteres Mal.
Ein leicht spöttischer Blick Theodoras streifte uns.
»Dies haben wir auch dir zu verdanken, Aglaia.« Theophylactus nahm ein Glas Wein und hob es, Alberich schloß sich ihm an. »Das muß mal gesagt werden, Sklavin hin oder her, du bist der Segen des Hauses.« Erneut wurde ich umarmt, dabei schwappte mir der Wein auf meine Tunika. Alberich mußte laut auflachen, und Theophylactus boxte ihn freundschaftlich auf den Arm.
»Sie ist in Wahrheit eine byzantinische Prinzessin«, rief Alberich, der ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern war, »und ihr Sohn ist ein Prinz.«
»Der Sohn eines Fürsten!«
»Nein, eines Papstes!«
»Eines großen, ehrgeizigen Papstes!«
Beide fanden diese Erkenntnis bemerkenswert witzig, und Alberich fragte, ob wir denn wüßten, was der Herr im Himmel seinem Papstknecht zurufe, wenn dieser verstopft auf dem Kackstuhl sitze.
»Ja, das wissen wir!« brüllte Theophylactus in gespielter Entrüstung. Ich wollte mich eiligst zurückziehen, Theophylactus hielt mich jedoch fest und berührte dabei, wohl unabsichtlich, meine Brust. Ich sah in seinen Augen eine jähe Gier aufflackern.
»Halt! Du sollst uns nicht entkommen!«
»Auf keinen Fall!«
»Wir brauchen dich noch!«
Diesmal streifte uns Theodoras Blick nicht nur, sondern blieb neugierig, nicht ohne ein Gran Mißbilligung, auf uns liegen. Bischof Johannes zeigte sein feines, abgeklärtes Lächeln.
Ich spürte Alberichs Hand an meinem Hinterteil, diesmal kaum unabsichtlich.
Nicht weit von uns entfernt war Martinus in einer Haltung erstarrt, als würde er sich im nächsten Moment auf Alberich stürzen.
Vielleicht lag es auch an der Begegnung mit Sergius, aber in diesem Augenblick schossen in mir verborgene Erinnerungen hoch, die mich sonst nur gelegentlich in Träumen bedrängten, panikartige Angst, vermischt mit Wut, durchglühte mich, und ich fuhr Alberich an: »Man berührt eine byzantinische Prinzessin nicht!«
Sein Lachen erstickte ihm im Hals, und einen Augenblick befürchtete ich, er würde mich mit einem Faustschlag niederstrecken.
»Da hat sie recht«, rief Theophylactus, viel zu laut für die Situation. »Du mußt dich noch in Enthaltsamkeit üben, bis dir Marozia ins Bett gelegt wird.«
Ich starrte ihn an und hörte kaum, wie Alberich, jedes Wort einzeln artikulierend, »Das dauert mir zu lange« herauspreßte.
»Was sagst du da?« Es war Theodoras scharfe Stimme.
Theophylactus richtete sich auf, fuhr sich durch die bereits ein wenig gelichteten Haare und verkündete: »Mein Freund Alberich, der erste seines Namens, römischer magister militum, Markgraf von Spoleto und Camerino, und ich, Theophylactus, Senator und Konsul der Römer, zudem saccellanus et arcarius palatini, haben beschlossen, unsere Freundschaft und Allianz dadurch weiter zu festigen, daß unsere älteste Tochter Marozia ihm zum Weib gegeben wird, sobald sie die Pflichten einer Ehefrau erfüllen kann. Der Markgraf soll ein Herrschergeschlecht gründen, auf daß sein Name und der Name seiner zahlreichen Söhne in die Geschichte Roms und in die Heilsgeschichte des Herrn eingehe. Zugleich soll er von uns in Zukunft wie ein Bruder behandelt werden. Gemeinsam sind wir stark geworden, und gemeinsam werden wir diese Stärke ausbauen und gegen alle Feinde sichern.«
Als beabsichtigte ich, die beiden Männer abzulenken und auf eine falsche Fährte zu locken, fiel ich ihm ins Wort: »Auf daß die Sarazenen, die Mörder unserer Eltern, die Geißel unserer Kinder, die Bedrohung unserer Frauen, vertrieben und vernichtet werden.« Beim letzten Wort war mein Mund so trocken, daß ich keinen weiteren Laut mehr hervorbrachte.
Wenn ich heute, fast drei Jahrzehnte nach dem Geschehen, über diese Szene nachdenke, so läuft mir ein Schauer über die tragische Prophetie der Worte über den Rücken. Hatte nicht Theophylactus eine Entwicklung eingeleitet, in der Fluch und Segen zu einer Einheit verschmolzen, die wie die unterirdischen Mächte eines Vulkans immer wieder an die Oberfläche drängten, explosiv, verschlingend und vernichtend?
Ich konnte mich endlich aus der Klammer der beiden halbbetrunkenen Männer befreien und eilte in mein Zimmer, das an die Räume der Kinder grenzte. Atemlos stürzte ich zu ihnen und fand sie glücklich schlafen. Es war mir, als müßte ich sie aus ihren Träumen reißen, um mit ihnen zu fliehen. Selbstredend beherrschte ich mich.
Kaum saß ich wieder auf meinem Bett und kämmte mir die Haare aus, um den Aufruhr in meinem Innern zu bekämpfen, suchte mich Theodora auf.
»Theophylactus hat tatsächlich, ohne mich zu fragen, Marozia dem Markgrafen versprochen«, brach es aus ihr heraus.
An ihrem Ton und daran, daß sie das Wort Markgraf benutzte, erkannte ich, daß dieses Versprechen ihrer eigenen Absicht entsprach, zumindest nicht zuwiderlief.
Ich blieb sitzen und kämmte weiter meine Haare, ohne die Andeutung einer Demutsgeste zu zeigen. Seit langem hatte ich mich nicht mehr als Sklavin gefühlt; in diesem Augenblick fühlte ich mich als Mutter, über deren Kinder bestimmt wurde. Mit jeder Bewegung des Kammes spürte ich deutlicher, daß ich die Mutter von Marozia und Alexandros war, daß ich als Mutter des Reichtums, der nun in diesem Haus herrschte, längst meinen Dank abgestattet hatte für das Leben, das mir geschenkt worden war. Ich kämmte mich weiter, wagte aber nicht zu sagen, daß man mich hätte fragen müssen.
»Was sagst du dazu?« fragte sie, während sie sich neben mich setzte und mir bewundernd über die Haare strich.
Am liebsten hätte ich ›nein, nein und dreimal nein‹ geschrien, ich hob indes nur die Schultern und ließ sie nach einer Weile kraftlos fallen.
»Es ist zu früh«, sagte ich schließlich.
»Alberich drängt, und Theophylactus, der Hund von einem Ehemann, erpreßt mich mit meinem adulterium – und das vor Johannes' Ohren. Er führt auch Sergius ins Feld, der diese Verbindung angeblich ebenfalls empfohlen habe.«
Ich kämmte weiter.
Theodora war aufgestanden, tigerte eine Weile durch das Zimmer und lehnte sich schließlich an die Wand. »Ich brauche deinen Rat.«
Ich hob auffordernd meine Augenbrauen.
»Über mich und Johannes brauche ich dir nichts zu sagen. Du kennst mich: Ich bin eine leidenschaftliche Frau, und meine Liebe zu Johannes ist so stark, daß sie immer wieder Nahrung benötigt. Sonst wird sie verzehrend und tödlich. Johannes lebt zu weit entfernt. Verstehst du?«
Ich wußte nicht, ob ich sie verstand, nickte jedoch, um sie weiterreden zu lassen.
»Am liebsten wäre mir gewesen, man hätte ihn zum Papst gewählt und nicht Sergius – aber dies schien unmöglich, und Johannes hat auch abgewinkt, was bis heute zu einer kleinen Mißstimmung zwischen uns geführt hat. Er will Erzbischof von Ravenna werden, obwohl er dadurch keinen Schritt näher an Rom heranrückt. Vielleicht glaubt er, sich in diesem Amt öfter in Rom aufhalten zu können, ich weiß es nicht, er hält sich bedeckt. Auf jeden Fall konnte ich Sergius überzeugen, Johannes ernennen zu wollen. Heute abend zog er mich in eine Nische und erklärte, nicht ohne sein charmantes und zugleich böses Lächeln: ›Ich werde deinen Geliebten Johannes zum Erzbischof von Ravenna ernennen, dir zuliebe. Zugleich erinnere ich dich daran, daß ich für Aglaia noch einen Wunsch frei habe.‹«
Mir schwante Übles. »Was wünscht er sich?«
»Er hat sich bisher nicht geäußert.«
Ich zuckte die Achseln. »Ja und?«
Theodora schwieg eine Weile. Schließlich sagte sie leise: »Glaubst du, er will mich?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hast du die Sprache verloren?« fuhr sie mich an.
Ich beschränkte mich in meiner Antwort auf einen gekränkten Blick, und sie entschuldigte sich.
»Wie Judith dem Holofernes würde ich ihm im Bett den Kopf abschneiden – und dir wäre es eine Freude, mir zu helfen. Dessen bin ich mir sicher.«
Ich hatte den Kamm sinken lassen, weil mich eine Vorstellung überfiel, die ich nicht unterdrücken konnte: Ich sah eine scharfe Klinge seinen Hals durchschneiden, das Blut hervorsprudeln. Ich mußte es auffangen und langsam, Schluck für Schluck, trinken.
Mich überfiel eine derartige Übelkeit, daß ich mich fast übergeben hätte.
»Du bist ja plötzlich so bleich?« Theodora beugte sich zu mir. »Ist dir nicht gut?«
»Es geht schon wieder«, krächzte ich.
»Was könnte Sergius denn sonst wollen?«
»Vielleicht denkt er an eine Truhe voller Goldmünzen.«
Sie dachte nach. »Weißt du, was er noch gesagt hat? ›Du willst doch sicher, daß euer goldenes Kreuz euch zum Segen gereicht.‹ Eine eindeutige Drohung! Er weiß genau, woher es stammt, auch wenn Theophylactus behauptet, es entstamme dem Familienbesitz. Glaubst du, er will das Kreuz des Belisar?«
»Zuzutrauen wäre es ihm.«
Doch je länger ich nachdachte, desto weniger glaubte ich daran, daß er es auf Gold abgesehen hatte … Jäh loderte in mir eine gräßliche Angst auf: Könnte es nicht sein, daß er mich zurückverlangte, und sei es für eine Nacht?
Mir war nur noch nach Flucht zumute. Nach Flucht mit Martinus und meinen beiden Kindern. Ich mußte uns retten.
Als Theodora, ratlos wie zuvor und ohne Antwort, gegangen war und der Palast in Stille versank, warf ich einen Blick auf die Kinder, die ungestört schliefen, und schlich zu Martinus, der im Schein eines rußenden Talglichts auf seiner Strohmatratze lag, aber noch nicht die Augen geschlossen hatte. Wortlos legte ich mich zu ihm, schaute ihn an, bettete meine Hand auf seine Brust und flüsterte: »Laß uns fliehen!«
Statt einer Antwort nahm er meine Hand und führte sie an seine Lippen.
Draußen, in der sternenflimmernden Nacht, riefen sich die Nachtvögel ihre Botschaften zu, aber der Palast selbst schien in seine eigene Stille hineinzustürzen, bis sich ein hoher Laut aus diesem schwarzen Loch erhob, ein Singen, das sich in ein zweistimmiges Aufstöhnen verwandelte.
Martinus hatte sich über meine atemlose Brust gebeugt und küßte mich auf die Augen.
»Laß uns fliehen!« flehte ich ihn an.