29
Marozia hatte nach dem Aufwachen ihre Gebete gemurmelt, als ein gutgelaunter Anastasius und seine Gehilfen uns ein Frühstück brachten, das sogar frisches Obst und Gemüse enthielt, hartes Brot und eine lauwarme, faserige Hafergrütze, die nach nichts schmeckte. Dazu Wein. Die Eimer wurden ausgetauscht, der eine für die Wäsche, der andere für die restlichen Geschäfte, für deren Erwähnung ich kein kostbares Pergament vergeuden will.
Während ich meinen Anteil an Obst und Gemüse in mich hineinstopfte, um eine anderweitige Verstopfung aufzuheben – nun konnte ich mich doch nicht enthalten, die knüttelharten Eimergeschäfte zu erwähnen, wobei ich sogleich hinzufügen muß, daß nicht immer nur Korinthen mühsam den Weg ins Wasser fanden; es gab Tage, da führte unser Essen zu Bauchrumoren, heftigen Windprotesten und schließlich zu Aufständen, die sich so unaufhaltsam ergossen wie die Massen durch die Via Lata.
Ich aß also Obst und Gemüse und nur wenige Löffel der Grütze, während Marozia ihr Brot in zahlreiche Krümel brach, von denen sie einige in ihren Mund steckte, die Mehrzahl jedoch an die Rattenkolonie verfütterte, die sich mittlerweile bei uns eingefunden hatte. Nach panem et circenses hatte bereits die unterbeschäftigten Massen des alten Rom geschrien: panem erhielten unsere langschwänzigen Mitbewohner ebenso, doch statt der circenses mit Pferderennen, Gladiatorenkämpfen und Tierhatz gab es Gebete.
Anastasius war nicht nur gutgelaunt, sondern schien auch geneigt, uns sein morgendliches Schwätzchen aufzudrängen. Kopfschüttelnd hatte er die Rattenfütterung beobachtet, schließlich verkündet, es gebe gute Nachrichten. Ich schaute müde auf, Marozia lachte, als eine Ratte durch einen beherzten Sprung ihrer Schwester einen Brotkrümel in der Luft wegschnappte.
»Besuch hat sich angekündigt!«
Diese Mitteilung ließ auch Marozia aufhorchen.
»Der Heilige Vater persönlich mit seiner Schwester.« Triumph stand ihm ins Gesicht geschrieben, als hätte er diesen Besuch ermöglicht; seine Helfer wies er an, die Zelle gründlich auszukehren, das verrottende, wanzendurchseuchte Stroh der Schlafrollen, auf denen wir lagern mußten, auszutauschen gegen eine ordentliche Matratze, die bereits vor der Tür abgelegt war. Mit seinem Finger fuhr er über die αταραξία-Buchstaben in der Wand und seufzte elegisch, nicht ohne leise, aber bedeutsam »Ach, wer sie erreichte!« auszustoßen, betrachtete anschließend den Rattendreck auf dem Boden und bemerkte: »Der Heilige Vater wird sich vor Ekel schütteln – aber wer weiß, vielleicht hat die Zeit in dieser Gruft bald ein Ende …«
Er genoß lächelnd seine Andeutung und zauberte aus seinem wollenen Umhang einen Kamm.
»Frauen wollen schön sein, selbst wenn vor den Augen des Ewigen die Eitelkeit zu Staub zerfällt.« Er reichte mir den Kamm. Ich nahm ihn mit gleichgültigem Dank.
Mit der Bemerkung »Wir sehen uns bald wieder« verschwand er mitsamt seinem Anhang. Marozia schien nur darauf gewartet zu haben, denn sie sprang auf, hockte sich vor mich und bat mich, ihren Kopf nach Läusen abzusuchen und anschließend zu kämmen. Auch sollte ich heute besonders gründlich die Flöhe jagen.
»Giovanni, mein Liebling, besucht uns! Der Herr gibt mir noch einen Trost, bevor ich das Tal der Tränen verlasse, um in den Freudenschoß der Engel aufgenommen zu werden.«
Mir lag die Ergänzung ›oder in den Feuerschoß der Hölle‹ auf der Zunge, doch verschluckte ich sie, nicht ohne einen kleinen Stich schlechten Gewissens zu spüren. Warum drängte sich mir, die ich meine Mariuccia doch liebte, ein so bösartiger Spott auf? Lag es daran, daß ich ihr Maria-Magdalena-Gehabe nur schwer ertragen konnte?
Konzentriert machte ich mich auf die Jagd und knackte einige Flöhe. Die Klugen retteten sich rechtzeitig zu den Ratten, die sich nach genossener Krümelmahlzeit ohne Eile verzogen. Gegen die Läuseheere auf Marozias Kopf war kaum anzukommen, obwohl ihre Haarfülle sich während der Kerkerzeit gelichtet hatte. Insbesondere seit Beginn ihres Fastens fielen die Haare in Büscheln aus, zur Freude unserer Ratten im übrigen, die sie wegschleppten, vermutlich, um ihre Schlafstätten weich auszustatten.
Die Zähne des Kamms kratzten dicke Schichten von der Kopfhaut, in denen es wimmelte. Als ich die Masse abstrich, segelten auch jetzt wieder jede Menge Haare zu Boden. Marozias Körper hatte sich versteift, bis ich merkte, daß sie stumm weinte.
»Laß es!« schluchzte sie schließlich.
Die Stunden zogen sich zäh hin, bis wir ferne Geräusche hörten, dann Stimmen, und schließlich standen sie tatsächlich vor uns: Giovanni, Marozias ältester Sohn, der junge pontifex maximus Johannes XI. von seiner Mutter Gnaden, mit Samtkappe auf seinem Haupt, bescheiden in eine weiße Dalmatika gehüllt, mit krummem Rücken, und neben ihm Berta, ihre jüngste Tochter, im grauen Novizinnengewand, den Kopf eingehüllt, das Gesicht mager und verhärmt.
Marozia wollte, eher zaghaft, ihre Kinder in die Arme schließen. Giovanni-Johannes streckte ihr unsicher die Ringhand entgegen und trat zugleich einen Schritt zurück. Sie erstarrte, übersah die Hand und zog Berta an sich, die sich zwar umarmen ließ, jedoch stocksteif blieb.
Obwohl voller Bestürzung, lächelte ich und rührte mich nicht vom Fleck. Giovanni schaute mich schließlich schuldbewußt an, ohne mir die Ringhand hinzuhalten, und als Berta stumm ihren Kopf an meiner Brust barg, schloß er sich ihr an. Ich konnte Marozia diesen Anblick nicht ersparen. Wie zwei trostbedürftige kleine Kinder klammerten sie sich an mich: Berta, die ins Kloster gesteckt worden war, statt als byzantinische Prinzessin auf Rosen gebettet zu werden, und Giovanni in seinem päpstlichen Gewand, wie zu seinem Unglück verkleidet. Ich schaute auf seinen Kopf: Wegen der strengen Tonsur umringte allein ein dünner Haarkranz seinen Schädel, und die Samtkappe war zu groß. Das Kreuz auf seiner Brust bestand aus billiger Bronze.
Anastasius hatte zwei Hocker mitbringen lassen, ließ sie abstellen und zog sich mit seinen Gehilfen unter tiefen Verbeugungen zurück, nicht ohne die Tür fast geräuschlos zu verriegeln. Ich war mir sicher, daß Alberich einen Lauschbericht erwartete.
Während Marozia sich stumm, mit verbittert schmalen Lippen auf ihre Pritsche setzte und Giovanni sich sein seidenes Gewand glattstrich, wollte sich Berta nicht von mir lösen. Unser jüngstes Kind war zu selten beachtet worden, wahrscheinlich, weil sie kaum Anlaß zu Sorgen gegeben hatte. Sie hatte sich von Geburt an ruhig und zurückgezogen verhalten, erstaunlich schnell zu lesen gelernt, viel gestickt und gern mit unserem dritten Sohn Konstantin gespielt, bis dieser in die Klosterschule von Farfa gesteckt wurde. Berta entwickelte sich zu einer jungen Frau mit feinen, angenehm anzuschauenden Gesichtszügen, die lange Zeit in Träume versunken im Garten verbringen konnte und, zu meiner Freude, begierig war, Griechisch zu lernen.
Als Marozia wahrnahm, daß Berta zwar nicht die üppige Weiblichkeit ihrer Mutter und Großmutter geerbt hatte, aber keineswegs häßlich war und zudem Griechisch sprach, war schon der Gedanke geboren, sie nach Byzanz mit einem Kaisersohn zu verheiraten. Doch dann kam alles anders. Statt, umgeben vom weißen Marmor des gynaikeions, den ungläubigen Hofdamen von Konstantinopel in feinem Spott Roms Ruinenfelder zu schildern, statt mit ihrem jungen Gemahl im Abendschein die kaiserlichen Gärten hinab zur Meeresküste zu schreiten, an plätschernden Brunnen vorbei, im Duft von Malven und Rosen, umgeben von radschlagenden Pfauen und stolzierenden Ibissen, statt seine stürmische Männlichkeit in sich aufzunehmen und im Porphyrpalast die kaiserlichen Kinder zur Welt zu bringen, sollte sie in einem kargen Kloster ihre nie ausgesprochenen Träume, ihre durchsichtige Schönheit und ihre feingliedrige Fruchtbarkeit verlieren und dahinschwinden wie eine Kerze im Zugwind, wie eine Lilie, der das Wasser fehlte.
Giovanni-Johannes knetete seine Finger und wußte nicht recht, was er tun und sagen sollte.
»Setz dich!« befahl ihm seine Mutter.
Er blieb jedoch stehen und versuchte, seinen Körper zu straffen.
»Euch hat wohl Alberico, euer netter Bruder, geschickt!«
Warum, fragte ich mich, fuhr Marozia ihre Kinder so barsch an? Freute sie sich überhaupt nicht? Vielleicht war sie enttäuscht darüber, daß die Kinder ihr nicht um den Hals gefallen waren, sie mitleidig bedauerten und ihr unverzüglich versprachen, um ihre Freilassung zu kämpfen.
Berta nickte schüchtern, während Giovanni-Johannes sich räusperte und antwortete: »Alberico nimmt jetzt in Rom die Stelle ein, die du früher innehattest, alle Mächtigen in der Stadt huldigen ihm, auch ich konnte nicht anders …«
»Ja, ja, ich weiß schon«, fiel Marozia ihm ins Wort. »Du hast den Schwanz eingezogen wie ein Hund, der Prügel erwartet. Was seid ihr alle für … für …« Sie unterbrach sich selbst, als sie die gekränkten Mienen ihrer Kinder sah.
Bevor ich etwas Versöhnliches sagen konnte, brach sie in Schluchzen aus und preßte kaum verständliche Worte der Entschuldigung hervor. Sie kniete vor ihrer Tochter, griff nach Bertas Hand, bedeckte sie mit Küssen, erhob sich stöhnend, umarmte Giovanni, den die Wand hinderte, weiter zurückzuweichen. Nach einer Weile entschuldigte sie sich erneut, diesmal für ihren unbeherrschten Gefühlsausbruch, und setzte sich wieder.
Das allgemeine Schweigen dauerte so lange, daß ich schon fürchtete, Anastasius würde den Besuch beenden, weil er sich in jeder Hinsicht als fruchtlos erwies. Daher fragte ich Giovanni, ob die byzantinische Gesandtschaft abgereist sei und warum das Ehebündnis nicht wie abgemacht eingehalten worden sei.
Marozia schaute müde auf.
»Alberico will jetzt eine ihrer Prinzessinnen heiraten. An Roms Wohlwollen habe sich nichts geändert, unterstrich er. Ich mußte vor den Gesandten betonen, daß du als senatrix et patricia romanorum freiwillig zurückgetreten seist, es dir im Prinzip gutgehe, obwohl du, zur Zeit an einer Unpäßlichkeit leidend, niemanden empfangen könntest …«
Kaum bewegte seine Mutter ihre Hand, verstummte er.
»Mama, ich habe doch nie Papst werden wollen!« stieß er plötzlich verzweifelt aus. »Du hast mich dazu gezwungen. Wenn ich jetzt nicht tue, was Alberico sagt, bringt er mich um. Und außerdem kann ich seinen Haß verstehen.«
Marozia winkte müde ab: »Ich kann ihn auch verstehen. Ich kann euch alle verstehen. Ich war ein machtbesessenes Weib, nach dessen Peitsche jeder tanzen mußte.«
»Selbstmitleid bringt uns nicht weiter«, sagte ich kühl, erstaunt über meine mitleidlosen Worte. Aber ich fand, daß dieser Besuch völlig zu mißlingen drohte. Womöglich war es das letzte Mal, daß wir uns lebend sahen: Sollten wir nicht die Vergangenheit vergessen und uns unsere Liebe zeigen?
Marozia und ihre beiden Kinder schienen endgültig verstummt zu sein.
»Hält sich denn nun die byzantinische Gesandtschaft noch in Rom auf?« versuchte ich das Gespräch wieder aufzunehmen.
Giovanni schüttelte den Kopf, und in Bertas Augen standen Tränen, obwohl sie tapfer lächelte, als ich sie forschend ansah.
»Mir geht es gut«, flüsterte sie mir zu. »Die Mutter Oberin ist sehr nett zu mir. Sie hat mir sogar eine Bibel in Griechisch gegeben, außerdem darf ich Homer lesen.«
Nun standen auch in meinen Augen Tränen, und ich streichelte Berta über die Wange.
»Selbstmitleid bringt uns nicht weiter«, zitierte mich Marozia, müde, ja resigniert.
»Du hast recht«, antwortete ich nickend, und wieder dehnte sich das Schweigen.
»Es ist allerdings ein Byzantiner in Rom geblieben, der bereits mehrfach bei mir vorgesprochen und nach einer Aglaia gefragt hat, die in der Familie des Theophylactus Amme der Marozia gewesen sei.« Giovanni hatte unvermittelt zu sprechen begonnen, in einem unbeteiligten Tonfall und ohne uns anzuschauen.
Sollte er sich nie gefragt haben, wer dieser Byzantiner sein könnte? Hatte ich ihm wirklich nie von Alexandros erzählt? Oder wurde hier ein von Alberich inszeniertes Verwirrspiel vorgeführt?
Ich schaute Marozia an, die noch bleicher als gewöhnlich geworden war. »Es kann nur Alexandros sein«, flüsterte sie mir zu. Ich nickte, und in mir begann eine Entscheidung zu reifen, die ich bisher stets verworfen hatte.
»Und was hast du geantwortet?« fragte ich so ruhig wie möglich.
»Alberico hat mir verboten, deinen Aufenthaltsort zu nennen.«
»Aber du mußt doch etwas geantwortet haben?«
»Ich glaube, der Byzantiner hat Rom mittlerweile wieder verlassen.«
In Marozias Augen begann der Haß zu glühen.
»Wie alt war der Mann?« fragte ich.
»Vielleicht so alt wie Mama. Aber er sah jünger aus. Schlank, mit dunklen Haaren.«
»Es könnte sein, daß du mit dem Milchbruder deiner Mutter gesprochen hast, mit meinem Sohn Alexandros.«
»Kann sein«, sagte Giovanni und schaute auf den Boden; sein Fuß schabte nervös hin und her, während Bertas Blick von einem zum anderen flatterte. Marozia ballte ihre Faust, bis das Weiße auf den Knöcheln hervortrat.
Ich hätte ebenso schreien mögen, nahm aber alle Kraft zusammen und beherrschte mich. »Bist du sicher, daß er Rom verlassen hat?«
Giovanni zuckte die Achseln.
Marozia sprang auf, als wollte sie sich auf ihn stürzen. Giovanni schrie auf und hob schützend die Arme vor den Kopf, obwohl er nie von seiner Mutter geschlagen worden war. Ihr Gesicht war verzerrt vor Wut und hilfloser Liebe. Sie nahm die Arme ihres Sohnes und umschlang schließlich seinen Kopf, drückte ihn an ihre zitternde Brust.
»Du bist immer mein Liebling gewesen«, flüsterte sie ihm zu. »Du solltest der geistliche Herrscher sein und bist es geworden, Nachfolger der Apostel und Führer der Christenheit, dessen Aufgabe es ist, die mächtigsten Könige zum Kaiser zu krönen und zu salben, und der daher über ihnen steht. Verstehst du: Über dir thront nur der dreieinige Gott! Ich weiß, daß dein Bruder dich bedroht, aber du kannst dich wehren, denn die Kirche steht hinter dir …«
Ihr Flüstern wurde noch leiser, so daß es Anastasius hinter der Tür sicher nicht mehr verstand. »Du kannst deinen Bruder so lange exkommunizieren, bis er zu Kreuze kriecht. Du bist der Stärkere, vergiß dies nicht. Es zählt nicht das Schwert in einer eisernen Faust, sondern der eiserne Wille. Du mußt deine Mutter rächen: Bestich einen von Albericos Männern, gibt ihm hundert Solidi oder mehr, damit er dem Usurpator die Kehle durchschneidet, oder laß ihn vergiften, gib einer seiner Huren das Geld, so daß sie zerstoßenen Eisenhut in seinen Wein rührt. Verstehst du mich? Er muß sterben, damit wir endlich frei sind, du und ich, damit du keine Angst mehr haben mußt. Wenn du jetzt nichts unternimmst, wird Alberico auch dich einsperren oder ermorden, wenn es ihm paßt. Nimm allen Mut zusammen, mein Liebling, du mußt es deiner Mutter zuliebe tun!« Sie preßte seinen Kopf noch enger an ihre Brust und bedeckte sein Gesicht anschließend mit Küssen, während die Tränen in Rinnsalen über ihre Wangen liefen und Giovanni benetzten.
Ich war erstarrt von ihrem Ausbruch, so daß ich kaum merkte, wie Berta meine Hand ergriff. Die Kerkerhaft und die sinnlose Fasterei mußten Marozias Verstand so verwirrt haben, daß sie Alberico endlich den Vorwand lieferte, sie aus dem Weg zu räumen, und womöglich nicht nur sie.
Mein Entschluß ist gefallen – dabei kann ich nicht einmal sagen, was der letzte Anstoß war.
Ist es Alexandros, den ich unbedingt wiedersehen will?
Oder überschwemmt mich unerwartet Todesangst?
Wie konnte Marozia nur ihren Papstsohn bedrängen, seinen Halbbruder zu ermorden! Selbst wenn, was ich als wahrscheinlich empfand, Anastasius hinter der Kerkertür nichts verstanden hatte, so würde Giovanni doch Alberico gegenüber derart verunsichert wirken, daß Alberico ahnen mußte, was geschehen war.
Unser Todesurteil ist unterzeichnet!
Während ich schlaflos dem Herumhuschen und Fiepen der Ratten und Marozias rasselnden Atemgeräuschen lausche, muß ich an die Nacht denken, in der ich mich vor nahezu drei Jahrzehnten mit Martinus vereinte. Jene Nacht und alles, was anschließend geschah, bestärken mich in meinem Entschluß.
Es muß mittlerweile Morgen sein. Ich war nicht mehr in der Lage, weiterzuschreiben, doch auch an Schlaf war nicht zu denken. So starrte ich auf die flackernden Flammen der Kerzen, bis Marozia erwachte und ich ihr verkünden konnte, ich wolle Albericos Angebot annehmen und unseren Kerker verlassen, um auf diese Weise eine letzte Chance zu ergreifen, ihr Leben zu retten. »Und auch, um Alexandros zu sehen, falls er sich noch in Rom aufhält.«
Marozia tat so, als hätte ich ihr soeben guten Morgen gewünscht, und betete das Pater noster. Nach dem Amen und einem tiefen Seufzer sagte sie, wie nebenbei: »Ja, ja.«
Ich wollte zu einer weiteren Erklärung ausholen, hielt sie dann jedoch für unnötig. Nicht noch einmal wollte ich im letzten Augenblick eine Chance ausschlagen.
»Geh nur, ich habe ohnehin mit dem Leben abgeschlossen«, sagte sie, bevor sie das Magnificat vor sich hinzumurmeln begann.
»Du weißt, daß ich dich mehr als jeden anderen in meinem Leben liebe«, erklärte ich in das Gemurmel hinein. Als Antwort erhöhte Marozia die Lautstärke ihrer Stimme: »Deposuit potentes de sede, et exaltavit humiles. ER stößt die Mächtigen vom Throne, die Niedrigen erhöhet ER.«
Ich gab nicht auf: »Marozia, weißt du das?«
»Sicut erat in principio, et nunc, et semper, et in saecula saeculorum. Amen. Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen.«
Sie starrte vor sich hin und sprach kein einziges Wort mehr.
An diesem Tag dauerte es besonders lange, bis Anastasius mit seinen Gesellen auftauchte, und als er die Tür öffnete, wirkte er wortkarg und sorgenschwer. Ich warf noch einmal einen Blick auf Marozia und sagte mit fester Stimme: »Anastasius, richte bitte Princeps Alberich aus, ich hätte es mir anders überlegt und nähme sein Angebot an, mich freizulassen.«
Der alte Fuchs spähte kurz zu mir, dann zu Marozia, bevor er ohne Gemütsregung antwortete: »Das ist sicher nicht dumm.«
Mehr gab es nicht zu sagen. Als er fort war, begann das Warten. Zuerst setzte ich mich vor mein Pergament und wollte die Gründe für meinen Entschluß auflisten, sah aber, daß sie bereits genannt waren. Ich blätterte zurück und fand meinen Eintrag, der ins Jahr 904 nach der Menschwerdung des Herrn führte.
Zu der Nacht, in der ich zu Martinus flüchtete, weil ich mit ihm fliehen wollte.
Ich hatte mich neben ihn gelegt und ihm versprochen, mit ihm nach Lucca zu gehen, seine Frau zu werden, eine gemeinsame Zukunft bis an das Ende unserer Tage zu gründen. Sein Glück schien ihn zu überwältigen. Während er mich zärtlich streichelte und mich langsam entkleidete, begannen sich Theophylactus und Theodora geräuschvoll zu lieben. Ich hörte sie ohne Ende singen und stöhnen, hecheln und aufschreien. Offensichtlich stand Theodoras Geliebter Johannes nicht zwischen ihnen, sondern regte die Gemeinsamkeiten an. Als Martinus in mich hineinwuchs, stöhnten sie weiter, auf- und abschwellend. Ich gab keinen Laut von mir, auch Martinus nicht. Reglos hielt er mich, als wollte er mich nie mehr loslassen. Nicht weit von uns entfernt tobte der Kampf um die höchsten Spitzen der Wollust. Das Schlimme war nicht unser Schweigen, das Schlimme war, daß ich nichts spürte, während ich Martinus zu lieben glaubte. Ich fühlte mich tot. Er liebte einen Kadaver.
Nun lachten Theophylactus und Theodora, ein schrilles, albernes Gelächter, das zwischendurch erstickte und dann wieder höhnisch explodierte. Zugleich bewegte sich etwas in mir, ein fremder Körper, nicht schmerzhaft oder unangenehm, und doch ein Eindringling, der mich zurück zu Yussuf führte, zurück zu der Horde der Sarazenen, die wie hungrige Wölfe über mir geiferten, bis die Erinnerung schmerzhaft abbrach.
Martinus hatte aufgehört, sich zu bewegen.
»Ich bin deine Frau geworden«, flüsterte ich.
Er berührte meine Augen mit seinen Lippen.
Weil – nach einem langgezogenen Stöhnen des Theophylactus und einem auftrumpfenden Lustschrei Theodoras – Ruhe eingekehrt war, mußte ich wohl eingeschlafen sein. Als ich mit dem ersten Hahnenschrei erwachte, glaubte ich zu ersticken. Ich fühlte mich schwach und ausgelaugt, und alles, was ich Martinus Stunden zuvor versprochen hatte, war falsch. Voller Ekel vor mir und meinem nackten Körper, stand ich auf, warf mir meine Tunika über, sagte nur einen Satz: »Ich kann nicht mit dir gehen« und ließ ihn allein.
Gefühlstaub und leer setzte ich mich vor die Venusstatue im Peristyl, lehnte mich an eine Säule. Als ich begriff, was ich getan hatte, keimte in mir eine schwache Hoffnung auf, Martinus möge die Vereinigung und das Versprechen der letzten Nacht vergessen und bleiben.
Doch mit Sonnenaufgang hatte er bereits das Haus verlassen. Theophylactus fand eine Mitteilung von ihm vor, die er mir entsetzt und wütend vor die Nase hielt. Jeder im Haus wußte, daß unser Procurator mich in demütiger Treue liebte.
Ich nickte nur und sagte: »Es ist meine Schuld.«
Später bestürmte mich Theodora, ihr zu berichten, was die vergangene Nacht geschehen sei.
Ich schüttelte den Kopf. Mir war sterbenselend. Marozia hampelte eine Weile vor mir her und verzog sich beleidigt, als ich nicht auf sie einging. Nur Alexandros setzte sich neben mich, mein heranwachsender Sohn, ein vierzehnjähriger Junge, der alles zu verstehen schien.
»Bist du meinetwegen geblieben?« fragte er, obwohl ich ihm nie von Martinus' Angebot erzählt hatte.
»Alles geschieht deinetwegen«, antwortete ich, ohne mir zu überlegen, wie der Junge meine Worte auffassen mußte.
Als ich in seine großen Augen blickte, fügte ich eilig an: »Ich wollte dich und unsere Mariuccia nicht auseinanderreißen.«
»Glaubst du wirklich …?«
»Ich will alles tun, damit ihr glücklich werdet.«
Ernst starrte er in die Ferne, erhob sich schließlich mit verschleiertem Blick und eingezogenen Schultern und verschwand wortlos im Haus.
Ich starre auf das Pergament, auf dem sich wie unter einem fremden Diktat die Buchstaben und Worte dahingequält haben. Vorsichtig lasse ich meine Finger über seine Oberfläche gleiten.
Es gibt nur einen Ausweg: Flucht.
Ich muß das eine Kind verlassen, um das andere wiederzufinden.
Ich darf nicht noch einmal zurückschrecken.
Alberico läßt mich warten.
Natürlich habe er meine Botschaft unverzüglich an Princeps Alberich weitergeleitet, betonte Anastasius vor Tagen, und der Princeps habe nicht den Eindruck erzeugt, er überlege sich, sein Angebot zu widerrufen. Er, Anastasius, sei sogar so mutig gewesen, den Herrscher Roms noch einmal an die Botschaft zu erinnern, worauf Princeps Alberich ihm knapp beschieden habe: »Alles zu seiner Zeit.«
Anastasius kratzte sich am Kopf. »Vielleicht sagte er auch: ›Alles Warten braucht seine Zeit.‹ Ich bin ein alter Mann, verstehst du, der leicht vergißt. Wer wie du aufschreibt, was in seinem Leben geschah, ist zu beneiden. Dem wächst sein Leben wie ein weitverzweigter Baum: Jedes Blatt ist eine Erinnerung. Oder wie ein Turm, der bis in die Wolken reicht. Dort oben wird dann alles neblig und düster: Das ist das Alter.«
Wahrscheinlich hätte Anastasius noch weitergeredet und andere Vergleiche gefunden, wenn ich ihm nicht ins Wort gefallen wäre: »Dann kommt ein Erdbeben und läßt den Bau einstürzen; oder es kommt der Holzfäller und legt den Baum um: Das ist der Tod.«
»Wie wahr!« erwiderte Anastasius nachdenklich und verabschiedete sich schließlich mit den Worten: »Aber sogar das gefällte Holz erfüllt mannigfache Zwecke: Es trägt Dächer, gleitet über die Wogen des Meeres …«
»… oder verbrennt in Küchen und Kaminen.«
»Wie wahr, wie wahr!« hörte ich Anastasius noch rufen, als er mit einem entschiedenen Ruck unsere Kerkertür verriegelte.
»Doch selbst das Brennholz wärmt unsere Speisen und Körper«, sagte ich zu mir selbst.
Seitdem gilt es zu warten.
Marozia betet stumpfsinnig oder ergeht sich, kaum verständlich, in Selbstanklagen. Was ist aus meinem stolzen, starken und lebenswilden Kind geworden! Eine zerknirschte Betschwester! Sie wird mir bis an das Ende meiner Tage ein Rätsel bleiben.
Während mich die erste Zeit des Wartens quälte, ergebe ich mich nun in mein Schicksal und nehme mir das Pergament wieder vor. Leider zieren sich die Erinnerungen, zeigen sich wenig auskunftswillig. Nach Martinus' Verschwinden gähnt ein Loch. Ich sehe meinen Sohn neben mir sitzen, und wenn ich genau hinschaue, entdecke ich täglich mehr von seinem Vater: zum Beispiel die feingeschnittene Nase und seine verschatteten Augen.
Und seltsamerweise erinnere ich das Singen der Handwerker, die begonnen hatten, aus der eingestürzten und ausgeplünderten Lateran-Kirche eine neue, noch größere, fünfschiffige Basilika zu errichten, die nach Johannes dem Täufer genannt werden sollte. Papst Sergius plante, sich ein Denkmal zu setzen und den Schandfleck der unkrautüberwucherten Ruinen endlich zu beseitigen. Auch Konsul Theophylactus stiftete Hunderte von Solidi und dachte daran, die Kapelle seiner Familie in der Basilika mit einem Goldkreuz auszustatten. Es kam jedoch nicht dazu, was Papst Sergius zutiefst und mit bedeutungsvoller Miene bedauerte.
Schatten über Schatten liegen auf den ersten Jahren seines Pontifikats, in denen Marozia und Alexandros erwachsen wurden. Dabei zeigte sich mehr und mehr, daß sie sich in ihrem Temperament auffallend unterschieden.
Alexandros blieb der in sich gekehrte, nachdenkliche Junge, der wie seine Mutter die griechischen Philosophen und Schriftsteller liebte, der im Garten, im Schatten der Zypressen, dahinträumen konnte, der mich allerdings auch auf meinen Inspektionsreisen nach Latium und in die Albaner Berge begleitete und mir ein zweiter Martinus wurde.
Marozia entfaltete ihre Schönheit und ihren Liebreiz, und trotz der weiten Tuniken, die sie trug, sah man im Fluß der anmutigen Bewegungen ihre Formen schwellen. Ach, wie arm ist die Sprache, wenn es darum geht, Schönheit zu schildern! Unsere Worte reihen sich wie kahle, abgestorbene Büsche, die an eine ergrünte und strahlend blühende Hecke erinnern sollen.
Während Alexandros seiner Geliebten Verse von Homer oder auch Theokrit vorlas und erläuterte, sah man ihr an, daß sie mit ihm lieber ausgeritten wäre. Sie begleitete uns nicht auf unseren Inspektionsreisen, weil es zu gefährlich war, doch lauschte sie mit großem Interesse den Debatten, bei denen es um Machterhalt und Machtzuwachs in Rom ging, um Intrigen und Schachzüge zwischen den Adelsfamilien. Sticken haßte sie; für langes Kämmen, Flechten und Legen ihrer Haare brachte sie keine Geduld auf, auch die zeitraubenden Schminksitzungen ihrer Mutter machten sie nervös. Gleichwohl saß sie gern bei ihr und ließ sich, wie ich am Rande bemerkte, von der Leidenschaft zu Erzbischof Johannes erzählen. Erwähnte ihr Vater den Markgrafen Alberich und betonte, was für ein wichtiger Mann und starker Held er sei, zog sie nur spöttisch die Augenbrauen hoch.
Was wußte ich damals wirklich von der Seele der Kinder? Dies frage ich mich heute. Alexandros verschloß vor mir seine Gefühle; Marozia erzählte zwar viel, doch bin ich mir nicht sicher, ob sie immer die Wahrheit sprach. Außerdem vermochte sie geschickt, wichtige Punkte im Dunkeln zu lassen.
Theophylactus und seine Gemahlin übersahen die Liebe der jungen Menschen oder nahmen sie nicht ernst. Auf jeden Fall trennten sie die beiden nicht – obwohl sie ins heiratsfähige Alter hineinwuchsen und Marozia Markgraf Alberich Versprochen war. Warum er so lange hingehalten wurde und sich hinhalten ließ, verstehe ich bis heute nicht recht; ich nehme aber an, daß Theodora ein Druckmittel ihm gegenüber in der Hand behalten wollte und er Marozias Widerstand gegen eine Verheiratung spürte. Hinzu kam, daß er genügend weibliche Ablenkung fand.
Ich selbst sorgte nicht nur für das Wohlergehen der familia, sondern auch, unterstützt von Aaron und seinen Männern, für das Florieren der Handwerksbetriebe, die Theophylactus gehörten, und trieb den Bau der Schutzburgen und Bergdörfer in der Sabina und in den Albaner Bergen voran, kontrollierte den Einsatz der coloni auf den Domänen. Erstaunlich war, daß die Sarazenen sich während dieser Jahre mit ihren Brandschatzungen zurückhielten, vermutlich durch Alberichs Truppen in Schach gehalten oder durch Bruderkämpfe und Rivalitäten geschwächt.
Von den Ungarn im Norden hörte man das Gerücht, daß der von ihnen besiegte, jedoch nicht gänzlich entmachtete Berengar von Friaul ihnen Tributzahlungen und ein Bündnis angeboten habe. Dann traf, von Erzbischof Johannes nach Rom überbracht, die Nachricht ein, Berengar, der noch immer nach der Kaiserkrone strebe, habe Kaiser Ludwig in Verona überfallen, ihn – manche behaupteten sogar: persönlich – geblendet und in die Provence zurückgeschickt. Papst Sergius wie auch seine Freunde und Berater, unter ihnen Theophylactus und Alberich, wollten den zwielichtigen und machtgierigen Verräter keineswegs zum Kaiser krönen, zumal sie befürchteten, er könne mit den Horden der beutegierigen Ungarn im Schlepptau vor den Toren der ewigen Stadt auftauchen.
Doch dann traten Ereignisse ein, welche die Schatten der Vergangenheit wie durch einen Blitz zerrissen.
Eines Tages ließ mich Theodora zu sich rufen. »Wir können nicht länger warten«, rief sie mir heftig erregt entgegen, kaum hatte ich ihr Schlafgemach betreten. »Wir müssen handeln. Sergius beginnt, uns zu erpressen.«
Theodora, die beim Schminken war, schickte ihre Kammerfrau hinaus, stellte ihr Töpfchen mit der Bleiweißsalbe weg, schob ihr Talkumpuder beiseite und winkte mich so nah zu sich, daß sie leise sprechen konnte, was ihr allerdings auf Grund ihrer Erregung nicht immer gelang.
»Er ist ein Schwein: Ohne uns wäre er nie Papst geworden, sondern in seinem Exil verrottet, und jetzt läßt er den Hinweis in seine ruchlosen Reden einfließen, das Kreuz des Belisar gehöre der Mutter Kirche – und erinnert mich unverhohlen daran, daß er einen Wunsch frei habe.«
»Und was wünscht er sich?«
»Das ist es ja!« Theodora war aufgesprungen und rannte zur Tür, die seit neuestem ihren Schlafraum verschloß – zuvor schwang nur ein Vorhang hin und her, wegen der besseren Durchlüftung –, schaute, ob jemand lauschte, kam zurück und zischte mir zu: »Er will eine Tochter aus unserer Familie als Opfergabe, verstehst du?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er will Marozia entjungfern!«
Das konnte nur ein schlechter Scherz sein.
»Sollte Marozia nicht Alberich heiraten?« Ich spürte eine bedrängende Hitze in mir aufsteigen, weil ich an Alexandros dachte, an die Liebe der Kinder, die keine Kinder mehr waren, die sich womöglich längst die Treue geschworen hatten …
»Das ist es ja! Die Heirat ist überfällig. Ich zögerte sie nur heraus, um Alberich … egal! Außerdem ziert sich Marozia.«
»Und was sagt Theophylactus dazu?«
»Der ist ebenso empört – vor allem wegen des Kreuzes. ›An ihm hängt der Segen unseres Hauses‹, erklärt er. ›Nur über meine Leiche!‹ Und er meint es ernst. Wenn Sergius ihn öffentlich als Dieb anprangert, gibt es Krieg.«
»Aber Krieg will niemand.«
»Nein.«
»Und?«
»Soll ich etwa meine älteste Tochter einem alten Mann ins Bett legen? Glaubst du, daß Alberich sie dann noch nimmt? Er läßt sich ohnehin nicht mehr hinhalten. Wir dürfen ihn jedoch unter keinen Umständen als Verbündeten verlieren. Er ist das Schwert, das unseren Ansprüchen Nachdruck verleiht.«
Ich dachte weniger an Alberich als an meine eigenen Erfahrungen mit Sergius, vor allem aber dachte ich an Alexandros und Marozia – und verstand nicht, was den geilen Alten trieb. Er mußte mittlerweile über sechzig Jahre zählen, hatte alles erreicht, was er in seinem verbissenen Kampf gegen Formosus angestrebt hatte, lebte in neuerstandenem Prunk im Lateranpalast, in Räumen, deren Wände Maler aus dem byzantinischen Reich ausgeschmückt hatten, in Gewändern aus bester Seide und Brokat, er aß von silbernen Tellern und trank seinen Wein aus geschnitzten Trinkhörnern und sogar Gläsern, die in Gold eingefaßt waren. Er umgab sich mit einer Musikantengruppe und ließ junge Sklavinnen tanzen, die ihn anschließend in Betten, deren Vorhänge mit Goldfäden durchzogen waren, auf seidene Kissen betteten, seine müde und mürbe gewordene Haut walkten und kneteten, ihn mit Öl salbten, bis sie auf seinem Sporn reiten konnten – all dies bildete den täglichen Klatsch … Warum war er nicht mit den Sklavinnen zufrieden, die ihn umgurrten, warum wünschte er sich eine Jungfrau, deren Schönheit durch ihren Stolz und ihren herrschaftlichen Anspruch noch erhöht wurde, die aber einen eigenen Willen zeigte, dessen Stärke dem seinigen durchaus entsprach?
Ich sagte nur: »Ich kann es nicht glauben.«
»Wir wollten es auch nicht glauben.« Theodoras Stimme war wieder lauter geworden. »Es gibt noch etwas anderes, was ich befürchte, wenn wir Sergius nicht zu Willen sind: Er bringt es fertig und läßt Johannes ermorden. Wer seine beiden Vorgänger auf dem Gewissen hat – warum sollte er seinen Nachfolger verschonen? Sergius ist ein alter, bösartiger Wolf, der bestimmt nicht die Strafen der Hölle fürchtet, zumal er das Geld hat, alle Bußen der Welt zu bezahlen. Theophylactus kann ein Lied von seiner Verschwendungssucht singen – du weißt ja, was der Bau der Basilika kostet! Da bleibt für uns nicht mehr viel übrig!«
»Und was wollt ihr unternehmen? Es kann doch keiner ernsthaft seinen Erpressungswunsch in Erwägung ziehen. Außerdem würde sich Marozia nie darauf einlassen.«
»Ist sie überhaupt noch Jungfrau?« Theodoras Augen waren unversehens schmal geworden und ihr Blick berechnend. »Du bist ihre Vertraute, Lehrerin und Beschützerin, du bist für sie verantwortlich, dich liebt sie mehr als mich … Haben nicht die melancholischen Augen eines jungen Mannes ihr den Kopf verdreht?« Sie schaute mich durchdringend an und nahm schließlich meine Hand, preßte sie derartig, daß ich einen deutlichen Schmerz verspürte. Als ich sie zurückziehen wollte, ließ sie Theodora nicht frei.
»Alberich wird Sergius kaum das ins primae noctis zugestehen, und den jungen Hengst einer Sklavin wird er ebensowenig auf seiner Weide dulden.«
Ich wollte Theodora mitsamt ihrem Alberich zum Teufel wünschen, wollte aufspringen und zu den beiden Kindern eilen, doch die Hand umklammerte mich weiterhin mit dem festen Griff einer Akrobatin.
Warum hatte ich nur Martinus ein Versprechen gegeben und es dann umgehend gebrochen! In diesem Augenblick loderte die Flamme des Bedauerns verstärkt auf. Aber mehr als die unumkehrbare Vergangenheit nährte sie nicht. Es galt daher, einen kühlen Kopf zu bewahren in einem Augenblick, der uns alle bedrohte. Nicht nur Theodoras Hand, sondern auch ihre dunklen Augen suchten mich festzunageln.
»Was sollen wir tun?« Ihre Stimme hatte das Zittern der Erregung verloren; sie klang kalt und schneidend wie eine Klinge aus Stahl.
»Hast du mit Marozia gesprochen?« fragte ich, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
»Du bist ihre Vertraute, das sagte ich bereits. Natürlich kann ich ihr nicht sagen, daß Sergius sie entjungfern will. Aber sie hat so lange auf Ehebündnis und Brautbett warten müssen, daß ihre Gedanken besetzt sind von den Wonnen des Erkennens, das hat unser letztes Gespräch unmißverständlich gezeigt. Vielleicht wurde sie bereits erkannt. Auch dies sagte ich schon …«
»Ich glaube nicht«, sagte ich kühl.
»Du glaubst nicht?«
»Nein.«
»Du bist für sie verantwortlich.«
»Ich bin ihre Kammerfrau, ihre Lehrerin, vertrete den Procurator des Hauses, verhandle mit den Fernhändlern, kontrolliere die Einnahmen – für was soll eine Sklavin noch verantwortlich sein?« Auch mein Ton war schärfer geworden.
»Verstehe mich nicht falsch …«
»Ich glaubte eine Drohung in deinen Worten vernommen zu haben …«
»Es geht mir um Marozia …«
»Um Marozia?«
»Um unsere Zukunft.«
Endlich konnte ich mich aus ihrem Griff befreien und erhob mich. Auch sie stand auf, so daß wir uns Auge in Auge gegenüberstanden, als müßten wir unsere Kräfte messen.
Unversehens umarmte Theodora mich, drückte mich fest an ihre Brust und flüsterte mir ins Ohr: »Wir beide müssen zusammenhalten – wie Schwestern. Jetzt brauche ich deine Hilfe.«
Ich reagierte nicht.
»Mein Plan ist folgender«, sagte sie etwas lauter, doch noch immer mit gedämpfter Stimme, und löste sich von mir. »Sergius soll seinen Willen haben: für eine einzige Nacht. Wenn wir Marozia ein wenig Mohn in den Wein mischen, wird sie die Nacht leicht überstehen. Sergius ist nicht mehr der Jüngste, er wird sie sanft behandeln. Dies muß auf jeden Fall Bedingung sein. Sie wird sich später kaum an seinen Besuch erinnern, es ist gleichgültig, wer ihr die Jungfräulichkeit nimmt: Alberich wird sicher stürmischer vorgehen.«
Theodora schaute mich unverwandt an, so daß ich den Aufstand in meinem Inneren mit aller Mühe unterdrücken mußte. Oder hätte ich ihr sofort ins Gesicht schleudern müssen, was ich von ihrem Plan hielt?
Mit zusammengepreßten Lippen schwieg ich.
»Natürlich wird Alberich eine befleckte Marozia nicht nehmen. Also darf er es nicht merken. Dafür gibt es erprobte Mittel, und Alberich wird in seiner Eitelkeit keinen Verdacht schöpfen, wenn er als echter Stier sein Horn aufrichtet und Blut fließt …«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Marozia diesen ungeheuerlichen Betrug mitspielt«, sagte ich so sachlich wie möglich.
»Sie muß! Als meine Tochter gibt sie sich keinen Illusionen hin, außerdem habe ich erlebt, als sie vor Jahren zwischen mir und Johannes lag, wie empfänglich sie für Zärtlichkeiten ist – und natürlich mußt du mir helfen, sie zu überreden.«
Ich schwieg.
»Es gibt ein weiteres Problem, bei dem ich deine Hilfe brauche. Dieses Problem heißt Alexandros.«
Unwillkürlich zuckte ich zusammen, beherrschte mich jedoch sofort wieder.
»Wieso? Kannst du dich über meinen Sohn beklagen? Er ist überaus höflich, zurückhaltend, viel zu sehr in sich vergraben …«
»Du weißt genau, worum es geht. Verkaufe mich nicht für dumm!« unterbrach sie mich, erneut in einem herrischen Ton, den ich nie an ihr leiden konnte.
»Marozia und Alexandros sind Geschwister, nicht mehr, alles andere wäre Blutschande …«
»Sie sind Milchgeschwister«, entgegnete ich.
»Reicht dies nicht?« Sie sah mich scharf an. »Marozia ist Alberich seit langem versprochen, das weißt du genau, das wissen auch die beiden. Was sie bisher getrieben haben, ist Spiel mit dem Feuer.«
Ich weiß nicht, was Theodora in meinen Augen las, auf jeden Fall wurde ihr Ausdruck milder, die Stimme sanfter. Sie nahm sogar wieder meine Hand: »Ich habe Sergius bereits vorgeschlagen, sich mit meiner Jüngsten zufriedenzugeben. Aber er hat den Vorschlag strikt abgelehnt. Er hat es auf Marozia abgesehen.«
Nun konnte ich mich nicht länger beherrschen. »Du mußt sein Ansinnen zurückweisen!« rief ich, völlig außer mir. »Wie kannst du deiner Tochter dies antun!«
»Was ist schon dabei! Was hast du denn ertragen müssen? Auch ich könnte dir Geschichten erzählen … oder glaubst du, die Gaukler hätten eine Jungfrau mit sich geführt?«
»Es ist eine Todsünde.«
»Seit wann hältst du mir Sünden vor? Die Welt ist voller Sünden, und kein Gott kümmert sich um die Bestrafung der Sünder.« Sie hatte sich abgewandt und an das kleine Fenster gestellt, durch das man auf einen Feigenbaum schauen konnte. Schließlich sagte sie: »Du weißt, daß du uns dein Leben verdankst.«
»Theodora!« Ich legte alles Flehen in meine Stimme, doch sie drehte sich nicht um. Auch ich blieb stehen, verwirrt, verzweifelt, hilflos.
»Stell dir vor, jemand verrät Alberich, was geschehen ist – Marozia zum Beispiel …«
»So dumm ist sie nicht.«
»Oder, schlimmer noch, der Papst selbst – ihr macht euch erpreßbar. Alberich würde sich rächen, Marozia verstoßen …«
»Glaubst du, daran habe ich nicht gedacht? Marozia ist meine Tochter, sie wird vernünftig reagieren. Vielleicht hast du etwas den Kontakt zu ihr verloren …«
Ich wurde unsicher: Sollte ich meine Marozia nicht mehr kennen? Sollte ich während der letzten Jahre mich zu viel um das wirtschaftliche Wohlergehen des Hauses Theophylactus gekümmert und sie vernachlässigt haben?
»Was Sergius angeht«, fuhr Theodora fort, »so bin ich überzeugt, daß er nicht reden wird. Schließlich hat er seinen neuerworbenen Ruf als untadeliger Kirchenfürst zu verlieren. Er will als der Erbauer von San Giovanni in Laterano in die Geschichte eingehen und sich dadurch einen Platz im Himmel erkaufen, nachdem er einige Morde und diesen ekelhaften Prozeß gegen Formosus abzubüßen hat. Außerdem möchte er sicher nicht so enden wie seine Vorgänger.« Theodora bleckte kurz und höhnisch ihre Zähne. »Allerdings soll er so enden, zur Strafe für diese verruchte Erpressung. Sobald Marozia ihren Gemahl Alberich umfangen hat und keine Gefahr mehr besteht, daß er sie verstößt, werde ich ihm heimlich stecken, daß Sergius Marozia Gewalt angetan hat und ihn als Gehörnten in die Ehe gehen ließ. Was glaubst du, wie Alberich reagieren wird? Ich sage es dir: Sergius wird keine drei Tage mehr leben.«
Als ich nicht sofort antwortete, fügte sie an: »Freust du dich nicht, daß Sergius noch in diesem Leben die Strafe ereilt, die er verdient?«
Ich wußte nicht, ob ich überhaupt auf diesen Plan antworten sollte, so ungeheuerlich fand ich ihn. So skrupellos. Und amoralisch. Vielleicht verdiente Sergius keine andere Antwort, aber man könnte den Verlauf der Rache abkürzen, indem man Alberich von Sergius' Ansinnen unverzüglich in Kenntnis setzte. Dies würde, in der Tat, Krieg bedeuten.
Noch war Theophylactus der mächtigste Mann in der Stadt – indes, wie lange noch? Er war die einflußreichste Stimme unter den Adligen, er war unter den Handwerkern und Händlern angesehen, das bettelnde, herumlungernde und hurende Volk liebte ihn, weil er für kostenlose Brotverteilungen sorgte, Feste ausrichten und gelegentlich Oboli verteilen ließ. Auch in der Kurie hatte er zahlreiche Anhänger, doch fanden sich hier mehr und mehr Skeptiker und Gegner, und zwar nicht nur unter den alten Formosianern – gerade weil Theophylactus so mächtig geworden war.
Papst Sergius spürte dies genau, wollte ihn womöglich sogar herausfordern. Natürlich rechnete er nicht damit, daß seine alten Bundesgenossen ihn umbringen könnten. Dies würde zu einem Aufschrei führen und vielleicht sogar die Stimmung kippen lassen. Würde dann ein gegenüber Theophylactus kritisch eingestellter Kandidat gewählt, hätten er und Alberich sich einen Bärendienst erwiesen: Sogar Alberichs Markgrafentitel und seine Herrschaft über Spoleto wären in Gefahr, nachdem er sie ohnehin nur durch einen allgemein bekannten Mord an Wido, dem Bruder des letzten Herrschers, erlangt hatte.
Da sich Theodora noch immer nicht umgewandt hatte, verließ ich wortlos den Raum. Nachdem ich unruhig durch den Garten und hinaus in den Park gewandert war, entdeckte ich in einer der versteckten Lauben meinen Sohn. Ich drückte ihn stumm an mich, er befreite sich jedoch und schaute mich erstaunt an. Stärker als früher fiel mir auf, daß er mit seinen verschatteten Augen und der schmalen Nase seinem Vater ähnelte, und ein Schauder überlief mich. Ich setzte mich neben ihn und suchte nach Worten. Natürlich spürte er meine Erregung, meine Verwirrung – sollte ich ihm etwa Theodoras Plan mitteilen?
Ich konnte noch gar nicht begreifen, daß plötzlich und unerwartet nichts mehr war wie früher.
»Mama, was ist mir dir?« fragte Alexandros mit seiner hellen, weichen Stimme, die er eher von mir als von seinem Vater hatte.
»Du und Marozia …«
»Wir lieben uns«, sagte er schlicht.
»Und Marozia?« Ich fühlte mich hilflos und dumm.
»Was soll mit Marozia sein? Das weißt du doch selbst. Sie ist schön, stolz und lächelt, daß du vor ihr auf die Knie fällst.«
»Liebt sie dich auch?«
»Ich sagte soeben, daß wir uns lieben.«
»Obwohl ihr wißt, daß sie seit langem Alberich versprochen ist? Du bist der Sohn einer Sklavin.«
»Einer Sklavin …« Er lächelte, wurde aber rasch ernst.
»Sie hat bis jetzt eine Heirat hinausgezögert.«
»Weil ihr … euch …«
Er nickte.
»Und ist sie noch …«
»Das müßtest du besser wissen als ich.«
Hatte ich derart den Kontakt zu meiner Mariuccia verloren?
Prüfend schaute ich Alexandros an: »Also ja.«
Er nickte.
»Und ihr liebt euch?«
»Mama …!«
»Entschuldige!«
»Was ist mit dir?«
»Wenn ihr euch liebt, Marozia aber Alberich heiraten soll, du der Sohn einer Sklavin bist – wie stellt ihr euch die Zukunft vor?«
Alexandros war sehr ernst geworden. »Sie wird ihn nicht heiraten.«
Ich starrte ihn an.
»Sie hat mir versprochen, sich zu weigern, weil sie mich heiraten will. Ich bin der – wenn auch illegitime – Sohn eines römischen Adligen, des jetzigen Papstes, und einer byzantinischen Prinzessin …«
»Du weißt, daß ich keine Prinzessin bin.«
»Für mich bist du eine.«
»Dein Großvater war ein angesehener Fernhändler aus makedonischer Familie.«
»Ich will mir – und dir! – die Ehre meiner Herkunft zurückerobern. Und außerdem will ich mit Marozia glücklich werden.«
In diesem Augenblick wußte ich, daß ihm der Tod drohte. Theodora, Alberich oder beide oder sogar Sergius, obwohl er sein Vater war – irgendeiner würde ihn in absehbarer Zeit ermorden lassen. Daran gab es für mich keinen Zweifel.
Ich warf einen kurzen Blick voller Panik auf ihn. Sein Gesicht wirkte ruhig und zugleich voller Hoffnung. Da ich gepeinigt war von Ängsten, die er nicht verstand oder nicht zu verstehen vorgab, legte er seinen Arm um meine Schultern. Er mochte schüchtern wirken, aber er war ein Mann geworden, in dem ein Feuer brannte – und ein unbezwingbarer Wille.
Je unbezwingbarer der Wille, so dachte ich, desto sicherer der Tod. Eins jedoch wußte ich: Den Tod meines Sohnes würde ich nicht überleben, und ich würde ihn auch nicht hinnehmen. Ich mußte seine Ermordung unter allen Umständen verhindern!
Während der nächsten Wochen kühlte sich die Stimmung zwischen Theodora und Theophylactus auf der einen und mir auf der anderen Seite spürbar ab. Erschien Papst Sergius – und er erschien häufig, meist in Jagdkleidung und ohne kuriale Begleitung –, wurde ich nicht mehr zu den Gesprächen hinzugezogen. Die Männer ritten anschließend aus, und abends wurde gefeiert. Ich hatte währenddessen die Liste der jährlichen Einnahmen zu überprüfen.
Erzbischof Johannes besuchte noch einmal Theodora, als die Männer auf der Jagd waren. Es ging ruhig zu zwischen den beiden, man hörte nur ihre gedämpften Stimmen. Schließlich verabschiedeten sie sich mit Tränen in den Augen. Als Theodora mir in der Eingangshalle begegnete, erklärte sie, Erzbischof Johannes müsse wieder nach Ravenna zurückreisen. Sie hatte seinen Titel genannt, als spräche sie zu einer Fremden. Als ich sie kalt und abweisend anschaute und mich dann kommentarlos abwandte, griff sie nach meinem Umhang, riß mir fast die Fibel ab.
»Er schwebt in Lebensgefahr, solange Sergius … du weißt schon«, flüsterte sie erregt. »Sergius hat auch Theophylactus überredet …«
Als ich erneut protestieren wollte, machte sie »Pst!« und hielt mir die Hand auf den Mund. »Nur Marozia sperrt sich noch – angetrieben von deinem Alexandros. Sie lieben sich, höre ich, wollen zusammenbleiben – ich hätte dieser weltfremden Kinderliebe längst einen Riegel vorschieben und Marozia mit Alberich verheiraten sollen. Dann hätte sie jetzt zwei Söhne und keine Flausen im Kopf.« In meinen Ohren klangen ihre Worte wie eine Drohung, und tatsächlich ließ sie mich stehen, ohne eine Antwort abzuwarten.
Kurz darauf wurde ich mit Alexandros zu Theophylactus gerufen, der mir in ungewohnt förmlicher Weise den Auftrag gab, mit einer kleinen Truppe Bewaffneter eine Inspektionsreise nach Latium durchzuführen, weil wieder Unregelmäßigkeiten in der Verwaltung seiner Domänen eingerissen seien. Alexandros, der sich als mein ›Gehilfe‹ bewährt habe, solle in die Sabiner Berge reiten, um den Fortschritt der Befestigungsanlagen um die Dörfer und den Bau der Sicherungsburgen zu überprüfen. Ihm würde Alberich ebenfalls ein paar Männer zuteilen, allerdings, da er sich als ein junger, kräftiger Mann ja selbst wehren könne, nicht allzu viele.
Alexandros schaute mich fragend an, nickte knapp und äußerte sich nicht weiter.
»Hast du verstanden?« herrschte ihn Theophylactus an, in einem Ton, den ich von ihm seit Jahren nicht mehr gehört hatte.
»Ja«, antwortete Alexandros knapp.
»Ja, Herr! heißt das.«
Alexandros reagierte nicht, und so wollte ich mich an seiner Stelle entschuldigen. Aber Theophylactus sprang, indem er mir mit einer heftigen Geste zu schweigen befahl, auf ihn zu, und es sah fast so aus, als wollte er ihn schlagen. Alexandros wich keinen Fuß zurück. Theophylactus, furchteinflößend in seiner massigen Größe und in kaum gebremstem Zorn, packte ihn an seiner Tunika, ließ ihn aber unverzüglich wieder los und bewegte sich einige Schritte im Raum auf und ab. In mühsamer Beherrschung stieß er aus: »Was ich dir noch sagen wollte, mein Junge: Laß die Finger von Marozia! Zu lange haben wir eurem Treiben zugesehen, es in Vertrauen auf den Einfluß deiner Mutter geschehen lassen. Jetzt sehen wir, daß dies falsch war.« Er fuhr sich nervös über sein Gesicht und brüllte plötzlich: »Hast du verstanden, Bastard?«
Um die Situation zu entschärfen, stellte ich mich zwischen Alexandros und Theophylactus. Ich spürte den Widerstand meines Sohnes und befürchtete, er könnte sich jeden Augenblick auf Theophylactus stürzen – was seinen Tod bedeutet hätte. Theophylactus konnte ihn vermutlich noch immer mit einem Schlag niederstrecken, hatte außerdem mit Sicherheit einen Dolch in seinem Gewand versteckt oder hätte die Wachen rufen und Alexandros im Handgemenge die Kehle durchschneiden lassen können.
»Und du auch?« brüllte er jetzt mich an.
Ich schob Alexandros wortlos aus der Tür. Als wir zu unseren Gemächern gelangten, stellten wir fest, daß unsere persönlichen Habseligkeiten fehlten. Wir suchten Marozia, die jedoch, wie uns bedeutet wurde, bei ihrer Mutter weile. Die Herrin habe sich jede Störung verbeten. Die Kammerfrau, die mir das mitteilte, blickte hilflos unter sich, und als ich sie zwang, mir ins Gesicht zu schauen, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Was soll das?« fragte ich einen der Hausdiener, dem wir in Alexandros' Raum begegneten.
»Auf Befehl des Herrn sollt ihr in Zukunft im Nebengebäude schlafen.« Auch ihm war peinlich, was er uns mitteilte, und er fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Es ist sogar davon die Rede, daß ihr in die Via Lata umzieht.«
Ich hatte längst verstanden, und Alexandros nicht minder. Um unbelauscht miteinander reden zu können, verzogen wir uns in den Park.
Für mich gab es nun kein Zurück mehr, auch wenn ich mir mein Herz aus der Brust reißen mußte. Ohne Zweifel schwebte Alexandros in höchster Lebensgefahr. Diese getrennten Inspektionsreisen …
An seiner seelenwunden Miene sah ich, daß ihm unvermittelt und unerwartet der Lebenssinn von der Seite gerissen worden war. Ich hatte ihm bisher nicht mitgeteilt, daß Sergius, sein Vater, Anspruch auf die Entjungferung Marozias erhob – er brauchte es auch nicht zu wissen.
»Du mußt fliehen«, sagte ich mit allem Nachdruck, zu dem ich fähig war. Beschwörend sah ich ihn an und senkte meine Stimme: »Es ist offensichtlich, was sie planen: Du sollst in einen Hinterhalt gelockt oder gleich durch deine Begleiter umgebracht werden.« Als Alexandros nicht antwortete, fügte ich an: »Sie wollen eure Liebe zerstören, und da sie ahnen, daß sie es nicht können, werden sie dich aus dem Weg räumen. Daher wirst du auf der Hut sein und deinen Begleitern bei der ersten sich ergebenden Gelegenheit entfliehen. Selbst wenn es dir dein Herz zerreißt. Nur so könnt ihr eure Liebe retten. Du reist nach Lucca zu Martinus und mit ihm nach Konstantinopel, um am Hof das Schicksal deines Großvaters zu verkünden und nach unserem Besitz zu schauen. Wenn du die Ehre und das Ansehen der Familie wiederhergestellt hast, wirst du als … als … Held zurückkehren. Verstehst du: Du bist der Enkel des Makedonen Philippos, nicht Zufällig habe ich dir den Namen des Welteroberers gegeben … Und dann forderst du deine Marozia zurück.«
Alexandros, der bisher erstaunlich beherrscht geblieben war, verlor seine Fassung. Er öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Laut hervor. Seine Augenlider flatterten, die Lippen zitterten, sein Antlitz war bleich wie der Tod.
»Ich kann nicht«, stammelte er.
»Du mußt!« beschwor ich ihn. »Denk an Marozia. Ein toter Geliebter wird sie ins schwärzeste Unglück stürzen, auf einen fernen Geliebten kann sie immer hoffen.«
»Es gibt keine Hoffnung, nur eine Verzweiflung, eine Krankheit, die zum Tode führt.«
»Sprich nicht wie ein alter Mann, du bist jung und voller Kraft. Ihr werdet beide mit eurer vorläufigen Trennung fertig werden. Ich dagegen überlebe nicht, wenn man dich ermordet. Das Messer liegt schon bereit, mit dessen Hilfe ich dir dann nachfolge.«
Während ich meine Entschlossenheit wiedergefunden hatte, kämpfte Alexandros mit sich selbst.
»Ich tue es für dich. Mir liegt an meinem Leben nichts mehr«, sagte er.
»Dann tue es für mich. Und für eure Zukunft.«
»Und wenn wir gemeinsam fliehen, du und ich?« Jetzt flehte Alexandros mich an.
»Theophylactus hat uns absichtlich auf getrennte Wege geschickt; überdies werde ich stärker bewacht. Ich kann den Wachen nicht entkommen. Außerdem: Soll ich nicht ein Auge auf Marozia halten? Sie beschützen?«
Ein zweifelnder Blick huschte über Alexandros' Gesicht. Glaubte er mir etwa nicht?
»Wir werden uns alle wiedersehen und in die Arme schließen.«
»Im Himmel«, flüsterte er.
»Nein, nicht erst im Himmel.«
Mir fehlen die Worte für den Zustand meines Herzens, wenn ich zurückdenke an diesen Augenblick, der mich in trauerschwerer Trostlosigkeit zurückließ, wenn ich zugleich vorausdenke an die Möglichkeit, meinen Sohn an ebendiesem Ort auf dem Aventin nach so vielen Jahren erneut in die Arme schließen zu dürfen. Wird mein altes Herz diese Freude aushalten, ohne zu brechen?
Vierundzwanzig Jahre ist es her, daß Alexandros nach dem ersten Hahnenschrei mit drei finsteren Gesellen aufbrach. Er hatte sich nicht mehr von Marozia verabschieden können – vermutlich wußte sie nichts von seinem Auftrag.
Wir, Mutter und Sohn, saßen die Nacht vor seinem Aufbruch in dem neuen, mir zugewiesenen Sklavinnenraum zusammen, und in dieser Nacht erzählte ich ihm alles, was ich von seinen Großeltern wußte, von ihrer Herkunft, von unserer villa in Konstantinopel. Ich erläuterte ihm, an wen er sich wenden sollte, um sich als Enkel des makedonischen Fernhändlers Philippos auszugeben. Beweise konnte er keine beibringen, nur möglichst genaues Wissen von den Lebensumständen und Besitztümern seiner Großeltern.
Er berichtete mir von seinem Kampf um seine Geliebte, den er erst gewonnen hatte, als Marozia eröffnet wurde, sie müsse Markgraf Alberich heiraten.
Noch heute höre ich seine helle Stimme, die mir weich und melodisch in den Ohren klingt, ich sehe seine schmalen Finger und seine grauen, tiefgründigen Augen, die sich in ihren eigenen Schatten verloren. Er lebte in mir weiter, in meiner Sehnsucht, und gab mir Kraft – und nie verließ mich die Hoffnung, ihn eines Tages wieder in die Arme zu schließen.
Am nächsten Morgen stand ich am Portal unseres Palasts, als die Hufe der vier Reiter über die rundgeschliffenen Steine der vor vielen Jahrhunderten gepflasterten Straße klapperten, die den Aventin hinab zu einem großen Weizenfeld führt, das damals den alten Circus maximus bedeckte. Alexandros drehte sich ein letztes Mal im Sattel um und winkte mir. Sein Pferd hob verärgert wiehernd seinen Kopf. Es war nicht die Schimmelstute, die er gewöhnlich ritt, es war ein alter Klepper, der zu lahmen begann. Seine Begleiter hatten ihn wie einen Gefangenen in ihre Mitte genommen. Er war ihr Gefangener.
Im Morgendunst verschwand er wie eine Geistergestalt, und nie sah ich ihn wieder.
Ich kann kaum atmen, so schnürt sich mir der Hals zu, nachdem ich mich von meiner Schreibplatte erhoben habe, um auf die in die Wand geritzten Buchstaben meiner Losung zu schauen. So alt ich geworden bin, so lange ich bereits auf den mir bevorstehenden Augenblick des Wiedersehens warte, so sehr quält mich eine diffuse Angst. Wer sagt mir denn, daß der Byzantiner, von dem bisher die Rede war, wirklich mein Sohn ist? Niemand hat ihn beim Namen genannt, und auch er hat mir kein Zeichen gesandt. Wer sagt mir, daß ich wirklich unsere Todeszelle tief unter dem Tiber verlassen darf? Bis jetzt hörte ich nur leere Versprechungen. Und wer sagt mir, daß Alexandros, wenn er es ist, mich überhaupt wiedererkennt? Daß er sich nicht enttäuscht von mir abwendet, weil er gehofft hat, Marozia ans Herz drücken zu können. Und ein noch tieferer, bisher stets unterdrückter Zweifel, erhebt sein düsteres Haupt: Seit der ersten und einzigen Nachricht, die mir von Alexandros' Leben und Wirken berichtete, sind Jahrzehnte vergangen – Jahrzehnte, in denen der Schnitter aus vielen Gründen nach ihm hätte greifen können.
Zuweilen denke ich, unser Leben erwächst einem Geflecht von Lügen, der gnädige Tod sollte mich im Dämmerschein melancholischer Hoffnung heimführen, bevor ich in das grelle Licht einer Wahrheit treten muß, die ich nicht ertragen kann.
Mich rührt auch das Schicksal meiner Marozia, die hinter mir auf ihrer Pritsche hockt, der Schatten ihrer selbst, und annimmt, daß ich den Mann wiedersehen werde, von dem sie ihr Leben lang geträumt hat – obwohl sie ihn nach außen hin vergessen zu haben schien. Kann es nicht sein, daß die Suche nach wollüstiger Ekstase ihr Weg war, die Sehnsucht auszuhalten?
Ich schaue über die Schulter, um einen Blick auf das Bündel büßenden Elends zu werfen. Hängende Schultern, vertrocknete Brüste, knochige Hüften unter einem großen, zerschlissenen Tuch, in dem die Läuse sich tummeln. Ausgefallene Haare auf schuppiger Kopfhaut, blutig gekratzt. Nagelkrallen ragen aus skelettartigen Fingern. Unter ihrer Pritsche schnuppern die Ratten über den Boden, während ihre langen, fetten Schwänze über die schmierigen Steine wischen. Marozia schwenkt seit Stunden langsam und gleichmäßig ihren Kopf hin und her, stößt mit hoher Stimme wimmernde und wehklagende Töne aus, in denen sich die unverständlichen Laute ihrer Gebete verlieren.
Wenn ich sie so sehe, quält mich das schlechte Gewissen – und zugleich ertrage ich die Büßerin nicht. Ich komme mir wie die Ratte vor, die vor dem Untergang des Schiffs von Bord springt, um ans sichere Land zu schwimmen – und zugleich weiß ich, daß ich ihr noch am ehesten als Befreite helfen kann.
Ich legte die Schreibfeder auch deswegen eine Weile nieder, weil ich mich scheute, von den Tagen zu berichten, die unser aller Leben verändern sollten.
Was würde ich gerne mit Euthymides in unserem Garten umherwandeln und in einer Rosenlaube die Grausamkeit des Schicksals beklagen! Wahrscheinlich bräche er lächelnd eine Blüte und hielte sie mir vor Augen und Nase. ›Während du jammerst, entfaltet sich die Rose zu einzigartiger Schönheit‹, wäre seine Antwort. ›Du riechst sogar ihren Duft, trinkst ihre Schönheit. Halte dich an die Rose und nicht an vergangenen Schmerz.‹
Ich würde sie ihm aus der Hand nehmen, daran riechen und ihm dann den Dorn ins Fleisch stoßen. Ein tiefdunkler Blutstropfen würde hervorquellen und uns wie ein klagendes Auge anschauen.
›Siehst du‹, höre ich Euthymides, ›selbst der Blutstropfen entfaltet eine stumme Schönheit. Das Leid ist der Boden, auf dem unser Glück wachsen und gedeihen kann.‹
Als ich mich wieder vor mein Pergament setzte, drehte sich Marozia um. Tagelang war ihr Blick von Todessehnsucht eingetrübt, doch jetzt funkelte, so schwach die beiden Kerzen leuchteten, ein Hoffnungsschimmer.
»Und die da saßen am Ort und Schatten des Todes, denen ist ein Licht aufgegangen«, zitierte ich die Heilige Schrift.
Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
Und lächelte schwach.
Mich indes verfolgen die Erinnerungen an damals, als der Schmerz über Alexandros' plötzliches Verschwinden Marozia niederwarf und Papst Sergius seinen Erpressungswunsch einforderte.
Als ich von meiner Inspektionsreise nach Latium heil und ungehindert, ohne besondere Erkenntnisse über Unregelmäßigkeiten, nach Rom heimkehrte, erwarteten mich eine aufgelöste Marozia, die sich wie eine Ertrinkende an mich klammerte, eine beherrschte Theodora und ein zufriedener Theophylactus. In der Tat war Alexandros von seiner Reise in die Sabiner Berge nicht zurückgekommen, und seine Begleiter berichteten, in der ersten Nacht habe er sich davongeschlichen und sei nicht wieder aufgetaucht. Vermutlich habe er sich in dem unwegsamen Gelände verirrt und sei sarazenischen Wegelagerern in die Hände gefallen oder von mißtrauischen Bauern erschlagen worden.
Theophylactus kommentierte den Vorfall nicht weiter, während Theodora sich mir und Marozia gegenüber in Mitleid über den ›Verlust‹ erging und Gottes unerforschlichen, doch unabänderlichen Willen beschwor. Marozia konnte lange Zeit vor hemmungslosem Schluchzen nicht reden, brach dann in hellodernde Wut gegen ihre Mutter aus, die Alexandros, wie ich hörte, vor seinem Aufbruch schlechtgemacht und sie eingesperrt hatte.
Marozia wollte nicht von meiner Seite weichen. Sie begriff nicht, daß ich in den Dienertrakt hatte umziehen müssen, und bestand darauf, daß ich zu ihr zurückkehre, so daß meine wenigen Habseligkeiten rasch wieder an ihrem alten Platz lagerten. In einer Mischung aus verständnisloser Verzweiflung und ersticktem Zorn beklagte sie, daß Alexandros sie ohne Abschied verlassen habe. Wegen der zahlreichen Vorhaltungen ihrer Mutter fand sie nur einen einleuchtenden Grund für seine Flucht: Ihre Mutter hatte ihn davongejagt!
»Aber er hat mich nicht tief genug geliebt, sonst hätte er Mittel und Wege gefunden … Warum hat er nicht wenigstens einen Abschiedsbrief hinterlassen. Er hätte ihn ja dir geben können.«
»Auch ich wußte nichts von seiner … Flucht.«
»Nein, er kann mich nicht geliebt haben«, stieß sie erneut in höchster Verzweiflung aus.
»Ich weiß, daß die Liebe zu dir sein Leben bestimmte«, sagte ich.
»Meine Mutter sagt, er habe einen klaren Auftrag erhalten.« Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Sie kann nur lügen.«
»Ich glaube, viel eher lügen seine Begleiter«, erklärte ich knapp, mit bitterer Trauer in der Stimme.
»Du meinst …?«
»Wir dürfen niemanden ohne Beweise beschuldigen.«
Sie hatte kaum hingehört. »Du meinst, er wollte zurückkehren – und kann nicht, weil er …«
Sie wagte nicht, das unheilvolle Wort auszusprechen. Auch ich ergänzte ihren Satz nicht.
»Du glaubst, die Begleiter sollten ihn auf Befehl meiner Mutter …«
Erneut schreckte sie davor zurück, das endgültig klingende Wort in den Mund zu nehmen.
Ihre Tränen waren versiegt, hinter ihren Augen jagten die Gedanken, als müßten sie ein unschuldiges Tier zu Tode hetzen, und schließlich erstarrten sie in einer Kälte, die allein durch Haß und Leidenschaft zu neuem Leben zu erwecken war.
Tagelang weigerte sie sich, Theodora in ihre Nähe zu lassen, sie aß nicht mehr, hockte häufig im Park, dort, wo sie und Alexandros die Stunden ihrer Gemeinsamkeit verbracht hatten. Sie hatte sich eine scharfe Klinge besorgt, und ich konnte gerade noch verhindern, daß sie sich selbst verstümmelte. Es war zu befürchten, daß sie dem Menschen, den sie für ihr Unglück verantwortlich machte, das Messer in die Brust stieß, in einem Moment, in dem das Haßgefunkel ihrer Augen überhandnahm.
Für Marozia stand nun fest, daß ihre Mutter den Befehl gegeben hatte, Alexandros umzubringen, damit keine Chance mehr bestünde, er könnte zurückkehren und sie zur gemeinsamen Flucht überreden.
Ich wollte ihre diese Überzeugung nicht ausreden – obwohl ich wußte, daß Alexandros auf meinen Wunsch geflohen war, um seinem Tod zu entgehen. Dennoch gab es Momente, in denen ich unsicher wurde, weil nicht zu leugnen war, daß Marozia recht haben konnte. War es nicht möglich, daß die Dolche von Alexandros' Begleitern vor seinem Fluchtversuch ihr Ziel gefunden hatten? Natürlich hätten die Männer dann lügen müssen. Hätten sie sich eines befohlenen Mordes bezichtigt, wären sie rasch im Tiber gelandet, mit durchgeschnittener Kehle und ohne Zunge.
Aber mit Alexandros' Tod zu rechnen ertrug ich nicht. Mein Leben wäre mir nichts mehr wert gewesen. So blieb ich dabei, an einen Mordplan, aber ebenso an eine gelungene Flucht zu glauben.
Während dieser Trauerphase war nicht daran zu denken, Sergius seinen widernatürlichen Wunsch zu gewähren. Zum Glück – oder womöglich sogar zu Marozias Unglück – hielt Alberich sich während dieser Zeit in Spoleto auf und ritt anschließend nach Tuszien, so hieß es zumindest, um dort die politische Allianz zu erneuern, für den Fall, daß Berengar nach Rom marschiere, um den Kaisertitel einzufordern. Auch wollte man rechtzeitig Vorsorgemaßnahmen treffen, um einen möglichen Einfall der Ungarn und der Sarazenen abwehren zu können.
Während eine enttäuschte oder verhinderte Liebe im Alter ihre zerstörende Kraft nicht verliert, wird sie in der Jugend oft durch den Willen zum Leben und zum Glück überwunden. So schien es auch Marozia zu ergehen. Von Tag zu Tag hellte sich ihr Gesicht mehr auf, sie begann wieder zu essen und sogar ihren alten Liebreiz zurückzugewinnen. Allerdings wirkte sie häufig ziellos, an nichts interessiert. Sie schlief halbe Tage oder blieb, sich unruhig hin und her wälzend und stöhnend, in einem Gewühl von Kissen in ihrem Bett liegen. Ging ich zu ihr, schickte sie mich unwirsch aus dem Raum; kam ich später auf ihr Verhalten zu sprechen, wies sie mich barsch ab, entschuldigte sich anschließend wortreich und sprach von Alexandros, den sie nicht vergessen könne.
Mittlerweile verkehrte sie wieder mit ihrer Mutter, und beide wirkten dabei aufgedreht, auf eine künstliche Weise fröhlich. Theodora behandelte sie nicht mehr wie ein Kind, sondern wie eine Freundin, und es fehlte nicht an Anspielungen auf die Geheimnisse der Wollust, über die Marozia mit mir während dieser Zeit nur selten sprach, vermutlich, weil sie meine abwehrende Haltung spürte. Ich merkte aber durchaus, daß Marozia der Erfüllung des körperlichen Erkennens entgegenfieberte; oder sollte ich sagen, daß sie diese Erfüllung immer quälender vermißte? Alexandros würde nie mehr zurückkehren, im Gegensatz zu Alberich, dem sie versprochen war und den sie nach seinem Erscheinen in Rom heiraten mußte. Daran hatten ihre Eltern – bei allem geheuchelten Mitgefühl für die Trauer ihrer Tochter – keinen Zweifel gelassen. Und ich kann nur wieder betonen, daß in der Jugend der Schmerz schneller nachläßt, die Wunden rascher heilen und die Arznei des Vergessens nachhaltig wirkt.
Monate nach Alexandros' Verschwinden schien eine neue Normalität unser Leben zu bestimmen. Ich versteckte meine Trauer in den dunklen Kammern meiner Seele, Marozia unterlag zwar heftigen Stimmungsschwankungen, die gelegentlich, wenn ich mit ihr allein war, in Haßausbrüchen gegen ihre Mutter gipfelten. Traf sich die Familie jedoch beim gemeinsamen Mahl, war davon nichts zu spüren. Marozia lernte während dieser Monate zunehmend, ihre negativen Gefühle zu verbergen.
Überraschend kündigte Theodora uns einen neuerlichen Besuch von Erzbischof Johannes an, als Theophylactus mit einer großen Jagdgesellschaft zu einer Wolfsjagd in die Gegend des Klosters Farfa aufgebrochen war, wo man einige Tage unterkommen und sich verköstigen lassen wollte.
Theodora hatte sich lange geschminkt, bevor ihr Geliebter, wie meist in weltlicher Kleidung, erschien. Seine Tunika war aus feinster Seide und mit einer Goldborte bestickt, der lässig übergeworfene Umhang von einer Fibel zusammengehalten, die ein auffallend großer Edelstein zierte. Er erschien jedoch nicht allein, sondern in Begleitung von Papst Sergius, dessen Kleidung ebenfalls nicht ahnen ließ, daß er Nachfolger der Apostel und Oberhaupt der Christenheit war. Man speiste und trank nicht wenig Wein. Marozia und ich mußten mittrinken, was mir nicht geheuer war. Gänzlich ungeheuer wurde mir, als mich Theodora am späten Abend in die Via Lata schickte, damit ich von dort zwei in Gold gefaßte Schmucksteine, einen Rubin und einen Zirkon, hole. Da ich wußte, daß Zirkone als Liebesamulette gelten, brach mir der Schweiß aus.
Ich wies auf die dunklen, unsicheren Straßen hin und auf die Gefahr, daß diese wertvollen Steine geraubt werden könnten. Doch Theodora bestand darauf, daß ich ging. »Nimm so viele Männer mit, wie im Haus sind. Heute nacht will ich die Steine verschenken, die Venus steht im Aszendenten, es ist der richtige Zeitpunkt.«
Marozia hatte bereits zu viel Wein getrunken; von den beiden Männern abgelenkt, bemerkte sie nicht, daß und zu welchem Zweck ich weggeschickt wurde. Bevor ich sie aufklären konnte, drängte mich Theodora aus dem Raum.
»Der Zirkon ist für Marozia bestimmt; für dich aber soll der Rubin sein. Er steht für unser Leben und soll unser Bündnis besiegeln.«
Ich muß sie entgeistert angeschaut haben, denn unser Verhältnis ließ während der letzten Zeit kaum auf Geschenke dieser Art schließen. Vermutlich wollte sie mich für den Verlust meines Sohnes entschädigen.
»Ja, für dich!« rief sie und lachte gewinnend.
Oder berechnend?
Weil sie den Hauptmann der Wache herbeiwinkte, konnte ich nicht nachfragen, was sie mit ihrer Aussage meinte. Sie drückte dem Mann einen Solidus in die Hand, was ihn erstaunt aufmerken ließ, erklärte ihm ihren Wunsch, flüsterte ihm schließlich etwas ins Ohr und scheuchte ihn und mich regelrecht von dannen. Es dauerte allerdings eine Weile, bis ich mir Reitkleidung geholt, der Hauptmann ein paar Bewaffnete zusammentrommelt hatte und die Pferde gesattelt waren. Bevor wir aufbrachen, wollte ich noch einen Blick auf Mutter und Tochter sowie die beiden Würdenträger der Kirche werfen.
Die Tür zu Theodoras Privatgemächern, in denen sie den Besuch empfangen hatte, war jedoch abgesperrt.
Ich wollte möglichst rasch zurück sein, aber in der Via Lata dauerte es eine Weile, bis wir eingelassen wurden; dann mußte ich lange suchen, bis ich die Edelsteine fand. Schließlich eilten wir zurück zum Aventin, scheuchten dabei manch lichtscheues Gesindel auf, die Straßenmädchen, die in dunklen Hauseingängen standen, und Männergruppen, die auf der Suche umherstreiften, Kinder, die auf der Straße lebten, von ihren Müttern verstoßen oder von fremden Männern aus der Wohnung geprügelt. Hunde bellten uns an, und auf Mauern kreischten Katzen. Einmal hörte ich ein – der Stimme nach – junges Mädchen einen erbärmlichen Hilfeschrei ausstoßen, dem grölendes Männerlachen folgte. Ich mußte an Marozia denken und trieb mein Pferd zur Eile an. Doch der Hauptmann und seine Truppe hatten es weniger eilig, sie hielten sogar vor einem bordello, an dessen Eingang mehrere Mädchen standen, die ihren Körper feilboten.
Es gelte ein kurzes Geschäft abzuwickeln, hieß es.
Die Männer ließen sich von einer Sklavin, auch wenn sie die Stelle eines Procurators ausfüllte, nichts sagen. Die Goldmünze hatte ihr Wirkung entfaltet. Ich mußte ungeduldig auf dem Rücken meines Pferdes warten, weil ich mich nicht traute, allein vorauszureiten.
Endlich in unseren Palast zurückgekehrt, fand ich die Tür zu Theodoras Räumen noch immer abgesperrt. Ich lauschte, hörte Kichern und tiefe Männerlaute, Worte, die ich nicht verstand, auf- und abschwellendes Hecheln, Keuchen und Juchzen. Theodora pflegte ihr Liebesleben.
Und was geschah mit Marozia? Hatte Sergius endlich seinen Willen durchsetzen können? Der Wein, vermischt mit thebaischem Mohn, mußte ihren Widerstand gebrochen haben.
Eine Weile überlegte ich, ob ich laut rufen und an die Tür pochen sollte.
Doch war es ohnehin zu spät.
Ich war verzweifelt und müde.
Schließlich legte ich das Schmuckkästchen mit den beiden Edelsteinen vor die Tür und begab mich in mein Gemach. Ohne auch nur einen Augenblick Schlaf zu finden, wartete ich auf Marozia, die selbstredend nicht erschien. Am frühen Morgen, bevor die ersten Diener aufstanden, hörte ich Männerstimmen und das Klappern von Pferdehufen. Dann kehrte erneut Ruhe ein, bis zum ersten Hahnenschrei.
»Bis heute weiß ich nicht genau, was damals geschehen ist«, sagte ich laut, nachdem ich das Wort Hahnenschrei niedergeschrieben hatte. Ich fühlte mich mit Macht hineingezogen in die Zeit vor vierundzwanzig Jahren, hineingesogen, müßte ich schreiben, denn ich wehrte mich eher gegen den Strom, als daß ich mich in ihm wohlig treiben ließ.
»Wovon sprichst du?« fragte mich Marozia müde.
Sollte ich wirklich dieses dunkle Thema anschneiden? Trotz aller Vertrautheit gab es Dinge, die zwischen uns nie offen ausgesprochen worden waren.
»Damals, als Alexandros verschwinden mußte …« Ich drückte mich vage aus. »Papst Sergius, die Nacht …«
Im Grunde erwartete ich, daß Marozia über dieses Ereignis nicht sprechen wollte, daß sie wieder in ihre Gebetsmühle verfiel – doch sie wandte sich mir zu und umarmte mich. »Was wünsche ich dir, daß du ihn wiedersehen kannst, unseren Alexandros«, stieß sie wehmütig aus. »Ich bin froh, daß ich hier in unserem Kerker bleiben muß, denn ich könnte ihm nicht in die Augen blicken. Zuviel habe ich gesündigt.«
»Aber Marozia …« Mir fiel keine passende Antwort ein. Diese Selbstanklagen, diese pater-peccavi-Litanei!
»Was haben sie eigentlich mit dir gemacht, damals, in der Nacht, als ich in die Via Lata reiten mußte, um die beiden Edelsteine zu holen?«
Marozia schaute ins Leere, als müsse sie mühsam die Vergangenheit hervorsuchen. »Es ist alles sehr neblig«, begann sie zögernd zu sprechen. »Ich hatte mehrere Becher Wein getrunken, und außerdem muß meine Mutter mir etwas hineingemischt haben, thebaischen Mohn vermutlich, ich konnte mich schon am nächsten Morgen nicht mehr recht erinnern.«
»Aber jetzt kannst du es wieder?«
Noch immer in der Ferne verloren, nickte sie. Dann zog sie mich auf ihre Pritsche, so daß wir nebeneinander sitzen konnten, und drückte sich wie ein Kind an mich.
»Ich haßte meine Mutter und hatte längst Rache geschworen. Daher machte ich an diesem Abend Johannes schöne Augen.«
»Johannes?«
»Weil ich Alexandros verloren hatte, war ich so verzweifelt, daß ich auf all mein Glück verzichten wollte, denn ich wußte, mit Alberich würde ich es nie finden – obwohl er kein schlechter Mann war, nicht einmal ein schlechter Liebhaber. Er verstand mich nie – und zog sich schließlich immer mehr von mir zurück, nachdem er fünf Kinder gezeugt hatte, machte sich über die schwarzen Sklavinnen her, deren fleischige Hinterbacken er mochte …«
»Und sind Johannes deine schönen Augen aufgefallen?«
»Ich glaube, er hat sie an diesem Abend gar nicht wahrgenommen. Meine Mutter ließ ihm keinen Raum, eine andere Frau als sie zu sehen – sie war damals noch schön und voller Leidenschaft. Und ich plump und unerfahren.«
»Aber voll erblüht.«
Sie machte eine wegwerfende Gebärde.
»Kaum warst du fort, blieb ich mit Sergius allein am Tisch. Alle Diener waren hinausgeschickt, die Kammermädchen ebenfalls, Mama schloß die Tür persönlich ab und verschwand mit Johannes in ihrem Schlafraum und dann … Es ist alles so verschwommen. Durch die offene Tür sehe ich ihre akrobatischen Verrenkungen … unglaublich, was sie mit ihrem Körper anstellen konnte! Sie ist nackt, ich höre sie lachen … Ich dachte an Alexandros … Der Wein hing schwer in meinen Gliedern, und der Mohn machte sie zugleich leicht. Um mich herum schien nichts Festes mehr zu sein, die Empfindungen vertieften, die Bewegungen verlangsamten sich, der Wein funkelte, und der alte Mann, der mir so alt nicht erschien, sprach freundlich auf mich ein, flüsterte mir Schmeicheleien ins Ohr, berührte mich dabei wie unabsichtlich …
Ich schaute über seine Schulter und sah Mama nun ganz ruhig und entspannt auf Johannes liegen und ihn hingebungsvoll anlächeln. Er erwiderte ihr Lächeln und fuhr mit einer zärtlichen Geste durch ihre Haare. In diesem Moment fühlte ich nur noch diese schwebende Leichtigkeit in meinen Gliedern und zugleich eine saugende Lust, an Mamas Stelle zu sein, in dieser Einheit von Mann und Frau, ich sah Alexandros vor mir, seine fragenden und bittenden Augen, hörte sein beschwörendes Flüstern, spürte seine zarten Hände auf meinem zitternden Körper.
Sergius' lächelndes Gesicht schob sich in mein Blickfeld. Seine Lippen näherten sich meiner Wange. Ich drehte den Kopf zur Seite, um die ungewöhnlich ruhige und sanfte Einheit auf Mamas Bett weiter beobachten zu können. Sergius Lippen glitten so zart meinen Hals entlang, daß mir ein Schauer über den ganzen Körper lief und sich eine gierige Wärme zwischen den Schenkeln sammelte. Jetzt spürte ich seine Hände auf meiner Haut. Zuerst wußte ich gar nicht, wo. In meinen Haaren, an der Schulter, an meinen Brüsten? Sie umkurvten meine Hüfte, zogen mich ihm entgegen. Er küßte mich auf die Augen. Seine Lippen suchten meinen Mund, der sich ihm nicht verweigerte, weil er glaubte, Alexandros berühre ihn.
Längst überschwemmte mich ein Gefühl, das mir aus den Nächten mit meinem Geliebten vertraut war, das den ganzen Körper brennen und zerfließen ließ. Ich merkte kaum, wie Sergius mich langsam auf seine Knie zog, so daß ich auf ihnen hockte wie ein Kind, ich merkte noch weniger, wie er meine Tunika nach oben streifte. Sanft zog er mich mit beiden Händen über seine rauhen Beine.
Und dann durchzuckte mich ein spitzer Schmerz, ich wollte schreien, vermochte aber nur aufzustöhnen, weil Sergius' Lippen meinen Mund verschlossen. Ich hörte Mama leise lachen. Der Schmerz verlor sich und gewährte einem Lustgefühl, das ich nicht benennen kann, immer mehr Raum, bis mein ganzer Körper in Zuckungen geriet, bis mir der Atem stockte und ich auf und ab zu tanzen schien – bis ich eine Frau wurde, so wie meine Mutter.
Ich glaube, jetzt umarmte auch ich den Mann, auf dem ich saß, drückte seinen Kopf nach hinten, küßte ihn, biß ihn, riß an seiner Tonsur, verschluckte sein Stöhnen und dachte doch immer nur an Alexandros« – Marozias Stimme schien zu ersterben – »an deinen Sohn, dem ich nur noch nachträumen konnte.«
Marozia war verstummt. Die Augen weit geöffnet, schob sie ihr Gewand hoch, so daß sich ihre dürren Beine entblößten. Ihre Hand glitt zu dem dunklen Dreieck, das ihr die höchsten Ekstasen, mir die tiefsten Schmerzen bereitet hatte. Sie zuckte zurück.
»Ich würde sofort sterben wollen, könnte er mich erlösen.«
Ich drückte sie an mich, streifte das Gewand wieder über ihre Beine und nahm ihre Hand.
»Dort unten gibt es keine Erlösung.«
Ihre Beine waren so armselig, so von Krätze überzogen, daß in ihnen ihr ganzes Elend lag.
»Nein, du hast recht. Aber ich habe sie immer dort gesucht.«
Sie ließ sich zurückfallen, legte sich zur Seite und rollte den Körper zusammen.
»Meinst du, es war alles Sünde, jede geschlechtliche Freude, jede Vereinigung, die nicht der Fortpflanzung diente? Ist diese Öffnung zwischen den Schenkeln wirklich nur die von den Kirchenvätern verfluchte Kloake?«
Ich schüttelte den Kopf und strich ihr über die Haare. Ein Büschel blieb zwischen meinen Fingern zurück.
»Warum kann ich jetzt nicht sterben! Mir ist so leicht.«
Einen Augenblick fürchtete ich, sie würde tatsächlich sterben. Ihre Augen waren geschlossen, der Atem war kaum zu spüren; ihr Körper entspannte sich, und ein Lächeln zog über ihr Antlitz. Sie war indes nur eingeschlafen und träumte sich in seine Arme.
Lange betrachtete ich den geschundenen Körper meiner Mariuccia.
Ich erinnere mich daran, daß sie sich nach Sergius' Sieg immer wieder übergeben mußte, daß sie unaufhörlich stammelte: »Ich werde es ihr noch zeigen.«
Kurz darauf kam ihr Vater von seiner Wolfsjagd zurück, und nicht viel später erschien Alberich, siegreich und lachend. Er hatte mit den Tusziern den Pakt gegenseitigen Beistands erneuert. Zufrieden stemmte er Marozia in die Höhe. Sie lächelte gezwungen.
Der Hochzeitstermin wurde anberaumt, und während eines feierlichen Hochamts in der Basilika des heiligen Petrus traute Papst Sergius mit sachlichem Ernst das Paar. Ganz Rom jubelte ihm zu, und Alberichs wie Theophylactus' Männer hatten alle Hände voll zu tun, Münzen unters Volk zu streuen und ein Fest auszurichten, auf dem Ochsen gebraten wurden, Bären tanzten, Spielleute sangen und Akrobaten ihren Menschenturm errichteten. Wein floß in Strömen. Ganz Rom war trunken vor Freude.
In der dritten Nacht nach der Trauung führte Theophylactus seine Tochter zum Haus des Bräutigams, das er am Hang des kapitolinischen Hügels erworben hatte, geleitete sie über die Schwelle und hoch zum Brautgemach. Wieder war Papst Sergius dabei und weihte Haus und Gemach, Brautpaar und Bett.
Wie eine byzantinische Prinzessin hatten wir Marozia geschmückt und ihr rechtzeitig den Teil einer zusammengenähten Schweinsblase eingeführt. Ihre Mutter schärfte ihr ein, sie müsse Alberich Leidenschaft vortäuschen, ihn zugleich eine Weile hinhalten, um auf diese Weise seine taumelnde Gier anzustacheln. Sei er nicht mehr zu bremsen, müsse sie rasch die Blase mit Hilfe eines scharfkantigen Rings aufstechen und unbemerkt verschwinden lassen. Versenke er sein starkes Horn zum ersten Mal in sie, gelte es, einen unterdrückten Schmerzensschrei auszustoßen, ihn dann aber nicht mehr loszulassen. Habe Alberich sein Ziel erreicht, solle er sich am Blutfleck erfreuen und stolz sein auf die stierhafte Kraft, mit der er der jungfräulichen Unschuld ein Ende bereitet habe.
Genauso geschah es. Das Schweineblut floß, das Stöhnen nahm kein Ende, wie wir später erfuhren, und es mußte nicht einmal vorgetäuscht werden.
Ich widmete mich wieder verstärkt meinen Procurator-Aufgaben und ließ während schlafloser Nachtstunden, in denen ich die Stimmen von Alexandros und Martinus hörte, die Tränen fließen.
Marozia tauchte in den nächsten Wochen selten im Haus ihrer Eltern auf, und wenn, dann in einem Zustand fiebriger Erregung.
Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Zeichen der Schwangerschaft zeigten.
Alberich blähte sich vor Stolz.
Neun Monate nach der Nacht, in der Wein und Mohn ihr Werk getan hatten, wurde uns mitgeteilt, daß Marozia in die Wehen gekommen sei. Theodora überreichte mir den in Gold gefaßten Rubin als Zeichen unserer Blutsschwesternschaft. Ich habe ihn nie getragen. Stunden später schenkte Marozia einem gesunden Jungen das Leben. Alberich wollte seinen ältesten Sohn, wie es die Tradition verlangte, Alberich nennen, doch Marozia bestand darauf, ihn Giovanni zu taufen, weil er, wie sie betonte, später einmal Papst werden sollte. Keiner verstand damals ihre Begründung, aber jeder kannte den sturköpfigen Eigenwillen unserer Mariuccia. Alberich gab im Stolz seiner Vaterschaft und im Aufblühen der Liebe zu seiner Gemahlin nach.
Theodora und ich schauten uns beziehungsreich an, als wir den ersten Blick auf den Neugeborenen warfen: So winzig er war, so unverkennbar erinnerte er uns doch an Sergius, den Papst.
Kurz nach der Geburt geschah etwas, was uns alle tief bestürzte. Marozia wurde plötzlich von schwarzer Galle überschwemmt, und sie wollte den kleinen Giovanni am liebsten gar nicht mehr sehen. Fieberhaft suchten Theodora und ich nach einer gesunden und gut beleumundeten Amme, nachdem die junge Mutter nicht einmal ausreichend stillen konnte. Kaum hatten wir eine Amme gefunden, fühlte sich Marozia ein wenig besser, aber noch immer blieb sie halbe Tage im Bett, aß kaum etwas und weigerte sich, mit ihrer Mutter zu sprechen, die sich beleidigt zurückzog.
Alberich verstand die Welt nicht mehr, setzte sich häufig zu ihr und strich ihr über die Haare; oder er ging zur Amme, sah ihr beim Stillen zu und wiegte dann seinen Sohn in den Armen. Ich war überrascht von so viel fürsorglicher Liebe bei einem Mann wie Alberich. Gelegentlich beobachtete ich auch, wie er in die Betrachtung des schlafenden kleinen Giovanni versunken war. Dann hinwiederum nahm er ihn hoch, küßte ihn auf sein Näschen und schaute ihm forschend ins Gesicht, als müsse er dort eine Antwort auf das seltsame Verhalten der Mutter finden.
Als ich einige Wochen später an Marozias Bett saß, ihre Hand hielt und sie zum Aufstehen zu bewegen versuchte, sagte sie unvermittelt: »Ich hasse sie.«
Verständnisvoll schaute ich sie an. Als sie nicht näher erläuterte, wen sie hasse, fragte ich nach: »Wen? Deine Mutter? Sergius? Alberich?«
»Und den Bastard!« stieß sie aus.
Erschrocken zog ich ihre Hand an meine Brust und rief: »Das Kind kann doch nichts dafür.« Als sie nicht antwortete, fügte ich noch an: »Es ist so hilflos.«
Ihre kalte Hand verkrampfte sich, die Augen füllten sich mit Tränen.
Nach langem Schweigen erwiderte sie flüsternd: »Du hast recht.« Sie seufzte tief und wandte ihr Gesicht ab. »Warum mußte er mich nur allein lassen«, stieß sie so leise aus, daß ich sie kaum verstand. »Ich wäre mit ihm bis in den letzten Winkel der Welt geflohen.«
Ich gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Meine kleine Mariuccia! Du mußt in die Zukunft schauen. Dein kleiner Giovanni braucht dich und deine Liebe.«
Sie deutete ein Nicken an, und so erhob ich mich. Sie griff jedoch nach meiner Hand und ließ mich nicht gehen. »Wir hätten uns auf der Isola Bisentina verstecken können, in dem Nonnenkloster, das mitten im Lago di Bolsena liegt – weißt du noch, wie du mir einmal davon erzählt hast?«
Was sollte ich darauf sagen.
»Ein Mann kann sich nicht in einem Nonnenkloster verstecken.«
»Wir hätten uns eine kleine Hütte bauen können.«
Sie klammerte sich an meine Hand.
»Mein Kind, vergiß die Vergangenheit! Es gibt nicht nur einen Weg zum Glück.«
Einige Wochen später ging es Marozia besser, und sie verlangte, daß man ihr den kleinen Giovanni bringe. Hocherfreut rief ich nach der Amme, die den satten Säugling herbeitrug. Marozia herzte ihn zu meiner Überraschung über alle Maßen, auch dann noch, als der Kleine zu weinen begann. Die Amme nahm ihn an sich, und rasch beruhigte er sich.
Es war ein Wunder. Von diesem Tag an verhielt sich Marozia wie verwandelt. Stillen konnte sie Giovanni nicht mehr, doch wiegte sie ihn in den Schlaf, trug ihn stundenlang umher, spielte mit ihm und erging sich, als er schlief, in maßlosen Selbstvorwürfen.
Trotz ihrer Zuwendung und der reichlichen Ammenmilch entwickelte er sich nur langsam, reagierte schreckhaft und ängstlich. Wir alle beobachteten ihn mit Sorge. Seine Mutter hätschelte ihn von Tag zu Tag mehr.
Auch Alberich hatte Marozias Wandlung mit erfreutem Staunen beobachtet, glaubte sich dann jedoch zur Seite gedrängt. Er ging erst einmal mit Theophylactus auf die Jagd, um sich nach seiner Rückkehr wieder intensiver Marozia zuzuwenden.
»Er läßt mich keine Nacht in Ruhe«, berichtete sie mir. »Er glaubt nicht daran, daß Giovanni alt wird, und drängt auf einen zweiten Erben.«
Anderthalb Jahre nach seiner Geburt mußte Giovanni die Aufmerksamkeit seiner Mutter mit einem Brüderchen teilen. Alberich, der Stier von Spoleto, wie er sich gerne nennen ließ, hatte ganze Arbeit geleistet. Alberich der Zweite, genannt Alberico, war diesmal ein echter Sohn seines Vaters, ganz unzweifelhaft ein Langobarden-Nachfahre mit blonder Mähne und kräftiger Stimme, unstillbarem Hunger und kaum zu bändigendem Bewegungsdrang. Schon bald machte es ihm Spaß, von seinem Vater in die Luft geworfen zu werden – was man von Giovanni nicht sagen konnte.
Ich erinnere diese Jahre, in denen schließlich die Basilika San Giovanni in Laterano von Papst Sergius neu geweiht wurde, als ruhige Zeit, aus der nur gelegentlich Kindergeschrei an mein Ohr dringt. Marozia, das holde Engelskind, das lebendige und leidenschaftliche Mädchen voller Liebreiz, war eine Frau geworden, der – nach dem schwarzen Tal zu Beginn ihrer Mutterschaft – das Wohlergehen ihres ältesten Sohns Giovanni besonders am Herzen lag. Für sie bestand kein Zweifel, daß er unter ihrer Leitung die geistliche Laufbahn einschlagen müsse. Wenn sie schon keine Päpstin werden durfte, dann sollte wenigstens ihr Erstgeborener einmal das Papstamt verwalten.
Kaum sprach er seine ersten vollständigen Sätze, las sie ihm neben den Psalmen Heiligenviten vor, ließ ihm kleine liturgische Gewänder schneidern, Chorhemden mit Pallium und Stola, dazu eine Mitra und eine Tiara, schenkte ihm zudem Holzfiguren aus der biblischen Geschichte, Adam und Eva mit den Tieren des Paradieses, Kain und Abel, Abraham mit Isaak und dem Widder, sogar einen sorgfältig geschnitzten Gekreuzigten, den man vom Kreuz abnehmen konnte.
Da Giovanni sehr an seiner Mutter hing, machte er alles geduldig mit, und während er der Psalmenlesung lauschte, spielte er mit den Tieren des Paradieses. Weil er so artig war, ließ sie ihn zur Belohnung an ihrem Finger lutschen, den sie zuvor in ein Fäßchen mit Honig getunkt hatte.
Eine Szene werde ich nie vergessen: Ich sehe ihn verloren in einem Bischofsgewand, mit dem Stab in der Hand, in einem großen leeren Raum stehen, seine Mutter klatschte Beifall, während ihn sein Bruder Alberico, in der Rechten ein Holzschwert schwingend, mit Galoppbewegungen umkreiste und immer wieder attackierte, so daß er schließlich in hilfloses Weinen ausbrach. Marozia sprang ärgerlich hinzu, entriß Alberico sein Schwert und ließ es mit voller Wucht auf seinen Hintern sausen. Der Junge schrie kurz auf und humpelte schließlich, ohne sie eines Blickes zu würdigen, davon.
Unterschiedlicher konnten die Brüder sich auf jeden Fall nicht entwickeln: Giovanni war ein ruhiges, gehorsames Kind, trotz zahlreicher Krankheiten und häufigen Nasenblutens gutmütig und in sich zurückgezogen. Er schlief viel, lernte seine Psalmen ohne Schwierigkeiten, aber auch ohne Begeisterung und hielt wenig von den rauhen Kampfspielen seines blonden Bruders, der ihn mit Freuden zu Boden rang. In einem Punkt zeigte er eine besondere Begabung: Er sang gerne mit klarer, heller Stimme.
Der kleine Alberico entwickelte sich dagegen in Aussehen und Lautstärke, auch in Körperwuchs und Stimme zum Nachfolger seines Vaters, was diesen mit liebendem Stolz auf seinen zweiten Sohn schauen ließ. Ob ihm manchmal der Verdacht kam, daß ihm mit Giovanni ein Kuckucksei ins Nest gelegt worden war, weiß ich nicht. Niemand sprach mehr darüber. Die Ähnlichkeit mit Sergius, die Giovanni zu Beginn seines Lebens gezeigt hatte, nahm später zum Glück deutlich ab.
Während der nachfolgenden Jahre brachte Marozia drei weitere Kinder zur Welt, zwei Jungen und ein Mädchen. Auf ihr drittes Kind hatte sie sich ganz besonders gefreut, weil sie glaubte, es würde ein Mädchen, ihr Ebenbild in Schönheit und Anmut. Es wurde jedoch ein Junge, dessen Geburt sie über Gebühr quälte und der so schwächlich war, daß er nach einigen Wochen lautlos verschied.
Ohne daß ich den Grund erfuhr, glaubte Marozia an seinem Tod schuld zu sein, und sie begann zu fasten, halbe Nächte zu beten und mit Hilfe ihres Beichtvaters nach einer angemessenen Buße zu suchen.
»Du übertreibst«, konnte ich nicht umhin, einmal anzumerken. »Es sterben so viele Kinder nach Gottes Ratschluß, was kannst du dafür?«
Sie ließ sich indes nichts sagen. Als sie erneut schwanger wurde, erklärte sie mir, Gott habe ihr auferlegt, ihren nächsten Sohn der Kirche zu weihen.
»Du hast doch bereits Giovanni …«
»Giovanni soll Papst werden, wie sein Vater«, erklärte sie bestimmt, »Konstantin jedoch ein Heiliger.«
Sie glaubte also daran, daß ihr nächstes Kind erneut ein Junge würde, und hatte bereits einen Namen für ihn ausgewählt. Ich schüttelte nur den Kopf.
Sie sollte recht behalten. Es wurde ein Junge, er erhielt den Namen Konstantin.
Auch wenn ich jetzt weit in die Zukunft vorauseile, so füge ich doch sogleich an, daß Marozia ihn tatsächlich der Kirche weihte. Konstantin, der häufig im Haus seiner Großmutter weilte, wuchs unauffällig im Schatten seiner Brüder heran. Als er sein sechstes Jahr erreichte, gab Marozia ihn – gegen Theodoras Protest – als puer oblatus ins Kloster Farfa. Ich hatte ihr damals in aller Deutlichkeit davon abgeraten, weil ich wußte, daß der Junge todtraurig und verzweifelt sein würde. Und so ist es gekommen. Sein Unglück im steten Kampf mit den anderen Jungen, seine Schmerzen unter der strengen Rute der Mönche verwandelten sich mit der Zeit in bedingungslose, strenge Frömmigkeit, die den Lebenswandel der Mutter bereits früh zu mißbilligen begann.
Als fünftes Kind wurde unsere Berta geboren, deren Schicksal mich ganz besonders traurig macht: Völlig unschuldig muß sie nun für die Sünden ihrer Mutter – oder sollte ich sagen: die Fehlentscheidungen – und die hochfahrende Dummheit ihres letzten Stiefvaters büßen.
Marozia betrachtete ihre einzige Tochter nach der Geburt als würdige Nachfolgerin, und die Mutterliebe flackerte daher heftig auf. Doch Berta ließ die Merkmale der Sinnenfreude, die Marozia so auszeichneten, vermissen, so daß Marozias Hoffnung ins Leere stieß.
Anmerken möchte ich, daß Marozias Schwester Theodora, die stets in ihrem Schatten stand, bald nach ihr dem Adelssproß Crescentius zur Frau gegeben wurde. Dieser Crescentius aus der Nachbarschaft der Via Lata war ein zurückhaltender, jedoch kluger und loyaler Mann, dessen Tatkraft sich nicht auf das Waffenhandwerk und die Jagd richtete, sondern auf die Verwaltung und Vermehrung des familiären Vermögens.
Es ist sicherlich kein Zufall, sondern von unserem Schöpfer trefflich eingerichtet, daß Theodora drei Mädchen auf die Welt brachte, die sich so auffallend hübsch entwickelten, daß man sie bereits in jungen Jahren die drei Grazien nannte. Durch ihr fröhliches, unbefangenes Wesen sowie durch den Reichtum und die Machtfülle ihrer Großeltern erweckten sie früh das Interesse der Adelsfamilien aus Rom, Tusculum und sogar Neapel. Da sie sich mit Alberico immer besser verstanden als mit Giovanni, dürften sich ihnen jetzt, so wünsche ich ihnen, ganz neue Möglichkeiten erwachsen.
Ich stelle fest, daß ich in das gemächliche Fahrwasser eines genealogischen Berichts eingetaucht bin. Dies hat wohl etwas damit zu tun, daß die Jahre nach Giovannis Geburt vor meinem geistigen Auge verschwimmen; die wenigen Geschehnisse, an die ich mich noch erinnern kann, reihen sich nicht mehr in chronologischer Ordnung wie Gänseküken, die ihrer Mutter folgen, sondern ragen wie verstreute Inseln aus dem Meer des Vergessens.
Ich lebte damals in dem ständig sich erweiternden Haus des Markgrafen Alberich am kapitolinischen Hügel. Theophylactus verwaltete – mit Aarons Hilfe – eine Weile selbst seine Güter und Handwerksbetriebe, die Zolleinnahmen und Wegegelder, betrieb den weiteren Ausbau der wehrhaften Dörfer in der Sabina, in den Albaner Bergen und in Latium. Die Gerüchte um das goldene Kreuz des Belisar, die in den Kreisen der Senatoren und den Gängen des wiederhergestellten Lateranpalasts kursierten, verstummten nach und nach, zumal Papst Sergius sie überhörte. Die Anhänger des Formosus bildeten kaum noch eine festgefügte Fraktion und bedrohten nicht mehr den inneren Frieden der Stadt.
Ein Ereignis ragt in schmerzhafter Klarheit aus dem Meer des Vergessens: Es betrifft Sergius, der kurz vor seinem Tod, bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, unangemeldet in unserem Palast auftauchte, dabei den Hausherrn, Markgraf Alberich, nicht antraf – was er nicht weiter bedauerte.
Um zu gehen, brauchte Sergius bereits einen Stock, doch lehnte er brüsk die unterstützende Hilfe seines Kammerdieners und des ihn begleitenden Diakons ab und schickte sie, nachdem er sich mit Marozia auf der Westloggia niedergelassen hatte, ins Atrium, wo sie auf ihn warten sollten. Als ich mich ebenfalls zurückziehen wollte, bestand er darauf, daß ich Giovanni hole und mich zu ihnen setze.
So geschah es. Auch der kleine Alberico hatte mitkommen wollen, war aber von seiner Mutter mit dem Kindermädchen weggeschickt worden, worauf er in lautes Protestgeschrei ausbrach. Giovanni dagegen hatte brav auf einem Hocker neben seiner Mutter Platz genommen, in sein kindliches Bischofsgewand gehüllt, in der Hand einen kleinen Stieglitz, der sich ängstlich duckte. Marozia schaute lächelnd auf ihren Ältesten, der Heilige Vater lächelte ebenfalls, der kleine Giovanni streichelte sein Vögelchen und schien froh zu sein, sich nicht dem Totenkopf des alten Mannes zuwenden zu müssen.
Papst Sergius versuchte zwar, trotz des Stockes aufrecht zu gehen und zu sitzen, doch es gelang ihm kaum. Seine blaßgrauen Augen lagen tief in den Höhlen, umrandet von fast schwarzen Schatten; Schläfen wie auch Wangen waren eingefallen, die Lippen bleich und schmal. Erstaunlicherweise besaß er noch die meisten Zähne. Nur eine Lücke stach deutlich hervor und ließ ihn gelegentlich zischend ausatmen, so daß der kleine Giovanni erschrocken aufschaute, bevor er sich eilig wieder seinem Stieglitz zuwandte.
Auch Marozia sehe ich vor mir: Sie war guter Hoffnung, mit sichtbar sich vorwölbendem Leib, ohne sich jedoch plump zu bewegen, wie es Hochschwangere häufig tun; zudem strahlte sie etwas Gewinnendes, Siegreiches aus. Neben ihr hockte dieser Greis, der abgemagert und gealtert war, jedes einzelne Haar seiner Tonsur verloren hatte und sich bereit machen mußte, seine letzte Reise anzutreten.
Ich saß zuerst bei ihnen, als sei ich auf dem Sprung, doch Papst Sergius ergriff unversehens meine Hand, drückte sie mit seinen knotigen Fingern und schaute mich fragend an.
»Ich segne euch und eure Nachkommenschaft«, krächzte er, indem er die drei Finger der Segnung hob, räusperte sich umständlich und ließ seinen Blick auf dem kleinen Giovanni ruhen. »Wenn dich der höchste Richter herbeiwinkt und du weißt, daß er dich bald aburteilen wird, läßt du noch einmal die unverzeihlichsten Sünden deines Lebens an dir vorbeiziehen.« Er schnaufte und wischte sich über den Mund. »Ich habe mich an euch versündigt, meine Töchter, und bitte euch, mir zu vergeben. Auch wenn der Vater im Himmel mir die Absolution verweigern wird, so mögt wenigstens ihr sie mir erteilen.«
Marozia und ich schauten uns an. Sie strich ihrem kleinen Sohn über den Kopf, der sich nun sogar so weit auf seinen Vogel hinabbeugte, daß dieser ihn in die Wange pickte.
»Heiliger Vater«, sagte sie stockend, »ich habe Euch längst vergeben. Dieses Kind ist der Ausgleich, den mir der Herr in seiner Gnade geschenkt hat.« Nach Worten suchend fuhr sie fort: »Unser kleiner Giovanni ist bereits jetzt durchdrungen vom Geist seines Vaters … im Himmel.« Um erst gar nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, sie meine ihre Worte ironisch oder gar spöttisch, lächelte sie gewinnend. Selbst ich, die Marozia seit ihrer Geburt kenne, habe in diesem Lächeln nichts Falsches entdeckt. Wenn nötig, schmilzt dieses Lächeln jeden Widerstand hinweg. Erst der Kerker hat seine Kraft gebrochen.
Nun schaute Papst Sergius mich forschend an.
Ich erinnere wenige Ereignisse aus der Zeit des Sergius, am intensivsten den Moment, in dem er mir und dem ungeborenen Leben den Tod androhte, doch all dies liegt nicht nur weit zurück, sondern scheint in einem anderen Leben stattgefunden zu haben. Ich, die ich damals war, bin mir, der heutigen Person, ferngerückt. Da ich mein Leiden mit Fassung ertrug, hallt es lediglich nach wie ein schwächer werdendes Echo.
»Das Kind, das ich auf die Welt brachte, war ein Geschenk des Himmels, aber es wurde mir wieder genommen«, sagte ich nach einer Pause. »Euer Kind!« fügte ich betont an.
Ein Erschrecken verzog den Totenkopf. Seine tiefliegenden, wäßrigen Augen zuckten, und eine einzelne bläuliche Ader über der eingefallenen Schläfe pochte. »Lebt dein Sohn nicht mehr?«
»Ihm drohte der Tod, und ich habe ihn verloren«, antwortete ich kryptisch.
Giovanni schaute kurz auf, aber ich denke nicht, daß er bereits verstehen konnte, was ich sagte. Kleine Kinder sind zu ihrem Glück blind für den Tod, bis er nach ihrer Hand greift.
»Der Herr gibt, und der Herr nimmt«, sagte Papst Sergius nicht ohne die Andeutung einer Bitterkeit in seiner Stimme. Leise, fast unverständlich, fügte er hinzu: »Ich habe immer darunter gelitten, daß wir, die wir das heilige Gewand tragen, uns auf Erden nicht wiedererkennen dürfen in den Augen unserer Kinder.« Er schaute zugleich auf den kleinen Giovanni, der seinen Blick nicht zu erwidern wagte. Auch als Papst Sergius sich bald darauf stöhnend erhob, sah Giovanni nur auf Befehl seiner Mutter hoch und drückte sich dann ängstlich an mein Bein.
»Vergebt mir, meine Töchter!«
Erneut war er kaum zu verstehen, so leise sprach er. Sein Stock klackte auf den Boden, aber seine Schritte wirkten so unsicher, daß Marozia seinen Arm ergriff und ihn führte, bis wir im Atrium auf seine Begleiter stießen. Ich hatte den kleinen Giovanni mitsamt seinem Vögelchen auf den Arm genommen und blieb zurück, sah aber noch, wie Papst Sergius Marozia erneut segnete und sie sogar eine Umarmung andeutete.
Im Raum der Kinder angekommen, wurden wir von Alberico mit lautem Geschrei begrüßt. Giovanni erschrak und ließ seinen kleinen Freund fliegen. Aufgeregt flatterte der Stieglitz zu einer Stange am Fenster.
Ich übergab die Jungen den Kinderfrauen und begab mich wieder zur Loggia. Mein Herz pochte laut und hektisch. Marozia war ebenfalls zurückgekehrt und setzte sich neben mich. Die Sonne schob sich hinter die schwarze Silhouette einer Kuppellaterne und warf einen letzten rötlichen Schein auf eine Marmorfigur, die eine Fackel nach unten hielt. Die Figur mochte noch aus der Zeit der alten Römer stammen: Vereinsamt stand sie auf einem Dachsims, mit gesenktem Blick, angeschwärzt von einem Brand. Die Sonne war nun verschwunden, der Himmel schien sich entflammen zu wollen, doch stürzte er rasch in lila verfärbte Dunkelheit ab.
»So stirbt der Mann, der uns beide verbindet. Ich habe ihm tatsächlich längst vergeben, denn er hat mich von einer vergeblichen Sehnsucht befreit«, sagte Marozia in die Nacht hinein.
Ohne zu antworten, sah ich noch lange die gesenkte Fackel vor mir.
Kaum hatte man Papst Sergius in der Lateranbasilika beigesetzt, herrschte nicht nur die gewohnte Unruhe auf Roms Straßen, es schwirrte die Stadt auch von Gerüchten. War es mit rechten Dingen zugegangen, daß Papst Sergius so unerwartet und rasch verfiel? War er gar vergiftet worden? Und wenn, durch wen? Wer konnte ein Interesse daran haben?
Diejenigen, die weniger zurück als nach vorne schauten, stellten sich die Frage: Wen fassen Konsul Theophylactus und sein Schwiegersohn Alberich von Spoleto als nächsten Papst ins Auge? Ich sehe regelrecht die Männergruppen vor mir, die sich, von Hühnern umpickt, auf Roms Plätzen trafen oder vor Tavernen zusammenstanden, sich zuzwinkerten oder höhnisch die Augenbrauen hochzogen und dann in gemeinsames Gelächter ausbrachen. Jeder wußte, daß nicht Theophylactus und Alberich die entscheidenden Drahtzieher waren, sondern Theodora, das Gauklermädchen mit undurchsichtiger Herkunft und einem unermeßlichem Goldschatz, die schwarzbemalte Liebhaberin des Erzbischofs von Ravenna, die ihr Treiben, so war über Diener und schwatzhafte Mägde durchgesickert, kaum verstecke. Der Erzbischof halte sich seltener in Ravenna als in Rom auf, und so sei es im Grunde keine Frage mehr, wer als nächstes den Papstthron besteige. »Dann, endlich, hat Theodora ihren Liebhaber vor Ort, sie kann sich als heimliche Päpstin fühlen, und der Lateran ist das reine Freudenhaus.«
Wird man später einmal, so frage ich mich heute, noch immer im flackernden Halbdunkel unserer Gruft auf meine Freilassung wartend, auf diese verhöhnende Weise von Theodora und Papst Johannes reden und schreiben? Wird ein eifriger Mönch oder sogar ein bischöflicher Annalist von Albericos Gnaden sich gichtgekrümmt an sein Schreibpult setzen und seinen giftgetränkten wie frömmlerischen Bericht mit der beliebten Klage o tempora, o mores! beginnen?
Eins kann ich auf jeden Fall der Nachwelt mit einem Schwur auf alle vier Evangelien bezeugen: Markgraf Alberich wurde nicht von Theodora über den wahren Vater seines ältesten Sohnes informiert. Ich hatte diesen Plan für zu gefährlich gehalten, denn allzu wahrscheinlich war es, daß sich Alberichs Zorn gegen Marozia und ihre Mutter richtete. Er konnte Marozia samt ihrem Bastardsohn verstoßen und die Allianz mit Theophylactus aufkündigen. Sein Schwiegervater verfügte über die größeren Reichtümer, Alberich indes über die schlagkräftigeren Arme: Goldmünzen gegen Stahlklingen – wer würde da den kürzeren ziehen?
Theodora hatte längst begriffen, daß Alberich ihre Tochter in der Art vieler Haudegen liebte: Solange sie ihm seine Erben auf die Welt brachte und aufzog, solange man sich mit ihr schmücken konnte, weil der Männerwelt die Augen ob ihrer Schönheit übergingen, wurde sie geliebt und geachtet. In der Tat liebte Alberich unsere Marozia: Ihre Schönheit fand überall, wo sie auftrat, Bewunderer. Die Geburten hinterließen kaum Spuren, außer daß sich Marozias Formen noch mehr rundeten. Ihr Gang blieb federnd, das Lächeln bezaubernd, der Augenaufschlag gewinnend. Alberich sonnte sich wie seine Schwiegereltern in Marozias Glanz, als sei sie sein Werk.
Doch zurück zum Tod des Mannes, der unser aller Leben so nachhaltig beeinflußt hatte! Sergius III. ging den Weg aller Sterblichen im Jahre 911. Theodora wollte selbstverständlich, daß ihm Erzbischof Johannes unverzüglich auf den Stuhl Petri nachfolge, indes: Damit würde er gegen das im im canonicum niedergelegte Translationsverbot verstoßen. Als Bischof durfte Johannes nicht in eine andere Diözese wechseln, und sei es in die beherrschende von Rom. Dies hatte man bereits Formosus vorgeworfen, zu Leb- und zu Leichnamzeiten – sollte Johannes, der damals zu der Gruppe gehörte, die den Vorwurf unterstützte, jetzt selbst gegen das kanonische Recht verstoßen? Hinzu kamen die unschönen Gerüchte über Papst Sergius' Hinscheiden, denen er keine Nahrung geben wollte.
Theodora kümmerte weder das kanonische Recht noch die kuriale Gerüchteküche. Anfangs sah es so aus, als könnte sie ihren Willen durchsetzen, doch nach einer Zusammenkunft in Theophylactus' Palast, bei der auch Marozia und Alberich zugegen waren, verkündete er den Anwesenden, sich noch nicht zur Wahl zu stellen.
Ich kann verstehen, daß er sein Pontifikat nicht mit dem Verdacht eines Verbrechens beginnen wollte. Hinzu kam ein weiterer Grund, der bei seinem nächsten Besuch auf dem Aventin deutlich wurde.
Anfangs war Johannes mir wie ein von Theodora gezähmter Hengst erschienen. Doch spätestens während dieses Besuchs zeigte er eine andere Seite seines Wesens. Er trat ganz ungewohnt in der Gewandung des Erzbischofs auf und wirkte dadurch gemessen, fast steif – was Theodora offenkundig reizte.
Er strebe trotz des Translationsverbots langfristig die Stelle des pontifex maximus an, erklärte er, und wolle ihr zu neuem Glanz verhelfen. Dabei dürfe aber nicht der Eindruck einer Abhängigkeit entstehen, schon gar nicht der Abhängigkeit von einem Weibe.
Alberich grinste, während Theodora überhaupt kein Verständnis für die Skrupel und Worte ihres seine Würde ausspielenden Liebhabers zeigte. Sie rief sogar vor aller Ohren: »Ich will, daß du endlich nach Rom kommst, damit ich des Nachts nicht immer vor Sehnsucht verbrenne.«
Johannes überhörte ihren Ausruf, ebenso wie Theophylactus, der, so wußten alle in seiner familia, die lodernden Flammen der Sehnsucht während Johannes' Abwesenheit löschen durfte. Dafür mischte sich Marozia ins Gespräch. Sie könne Onkel Johannes vollkommen verstehen und unterstütze ihn. Es gehe um das Amt, um sein Ansehen, die Autorität der Person und die Reinheit der Christenheit.
Ihre Mutter schäumte, was dadurch verstärkt wurde, daß Marozia ihre hehren und hochwürdigen Worte durch ein verführerisches Lächeln unterstrich, dem Erzbischof am Ende ihrer Ausführungen sogar von hinten die Arme auf Schultern und Brust legte, ihren Kopf an seinen drückte und ihn herzte, als sei er seit Jahr und Tag ihr Lieblingsonkel.
Die nachfolgende Diskussion verlief wenig harmonisch und ohne Einigung. Erzbischof Johannes verabschiedete sich bald und erlaubte den Frauen nicht mehr als den Kuß seines Rings. Anschließend gab es eine häßliche Szene zwischen Mutter und Tochter, während die Männer sich zum Würfelspiel zurückzogen.
Nach der Totenfeier für Papst Sergius III. setzte sich Johannes tatsächlich durch: Es wurden nacheinander zwei Päpste inthronisiert, deren Namen ich bereits vergessen habe, so wenig Eindruck, so wenige Spuren haben sie hinterlassen. Im Jahr 914 nach Menschwerdung des Herrn wurde er dann allerdings auf den Stuhl Petri gewählt und dem jubelnden Volk mit dem bekannten habemus papam verkündet. Er behielt seinen Namen bei und nannte sich Johannes X. Obwohl er nicht mehr der Jüngste war und sich im Laufe seines Pontifikats zahlreiche Feinde machte, hielt er sich länger auf dem päpstlichen Thron als die meisten seiner Vorgänger. Sein Schicksal wurde, ganz anders, als irgendeiner von uns erwartet hatte, auch zu unserem Schicksal.
Vorerst bescherte mir das Schicksal eine andere Überraschung: Ein Bote von Aaron dem Juden überbrachte mir ein kleines Päckchen sowie einen Brief, dessen Siegel mir unbekannt war. Als ich es erbrach und die ersten Buchstabenschnörkel erkannte, sank mein Herz in eine Tiefe, die mir fast das Bewußtsein raubte: Es war Martinus' Schrift.
Lange Zeit trug ich diesen Brief stets bei mir. Er kündigte den Besuch des Mannes an, der sich lange um mich bemüht hatte, den ich in einem Akt spontaner Verzweiflung gehen ließ, obwohl er mir und meinem Sohn eine Zukunft in meiner Heimat Konstantinopel ermöglichen wollte. Zugleich berichtete der Brief von Martinus' in namenloser Trauer erfolgten Flucht nach Lucca, den Geschäften mit byzantinischen Händlern im Auftrag seines Onkels, einer abenteuerlichen Reise ins byzantinische Reich, die ihn schließlich nach Konstantinopel selbst geführt hatte. Er schilderte in Worten liebevoller Bewunderung die Stadt und ihre Bewohner, selbst für die Beamten des Kaisers und ihren höchsten Repräsentanten, den Eparchen, zeigte er wohlwollendes Verständnis.
Elfenbeinschnitzereien und Purpurseide habe er, Martinus, mit der Erlaubnis des kaiserlichen Hofes erwerben dürfen, um sie im italischen Norden und in Rom weiterzuverkaufen. Die Purpurseide sei für die Kardinäle und überhaupt für den vatikanischen Hof gedacht, das Elfenbein für Menschen wie sie, welche die von göttlichem Geist inspirierten und unglaublich kunstvollen Werke der byzantinischen Schnitzer zu schätzen wüßten. »Und ich habe, meine kluge und verehrte Aglaia, ein besonders schönes, ja, liebliches Stück als Geschenk für dich ausgesucht, auf dem eine gütige Gottesmutter das zarte Jesuskind auf dem Arm hält. In unauslöschlicher Liebe und Verehrung sitzt Joseph an ihrer Seite, über ihnen schweben die Engel des Herrn, und hinter ihnen lächeln Ochs und Esel. Öffne das Päckchen, und du wirst sehen, wovon ich spreche.«
Weil ich die Tränen der Freude nicht mehr unterdrücken konnte, entlohnte ich den Boten mit einem Silberdenar, wofür er mir, noch immer offiziell eine Sklavin, die Hand küßte. Ich wollte allein sein, mußte auch die herbeistürmenden Kinder wegschicken, was mir nur mühsam gelang. Schließlich rettete ich mich ins säulengesäumte Peristyl. Ein magerer Wasserstrahl plätscherte leise ins Becken, nicht, wie im Palast des Theophylactus, von einer Venus gegossen, sondern aus dem männlichen Teil eines eher plumpen Herkules fließend. Markgraf Alberich hatte diese Brunnenfigur von einem Händler erworben, der sie vermutlich aus dem Schutt der ewigen Stadt gegraben hatte, um ihre fehlenden Teile von einem Steinmetz wenig kunstvoll ersetzen zu lassen. Als sie aufgestellt wurde, brach Alberich in begeistertes Lachen aus, während Marozia naserümpfend die Augen verdrehte.
Hier fand ich endlich Ruhe, den Brief zu Ende zu lesen.
»O Aglaia«, fuhr Martinus fort, »laß mich dir eins berichten, was dein Herz erfreuen und mir geneigter machen dürfte! Gerettet und gesund war dein Sohn nach seiner Flucht, deren Anlaß er mir in groben Zügen schilderte, bei uns in Lucca aufgetaucht. Wir boten ihm an, eine Weile bei uns zu bleiben. Er drang jedoch darauf, unverzüglich in die Heimat seiner Großeltern weiterzureisen, und so statteten wir ihn mit Geld und hilfreichen Adressen aus und ließen ihn ziehen. Dankbarkeit leuchtete aus seinen Augen, als er aufbrach. Auf dem Konstantinsforum begegnete ich ihm Jahre später wieder. Trotz seiner fremden (und sehr vornehmen) Kleidung erkannte ich ihn sofort. Zu dieser Zeit hatte er erst einen kleinen Teil eures Vermögens erstritten; es war ihm noch nicht gelungen, eure villa zurückzuerhalten. Dennoch hatte er bereits die Aufmerksamkeit des Kaisers erlangt. Weil er sowohl das Griechische wie auch das Lateinische so gewählt spricht und schreibt, hat er alle Chancen, dereinst einmal einen missus des Kaisers begleiten zu dürfen oder vielleicht sogar selbst eine Gesandtschaft zu leiten.
Natürlich sprachen wir von dir, als wir am Abend des Wiedersehens gemeinsam speisten – und mancher Seufzer der Sehnsucht entschlüpfte unseren Lippen.«
Ich mußte den Brief niederlegen, weil seine Buchstaben mir vor den Augen verschwammen. Doch schließlich gelang es mir, das Ende des Briefs in mein Herz aufzunehmen.
»Betrachte genau die Elbenbeinschnitzerei, liebste Aglaia, und sieh, mit welchem Ausdruck die Gebenedeite auf den Erlöser schaut. Für mich bist du in ihr auferstanden. Oder sollte ich es anders ausdrücken? Sie ist in dir auferstanden. Wie einst Joseph blicke ich auf Mutter und Kind, stolz und selig, wehmütig, sehnsuchtsvoll und treu in unauslöschlicher Liebe.
Ein einziges Mal durften wir uns erkennen – und leider gelang es mir nicht, dich aus dem Gefängnis deiner unvergessenen Schmerzen zu befreien, dich zu dir selbst und deinen Wünschen zu geleiten. Darf ich hoffen, dich bald, wenn ich in Rom weilen werde, nicht nur wiederzusehen, sondern auch heimzuführen, in reiner, in keuscher Liebe?«
Erneut mußte ich das Pergament sinken lassen und flüsterte »Ja, ja!« so leise, daß nicht einmal der plätschernde Herkules es hörte. »Was habe ich dir angetan, Martinus! Ich will mich dir hingeben und mich deiner Liebe öffnen bis ans Ende unserer Tage.«
Ich muß die Gefühle hintanstellen, die mich noch heute, tief in unserer Gruft, überwältigen, und zu mehr Sachlichkeit beim Schreiben zurückkehren. Liebe und Schmerz, als einfache Worte niedergeschrieben, bleiben tote Buchstaben und verhöhnen die Gefühle, denen sie Ausdruck verleihen sollen. Alle schmückenden epitheta und bewegenden verba, die man hinzufügen mag, alle Bilder und Vergleiche, die um sie ranken, bleiben das winterliche Geäst eines Baumes, der seine Blätter verloren hat und dem man nicht ansehen kann, daß er je wieder grünen wird.
So muß ich mich zu einem Bericht ohne schmelzende und doch abgestandene Worte zwingen und darf all meine Vorfreude auf Martinus nur erwähnen und nicht weiter beschreiben. Ich hatte kaum Möglichkeiten, sie Marozia oder gar Theodora und den Männern mitzuteilen, weil zu dieser Zeit, gleich zu Beginn des Pontifikats von Papst Johannes X. Ereignisse unsere Aufmerksamkeit erzwangen, die tief in meinem Innern abgelegte und ruhende Ereignisse wiederbelebten.
Nach verhältnismäßig friedlichen Jahren hatten sich die Sarazenen des Garigliano, verstärkt durch Truppen aus Nordafrika, wieder aufgemacht, die Campania Roma und das südliche Latium auszuplündern, gegen die Albaner Bergdörfer und Klostermauern anzurennen, unsere großartige und so reiche Abtei Farfa mit ihren sechs Basiliken, mit schattigen Kreuzgängen und Säulen aus Onyx, mit ihren heiligen Reliquien und der wertvollen Bibliothek zu erobern.
Markgraf Alberich hatte während der letzten Jahre einen Teil seiner Schutzmannschaften aus Roms Umfeld abgezogen und nach Spoleto verlegt, weil dort die Anhänger der ehemaligen Herrscherfamilie Unfrieden stifteten. Dies rächte sich jetzt. Die Krummschwerter der Ungläubigen kannten keine Gnade und hieben die Menschen in Stücke, die Brandfackeln fraßen sich durch Dächer und Vorratsspeicher – laut schallte der Ruf Allahu akbar, und weiter stürmten die schlanken Pferde der Eroberer. Sie standen sogar vor den Mauern der ewigen Stadt, die ihnen jedoch, von Konsul Theophylactus vorsorglich befestigt, den unüberwindbaren Schild der Abwehr entgegenhielten. Weil die Sarazenen die Aussichtslosigkeit, Rom zu erobern, einsahen, erstürmten sie Subiaco und sein Kloster, ergossen sich in die alten etrurischen Gefilde und bis tief nach Tuszien hinein mit Mord, Raub und Zerstörung. Kaum ein Bauer, Pilger und Händler entkam ihnen, keine Frau und kein Kind. Mir versagen die Worte vor der gnadenlosen Grausamkeit, die zu berichten wäre.
Als das Land schließlich so ausgeplündert war, daß die Sarazenen kaum noch Nahrung fanden, zogen sie sich zurück in ihre Lager in den verödeten Landschaften, an die Orte, an denen sie ihr Beutegut aufgehäuft hatten, so zum Beispiel zum Kloster Farfa, das ihnen zum Hohn des christlichen Gottes als Moschee und Pferdestall, Vorratslager und Sklavenpferch diente, und natürlich an den Garigliano selbst, von dem aus täglich zahlreiche schwerbeladene Schiffe nach Afrika ablegten. Allah, der Eroberergott, der Gott des heiligen Krieges, hatte, kein Zweifel, über den christlichen Herrn, den Friedensfürsten, gesiegt. Und die wenigen, die überlebten, weil sie sich rechtzeitig in verborgenen Höhlen und unzugänglichen Wäldern versteckt hatten, fragten sich: Wo war der Schutz des Allmächtigen geblieben? Kann man sich wirklich auf ihn verlassen? Hat man sich je verlassen können?
Sie fragten sich zudem: Warum hatten die Truppen des Markgrafen Alberich nicht mehr Schutz gewährt?
Theophylactus blieb, wie wir alle, tagelang stumm vor Entsetzen, bevor er seiner Wut freien Lauf ließ. Jahre des Aufbaus waren in einem Sturm der Verwüstung untergegangen. Rom drohte zudem eine Hungerkatastrophe und damit Aufstände, mit ihnen Zerstörungen, die die Lage noch bedrohlicher werden ließen.
Papst Johannes persönlich zelebrierte jeden Tag eine Messe, um den Menschen Trost und Mut zuzusprechen – und gleichzeitig zitterte seine Stimme vor alttestamentarischem Zorn. Vielleicht, so ermahnte er seine Zuhörer, strafe der Herr sie alle für die Untaten, die auch unter dem Dach und den Augen der allumfassenden Kirche geschehen seien, vielleicht wolle ER sie auf diese grausame Weise aufrütteln, zusammenzustehen und gemeinsam gegen den ungläubigen Feind vorzugehen, der erst dann Frieden gebe, wenn er vernichtet und ausgerottet sei.
Die Menschen in der im neuen Glanz und unter dem Gefunkel von tausend Kerzen erstrahlenden Lateranbasilika tobten und schrien vor Wut und Begeisterung, sie stießen blinde Drohungen aus und schüttelten die Fäuste, Männer zerrissen ihre Umhänge, und Frauen fielen in Ohnmacht. Als dann schließlich der Heilige Vater sie mit seinem ite missa est entließ, leerte sich die Kirche im lauten Geschrei der Gläubigen, das schließlich in sich zusammenfiel zu einem Murmeln und Raunen. Viele hatten bereits zu laufen begonnen, um als erste anzustehen vor den Bäckereien, die noch Brot verkauften, oder vor den Klöstern, in denen es Armenspeisung gab.
Kaum hatte sich der Brand- und Verwesungsgeruch, der Rom umgab, gelegt, begann eine hungergeplagte und pestdurchzogene Zeit, die auch in der ewigen Stadt zahlreiche Opfer forderte. Wer von den Milizen auf der aurelianischen Mauer Wachdienst leisten mußte, berichtete vom Geheul der Wolfsrudel, von fetten umherstreunenden Hunden und Geierschwärmen, von dunklen, summenden, ja, brausenden Wolken: Unzählbare Fliegen überwanden voller Gier die Mauern der Stadt und fielen über die niedriggelegenen, stinkenden Viertel her, um dort den Ratten und Krähen ihre verwesende Beute streitig zu machen.
Ich trug tags und auch nachts den Brief des Mannes an meinem Herzen, der mich hatte heimführen wollen. Als die Sarazenen ihr heiseres Geschrei vergeblich gegen die Mauern schleuderten, hoffte ich, Martinus habe rechtzeitig eines der römischen Tore durchschritten. Als dann das nördliche Latium brannte und kein Pilger mehr die heilige Stadt erreichte, schon gar kein Händler, betete ich, daß Martinus vor den heranstürmenden Horden beizeiten zurückgeflohen sei nach Siena oder Florenz, Pisa oder Lucca. Ich flehte den stummen und unbarmherzigen Gott an, bis ich selbst verzweifelt verstummte.
Als ich auf Martinus selbst nicht mehr wartete, hoffte ich auf einen Brief, in dem er mir seine Rettung mitteilte und mir versprach, mich bald zu erlösen.
Ich hoffte vergebens.
Der Schmerz, den zu bekämpfen mir seit langem gelungen war, kehrte zurück. Die Ruhe, die sich meine Seele erkämpft hatte, war dahin, und so zeigte auch die Erinnerung wieder die Medusenfratze des Geschehens, das mich aus Kindheit und Jugend gerissen und mir die Fähigkeit zu lieben genommen hatte. Hoffnungslosigkeit befiel mich, aus der mich nicht einmal die Kinder mit ihrem unbekümmerten Lachen erlösen konnten.
Martinus hatte mich holen und heiraten, hatte mit mir in meine Heimat zurückkehren wollen, damit wir uns vereinigten mit meinem Sohn – und nun mußte er den sarazenischen Horden in die Hände gefallen und von ihnen zu Tode gehackt worden sein.
In mir explodierte ein Haß, wie ich ihn weder vorher noch nachher je wieder erlebt habe.
Ich eilte zu Theodora, die ich in intensivem Gespräch mit ihrem Mann und Alberich antraf, und kaum begegneten sich unsere Blicke, wußten wir beide, daß in uns die gleichen Gefühle aufgebrochen waren. Als sie mich begrüßte und dabei kurz umarmte, flüsterte ich ihr zu: »Martinus war auf dem Weg nach Rom.«
Ihre Augen leuchteten kurz auf, um sich sofort wieder zu verschatten.
»Er wird nicht kommen«, sagte ich knapp.
Sie drückte mich an sich. »Wir sind Schwestern in Leid und Triumph. Wir müssen stets zusammenhalten.«
Theophylactus begrüßte mich ernst und förmlich, selbst Alberich hatte sein Lachen verloren.
»Wir erwarten den Heiligen Vater, die römischen Kardinäle und einen Teil der Senatoren und magistri militum«, erklärte der Konsul. »Außerdem Abordnungen der Handwerker, der Bruderschaften der Fremden sowie als Vertreter der Fernhändler den Juden Aaron aus Antiochia.«
Es dauerte nicht mehr lange, da waren die meisten der Eingeladenen eingetroffen, und schließlich erschien Papst Johannes im Waffenrock, umgürtet mit einem Schwert. Er unterband alle Begrüßungsworte und Anspielungen auf sein ungewöhnliches Gewand, kam sofort auf die Lage zu sprechen: »Wir stehen vor der größten Bedrohung, seit unter Papst Leo die Sarazenen die Basilika des heiligen Petrus entweiht haben und die Stadt selbst beinahe erobert und eingeäschert hätten. Roms Umland und Kornkammer ist zerstört und entvölkert, der Besitz der edelsten Familien der Stadt liegt in Ruinen, die Menschen beginnen zu hungern, und wir wissen nicht, ob die Sarazenen nicht in einer zweiten Angriffswelle versuchen werden, das Zentrum des Glaubens zu erobern, die Knechte unseres Gottes zu vernichten und, wie einst die Goten, die gesamte Bevölkerung aus der Stadt zu vertreiben und womöglich in die Sklaverei zu verkaufen.
Wir müssen jeglichen Streit vergessen und zusammenstehen, auch wenn dies den Römern wie allen italischen Mächtigen schwerfällt, weil sie, wie es scheint, den Streit und Hader, die Zersplitterung und Intrige mit der Muttermilch aufgesogen haben. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, nicht nur, um den nächsten Angriff abzuwehren, sondern um ihn ein für allemal zu unterbinden. Wir müssen das Kreuz und das Schwert nehmen und in Vertrauen auf Gott und unsere gerechte Sache die Sarazenen, die sich nun bereits seit Jahrzehnten am Garigliano eingenistet haben, vernichten.«
In diesem Augenblick liebte ich den Papst. Ich bewunderte die Art, wie er mit prophetischem Nachdruck das Wort vernichten ausgesprochen hatte: bestimmt und sachlich, ohne in heisere Wut oder hilflosen Zorn zu verfallen.
Von allen Seiten wurde ihm begeistert zugestimmt.
»Ich selbst werde, obschon ich als Nachfolger der Apostel nicht dafür geschaffen bin, das Schwert des Kriegers in die Hand nehmen, die Allianz der Gläubigen gegen die Verfluchten des Herrn persönlich anführen. Ich bitte euch, mir zu folgen und alles in eurer Macht Stehende zu tun, daß wir über den Auswurf der Welt obsiegen und ihnen, wie der Richter am Jüngsten Tag, zurufen können: Ihr Verfluchten, geht ein in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen bösen Engeln bereitet ist!«
Der Heilige Vater richtete kurz seinen Arm mit ausgestrecktem Finger auf die Hölle, die er den Ungläubigen bestimmt hatte, bevor er in sachlichem Ton fortfuhr: »Wir brauchen Geld für die Ausrüstung unserer Truppen, Heerführer und erfahrene Hauptleute, um die Freiwilligen im Schwertkampf, Lanzenwurf und Bogenschießen auszubilden. Ich werde die römische Miliz führen und mit ihr die Männer der Stadt, die wir noch ausheben können. Konsul Theophylactus« – er sah ihn fragend an – »wird einen zweiten Heeresteil befehligen, der sich aus Männern des Umlands, so wir überhaupt noch eine nennenswerte Zahl finden, zusammensetzt …«
»Ich werde die Versorgung des Heers organisieren und mit unserem Freund Aaron hier neben mir die anfallenden Geldmittel aufbringen«, fiel ich dem Papst ins Wort, sehr zu seiner Verwunderung und zum Erstaunen der Anwesenden. Ich hatte mich nicht mehr zurückhalten können, so sehr drängte es mich, meinen aufgestauten Haß in das Flußbett hilfreicher Taten zu leiten. Nicht einmal mit Aaron hatte ich gesprochen, aber ich wußte, er und seine Glaubensbrüder würden uns helfen, denn auch sie waren ermordet und beraubt worden.
Nun schien ein Damm gebrochen. Alberich rief: »Hinter mir steht die schlagkräftigste Streitmacht, die zur Zeit im mittleren Italien existiert. Ich, Alberich, Markgraf von Spoleto und Camerino, werde unseren Kreuzzug anführen, so wahr mir Gott helfe.« Fast hätte er sein Schwert gezogen, doch hinderte ihn die Enge an einer solch ausgreifenden Geste.
»Die Männer, die wir rüsten, werden kaum reichen, die kampferprobten Sarazenen endgültig zu besiegen«, nahm der Papst wieder das Wort auf, »wir müssen die Unterstützung des jungen tuszischen Markgrafen Wido gewinnen, dessen Vater leider soeben verschieden ist.«
»Das werde ich in die Wege leiten«, rief Alberich. »Adalbert war mein Freund und Jagdgenosse.«
»Der Herzog von Benevent und Capua, ja, sogar die Herzöge von Gaëta und Neapel müssen auf unserer Seite kämpfen, sonst ziehen sich die Sarazenen in ihr Gebiet zurück oder erhalten von ihnen Nachschub«, fuhr Papst Johannes fort.
»Und was ist mit dem Nachschub von der See?« mischte ich mich wieder in die Kampfplanung ein. »Am Garigliano unterhalten die Sarazenen einen großen Hafen. Wir müssen ihn sperren.«
»Aber wie?«
»Gute Frage.«
»Wir müssen in Portus eine Flotte aufstellen.«
»So schnell? Unmöglich. Und es fehlen auch erfahrene Kapitäne und Kämpfer zu See.«
»Byzanz!« rief ich, so laut ich konnte. »Wir brauchen die Hilfe der Byzantiner. Auch sie kämpfen doch im Süden des Landes und im östlichen Mittelmeer gegen die Sarazenen, ihr Handel ist bedroht, ihre Schiffe werden aufgebracht, die Besatzungen getötet oder in die Sklaverei verkauft …« Ich konnte nicht weitersprechen, weil mein Leib geschüttelt wurde von schluchzender Erregung und meine Stimme versagte.
Unversehens entstand eine nachdenkliche Ruhe, bis Papst Johannes wieder das Wort ergriff. »Aglaia, die Tochter eines tapferen makedonischen Geschlechts, dem bekannterweise der Welteroberer Alexander entstammte« – er warf mir einen ernsten Blick zu – »hat recht: Ohne eine byzantinische Flotte können wir keinen entscheidenden Sieg erringen. Und wir benötigen noch zusätzliche Unterstützung aus dem Norden des Landes: von König Berengar.«
Kaum hatte er diesen Namen erwähnt, wurde Unmut laut. Berengar gehörte zur Fraktion der nördlichen Barbaren, der Fremden, und man hatte nicht vergessen, daß dieser Berengar seinen königlichen Widersacher Ludwig hatte überfallen und blenden lassen, daß er sogar mit den Ungarn paktiert hatte, nachdem er von ihnen besiegt worden war. Dies zeugte von einer ganz besonderen Heimtücke und Ehrlosigkeit. Solch ein Usurpator-König sollte gefälligst jenseits des Apennin bleiben.
Papst Johannes hörte sich alle Einwände an, fand sie im Prinzip richtig, bestand dennoch darauf, Berengar als Verbündeten zu gewinnen. »Sonst fällt er uns womöglich in den Rücken, wenn wir gegen die Sarazenen antreten.«
Ich dachte mir, daß Papst Johannes aus seiner Zeit als Bischof von Bologna und Erzbischof von Ravenna gute Beziehungen zu Berengar haben könnte und daß er auch deshalb bestrebt war, ihn als Verbündeten zu gewinnen. Als wollte er meine Vermutungen bestätigen, ergriff er erneut das Wort und erklärte: »Selbstredend wird er einen Preis für seinen Einsatz fordern …« – wieder erhob sich lautes Murren – »den wir ihm auf billige Weise zukommen lassen können, denn Berengar ist titelsüchtig: Wir ernennen ihn nach erfolgreichem Feldzug zum Kaiser! Dies ist ein leerer Titel, auf den er sich etwas einbilden kann, ohne daß er dadurch irgendwelche Machtbefugnisse erhält.«
Erneut entstand heftige Unruhe. Jeder sprach, mit den Armen fuchtelnd, auf seinen Nachbarn ein. Die einen fanden den Vorschlag des Papstes besonders abgefeimt, die anderen fühlten sich in ihrer römischen Ehre gekränkt. Ich schlängelte mich zu Theodora durch, die mich in einen Nebenraum zog. Sie hatte die Arme um meine Schultern gelegt und küßte mich auf die Wange: »Endlich sind wir wieder Schwestern mit einem gemeinsamen Ziel: unseren Peinigern heimzuzahlen, was sie uns angetan haben!«
Papst Johannes hatte sich gegen seine Kritiker durchgesetzt und König Berengar unter den genannten Bedingungen angeboten, ihn zum Kaiser zu krönen. Berengar sagte begeistert zu und marschierte umgehend mit einem Heeresaufgebot nach Rom, das er trotz leichter Belästigungen durch die Sarazenen bald erreichte. Er mußte allerdings vor den Toren der Stadt das Lager aufschlagen und sich mit einer kargen Versorgung zufrieden geben.
Als er seinen Protest über die wenig kaiserliche, nicht einmal königliche Behandlung äußerte, wurde ihm während einer Besprechung der Heerführer im Konziliensaal des Vatikans bedeutet, er habe doch selbst das gebrandschatzte Latium gesehen und könne erst nach getaner Arbeit Ehre und Huldigung erwarten.
»Bescheidenheit und gottgefällige Einigkeit lauten die Erfordernisse des Tages«, erklärte Papst Johannes, »Besinnung auf die wahren apostolischen Werte und körperliche Zucht sind vonnöten, damit wir unser fruchtbares Land und seine fleißigen Bewohner von der Plage der Ungläubigen befreien.«
König Berengar hatte sich unter den versammelten Herzögen und Grafen, den Heerführern und Kardinälen sofort einen Platz erobert: Groß gewachsen und mit breiter Brust, vollbärtig und mit dröhnender Stimme ruderte er durch die dichtgedrängte Schar der Männer und rief: »Der Heilige Vater hat recht. Im Süden sind es die Sarazenen, im Norden die Ungarn, die ich bisher ohne fremde Hilfe habe bekämpfen müssen. Unvergessen ist unsere blutige Schlacht an der Brenta, in der ich – dem Herrn sei's geklagt! – die Blüte meiner besten Kämpfer verlor. Aber Einigkeit macht stark. Wenn erst der furor italicus über die Ungläubigen kommt …«
Mittlerweile hörte ihm niemand mehr zu, da die Aufmerksamkeit sich auf einen Boten richtete, der unter tiefem Kniefall dem Papst ein Schreiben überreichte. Johannes brach eilig das Siegel, überflog die Mitteilung und verkündete den sich um ihn scharenden Männern, daß die Verhandlungen mit den Byzantinern ein positives Ende gefunden hätten und bereits eine Flotte ins tyrrhenische Meer eile. »Durch den Beistand von Byzanz überzeugt, haben nun auch die süditalischen Fürsten, die bereits viel zu lange mit den Sarazenen im Waffenstillstand leben und einen blühenden Handel treiben, einen Schwenk vollzogen und sich uns unter gewissen Bedingungen angeschlossen.« Der Papst, sonst eher gelassen, schlug mit den Fingern auf das Pergament und rief: »Jetzt endlich sehe ich Gottes starke Hand auf unserer Seite!«
Im ganzen Saal kam Begeisterung auf; Alberich schüttelte in freudiger Erregung die Faust. »Sie sitzen in der Falle!« trompetete er. »Jetzt schlagen wir los.«
Gleichwohl gestaltete sich die Organisation des Feldzugs nicht so einfach wie erhofft. Es mußte ausgehandelt werden, wer den Oberbefehl erhalte, wo die Sarazenen zuerst angegriffen werden sollten, ob man mit der gesamten Streitmacht gegen sie vorgehe oder sich aufteile und wie man sich mit den süditalischen Fürsten abspreche, damit die Ungläubigen in einer Zangenbewegung zerquetscht würden. Die häufigen Treffen der Fürsten und Heerführer fanden nicht mehr im Vatikan statt, sondern im Patriarchum des Laterans, dann auch im Palast des Theophylactus, der neidvoll bestaunt wurde ob seiner königlichen Ausmaße; bewundert wurde Theophylactus zudem ob der reifen Schönheit seiner Gemahlin und der erblühten Schönheit seiner Töchter.
Ich hatte alle Hände voll zu tun: Ich mußte nicht nur den Brief an den byzantinischen Strategen Picingli ins Griechische übersetzen und schreiben, sondern hatte auch die versammelten Männer zu versorgen und zugleich, zusammen mit Aaron, die Finanzierung des Feldzugs zu organisieren. All dies gelang erstaunlich gut; zugleich strömten uns, angelockt von der Aussicht auf Bezahlung und Beute, kampfwillige Männer aus allen Landesteilen zu.
Nun schickte ich Boten nach Tuszien und sogar bis nach Mailand, damit unsere Truppen und das ausgeraubte Land weiterhin mit Lebensmitteln, Kleidung und Waffen versorgt würden. Alberichs Soldaten schützten die Händlerkarawanen, welche die unruhig gewordenen Sarazenen wie hungrige Wölfe umschlichen.
Ich arbeitete in rastlosem Tatendrang, getrieben von einem, so sehe ich es heute, überlebenswichtigen Rachedurst. Martinus' Ermordung und damit der Tod einer unerloschenen Sehnsucht hatte jegliche Seelenruhe davongefegt. Der Schmerz war nur zu betäuben, nicht zu beseitigen. Ich spürte, daß ich den Verursacher vernichten mußte, bevor ich erneut zu glauben vermochte, daß der Feind nur meinem Körper, nicht jedoch meiner Seele schaden könne.
Im Frühling hatte die Flotte Picinglis vor der Mündung des Garigliano Stellung bezogen, schnitt den Sarazenen jeden Nachschub aus Nordafrika ab und versperrte ihnen zugleich den Fluchtweg. Überall, so berichteten unsere Boten, reagierten die verstreuten Plünderergruppen aufgescheucht, strömten zusammen und errichteten befestigte Lager. Die meisten unserer Heerführer wollten unverzüglich ihre Truppenkontingente in Bewegung setzen und zuschlagen, doch Theophylactus beschwor sie, zu warten, bis die süditalischen Herzöge auch den Fluchtweg nach Süden, in Richtung Neapel, und nach Südosten, in Richtung Benevent, versperrt hätten. Außerdem müsse man die Kräfte bündeln, weil sonst die Gefahr bestehe, daß einzelne Truppenteile überwältigt würden.
Im Juni erreichte uns die Nachricht, der südliche Fluchtweg sei abgeriegelt und die Truppen aus Benevent, Capua, Gaëta und Neapel rückten langsam nach Norden vor. Nun gab Papst Johannes den Befehl, loszuschlagen. Als er zugleich erklärte, den Oberbefehl selbst zu übernehmen und gemeinsam mit dem römischen Konsul Theophylactus und dem Markgrafen von Spoleto das Hauptkontingent der Truppen zu führen, fiel ihm Berengar dröhnend ins Wort: Er sei schließlich der zukünftige Kaiser und damit der Herr der befreiten und geeinten italischen Lande, er sei kampferprobt und schlachterfahren wie kein anderer und beuge sich daher keinem fremden Oberbefehl, »schon gar nicht dem Oberbefehl eines Seelenhirten, der fromme und friedliebende Christenschafe zu führen in der Lage ist, nicht aber blutdurstige und schwertschwingende Soldatenwölfe.«
Schon bei den Worten kampferprobt und schlachterfahren war Alberich in ein erregtes und zugleich höhnisches Gelächter ausgebrochen, und nun brach es aus ihm heraus: »Du hast dich doch von den Ungarn zusammenprügeln lassen und bist ihnen dann sogar in den Arsch gekrochen, du fettbäuchiger Bastard, ich kenne dich, ich habe schon einmal unter deinem Oberbefehl gekämpft: Als es ernst wurde, hast du den Schwanz eingezogen …«
Alberich konnte nicht weiterreden, weil Berengar Anstalten machte, sich auf ihn zu stürzen, und ein chaotischer Tumult entstand.
»Komm her, Schmerbauch!« schrie Alberich ihm entgegen und hatte schon sein Schwert gezückt. »Ich säble dir den Kopf ab, dann können sich die Krähen deinen Kaisertitel holen.«
»Wie kannst du es wagen, Bauerntölpel, dein Schwert gegen einen Herrn zu ziehen!« Berengars Stimme hatte ihr Dröhnen verloren, drohte überzuschnappen. »Ich werde dir nach unserem Sieg alle deine Titel nehmen und dafür sorgen, daß dein Mord an dem Markgrafensohn von Spoleto gesühnt wird. Auch ich kenne dich! Dein Kopf wird rollen …«
Papst Johannes drängte sich, unterstützt von den Heerführern, mit aller Macht zwischen die Kampfhähne. Während Alberich noch immer Kaskaden unflätiger Beschimpfungen in die Richtung des Königs brüllte, wandte sich Berengar beleidigt ab und verließ den Raum, nicht ohne gravitätisch und mit geblähter Brust zu verkünden, er werde sein Heer allein gegen die Sarazenen führen.
Als sich im Juni die Sommerhitze ankündigte, schlugen unsere Truppen zu, wie angekündigt ohne Berengar, der mit seinen Männern aufgebrochen war, nördlich von Rom verstreute, meist kleinere sarazenische Einheiten zu verfolgen. Eine Abordnung unseres Hauptheers sicherte den Süden Roms, der bewegliche und schlagkräftigste Teil, die Reiterei und die kampferprobten Fußsoldaten, trieben in einem weiten Schwenk die Sarazenen aus der Sabina und stellten sie bei Tivoli, wo es zur ersten Schlacht kam, die Papst Johannes für sich entschied. Ich selbst war dabei, stand mit dem Troß und den Fußlahmen auf einem kleinen Hügel, von wo ich die Bewegung unserer zwei Reiterflügel verfolgen konnte. In der Mitte rückte Theophylactus mit den Fußsoldaten vor, die linke Flanke führte Johannes persönlich, mit dem Wurfspeer in der Hand, eingerahmt und geschützt von seiner Leibwache. Die rechte Flanke bestand aus Alberichs Kerntruppe, und die fegte, mit ihm persönlich an der Spitze, derartig über die Sarazenen, daß ihnen ihr Allahu akbar in der Kehle erstarb und sie, durchbohrt und aufgeschlitzt, zu Boden sanken.
Die Ungläubigen, die entkommen konnten, flüchteten in die Berge oder eilten ohne ihr Beutegut zum Garigliano, wo sich ihr befestigtes Hauptlager befand.
Unterdessen hatte sich Papst Johannes mit den süditalischen Herzögen getroffen, und sogar der byzantinische Stratege Picingli war hinzugekommen. Er staunte, als er bemerkte, daß der päpstliche Gesandte und Übersetzer eine Frau war, und als er hörte, aus welcher Familie ich stammte und welches Schicksal mich hierher verschlagen hatte, wurde er sehr nachdenklich. Mir gelang es, ihn trotz der laufenden Verhandlungen und Vertragsunterzeichnungen auf meinen Sohn Alexandros anzusprechen, und er versprach, sich für ihn beim Hof des Kaisers einzusetzen.
Papst Johannes führte in autoritätsgebietender Ruhe die Verhandlungen der diversen Parteien über die Aufteilung des Beuteguts, das bei der Erstürmung des sarazenischen Lagers sicherlich anfalle. Die Herzöge von Gaëta und Neapel wollten für den entgangenen Handel mit den Ungläubigen entschädigt werden und Ländereien des Patrimoniums erhalten, was ihnen zugestanden wurde. Als schließlich alles geklärt und unterzeichnet war, rüsteten wir uns zum Sturm auf das sarazenische Lager.
Ich sage wir, weil ich am liebsten mitgestürmt wäre, obwohl ich Blutvergießen verabscheue. Doch als ich einen Blick auf die angespitzten Palisaden warf, auf die Wälle und Holzschuppen, Zelte und Lagerfeuer und die umherwimmelnden Menschen, tauchte das Bild meiner Mutter auf, wie man sie, halb totgeschlagen und geschändet, in einen Pferch trieb, um sie in die Sklaverei zu verkaufen. Einen Augenblick schoß mir der Gedanke durch den Kopf, sie könnte womöglich noch leben – falls sie, wie ich, einen Besitzer gefunden hatte, der sie nicht wie ein Stück Vieh behandelte, sondern wie ein menschliches Wesen.
Und dann bedrängten mich, lebhafter und schmerzhafter denn je, die Erinnerungen an die Ereignisse auf dem Schiff, ich spürte schließlich Yussufs Hand, ja, ich roch ihn – und mußte mich dort, wo ich stand, in einem unabweisbaren Anfall übergeben.
Theophylactus sah sorgenvoll zu mir herüber und rief Theodora herbei, die während der letzten Tage aus Rom gekommen war, um den Schlußakt des Kampfes mitzuerleben. Sie hatte auf ihre Anwesenheit ebenso bestanden wie ich, weil auch sie die ungestillten Rachegefühle befriedigen wollte.
Schließlich begann an einem Julitag bei Sonnenaufgang mit einem Pfeilhagel, der bald ebenso beantwortet wurde, der Sturm auf das Lager. Unsere Bogenschützen, die sich hinter ihre langen Schilde duckten, rückten langsam vor, bis ein unerwarteter Ausfall der sarazenischen Reiterei Hunderte von ihnen niedermachte. Alberich griff mit seiner berittenen Truppe ein und ließ sich in seinem Drang, zu kämpfen und womöglich schon früh eine Entscheidung herbeizuführen, bis kurz vor ein Tor locken, wo ein Pfeilhagel seiner Truppe, Männern wie Pferden, schwere Verluste zufügte. Er selbst erlitt einen Streifschuß, der ihn zum Glück nur leicht verletzte, nachdem sein Plattenpanzer die Spitze des Pfeils abgelenkt hatte. Weil wir uns auf einen Ausfall besser vorbereiten wollten, geschah nicht mehr viel an diesem Tag.
Am nächsten Morgen stürmte Alberich, noch voller Wut über den ›Kratzer‹, mit seinen Reitern bis vor das Haupttor des Lagers, mußte sich aber erneut zurückziehen.
Papst Johannes schlug vor, die Sarazenen auszuhungern, erntete indes bei den meisten Heerführern murrenden Protest. Untätigkeit untergrabe die Moral der Truppe, außerdem würden die Soldaten in den heißen Sommermonaten von Mückenschwärmen geplagt und vermutlich bald von dem tödlichen Sumpffieber heimgesucht.
Theophylactus hielt mehr davon, die Sarazenen durch tägliche Attacken zu zermürben und dabei zugleich nach ihrer Schwachstelle zu suchen, dann einen Angriff an der gegenüberliegenden Seite vorzutäuschen, um sie abzulenken. Wenn dies gelinge, solle der Schwachpunkt mit allen Kräften gestürmt werden.
Tatsächlich wehrten die Sarazenen zwei Monate alle Versuche ab, das Lager einzunehmen, und die Wut auf unserer Seite wuchs. Dann jedoch, Ende August, kam der Tag, an dem es uns gelang, eine ganze Palisadenreihe niederzureißen. Alberich stürmte mit seiner Reiterei in diese Bresche und metzelte alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Theophylactus' Fußsoldaten waren nicht mehr zu halten, und auch die Reiterei, die der Papst befehligte, ließ sich nicht zügeln. Das Geschrei der Männer, das Wiehern der Pferde und das Dröhnen ihrer Hufe waren betäubend. Die Angreifer drängten in die immer breiter werdende Bresche, rissen schließlich die Tore von innen auf und ergossen sich unaufhaltsam in das Lager.
Ich saß neben Theodora auf dem Rücken meiner Fuchsstute und beobachtete das Geschehen, soweit ich vor lauter Staub, bald hochlodernden Flammen und sich ausbreitendem Rauch etwas erkennen konnte. Immer wieder umschossen uns Lichtblitze von spiegelnden Klingen, Streitäxte sausten nieder, Pferde bäumten sich auf, schlugen wild aus, Reiter wurden aus dem Sattel gerissen, fielen in einen hochgereckten Speer.
Die Erregung, in die mich das Kampfgeschrei trieb, wurde derart übermächtig, daß es mich losriß. Ich gab der Stute die Sporen und trieb sie an, dem Erobererstrom zu folgen. All dies lief ohne den Willen ab, dem ich befehligen konnte. Ich hörte mich schreien und sah erschrockene Fußsoldaten zur Seite weichen. Und dann ritt plötzlich Theodora neben mir, nein, sie ritt nicht, sondern stand auf dem Sattel. Es war wie im Hippodrom zu Konstantinopel, wo die Akrobatinnen auf dem Rücken der Pferde ihre Kunststücke vorführten.
Theodoras Schleier war davongeflogen, ihre Haare hatten sich geöffnet und wehten wie die Mähne ihres braunen Wallachs. Ich spürte, daß auch meine Spangen sich gelöst hatten. Und eh wir uns versahen, befanden wir uns mitten im Getümmel. Da hackten die Schwerter aufeinander, daß die Funken flogen, da krachten die Äxte auf Schilde, trafen die Klingen Helme und Armschienen, Pferde stürzten mit einem Speer in der Brust oder mit durchtrennten Sehnen auf Verwundete und begruben sie unter sich. Krummsäbel wirbelten, Schädel teilten sich, und heraus trat, blutumspült, eine graue Masse. Köpfe rollten, im Dreck lagen Arme, auf die die Pferde trampelten, Blut spritzte empor.
Aus den brennenden Zelten und Schuppen kamen schreiende Sklavinnen als lebende Fackeln herausgestürmt. Ich versuchte, ihnen zu helfen, doch es war kein Durchkommen mehr. Männer stürzten sich auf sie, um die Flammen zu ersticken und die brennenden Kleider ihnen vom Leib zu reißen, und nackt flehten die Frauen, die Haut versengt, die Arme hochgereckt, um Hilfe.
Immer mehr Feuer loderten nun empor, und ich hörte, wie einer der Männer einem anderen zuschrie, die Sarazenen zündeten selber ihr Lager an und würden beginnen, sich in den Garigliano zu stürzen oder in Richtung der Berge zu fliehen.
Zum Glück wurde um mich herum nicht mehr gekämpft, und meine Stute stakste über Leichen, ohne dabei den Leibern und Gliedern ausweichen zu können. Manchmal schrie unter mir noch jemand auf, oder ich blickte in starre, glasige Augen, in Gesichter, aus denen jeder menschliche Zug entwichen war. Die geretteten Sklavinnen hockten nun unansprechbar auf einem Haufen, klammerten sich wimmernd aneinander.
Die ersten unserer Soldaten begannen voller Triumph, ihre Beutestücke in die Luft zu halten, und sofort waren sie umringt von anderen, die ihnen ihren Fund nicht gönnten oder ihnen befahlen, ihn an einem der Sammelpunkte abzugeben.
Jenseits des Lagers, am Fuß einer Anhöhe, flohen die überlebenden Sarazenen in wilder Panik, manche sogar noch auf Pferden, verfolgt von unseren Männern. Alberichs blonde Mähne sah ich leuchten. Nicht weit von ihm entfernt galoppierte der Papst auf seinem Schimmel, eine Streitaxt über den Kopf schwingend. Sein purpurroter, mit einem weißen Kreuz bestickter Überwurf wehte wie eine Fahne hinter ihm. Und da war auch Theodora, jetzt wieder im Sattel sitzend, aber mit einem Langdolch in der Hand, mit dem sie ungezielt und wild auf die vor ihr Fliehenden einstach.
Weil ich vor lauter Rauch kaum atmen konnte, zog ich mich aus den Leichenhaufen und der Blutschwemme zurück. In größerer Entfernung folgte ich den Flüchtenden und ihren Verfolgern. Unter mir lagen zerstreut, manche seltsam verrenkt oder ohne Gliedmaßen, die Erschlagenen. Ohne mir bewußt zu sein, was ich tat, schaute ich jedem der Toten ins Gesicht.
Heute weiß ich, daß ich jemanden suchte.
Ja, ich suchte ihn, Yussuf, den Mann, der mein Leben zerstört und der es zugleich gerettet hatte. Und ich fand ihn.
Ich mochte es kaum glauben, daß er plötzlich unter mir auf dem Rücken lag, mit einer klaffenden Wunde in der Brust, aus der Blut sprudelte. Rasch sprang ich ab, kniete mich neben ihn. Sein Atem ging flach. Noch war er nicht tot, noch bewegten sich sogar die Augen, die in den Himmel gestarrt hatten und sich nun langsam mir zuwandten.
Vorsichtig nahm ich seinen Kopf in meine Hände und beugte mich über ihn. Seine Augen schienen meinem Anblick nicht standhalten zu können, die schwarzen Pupillen kippten nach oben weg, so daß ich nur noch das Weiße sah. Dann waren sie plötzlich wieder da und hefteten sich auf mich, auf meine Augen. Als Yussuf etwas sagen wollte, floß ein Schwall Blut aus seinem Mund, dabei blieben die Augen auf mich gerichtet, bewegten sich nun nicht mehr, erstarrten, wurden leer.
Yussuf war tot.
Ich glaubte sogar ein Lächeln des Wiedererkennens auf seinen Lippen entdecken zu können. Vorsichtig schloß ich ihm die Lider.
Schwach und sterbenselend erhob ich mich und wollte mein Pferd besteigen, als ich an seiner rechten Hand einen goldenen Ring mit einem eingelassenen Saphir entdeckte. Mit einem Schrei stürzte ich auf die Knie und zog ihn von der noch warmen Hand: Es war der Ring meines Vaters.
Papst Johannes X. und seinen Truppen war es gelungen, die Sarazenen, die seit über einem halben Jahrhundert Rom bedroht und das Umland verwüstet hatten, bis auf den letzten Mann zu vernichten. Wer der Erstürmung des Lagers und der sich anschließenden Verfolgung hatte entkommen können, wurde in den Bergen von Bauern oder Schäfern erschlagen, verhungerte oder endete als ein Opfer der Wölfe.
Rom jubelte seinem päpstlichen Befreier und Erlöser zu wie auch seinen Helfern: Konsul Theophylactus, den Markgrafen Alberich von Spoleto und Wido von Tuszien, über den keine besonderen Taten der Tapferkeit berichtet wurden, der aber als ein besonders schöner und noch sehr junger Mann die Herzen der Römerinnen unverzüglich eroberte. Auch Marozia zeigte sich von ihm äußerst angetan und zauberte ihr liebreizendes Lächeln auf die zart geschwungenen Lippen.
Obwohl die Siegesfeiern bescheiden ausfielen, weil es schlichtweg an ausreichender Nahrung fehlte, so brachen doch die Feiernden immer wieder in Triumphgesänge aus, in denen höhnisch ausgestoßenes Allahu akbar durch jubelndes Gott ist groß und Hosiannah niedergeschrien wurde.
Theodora stand zwischen dem Papst und ihrem Gemahl und winkte den Volksmassen zu, streute Denare aus, was den Jubel noch erhöhte. Marozia hatte sich zu den Siegern gesellt, stand neben Alberich, lächelnd, sorgfältig geschminkt und in golddurchwirkter Kleidung, schön wie eine Göttin, ihren Sohn Giovanni an ihrer Seite, während der kleine Alberico an der anderen Seite ihres Mannes seinen Arm siegreich nach oben reckte.
Jedem war klar, daß diese Familie – wobei man Papst Johannes als quasi offiziellen Liebhaber dazuzählte – Roms Rettung war und unangefochten die Herrschaft in Stadt und Umland für sich beanspruchen konnte. All die anderen Männer, die Herzöge, Grafen und führenden Köpfe der adligen Familien aus der Via Lata, wurden nur als Helfer beklatscht.
Und da gab es noch König Berengar, der nach eigenen Angaben die sarazenischen ›Heere‹ im nördlichen Latium aufgerieben hatte und ungeduldig auf die Verleihung des Kaisertitels wartete. Das Volk von Rom hielt ihn gleichwohl für einen unzuverlässigen Patron, einen eitlen Fremdling, dessen Königstitel man nicht ernst nehmen müsse. Als er bei den Siegesfeiern, nicht rechtzeitig benachrichtigt und daher zu spät, auf die Tribüne vor die Petersbasilika trat, in einer blitzenden Rüstung und unter schwankenden Helmbüscheln aus Pfauenfedern, erhob das Volk zwar seine Stimme, doch niemand wußte so recht, ob Berengar verhöhnt und ausgepfiffen oder nur verlacht wurde.
Ich stand, zusammen mit dem aufmerksam beobachtenden Aaron und seinem Enkel Jakob, am Rande der Menschenmenge, und als wir genug gesehen hatten, zogen wir uns in schweigendem Einverständnis zur Engelsbrücke zurück, überquerten den Fluß und betraten Aarons zur Straße hin stark gesichertes Gebäude, das, von mehreren Innenhöfen aufgelockert, vor einem streng gegliederten Garten endete, an den eine unauffällige Synagoge grenzte.
Aaron war alt geworden, der Bart tiefgrau, die Haltung gebückt; auch reichte die Kraft seiner Augen nicht mehr aus, Schriftstücke und kaufmännische Listen zu lesen. Sein Enkel Jakob las ihm alles Nötige vor, schrieb für ihn und kümmerte sich rührend besorgt und zugleich unauffällig um sein Wohlergehen.
Wir setzten uns in einen seiner Höfe, in dessen Mitte ein siebenarmiger Leuchter aus grauem Granit wie ein stummer Zeuge emporragte.
Beide schwiegen wir eine Weile, als müßten wir die Bilder der letzten Stunden auf uns einwirken lassen. Dann sagte ich: »Die Sarazenenbeute wird kaum reichen, die Schulden zu begleichen, die der Feldzug bei dir und den anderen Geldgebern hat auflaufen lassen, zumal die Heerführer und ihre Männer ihren Anteil behalten wollen.«
Aaron nickte bedächtig: »Bislang sind wir gut gefahren. Jetzt werden vermehrt Pilger kommen und Geld nach Rom spülen, die Felder können bestellt werden, die Viehherden vergrößern sich – wir alle werden vom Frieden profitieren.«
»Schau, was ich gefunden habe!« Unvermittelt hielt ich ihm meine Hand mit dem Saphirring hin.
Er nahm sie, hielt sie direkt vor seine Augen, um den Ring genauer studieren zu können. »Sehr kunstvoll gemacht und ein großer Stein, ein Himmelsstein. Dir winkt göttlicher Segen: Er wird die Wunden deiner Seele heilen.«
»Es ist der Ring meines Vaters.«
Unter Schluchzen erzählte ich ihm, wie ich ihn gefunden hatte und daß ich nun vom Tod meines Vaters überzeugt war. »Sie müssen ihn aus dem Meer gefischt und dann erschlagen haben, während sie mich und meine Mutter … Es ist lange her, und ich habe die Ereignisse zu vergessen versucht. Jetzt trieben mich plötzlich hervorbrechende Rachegefühle zum Schlachtfeld, verstehst du – als hätte mir ein Gott den Weg gewiesen …«
»Ein Gott?«
»Ich weiß nicht, welcher. Der christliche Gott ist doch kein Gott der Rache.«
Aaron legte meine Hände wie zum Gebet zusammen und blickte, ohne zu antworten, auf den siebenarmigen Leuchter.
»Ich verstehe mich selbst nicht mehr«, fuhr ich fort. »Wie konnte in mir ein solch brennender Haß entstehen, den nur Ströme Bluts zu löschen vermochten? Natürlich mußten wir dem raubgierigen und grausamen Treiben der Sarazenen entgegentreten, wollten wir uns nicht aufgeben; natürlich ließen mich der Tod des Martinus und mit ihm das Sterben aller Hoffnung verzweifeln – aber sind nicht Verzweiflung und Rachestürme zwei Seiten unserer Seele, die sich ausschließen wie Wasser und Feuer?«
Aaron, der in meinem Herzen längst die Stelle eines Vaters übernommen hatte, so wie ich in seinem Herzen eine Tochter vertrat, schwieg noch immer. Je intensiver ich ihn anschaute, desto mehr sah ich tiefe Spuren der Gram in seinem gefurchten Antlitz, und ich fragte mich wie so häufig, was denn mit seiner Familie sei, warum nur ein einziger Enkel unter seinem Dach wohne, wo Jakobs Eltern lebten – wenn sie überhaupt noch lebten. Ich hatte ihn bereits mehrfach darauf angesprochen, jedoch nur eine vage oder überhaupt keine Antwort erhalten. Vielleicht hatten auch sie das Schicksal meiner Eltern erlitten …
Wir starrten beide im Schatten des Granatapfelbaums auf den siebenarmigen Leuchter, auf dieses Zeichen des Glaubens und der Hoffnung.
»Für den Papst und die Kirche«, sprach ich ihn nun direkt an, »bist du ein ungläubiger Jude, auf Abruf geduldet; für Yussuf und seine Sarazenen sind Christen und Juden Ungläubige, denen man mit Schwert und Feuer den rechten Glauben bringen muß, und ihr Juden seht in Jahwe euren Gott, den einzigen, der euch auserwählt hat …«
»Wir nehmen seinen Namen nicht in den Mund«, unterbrach mich Aaron. »Und er treibt uns auch nicht zu Unterdrückung, Raub und Mord.«
Ich ergriff seine alten, ledrigen Hände und drückte sie an meine Brust. »Wann hört endlich der Kampf zwischen den Religionen auf? Sag es mir, Aaron! Glauben wir nicht alle an denselben Gott, gleichgültig, wie wir ihn nennen? Gehören wir nicht alle als SEINE Kinder einer einzigen Familie an?«
»Du hast recht, mein Kind«, antwortete er leise. »Gott liebt seine drei Töchter ohne Unterschied: ER schenkt jeder den gleichen Ring, einen Ring mit dem Himmelsstein.« Er lächelte. »Unser Vater stellt keine als Auserwählte über die anderen, sie müssen sich, uns und IHM durch Taten beweisen, welche die Liebenswerteste ist.«
König Berengar bestand darauf, daß Papst Johannes ihn zum Kaiser kröne. Da der Papst zu seinem Wort stand und Theophylactus sowie Alberich an diese Verpflichtung erinnerte, erklärte sich Theophylactus mißmutig bereit, seine Rolle in der Krönungsfarce zu spielen. Alberich erinnerte an seinen Streit mit Berengar und weigerte sich, an irgendeiner Ehrung teilzunehmen.
Die Vorbereitung zog sich eine Weile hin, bis schließlich König Berengar, der mit seinem Heer noch immer vor den Toren der Stadt kampierte, das Erheben der Wegezölle behinderte und die ersten ängstlichen Pilger abschreckte, im späten Herbst ein angemessener Empfang auf den Neronischen Feldern bereitet wurde: In langen Reihen und unter bewimpelten Lanzen standen Abgeordnete des Senats und aller wichtigen Familien der Stadt unter einem grauen Novemberhimmel, um Berengar zu begrüßen. Trommelwirbel und Posaunenfanfaren erklangen, Lobgesänge erschollen von einer Abordnung der Klöster, bis Konsul und Senator Theophylactus als erster vortrat, um den König mit ehrenden Worten zu empfangen. Er hatte sich ein stahlglänzendes Plattenhemd besorgt und dazu, in Nachahmung des Königs, einen kunstvoll getriebenen Helm mit einem Federbusch, was ihn noch größer und mächtiger erscheinen ließ.
Anschließend huldigten Vertreter der Zünfte und der Bruderschaften dem zukünftigen Kaiser und geleiteten ihn bis zur Treppe der Petersbasilika, auf der ihn Papst Johannes unter seiner Tiara erwartete, flankiert von zwei Personen seines Vertrauens und seiner Wahl, die König Berengar entgegenschreiten sollten, um ihn zum Heiligen Vater und anschließend in die Basilika zu geleiten.
Um diese zwei Personen hatte es einen Tag vor dem Empfang einen heftigen Streit gegeben, weil Papst Johannes zu seiner Linken seinen erst seit kurzem in Rom weilenden Bruder Pietro beordert hatte, zu seiner Rechten aber Marozia, des Konsuls Tochter, eine Frau! Seit dem Skandal um die Päpstin Johannes Anglicus oder, treffender, Johanna Anglica, hatte keine Frau mehr eine herausragende offizielle Funktion in der Kurie ausgeübt – und natürlich wußte man, daß Marozia die Tochter der Papstgeliebten war, zudem die Tochter des mächtigsten Mannes in der Stadt und die Frau des zweitmächtigsten. Zudem flüsterte man sich zu, daß diese Tochter die Geliebte eines Papstes gewesen sei – mit Folgen! – und den jetzigen Papst, also den Geliebten ihrer Mutter, mit dem Charme ihrer Schönheit verehre, um nicht zu sagen: verfolge.
Marozia ließen all diese Gerüchte kalt; sie strahlte in ihrem hermelingefütterten Mantel wie eine kaiserliche Herrscherin und schien sich nicht daran zu stören, daß sie die einzige Frau innerhalb einer streng gegliederten Männerhierarchie war. Immerhin hatte sie ihre Weiblichkeit ein wenig verborgen, indem sie sich ihre Haare von mir hatte flechten, hochbinden und mit einer tiaraähnlichen Samtkappe bedecken lassen, was reichlich seltsam aussah, jedoch ihr edel geformtes Antlitz und ihre vornehme Schönheit zur Geltung brachte.
Theodora stand mit mir ganz in ihrer Nähe, am Fuße der Treppe, die in die Basilika führte, und hielt meine Hand. »Es ist dem Biest gelungen, mich von der Seite des Papstes zu vertreiben«, flüsterte sie mir zu. »Schau, wie sie triumphiert!«
Tatsächlich schien Marozia in unsere Richtung zu blicken, bevor sie sich dem heranschreitenden, trotz seiner ausgreifenden Bewegungen unsicher wirkenden Berengar zuwandte.
»Gönn ihr diesen Platz. Johannes kann sich unmöglich seine Geliebte an die Seite stellen, das mußt du verstehen. Er wird ja jetzt bereits hinter vorgehaltener Hand Johannes Theodoras genannt.«
»Aber warum dann Marozia? Ich weiß, daß sie etwas im Schilde führt, die Schlange. Und siehst du den Jüngling, den Johannes plötzlich als seinen Bruder herbeigezaubert hat?«
»Hast du noch nie von ihm gehört?«
»Doch, er erwähnte einmal einen Bruder, der ein geschickter Schwertkämpfer sei; aber schau mal, wie jung er ist. Vielleicht ist es nicht sein Bruder, sondern … Du weißt schon. Dieser Pietro ist bereits zum superista ernannt worden und führt die Leibwache des Papstes; angeblich hat er an der Seite des Heiligen Vaters gegen die Sarazenen gekämpft und sich dabei ausgezeichnet.«
Ich zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich nicht an ihn.«
»Ich mich auch nicht.« Theodora schaute aufmerksam auf Pietro, der in der Tat ein schmucker Jüngling war. »Meinst du, Johannes hat auf seine alten Tage die Reize seines eigenen Geschlechts entdeckt?«
Überrascht schaute ich sie an. Hätte sie diese Frage nicht viel eher beantworten können?
Allerdings hatte sich während der letzten Monate ein gereizter Ton zwischen Theodora und Papst Johannes eingeschlichen – womöglich war ihre Liebe ein wenig erkaltet.
Die Krönung König Berengars zum Kaiser verlief weiter wie geplant mit Salbungsmesse, Prozession nach San Giovanni in Laterano, Urkundenverlesung, Huldigung des Volkes und einem Festmahl, das angesichts des Hungers in der Stadt ungewöhnlich bescheiden ausfiel.
Kaiser Berengar blieb bis zum Weihnachtsfest in Rom, ließ ein paar Direktiven aufsetzen, die niemand beachtete, brach dann, angeblich gezwungen von unabweisbaren Aufgaben, nach Norden auf.
Bei der kargen Abschiedsfeier unterstrich Berengar den entscheidenden Anteil des ›erhabenen Kaisers‹ an der Befreiung Roms und Befriedung des Landes. Dereinst werde er seinen Weg in die Geschichtsannalen finden: »Anno domini neunhundertfünfzehn«, rief er laut den ihn anlächelnden Würdenträgern zu, »besiegte der erhabene Kaiser Berengar die Sarazenen, befreite Italien von ihrer Plage und einte es unter seiner unangefochtenen Führung.«
Papst Johannes zeigte keine Reaktion, während Alberich, kaum hatte der sich blähende Kaiser die Aula verlassen, ausspuckte und Theophylactus seinen Mund verächtlich verzog: »Diese langobardische Ratte«, stieß er aus, »kann uns gestohlen bleiben!«
Theophylactus hatte nach dem Sieg am Garigliano den Zenit seines Ansehens erreicht. So sehr die Brandschatzungen und Mordaktionen der Sarazenen seinen zuvor aufgeblühten Besitzungen und Geschäften geschadet hatten – nach dem Sieg strömten Menschen aus vielen Teilen unseres Landes in das römische Umland, machten sich mit Energie an den Wiederaufbau, die Frauen zeigten eine gesegnete Fruchtbarkeit, und die Römer nahmen die anschwellenden Pilgerströme freundlich auf. Aaron hatte mit seiner Vorhersage recht behalten und erhielt sein Geld mit allen Zinsen zurück, Künstler verschönerten den Palast auf dem Aventin, Marozias sowie Theodoras Kinder wuchsen gesund heran – und dennoch: Trotz Einfluß, Ansehen und Glanz alterte Theophylactus rasch und unaufhaltsam, wurde von häufigen Fieberschüben geschwächt und verfiel zusehends.
Fünf Jahre nach der siegreichen Schlacht feierte er noch seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag, mit grauer Mähne und gebeugt wie ein uralter Greis in einem ausgepolsterten Holzsessel sitzend. Seine zitternden Hände lagen, von blauen Adern durchzogen, schmucklos auf der Armlehne, während seine Freunde aus alten Tagen und die Prälaten der Kurie in einer langen, stummen Reihe an ihm vorbeizogen und ihm noch zahlreiche Jahre in Gesundheit und wiedergewonnener Stärke wünschten. Mir fiel auf, daß er nicht einmal mehr einen Siegelring trug.
Wenige Tage später diktierte er mir im Beisein eines herbeigerufenen notarius palatini seinen letzten Willen: Mit brüchiger Stimme sprach er lange vom Seelenheil und betonte, er wolle in der Gruft des Hauses bestattet werden, in einem Porphyrsarg, der umgehend besorgt oder hergestellt werden müsse; er ließ festhalten, daß nach seinem Ableben die Klöster Roms sowie der Campania, insbesondere das Kloster Farfa, mit reichen Stiftungen zu bedenken seien. Hundert Jahre lang sollten täglich Fürbitten für sein Seelenheil gelesen werden.
»Unser Herr braucht nicht so lange, bis er dir deine Sünden erläßt«, bemerkte der notarius. »Zehn Jahre dürften genügen.«
Theophylactus' Hände zitterten verstärkt, während sein trüber Blick über den Prälaten glitt.
Weder Marozia noch die Kinder waren anwesend.
Schließlich sollte ich Alberich rufen; ihm wurde das Versprechen abgenommen, immer in Treue zu Marozia, Theodora, den Kindern und der ganzen familia zu stehen.
»Schwöre auf die Worte der Apostel!« stieß Theophylactus schwach hervor.
Alberich runzelte die Stirn. »Du weißt, daß dies nicht nötig ist, ich heiße weder Berengar noch Sergius – aber wenn du darauf bestehst.«
Der notarius hielt ihm die Heilige Schrift hin.
»Du wirst wieder gesund, Phyli!«, rief er und quetschte ein Lachen hervor. Dann legte er seine Hand auf die Bibel und schwor.
»Soll ich die Kinder rufen?« fragte ich.
Theophylactus schüttelte den Kopf, bat jedoch Theodora zu sich.
Nachdem wir alle unterschrieben hatten, ließen wir das Ehepaar allein.
Sein Tod folgte bald. Eines Morgens hörte ich, er sei friedlich eingeschlafen. Theodora wirkte gefaßt, Marozia, die während der letzten Nacht mit ihrer Mutter und Schwester an der Seite ihres Vaters gewacht hatte, blieb stumm und in sich gekehrt. Am meisten trauerte Alberich, wie ich erstaunt feststellte: Zum ersten Mal in seinem Leben sah ich Tränen in seinen Augen, als Theophylactus im Beisein des Heiligen Vaters in den gewünschten Porphyrsarkophag gebettet wurde. Während der Heilige Vater leere Worte des Trosts sprach, leuchtete das Kreuz des Belisar über uns im matten Schimmer seines Golds.
Nach der Beisetzung blieben Theodora und Marozia als letzte bei dem Dahingeschiedenen. Ich wollte sie allein lassen, doch Theodora winkte mir zu bleiben. Marozia warf einen Blick auf ihre Mutter, der ausdrückte, sie wolle allein mit ihrem Vater sein. Ihre Mutter verstand sie genau, richtete sich auf und wollte ihrer Empörung Ausdruck geben. Doch als sie die Augen ihrer Tochter sah, zuckte sie regelrecht zurück.
Beide versanken sie ins Gebet. Es war wie ein stummer Kampf um das letzte Wort des Verstorbenen. Auch ich beugte meinen Kopf über die gefalteten Hände.
In die Stille hinein flüsterte Theodora: »Es ist das goldene Kreuz! Das Kreuz des Belisar! Es hängt wie ein Fluch über uns.«
Erneut Stille, dann die Stimme Marozias, leise, doch deutlich vernehmbar: »Ohne Gold kein Segen. Das müßtest du am besten wissen.«
Nach Tod und Beisetzung des Theophylactus war Theodora nicht mehr dieselbe. Noch so viele Salben und Puder konnten die strengen Falten nicht überdecken, und ihre Mundwinkel zeugten von Bitterkeit und Gram. Ihre ägyptische Schönheit war zu einer Maske erstarrt, aus der das Lebendige geschwunden war. Womöglich fraß eine Krankheit sie von innen auf, zudem fühlte sie sich allein gelassen, ihres Einflusses beraubt, ihrer Wirkung auf Männer, insbesondere auf den einen, den sie nicht nachgelassen hatte zu lieben.
Eines Herbsttages im Jahr 920 rief sie mich zu sich in den weitläufigen Palast auf dem Aventin, der in einer traurigen Stille dahinzudämmern schien. Wir setzten uns zu der Venusfigur im Peristyl, die jedoch kein Wasser mehr vergoß, weil offensichtlich der Zufluß versiegt war.
Theodora hatte sich für mein Kommen bedankt, darüber hinaus kaum ein Wort gesprochen. Sie starrte eine Weile auf das verschmutzte Wasser im Becken, in dem einige abgefallene Blätter schwammen, erhob sich dann und zog mich in den Park, der ebenfalls ungepflegt wirkte, aber in dem milchigen Licht der tiefstehenden Sonne einen sanften Sog entwickelte. Der Rosenstock über einer Laube hatte sich noch einmal mit zahlreichen Blüten überzogen und leuchtete in einem tiefen Dunkelrot. Wir ließen uns in ihr nieder, Theodora ergriff meine Hand, legte sie auf ihren Schoß, betrachtete den Saphir, als könnte er ihr Herz öffnen.
»War es nicht ein Rubin, den ich dir einst schenkte?«
Ich antwortete ihr nicht. Ihre Gedanken schienen bereits weitergewandert zu sein.
»Er kommt nur noch selten, und ich finde den Weg nicht mehr in seine Messen«, sagte sie nach einer Weile. »Er spürt den Geruch des Todes in mir und wendet sich meiner Tochter Marozia zu. Sie ist wie eine Spinne, die die Männer in ihr Netz lockt, um sie auszusaugen.«
»Ich bin nicht sicher, ob Papst Johannes überhaupt noch den Verlockungen eines Weibes nachgibt«, antwortete ich, weil ich längst von dem stummen Kampf zwischen Mutter und Tochter um die Gunst des alten pontifex wußte und um Ausgleich bemüht war. Immer wieder forderte mich eine von ihnen auf, mich eindeutig und offen auf ihre Seite zu schlagen – ohne Erfolg.
Obwohl Theodora meinen Alexandros hatte beseitigen lassen wollen, hatte sie auch mein und sein Leben gerettet – dies vergaß ich ihr nicht. Und Marozia? Sie hatte die Milch meiner Brust getrunken, so daß mein Charakter in sie eingeflossen war. Sie ist daher ein Teil von mir, derjenige vielleicht, der sich nie hat entfalten können – sollte ich mich gegen mein Kind, gegen mich selbst verschwören?
»Sie will mich aus meinem Palast vertreiben«, sagte Theodora mit leiser Stimme, »weil ich, wie sie sagt, hier nur wie ein Gespenst hause und Unglück auf uns herabbeschwöre, während sie mit ihrer großen familia und den Kindern viel zu bedrängt am Kapitolhügel wohne und ihre Schwester Theodora sich in der bescheidenen villa des Crescentius unwohl fühle. Sie will endlich das Erbe ihres Vaters antreten, so sagt sie, hier auf dem Aventin, und ich soll zurück in die Via Lata – obwohl sich dort seit langem unsere Leibwachen und Crescentius mit seinen Kanzleischreibern eingerichtet haben.«
Was mich in diesem Augenblick am meisten an Theodora erschreckte, war ihre Schwäche, das fehlende Aufbegehren.
Sie schaute mir hilfesuchend in die Augen, und auch ich betrachtete sie, den Ring der Falten um ihren Mund, der jegliches Lächeln verloren hatte, die eingefallenen Wangen, auf denen rötlicher Puder Leben, Blut und Leidenschaft vortäuschen sollte, die schwarzumrandeten Augen, in deren trübem Schimmer jegliche Sinnenglut erloschen war.
»Ich bat Johannes um Hilfe, aber er speiste mich mit schalen Trostworten ab. Vermutlich hat Marozia ihn bereits in ihr Bett gezogen, verspricht ihm eine neuerwachte Jugend, vielleicht sogar einen Nachkommen – wir wissen doch, daß es die Männer der Kirche quält, ohne den lebendig gewordenen Beweis ihrer Lendenkraft hinüberzuwandeln in den Schoß des ewigen Gottes.«
Theodora kicherte in müdem Spott. Sie studierte den Ring an meiner Hand, die sie noch immer hielt. »Du hast sicher von Pietro gehört, von Johannes' angeblichem Bruder, der sein Sohn oder Liebhaber sein könnte. Er ist ein beeindruckender Mann mit seinen wallenden blonden Haaren und dem geteilten Kinn, soll nicht von Johannes' Seite weichen und vor Ehrgeiz brennen, dies berichteten mir übereinstimmend Alberich und Crescentius und betonten, er könnte unsere Kreise stören.«
Wie in einen Stein, der in die Zukunft schauen läßt, starrte Theodora auf den Saphir und murmelte: »Es war ein Rubin.«
»Ich werde mit Marozia sprechen«, sagte ich. »Du sollst auf jeden Fall hier oben auf dem Aventin wohnen bleiben, es ist genug Platz für alle.«
»Unter einem Dach mit dieser haßerfüllten Hexe? Sie wird mir bei der nächsten Gelegenheit Gift in die Speisen mischen.« Sie verzog ihren Mund zu einem schiefen Grinsen. »Noch habe ich das Gold, nach dem sie giert.«
Das Gold! Das Kreuz des Belisar und der in den Katakomben versteckte Schatz! Ich hatte ihn fast vergessen, weil in meiner Anwesenheit nie mehr davon die Rede war. Ob Theodora ohne meine Begleitung und ohne mein Wissen noch einmal in die Totenlabyrinthe hinabgestiegen war, wußte ich nicht – ich war mir überhaupt nicht mehr sicher, ob ein Schatz über die von uns geholten hundert Münzen hinaus existierte.
Theodora strich mit ihren Fingern über die Einfassung des Saphirs, und ich begriff, daß ihre Gedanken in die Unterwelt hinabgestiegen waren.
»Du hast mir nie mitgeteilt«, sagte ich in ihr sich dehnendes Schweigen hinein, »woher du diesen Schatz hast.«
Sie hob ihren Kopf und schaute mich aus ihren trüben Augen an. »Es ist das Erbe meines Vaters. Ich wußte, wo er ihn vergraben hatte – und obwohl die Sarazenen ihn folterten, verriet er nicht sein Versteck. Er sah, daß sie mich noch nicht entdeckt hatten, und tat es für mich, für meine Zukunft. Verstehst du, reines Gold, uralte Münzen, irgendwo zufällig gefunden oder geraubt oder über Generationen vererbt, ich weiß es nicht … Ich ließ den Schatz in seinem Versteck, auch dann, als die Gauklertruppe mich fand.« In ihren Augen glomm der Schatten eines Triumphs auf. »Ich wußte bereits damals, daß ich verloren gewesen wäre, hätte ich von seiner Existenz erzählt.«
»Und wann hast du ihn geholt und erneut versteckt?«
»Theophylactus betrachtete mich als seine Konkubine, ich aber wollte seine Ehefrau werden. Erst das Wissen um den Goldschatz bewog ihn, mich zu heiraten. Gemeinsam gruben wir ihn aus und brachten ihn in unser Haus in der Via Lata. Natürlich wollte Theophylactus ihn sogleich verwenden. Ich gab ihm aber nur so viel, daß er sich das Amt des päpstlichen vestararius kaufen konnte, und verschuf ihm somit den Zugang zur Kurie. Das Amt hätte ihm dienen können, Aufträge zur liturgischen Kleidung zu vergeben – an sich selbst und seine Walkmühlen und Färbereien. Aber er kümmerte sich zu wenig darum, gab die Aufträge weiter an Aaron, der die Gewänder aus Tuszien bezog, aus Venedig und dem byzantinischen Reich und ihm dafür Geld lieh.«
»Und den Rest hast du in Sicherheit gebracht.«
»Hätte ich Theophylactus den gesamten Schatz überlassen, hätte sich seine Existenz herumgesprochen und zwielichtiges Gesindel angelockt, falsche Freunde, Neider, Räuber, Huren; Theophylactus hätte Feste veranstaltet und zu Jagden eingeladen, sich teure Seidengewänder gekauft und mit Schmuck behängt – nein, so dumm war ich nicht. Längst hatte ich von dem Eingang in die unterirdischen Gänge erfahren, von dem Weg zu den Katakomben, und versteckte das Gold heimlich während der Nacht.« Sie machte eine kurze Pause und fügte noch düster an: »Es ist mit dem Blut meiner Eltern bezahlt worden und wird mit mir in die Ewigkeit eingehen.«
Nach meinem letzten Eintrag sprach ich Marozia auf die kurze Zeit an, in der sie mit ihrer Mutter gemeinsam auf dem Aventin wohnte. Auch ihr schienen diese Monate noch lebhaft vor Augen zu stehen, denn sie ließ sich sofort auf das Thema ein.
»Einen Fehler beging ich damals, das weiß ich heute«, sagte sie nachdenklich. »Ich hätte meine Mutter nicht drängen sollen, den Goldschatz herauszurücken. Aber ich befürchtete, sie würde sterben und das Geheimnis des Verstecks für immer mit ins Grab nehmen.«
»Du hast sie aus dem Palast geworfen, als sie sich weigerte, dir das Gold zu holen.«
»Nein, sie ging freiwillig. Sie beschimpfte mich als gold- und machtgierig. Ich war damals tief gekränkt, weil ich von euch allen geliebt werden wollte und doch plötzlich spürte, daß mich niemand mehr liebte, nicht einmal du.«
»Das ist nicht wahr!« protestierte ich.
»Es ist wahr! Papst Johannes hielt mich auf Distanz, obwohl ich ihn verehrte. Er stattete immer nur meiner Mutter einen Besuch ab, obwohl sie längst ein abgetakeltes Wrack war und, so sehr sie sich mit Rosenwasser übergoß, nach Verfall und Krankheit stank. Als ich ihn einmal nach einem seiner Auftritte in meine Gemächer locken konnte – Alberich hielt sich vermutlich bei Wido in Tuszien auf –, zeigte er sich zuerst sehr spröde, obwohl ich all meine Verführungskraft einsetzte. Wir wußten beide, daß seine Hände mich gestreichelt hatten, als ich noch ein Kind war. Ich hatte damals beobachtet, wie er meine Mutter liebte – bis sie mich entdeckte und herbeiholte. Ich dachte, ich sollte bestraft werden, aber das Gegenteil geschah. Sie zogen mich aus, bis ich so nackt wie sie selbst zwischen ihnen lag. Zuerst zitterte ich vor Angst und Scham, doch dann bemerkte ich, daß es dafür keinen Anlaß gab. Meine Mutter streichelte mich, und als sie ihre Hand auf meine Augen legte und mir zuflüsterte, wie schön dies alles sei, löste Johannes sie ab.«
Marozia hatte die Augen geschlossen und lag wieder in den Armen der Liebenden, als müsse sie ein letztes Mal in ihrem Leben die Wärme körperlicher Nähe spüren.
Nachdem ich dies niedergeschrieben hatte, starrte ich auf das Pergament mit seinen sanft geformten Buchstaben. Ich sehe die Leiber vor mir, als hätte ich auf ihre Haut geschrieben. Vielleicht begreife ich in diesem Augenblick einen Teil von Marozias Wesen, den Teil, der mir so fremd geblieben ist, obwohl ich mich nach ihm sehnte, weil er in mir zerstört worden war. Gibt es Momente ohne Sprache, Momente der Vereinigung, Augenblicke der Glückseligkeit, in denen alles Trennende, alles Fragwürdige in einem stummen Rausch, im stillgestellten Tanz, im bewegungslosen Taumel untergeht und eine mögliche Einheit, wenn auch nur für kurze Zeit, erkannt wird? In denen wir uns angenommen fühlen und erlöst?
Womöglich hat Marozia diese Momente immer wieder gesucht. Ihr Fehler war, daß sie zugleich nach Einfluß, Macht und Triumph strebte, um die Einheit auch im Rausch des Herrschens zu erleben.
Marozia lag noch immer in den Armen eines Mannes, als sie weitersprach, leise, sanft, wie zu sich selbst: »Johannes zeigte sich eine Weile zurückhaltend und spröde, doch je länger wir sprachen, auch über unsere erste Begegnung im Bett meiner Mutter, desto offener wurde er, wehmütiger, verlorener an ehemals erfülltes Glück, und er verriet mir, daß er schon immer Kinder geliebt habe. Ich begriff nicht die Tragweite seiner Worte, ich wollte nicht wie ein Kind, sondern wie eine Frau geliebt werden, setzte mich schließlich auf seinen Schoß, und er streichelte mich. Vielleicht wäre er bereit gewesen, sich mit mir zu vereinigen – wenn nicht dieser schreckliche Geruch gewesen wäre. Er stank nach meiner Mutter, und weil sich mir dieser Gestank so aufdrängte, je näher ich ihm kam, verfolgte mich zugleich der Gedanke, meine Mutter könnte hinter einem Vorhang stehen und uns zuschauen, sich vielleicht sogar zwischen uns drängen. Auch wenn sie nicht auftauchte, so spürten wir beide ihre Nähe.
Johannes und ich trennten uns, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, als müßten wir unsere Annäherung hinter einer Barriere aus Scham verbergen. Fluchtartig verließ er meine Gemächer und unseren Palast, und es war mir, als hörte ich meine Mutter höhnisch lachen. Damals beschloß ich, nicht mehr länger mit ihr unter einem Dach zu wohnen.
Sie schien meinen entschlossenen Willen zu spüren, denn am nächsten Tag brach sie einen Streit vom Zaun, bei dem sie mir vorwarf, nur an ihrem Gold interessiert zu sein und sie, wenn ich es in meinen Händen hielte, ermorden zu wollen. Dabei war ich in diesem Moment am wenigsten an Gold interessiert. Sie aber rauschte hinab zur Gruft unseres Vaters, fiel vor dem Kreuz des Belisar auf die Knie und verfluchte mich – und was dann folgte, weißt du.«
Was dann folgte, war ein düsteres Kapitel, die Stunde einer Wahrheit, die nie hätte ausgesprochen werden dürfen. Theodora blieb nicht länger im Palast auf dem Aventin, zu dem die hundert Goldstücke aus dem Schatz ihrer Eltern den Grundstock gelegt hatten. Ich hatte versucht, sie zum Bleiben zu bewegen, aber es war hoffnungslos. Ich bot ihr sogar an, sie zu begleiten oder abwechselnd bei ihr und Marozia zu wohnen: Sie lehnte ab.
»Meine Tage sind gezählt«, sagte sie dumpf. »Ich werde endlich zurückkehren in meine Heimat und meine Eltern wiedersehen.«
Mir schwante nichts Gutes; umso weniger wollte ich sie alleine lassen, und ich glaube, sie verstand meine Geste.
»Laß mich wenigstens während der ersten Wochen in der Via Lata bei dir sein – bis alles geregelt ist.«
»Ich sprach bereits mit Crescentius. Er hat mir meine alten Gemächer freiräumen lassen. Meine Tochter Theodora beschwört mich, zu ihnen zu ziehen, auch meine Enkelinnen …«
Tränen traten in ihre Augen, und als Theodora sie mit einer fahrigen Bewegung wegwischen wollte, verschmierte sie die schwarzen Striche um ihre Augen, was sie noch düsterer aussehen ließ. Sie nahm schließlich meine Hände und drückte sie an ihre Brust: »Ich wünsche dir, daß du deinen Sohn Alexandros wiedersehen darfst. Jetzt erst begreife ich, daß ich einen unverzeihlichen Fehler beging. Hätte ich Marozia und ihn nicht trennen wollen, wäre uns allen viel Leid erspart geblieben. Aber Alberich – wir brauchten ihn, seine starke Hand, seinen unerschrockenen Mut, sein Schwert … Vielleicht hätte er auch Theodora genommen, die immer im Schatten ihrer großen Schwester stand, die aber nicht nur sich selbst liebt und nach Leben giert – wie Marozia.« Sie schluckte. »Und ich.«
Kaum war Theodora in der Via Lata angekommen, schickte sie nach Alberich. Es gehe um etwas Unaufschiebbares.
Alberich glaubte, sie wolle ihm das Versteck des Goldschatzes verraten, und eilte aus Tuszien herbei. Es war später Abend, als er aus der Via Lata in unseren Palast zurückkehrte und nach Marozia schrie, die sich bereits zu Bett begeben hatte. Er befahl auch, seine beiden ältesten Söhne zu holen. In diesem Augenblick begriff ich, weshalb Theodora ihn hatte sprechen wollen, und eilte ihm nach bis in Marozias Schlafgemach.
Was folgte, war der Fluch der bösen Tat.
»Ist das wahr?« hörte ich ihn schreien, als ich den Raum betrat.
Alberich hatte sich auf Marozia gestürzt und sie an ihren Haaren hochgezerrt. Sie schrie ebenfalls, teils aus Schmerz, teils aus unbändiger Wut, trat und schlug um sich, ohne allerdings etwas zu erreichen, denn Alberich, obwohl mittlerweile ein Graubart von gut fünfzig Jahren, war ein Mann unbändiger Kraft.
»Laß sie, sie kann nichts dafür!« Ich versuchte, Alberich davon abzuhalten, Marozia zu würgen.
Er stutzte einen Augenblick, was ihr half, sich von seinem Griff zu lösen.
»Ja, es ist wahr«, preßte Marozia atemlos heraus, »und es war die Idee der Hexe, die dir jetzt das Gift ins Ohr geträufelt hat.«
»Ich bringe dich um!« brüllte er. Es klang nach dem Gebrüll des Opferstiers, dem das Messer in den Hals fährt.
»Bring lieber sie um, denn sie ist die Schuldige. Sie hat mir Alexandros genommen und Sergius seinen geilen Wunsch erfüllt, sie gab mir die Blase voller Blut, die du in deinem Rasen während der Hochzeitsnacht nicht bemerkt hast.«
Alberich stand ihr regungslos gegenüber, als könne er nur langsam in sich einsickern lassen, was er erfuhr, und als müsse er zugleich neue Kräfte sammeln für einen tödlichen Schlag.
»Und unser Ältester, Giovanni …?« sprach er mit erstickter Stimme.
»Niemand kann genau wissen, wer sein Vater ist«, mischte ich mich ein, um Alberich zu beruhigen.
»Was ist mit Papst Sergius?« Er schien nachdenklicher zu werden.
»Es war ein Abend mit Krügen voll Wein und mit thebaischem Mohn, verstehst du? Niemand war mehr Herr seiner Sinne, auch Sergius nicht, wahrscheinlich gelang es ihm nicht einmal …« Ich wollte die Situation entschärfen, mein Verstand arbeitete fieberhaft.
»Und du? Du mußt ja mitgemacht haben. Hast du etwa Marozia den Wein eingeflößt und sie überredet, sich dem brünstigen Schwein hinzugeben?«
Er war nahe an mich herangetreten. Ich wich keinen Fingerbreit zurück.
»Marozia liebte damals meinen Sohn Alexandros und keinen sonst, weder Sergius noch dich. Mein Sohn aber wurde für eure gemeinsame Zukunft geopfert.«
Ich hätte dies nicht sagen sollen, es half niemandem mehr. Doch ich konnte mich nicht beherrschen, denn ich begriff, daß das Opfer nicht nur sinnlos gewesen war, sondern sich nun zerstörerisch gegen uns alle wendete.
Alberich schien getroffen. Ob er sich wirklich einbildete, Marozia hätte ihn geliebt? Er schüttelte seinen Kopf, seine rechte Hand zuckte nach dem Griff des Dolchs, umklammerte ihn jedoch nur.
»Das mit Alexandros wußte ich nicht. Ich habe den Jungen gemocht, er war so still und klug …«, stammelte er, senkte seinen Blick. »Aber ich liebte Marozia.«
»Sie mochte dich ebenfalls, Alberich«, fuhr ich in mitfühlendem Ton fort. »Giovanni ist wahrscheinlich sogar dein Sohn.«
Marozia lachte schrill auf; Alberich zuckte zusammen und preßte seine Lippen aufeinander.
Ich warf ihr einen warnenden, einen beschwörenden Blick zu, sie schien sich jedoch in diesem Augenblick in eine Furie verwandeln zu wollen. Begriff sie nicht, daß Alberich ihr jederzeit seinen Dolch ins Herz stoßen konnte? Daß sie dabei war, die Zukunft ihrer Familie aufs Spiel zu setzen?
»Ja, Giovanni könnte dein Sohn sein«, höhnte sie.
Alberich brüllte nun wieder: »Ich will die beiden Jungen sehen.«
Als hätten sie auf seinen Ruf gewartet, tauchten sie in der Tür auf.
Wären sie doch wie Brüder erschienen, als Abkömmlinge gemeinsamen Bluts, das bei allem Streit, bei aller Eifersucht letztlich zusammenhält! Aber nein, Alberico hatte seinen Bruder in den Schwitzkasten genommen und zerrte ihn vor seinen Vater, gab ihm noch einen Stoß, so daß Giovanni mit blutender Nase auf das Bett zutaumelte. Marozia schrie auf, nahm ihn in den Arm, drückte ihn an sich, bis ihr Nachtgewand blutbefleckt war.
Wir alle wußten, daß Giovanni auch ohne Anlaß zu Nasenbluten neigte. Alberico hatte bereits häufiger Prügel bezogen, wenn er zu heftig mit ihm balgte oder ihn zu Boden rang. Er war kein schlechter Junge, war sogar zunehmend nachdenklich, wißbegierig geworden und ließ sich von den großen Herrschern der Griechen und alten Römer erzählen. Nicht einmal übermäßig draufgängerisch war er, auch wenn sein Vater ihn zu einem echten Mann, zu einem Jäger und Krieger, erziehen wollte.
»Er weigerte sich zu kommen«, rief Alberico, wobei er seinen Vater ängstlich anschaute.
»Das ist gelogen«, heulte Giovanni auf.
Ich merkte, daß Alberich sein Auftritt bereits leid tat, daß er eigentlich gar nicht wissen wollte, wer Giovannis Vater wirklich war, oder es längst geahnt hatte, denn der Junge ähnelte so wenig ihm selbst.
Ich hatte ein Tüchlein genommen und wischte Giovanni das Blut aus dem Gesicht, als Marozia, statt zu schweigen, sich nicht enthalten konnte, Vater und Sohn Alberich zuzurufen: »Was seid ihr für widerliche Kerle!«
Einen Augenblick befürchtete ich eine erneute Aufwallung der Wut. Doch ich war mir sicher, daß Alberich sich vor den Augen seiner Söhne nicht an Marozia vergreifen würde. Ich sah zudem, daß sein Zorn einer verzweifelten Trauer wich, auch wenn er bemüht war, diese Trauer nicht zu zeigen. Er richtete sich auf, streckte seinen Körper und schaute Giovanni forschend ins Gesicht. Mit der Andeutung eines Nickens wandte er sich ab, gab seinem zweiten Sohn einen Wink und verließ mit ihm den Raum.
Marozia blieb eine Weile auf ihrem Bett stehen, mit höhnisch verzogenem Mund, die Haare offen und wirr, halb nackt und stumm.
»Geh wieder schlafen!« flüsterte ich Giovanni zu, der bereitwillig gehorchte und sich linkisch aus dem Raum drückte.
Kaum war er verschwunden, kippte Marozia um, wie gefällt. Es war keine Ohnmacht, kein Schwächeanfall, keine Erleichterung. Eher ein Moment der Erkenntnis, der sie stürzen ließ.
Sie starrte bewegungslos an die Decke.
Ich ließ sie allein.
Während dieser Nacht schlief ich nicht mehr. Noch vor Sonnenaufgang ritt ich in die Via Lata, um nach Theodora zu schauen.
In unserem alten Haus herrschte große Aufregung. Die Herrin sei verschwunden, erfuhr ich, könne aber weder Haus noch Garten verlassen haben, sie sei am späten Abend in den Vorratsräumen gesehen worden und seitdem nicht mehr auffindbar.
»Weiß denn keiner …?«
Ich schaute in ratlose Gesichter.
»Kommt mit mir in den Keller!«
Ich ging voran und suchte an der Wand zwischen den Weinamphoren und Ölfässern nach dem Auslösemechanismus für die Geheimtür. Es dauerte eine Weile, bis es mir gelang, sie zu öffnen und den Blick in den dunklen, muffigen Gang freizugeben. Die Umstehenden bekreuzigten sich. Ich rief nach Theodora, ohne mehr als den Hall meiner Stimme zu hören.
Mit einer Fackel in der einen, einem großen Wollknäuel in der anderen Hand stand ich vor dem schwarzen Schlund, der mir entgegengähnte. Ich hatte mich an Euthymides' Erzählung vom Tod des Minotaurus erinnert, ich wußte, wie Ariadne ihrem Geliebten Theseus den Rückweg aus dem Labyrinth ermöglicht hatte: Daher begab ich mich, noch bevor Theodoras Töchter, Alberich und Crescentius erschienen, im flackernden Lichtschein in die Tiefe der Unterwelt, begleitet allein von einem alten Knecht, dem ich seit Jahrzehnten vertraute. Wir riefen nach Theodora, und ich versuchte mich an den Weg zu erinnern, den wir vor Jahren gegangen waren. Aber alle Stollen sahen gleich aus, die Abzweigungen ähnelten sich, manche Wege endeten vor Mauern, und von Theodora fand sich keine Spur. Als der Wollfaden endete, zeichneten wir Pfeile auf den Boden und an die Wände. Trotz der Kühle schwitzte ich vor Erregung. Schließlich gelang uns sogar, bis zu den Bestattungsorten vorzudringen und einen genauen Blick auf die Totenköpfe zu werfen: leere Augenhöhlen, grinsende Gebisse, zerschlagene Schädelknochen – aber kein Gold.
Und nirgendwo Theodora.
Dafür überall, mehr oder weniger stark, der Gestank nach Verwesung.
Schließlich kehrte ich mit meinem Begleiter um. Wir folgten unseren Zeichen und dem Faden, nicht ganz ohne Furcht, irgend jemand, ein Tier womöglich oder ein verirrter Grabräuber oder sogar Theodora selbst könnte ihn abgerissen haben, damit wir uns in der Tiefe verirrten und der Weg zu Licht und Leben für immer versperrt bliebe.
Längst hatte ich aufgegeben, nach ihr zu rufen. Sie war in dieses Labyrinth hinabgestiegen, um zu sterben, und sie hatte das Geheimnis des Goldes mit sich genommen.
Als wir endlich wieder das Kellergewölbe der Via Lata erreichten, empfing uns Theodoras Familie.
Auf ihre erwartungsvoll-bohrenden Blicke hin schüttelte ich nur den Kopf.
»Du hast sie wirklich nicht gefunden?« fragte Alberich.
Die junge Theodora weinte.
Crescentius verließ den Kellerraum und sprach zu den Dienern und Schreibern: Keiner dürfe von dem Verschwinden der Herrin und dem Zugang zu den unterirdischen Gängen berichten. Wer dennoch rede, würde strengstens bestraft.
Alberich schaute sich ratlos um.
Marozia wirkte wie betäubt. Sie tastete die Fässer und Amphoren ab, als könnten sie sich plötzlich öffnen und den Blick freigeben auf ihre verschwundene Mutter, schob sich dann vorsichtig einige Schritte in den Gang, schrie in einer Mischung aus Verzweiflung und Wut nach ihrer Mutter.
Niemand antwortete.
Bleich kam sie zurück, mit einem kranken, auf mich gerichteten Blick. »Weißt du, warum sie das getan hat?«
Auf diese Frage brauchte ich nichts zu erwidern.
Marozia gab sich selbst eine Antwort: »Sie wollte sich an mir rächen. Aber ich brauche ihr Gold nicht.«
Alberich, der nicht zugehört hatte, verkündete: »Wir werden ganz schnell einen Sarg zimmern lassen müssen und diesen Sarg dann in den Sarkophag stellen, wenn wir sie neben Theophylactus in der Gruft beisetzen. Aufbahren können wir sie ja nicht, dafür müssen wir uns eine Ausrede ausdenken. Niemand darf wissen, daß der Sarg leer ist, nicht einmal der Heilige Vater, der ihr eine würdige Totenmesse lesen soll.«
Crescentius hatte sich wieder zu uns gesellt und nickte. »Kein Aufsehen, keine Unruhe, sonst werden zu viele Fragen gestellt, und die Suche nach dem Gold beginnt von neuem.«
»Ich will nicht, daß ihr Sarkophag unter unserem Palast steht«, sagte Marozia ohne Nachdruck.
»Sie liegt ja nicht drin«, entgegnete Alberich ungeduldig, und Marozia schwieg.
Mich stellte die Art, wie die Schwiegersöhne Theodoras Verschwinden achselzuckend hinnahmen, keineswegs zufrieden. »Sollen wir nicht mit einer größeren Anzahl zuverlässiger Männer nach ihr suchen?« fragte ich daher. »Sie muß doch irgendwo sein.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen, und auch Marozias Mundwinkel zuckten. »Sie will nicht gefunden werden«, stieß sie in letzter Beherrschung aus. »Sonst hätte sie sich nicht … so verkrochen. Es war ihr letzter Wille.«
»Du hast recht«, sagte ich mit brechender Stimme. »Dennoch!«
Theodora hatte sich zum Sterben in die Höhle begeben, in der sie gerettet und wiedergeboren worden war. Sie hat freiwillig den Weg in die Unterwelt angetreten, das Gold ihrer Eltern mit sich genommen – um den Fährmann zu bezahlen, der sie hinüberrudern würde über den Fluß, der diese von jener Welt trennte.
Es war seltsam, aber während um mich herum Trauer und zugleich verärgerte Ratlosigkeit herrschten, drängten sich mir Vorstellungen von Tod und Jenseits auf, die mich in meiner Kindheit beschäftigt hatten. Ich fragte mich tatsächlich, ob Theodora auf der Asphodelenwiese ihrem verstorbenen Gemahl Theophylactus und ihren Eltern begegnen würde, um mit ihnen im ständig wiederkehrenden Austausch der Erfahrungen die Triumphe und Qualen ihrer Lebenswege zu wiederholen, im Bewußtsein, nie mehr etwas daran ändern zu können? Oder würde sie lieber Wasser aus dem Fluß des Vergessens trinken, weil sie die Langeweile der Leere der Qual des Erinnerns vorzog?
Noch heute – oder heute mehr denn je? – beschäftigen mich die Gedanken an das Jenseits, und ich weiß nicht, was ich glauben soll. Lösen wir uns in Körper- und Seelenatome auf, verschwinden wir spurenlos, um in anderer Gestalt wieder aufzuerstehen, als Fels, Baum, Wolke oder Königin? Folgen wir diesen Gedanken Epikurs, dann braucht uns die Angst vor Fegefeuer und ewiger Verdammnis in der Hölle nicht zu quälen, dann brauchen wir aber auch nicht auf das ewige Leben in einem Himmelselysium zu hoffen, auf Ausgleich und Gerechtigkeit im Jenseits.
Bereits diese Gedanken zu denken bereitet Unbehagen, denn sind sie nicht Sünde? Weist unsere christliche Kirche nicht alle Gedanken der alten Philosophen in den Bereich des Aberglaubens, brandmarkt sie diese nicht gar als Ketzerei? Müssen wir nicht an die unsterbliche Seele glauben, an Höllenqualen für die einen, Himmelsseligkeit für die anderen, an das Jüngste Gericht, in dem der eine und einzige Gott endgültig entscheidet, wer erlöst werden kann und wer als Verdammter ins ewige Feuer hinabgetrieben wird?
Theodora hatte mit ihrem Weg in den Tod, freiwillig und ohne den Empfang der Sterbesakramente, den direkten Weg in die Hölle gewählt. Sie verzichtete auf Buße und Freispruch von allen Sünden, selbst in Erwartung ihres letzten Weges, sie verzichtete auf jeglichen Abschied, auf Begleitung und Hilfe – und dies erschüttert mich noch heute, zehn Jahre nach ihrem Verschwinden. Vertraute sie der Gnade des Barmherzigen, der sie übersehen, bestrafen oder auch erretten konnte?
Und noch ein Gedanke streifte mich damals, verschwand später, hat jedoch verborgen überlebt und treibt nun, während wir selbst in einem Totenlabyrinth hocken, seltsame Blüten: Verschwand Theodora vielleicht nur in der Unterwelt, um jenseits der Mauern wieder ans Tageslicht zu gelangen, um auf diese Weise Rom unerkannt zu verlassen? Ist dieser Gedanke so abwegig? In manchen Klöstern südlich der Aurelianischen Mauer, in der Nähe der Via Appia, soll es Zugänge zu den Katakomben geben … Theodora hätte so viel Gold mitnehmen können, daß ihr kein Weg und auch kein Zufluchtsort hätte verschlossen bleiben müssen. Jedem Verräter hätte sie leicht mit einer Münze den Mund versiegelt.
Vielleicht war sie sogar zu dem vom Wasser umschlossenen Nonnenkloster auf der Isola Bisentina geflohen – ich hatte nach meiner ersten Inspektionsreise nicht nur Marozia, sondern auch ihr von diesem Ort paradiesischen Friedens erzählt –, um dort ihre letzte Heimstatt in Sicherheit und Stille zu finden.
O Herr, meine Hand beginnt zu zittern, während ich dies schreibe. Plötzlich wünsche ich, hoffe ich, glaube ich, daß Theodora noch lebt, daß ich sie suchen darf und wiedersehe – so wie mich mein Sohn gesucht hat und wiedersehen möchte.
Barmherziger Gott, laß mich nicht in dieser Gruft verkommen, laß mich frei, damit ich mir den letzten Wunsch meines Lebens erfüllen kann!
Zum Glück hat Marozia meine Erregung nicht wahrgenommen, und um keine Fragen heraufzubeschwören, kehre ich wieder in die Via Lata zurück, zu dem Morgen, an dem Theodora verschwunden war.
Jetzt barg Marozia ihr Antlitz an meiner Brust, suchte wortlos Hilfe und Trost. Obwohl sie ihre Mutter haßte, hing sie gleichzeitig an ihr. Beide waren sich ähnlich, vielleicht zu ähnlich. Marozia mußte spüren, daß sich mit Theodoras Weggang eine Verantwortung auf sie zuwälzte, der sie nicht ausweichen konnte, sie mochte spüren, daß die Macht in Rom, die ihre Eltern mit Alberichs und Sergius' Hilfe errungen hatten, ihr nicht kampflos erhalten blieb, sondern täglich neu erobert werden mußte. Und natürlich wußte sie, daß Frauen nicht zum Herrschen geboren sind, nirgendwo auf der Welt: Könige, Herzöge, Feldherrn und Päpste sind Männer, auch in der Familie herrscht der Mann. Selbst wenn Johanna Anglica sich heimlich bis zum Papstthron hatte emporkämpfen können, so fand sie doch ein Ende durch Liebe und Mutterschaft.
Solange Theodora unter uns weilte, solange Alberich sein schützendes Schwert über die Familie hielt, die Sarazenen nicht wieder einfielen und der Reichtum der Familie sich vermehrte, konnte Marozia mit ihrem anmutigen Lächeln, mit ihrer Schönheit und Grazie sowie mit ihrem starken Willen glauben, sie sei die verehrte Senatrix et Patricia Romanorum, sie sei die einflußreichste Frau der Stadt. Doch nach dem Verschwinden der Mutter hatte sie allen zu beweisen, daß sie stärker war als jeder Mann: Eine Aufgabe, an der sie zerbrechen mußte?
Langsam löste sie sich von mir und flüsterte mir zu: »Schließ die Geheimtür. Niemand darf sehen, wie sie sich öffnen läßt. Papst Johannes wird einen Sarg ohne Leichnam segnen, und wir alle werden vergessen, was geschehen ist.«
Schlaflos quälte ich mich durch die folgende Nacht und begab mich am nächsten Morgen ein zweites Mal in das Labyrinth, diesmal ohne Begleitung, mit einem noch längeren Wollfaden. Ich kennzeichnete die ersten Abzweigungen durch Pfeile, bis ich zu den Katakomben gelangte, rief dort nach Theodora, bis ich heiser wurde, tastete einige Schädel ab, fand nirgendwo Spuren von Gold – und nirgendwo Spuren einer Leiche, obwohl der Verwesungsgestank mich wie ein Fluch verfolgte. Ich rollte den Faden ab, tastete mich in alle Gänge – aber als ich schließlich in eine Kammer geriet, durch die bereits ein Faden führte, gestand ich mir die Sinnlosigkeit meiner Suche ein.
Wieder zurück in der Via Lata, traf ich auf mißtrauische Gesichter, und natürlich bemerkte ich, daß sich die Dienerschaft hinter vorgehaltener Hand die abenteuerlichsten Geschichten erzählte. Ich war sicherlich nicht die einzige, die auf den Gedanken gekommen war, daß Theodora Rom verlassen haben könnte. Auf keinen Fall würde sich Theodoras Gang in die Unterwelt geheimhalten lassen, und schon bald hörte ich von Aaron die ersten Gerüchte. Sie kreisten jedoch nicht um Theodoras wundersame Rettung und Wiederauferstehung von den Toten, sondern schoben Alberich und Marozia einen Mord an ihrer Mutter unter.
Auch die Enkel hatten ihre Großmutter ein letztes Mal sehen wollen und stellten Fragen, als ihnen ein verschlossener Sarg präsentiert wurde. Marozia fuhr sie barsch an, erreichte aber nur, daß der junge Alberico seinen Vater aufsuchte, um mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Später sah ich ihn Tränen vergießen, gerade ihn, der danach strebte, ein harter blonder Recke zu werden. Die kleine Berta weinte, weil sie überhaupt nicht verstand, was vor sich ging. Begriffen hatte sie allerdings, daß sie ihre Großmutter nie wiedersehen würde. Giovanni hatte die Texte des Requiems auswendig lernen sollen, hatte sich jedoch geweigert und war tagelang kaum zu sehen, und wenn, dann schweigsam und mit gesenktem Haupt.
Am Abend, nachdem die Nachricht von Theodoras Ableben verkündet worden war, erschien Papst Johannes in Begleitung seines angeblichen Bruders Pietro, zweier Kardinäle und eines Kammerdieners im Palast, um einen letzten Blick auf seine frühere Geliebte zu werfen und für ihr Seelenheil zu beten. Auf dem Weg in die Kapellengruft, in der das goldene Kreuz des Belisar hing und der Sarg aufgestellt worden war, stellte er mit der Miene unverkennbarer Mißbilligung die Frage, warum er nicht rechtzeitig gerufen worden sei, um seiner geliebten Tochter die Sterbesakramente zu spenden und ihr auf diese Weise den Weg ins Himmelreich zu ebnen.
Marozia setzte, ohne zu antworten, ein von Trauer umflortes, um Verzeihung bittendes und zugleich liebeschwangeres Lächeln auf. Papst Johannes schaute sie erstaunt und mit einer sich vertiefenden Falte zwischen den Augen an und beschleunigte seinen Schritt.
Keiner sprach, als wir die Treppe hinabstiegen. Die Fackeln rußten. Das Kreuz schimmerte in düsterem Gold. Papst Johannes versuchte, sich sein erbostes Erschrecken nicht anmerken zu lassen, als er vor dem verschlossenen Sarg stand.
»Öffnet ihn!« befahl er. »Ich will meine Tochter ein letztes Mal sehen.«
Crescentius schaute nach unten, Theodora die Zweite schluchzte laut auf, auch Marozia begann zu weinen.
»Die Verwesung hat bereits eingesetzt«, erklärte Alberich stockend. »Daher mußten wir den Sarg verschließen. Wir bitten Euch, Heiliger Vater, möglichst morgen schon die Totenmesse zu halten, damit wir unsere geliebte Mutter an der Seite ihres unvergessenen Gemahls zur letzten Ruhe betten können.«
»Soll der Trauergemeinde ein verschlossener Sarg vorgesetzt werden?« herrschte ihn Papst Johannes an.
Alberich antwortete nicht. Statt dessen schob sich Alberico vor und erklärte, auch er habe seine Großmutter nicht mehr gesehen. »Sie ist gar nicht im Palast gestorben …«
»Sondern?« fiel ihm der Papst ins Wort.
»In der Via Lata«, ergänzte Alberich unwillig.
Während der junge Pietro in wissendem Hohn grinste, schaute Papst Johannes mißtrauisch in jedes einzelne unserer Gesichter, auch in meins. Natürlich spürte er das Geheimnis, das Theodoras Tod umgab, und so trat er schließlich nah an mich heran. »Du warst ihre Schwester in leidvoller Erfahrung und gemeinsamer Mutterschaft«, sagte er leise, aber eindringlich. »Wie ist sie gestorben?«
Ich überlegte eine Weile, bevor ich antwortete. Dann erklärte ich: »Sie hat den Ruf ihrer Eltern gehört und wollte ihm folgen.«
Sein Blick suchte die Wahrheit in meinen Augen. Ich weiß nicht, welche Schlußfolgerung er zog. Schließlich flüsterte er, mehr zu sich selbst als zu mir: »Ich hätte mich während der letzten Jahre um sie kümmern müssen«, und wandte sich dem Sarg zu. Er kniete nieder, sprach ein Gebet und segnete ihn.
Bevor er wortlos die Kapelle verließ, beugte er vor dem Kreuz des Belisar erneut das Knie und verharrte eine Weile in bewegungsloser Anbetung.
Am nächsten Tag zelebrierte er eine feierliche Messe zu Ehren der Toten in der Lateranbasilika, und auch die Beisetzung in der Gruft leitete er. In seinen Ansprachen hielt er sich an überkommene Floskeln, und es gelang ihm meisterhaft, seine Gefühle zu beherrschen.
Jeder der erwachsenen Anwesenden wußte, daß Johannes ohne Theodoras Einfluß nie Papst geworden wäre, daß Theodora seine langjährige Geliebte gewesen war; jeder mußte erahnen, daß ein Geheimnis ihren Tod umgab. Und wer in der Haltung der Trauernden lesen konnte, erkannte, daß Theodora in ihrer Tochter Marozia eine entschlossene Nachfolgerin gefunden hatte – und daß zugleich nichts mehr so sein würde wie zuvor.
Marozia wirkte, kaum hatte sich der schwere Deckel über dem leeren Sarkophag ihrer Mutter geschlossen, erleichtert und ließ keinen Zweifel daran, daß sie die Herrin im Haus, in Rom und auch im Patrimonium Petri sein wollte. Bei einem spätabendlichen Gespräch in ihrem Schlafraum erläuterte sie mir ihre weiteren Pläne und bat mich bei der Brust, die sie – und Alexandros! – genährt habe, um Unterstützung. Selbstverständlich sei ich ›im Prinzip‹ keine Sklavin mehr, sondern mütterliche Ratgeberin und liebste Vertraute, zudem Aufseherin aller wirtschaftlichen Vorgänge, die im Namen und Auftrag des Hauses ihres verstorbenen Vaters getätigt würden; sie verspreche mir, Boten nach Konstantinopel zu schicken, damit wir unseren geliebten Alexandros, so er noch lebe, ausfindig machen könnten.
Sie warf mir einen kurzen Blick zu und strich dann die Pergamentseiten, die Crescentius ihr gebracht hatte und auf denen die Domänen mit ihren jeweiligen Abgaben aufgelistet waren, mit einer betont sorgfältigen Bewegung glatt.
»Das Kloster Farfa ist nach der Befreiung von den Sarazenen seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Wenn das so weitergeht, werde ich dich hinschicken, um endlich für Ordnung zu sorgen, oder, noch besser, meinen Sohn Konstantin zum Abt ernennen, sobald er sein Gelübde abgelegt hat.«
Sie rechnete das Ergebnis einer Liste zusammen, indem sie leise Zahlen addierte.
»Er ist noch ein Kind und muß erst die höheren Weihen erhalten«, wandte ich ein.
»Wenn nicht ihn, dann Giovanni. Er hat es bereits bis zum Akoluth geschafft und wird bald Subdiakon. Hast du bemerkt, wie sicher er in der Beherrschung des kanonischen Rechts ist, wie schön er singt und wie gut er die Psalmen beherrscht? Er kann das halbe Brevier auswendig.«
Ich nickte.
Marozia ließ nun ihren Blick auf mir ruhen: »Dir ist klar, daß er so früh wie möglich Papst werden soll?«
Längst war mir dies klar. Dennoch erwiderte ich: »Ich glaube zwar nicht, daß ihm so sehr an diesem schweren und verantwortungsvollen Amt gelegen ist, schon gar nicht in jungen Jahren, aber es reicht sicher, daß du es wünschst und planst.«
Sie überhörte meine Spitze. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil mich irgend etwas an Marozia reizte, und keiner von uns wirklich offen sprach. Vielleicht hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht gelernt, ihre Art von Ehrgeiz zu akzeptieren. Vielleicht hatte ich sogar insgeheim gehofft, sie würde nicht nur von meiner Freilassung sprechen, sondern handeln und mich wegschicken. Indes: Hätte ich wirklich gewagt zu gehen?
Ganz sachlich griff sie meine Bemerkung auf: »Giovanni weiß noch nicht, was gut für ihn ist. Daher muß es reichen, wenn ich ihn auf seinen Weg in die Zukunft schicke. Das siehst du richtig.«
»Wenn er Papst werden soll, wäre es für ihn am besten, eine Weile in einem Kloster gelebt zu haben, um dort die nötige Zucht und Glaubensstrenge zu lernen.« Am liebsten hätte ich noch ›ohne mütterliche Bevormundung und Verwöhnung‹ eingefügt, ließ es aber.
»Kommt nicht in Frage! Ich will ihn um mich haben. Außerdem soll er möglichst bald ein Amt in der Kurie erhalten, das des vestararius vielleicht, da kann er nicht viel falsch machen. Lieber wäre es mir, er würde arcarius oder saccellarius wie sein Großvater. Aber diese Ämter hat Papst Johannes bereits diesem Pietro übertragen, was ich nicht hinzunehmen bereit bin. Auf jeden Fall soll mein Giovanni demnächst dem Heiligen Vater bei der Pfingstmesse ministrieren, und anschließend möchte ich mit Johannes über den Jungen sprechen und seinen Weg zu den höheren Weihen.«
Mir war unwohl dabei, wie Marozia über ihren Ältesten bestimmte. Sie hatte den Sergius-Sohn in Verehrung für den Geliebten ihrer Mutter Giovanni genannt und dafür gesorgt, daß der damalige Erzbischof von Ravenna sein Pate wurde. Sie erzog ihn seit frühester Jugend zu einem Mann der Kirche, indem sie ihn in allem unterrichten ließ, was er als Priester und Prälat wissen und können mußte, sie ließ ihn als Ministrant des Heiligen Vaters bei den großen Messen des Jahres in der Petersbasilika oder in San Giovanni in Laterano teilnehmen, gab ihn aber im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Konstantin nicht in ein Kloster, weil sie ihn für zu weich für die Befolgung der Regeln des heiligen Benedictus hielt.
Er durfte sich manche indulgentia wie langen Schlaf erlauben, sie herzte und küßte ihn noch, obwohl ihm dies mittlerweile unangenehm war, sie stopfte ihn mit Süßigkeiten voll, obwohl er für sein Alter weiche, fast weibliche Rundungen zeigte und dafür von beiden Alberichs verspottet wurde, er mußte zwar reiten lernen, brauchte aber keine der Fertigkeiten zu beherrschen, die für Männer aus hohen Familien selbstverständlich sind: Fechten, Ringen, Lanzenwerfen, Bogenschießen. Er lernte weder die Grundlagen der Jagd noch die des Kriegshandwerks, und für einen möglichen saccellarius verfügte er über zu geringe Rechenkenntnisse.
Als ich Marozia auf meine Bedenken ansprechen wollte, fiel sie mir ins Wort. »Hast du gemerkt, daß Papst Johannes keinen Schritt mehr ohne diesen Pietro unternimmt? Ich wette, er hat sich auf seine alten Tage den schönen Männern zugewandt und scheint seine Freude an weiblichen Reizen verloren zu haben. Früher konnte er zwar von Mama nicht lassen und hat sie wie ein unersättlicher Hengst bestiegen, aber seit sie tot ist, kann er seinen Ruf als untadeliger Nachfolger Petri pflegen – wobei ihn offensichtlich der Ruch der Sodomie nicht stört.«
Ich schaute sie kopfschüttelnd an: »Willst du ihm wirklich diese Todsünde unterstellen?«
Marozia hatte sich auf ihrem Bett niedergelassen und die Knie angezogen. Ohne zu antworten, schaute sie an mir vorbei zu dem kleinen Gartenfenster, durch das ein Amsellied hereinklang.
Wir hatten nach dem Tod ihrer Mutter zwar des öfteren über Papst Johannes und diesen Pietro sowie über ihr augenblicklich schwieriges Verhältnis zu Alberich gesprochen, aber mir war nicht recht klar, worauf sie zusteuerte: Ging es ihr lediglich um ein Amt für Giovanni, wollte sie Pietro ausschalten oder war sie wirklich daran interessiert, ihre Mutter in der Gunst des Papstes abzulösen? Versuchte sie gar, Pietro von der Seite seines Bruders zu vertreiben, um ihn um so sicherer an die eigene Seite zu ziehen?
Der Papst war dreißig Jahre älter als sie, während Pietro ihr Alter haben mußte. Mit seinem ovalen Gesicht und den eher engstehenden Augen konnte man ihn nicht wirklich schön nennen, doch wenn er seine langwallenden blonden Haare nach hinten warf, sich dabei mit der Hand in den Nacken griff, um sie zu lockern, zog er die Blicke auf sich. Trotz der typischen O-Beine eines Reiters bewegte sich sein schlanker Körper weich und fließend.
Mit meinem heutigen Wissen verstehe ich Marozias Verhältnis zu Papst Johannes besser, obschon mir dabei einiges rätselhaft bleibt; damals jedoch konnte ich mir nicht vorstellen, daß Marozia sich wirklich zu Papst Johannes hingezogen fühlte. Ihr verführerisches Lächeln und den betonten Augenaufschlag hielt ich für die normale Art und Weise, mit der sie ihre Ziele durchzusetzen versuchte. Bereits seit jungen Tagen umgurrte und umschmeichelte sie die Männer in einer Mischung aus unschuldigem Kind und verführerischer Zauberin, und fast immer erreichte sie, was sie wollte. Spürte sie allerdings einen entschiedenen Widerstand, den auch die geschicktesten weiblichen Tricks und die klügsten Überredungskünste nicht brechen konnten, wurde sie zur Furie, die von Vernichtung besessen war.
Marozia hatte meine Frage, ob sie Papst Johannes eine sodomitische Beziehung zu Pietro unterstellte, überhört. Ganz ruhig, regelrecht sehnsüchtig erklärte sie, der Kampf gegen die Sarazenen und der gemeinsame Sieg hätten sie gelehrt, daß Rom und die sie umgebenden Herzogtümer und Grafschaften, ja im Grunde ganz Italien einig sein müsse, beherrscht von einer starken Führung. »Allerdings denke ich dabei nicht an diesen aufgeplusterten Berengar, der zudem ein Langobarde ist …«
Ich sah sie neugierig an. »Sondern? An deinen Alberich vielleicht?«
Sie stieß einen höhnischen Laut aus. »Ein zweiter Langobarde!«
»Ist das ein Grund, der gegen ihn spricht? Er hat sich am Garigliano umsichtig und zugleich tapfer geschlagen, er ist das männliche Oberhaupt eures Geschlechts …«
Dies hätte ich nicht sagen sollen.
»Nie!« schrie Marozia erregt. »Dieser hergelaufene Abenteurer, der nur an Jagd denkt, der vielleicht fechten kann, aber von Politik nichts versteht – ich bin das Oberhaupt unseres Geschlechts, ich, verstehst du, ohne mich ist Alberich ein Nichts! Ich beherrsche Rom und das Umland, mir muß sogar der Papst gehorchen und sein sodomitischer Pietro dazu …«
»Du bist, wie bereits deine Mutter, mächtig und reich«, unterbrach ich sie, »gleichwohl bist du eine Frau, und als solche kannst du nur indirekt herrschen. Du könntest aber durch deine Söhne eine Dynastie gründen, die vielleicht tatsächlich einmal Italien beherrschen und einen könnte. Allerdings brauchst du dazu Alberich. Beide im übrigen: deinen Mann und deinen Sohn!«
Erregt durcheilte sie mehrfach den Raum und baute sich schließlich vor mir auf.
»Ja!« stieß sie widerstrebend aus und ließ ein heftiges »Nein!« folgen. »Der Papst und sein Adlatus – ich spüre den Widerstand. Vielleicht glauben sie sogar, ich hätte meine Mutter getötet …«
»Marozia, was willst du eigentlich?« Ich hatte ihre Hände genommen und schaute ihr eindringlich in die Augen. Ich dachte: Du bist eine große Liebende, aber keine geborene Herrscherin. Du willst deinen Willen durchsetzen, dich an Wollust und Macht berauschen und sogar Herrscherin über den Papst, ja heimliche Päpstin werden. Du willst unbedingt deine Mutter übertreffen – aber im Grunde möchtest du nur geliebt werden.
In ihren Augen standen unvermittelt Tränen. Sie biß sich auf die Lippen, schluckte und setzte zu sprechen an – war indes nicht in der Lage zu sagen, was sie wirklich wollte.
Marozia traf sich mit ihrem Gemahl Alberich nicht mehr im gemeinsamen Bettgemach: Alberich zog ruhelos durch seine Markgrafschaft oder ging gemeinsam mit Wido von Tuszien auf Jagd, nahm dabei seinen Sohn Alberico mit, um ihn an rauhe Männersitten zu gewöhnen.
Sie dagegen aß und trank mehr als gewöhnlich. Die Folge war, daß sich ihre Formen noch üppiger rundeten. Verabschiedete ich mich abends von ihr, bemerkte ich, daß ihre Bewegungen unsicher geworden waren, die Stimme zu lallen begann.
Ihre Stimmungen schwankten stark. Es gab Abende, an denen sie sich an meine Brust warf und scheinbar grundlos in Schluchzen ausbrach, an anderen ließ sie sich von Giovanni das Hohelied Salomos vorlesen; und dann gab es Abende, an denen sie ihren Mann Alberich und auch Pietro verfluchte, schließlich ihre verschwundene Mutter schmähte und ihr über den Tod hinaus Rache schwor.
Schließlich geschah etwas, worauf ich bereits lange gewartet hatte, denn eine auf Dauer enthaltsam lebende Marozia konnte ich mir nicht vorstellen: Angelo trat in ihr Leben – oder genauer: Er erregte ihre Aufmerksamkeit.
Unser Angelo lebte als Sohn einer längst verstorbenen Magd seit seiner Geburt in der familia und wuchs zu einem glutäugigen, schlanken Jungen heran, der meist im Haus beschäftigt wurde, weil er Angst vor Pferden zeigte, sich aber in der Küche gelehrig anstellte. Er hatte bei einem der Gärtner das Flötenspiel gelernt und erfand süße Melodien, mit denen er das Küchengesinde so lange unterhielt, bis Marozia sein Spiel belauschte und ihn aufforderte, ihr, der Herrin, vorzuspielen.
Als ich unsere Köchin auf Angelo ansprach, hörte ich ein schmutziges Lachen und einen Hinweis darauf, daß er noch nie ein Mädchen angerührt habe, nicht einmal in der hintersten Vorratskammer oder in der tiefsten Nacht, obwohl ihn doch alle umschwärmten; allerdings sei er bereits mehrfach unter den Pferdeknechten beobachtet worden. Und sie machte eine eindeutige Geste.
Zuerst beruhigte mich dieser Gedanke, bald jedoch, je öfter ich Angelo in Marozias Gemächern spielen hörte, beunruhigte er mich. Würde sie ein Auge auf ihn werfen – ich wußte um die Anziehungskraft seines tiefgründigen Blicks –, sah ich zahlreiche Schwierigkeiten entstehen, sah ihn sogar in Lebensgefahr. Ich überlegte, ob ich Crescentius empfehlen sollte, ihn unter einem Vorwand auf eine unserer Domänen zu schicken. Als ich diesen Plan andeutete, verbot mir Marozia, daran auch nur zu denken.
»Angelo ist ein wahrer Orpheus«, schwärmte sie. »Wird dir nicht ganz anders, wenn du ihn spielen hörst?«
Mir wurde überhaupt nicht anders, als ich ihn beim nächsten Mal flöten hörte, und zwar im Baderaum, den Theodora sich nach altrömischen Vorbildern hatte bauen lassen, was nicht so einfach gewesen war, weil die heutigen Baumeister die Techniken der unterirdischen Warmwasserbereitung kaum mehr beherrschen.
Nach einer Weile unterbrach Angelo sein Spiel; dafür kicherte Marozia, und das Wasser plätscherte. Lauschend blieb ich stehen. Zuerst herrschte tiefe Stille, dann seufzte Marozia zufrieden und stieß wohlige Laute aus, wie immer beim Einsalben und Massieren. Vermutlich hatte sie wie ich von Angelos Neigungen gehört, hatte dabei an seinen gertenschlanken Körper gedacht, an die glühenden Augen, stellte sich womöglich vor, sie könnte ihn von seinen widernatürlichen Neigungen erlösen …
Ich muß gestehen, daß ich nicht nur lauschte, sondern mich dem Bad ein wenig näherte, bis ich erspähte, was dort geschah und was unzweideutig über Einsalben und Massieren hinausging …
Und dies geschah täglich.
Marozias Stimmung besserte sich während dieser Zeit, und trotz oder wegen der Ablenkungen durch Angelo versuchte sie mit zunehmender Intensität, Politik zu treiben. Immer wieder bat sie Papst Johannes zu sich; er wies jedoch auf die Fülle seiner Amtsgeschäfte hin und ließ sich entschuldigen. Wenn er erschien, dann mit Pietro an seiner Seite.
An ein Treffen erinnere ich mich besonders. Marozia hatte sich lange von Angelo vorspielen lassen, während sie geschminkt wurde, trug gleichwohl ihre Haare offen und nur mit einem durchsichtigen Seidentuch bedeckt, als der hohe Besuch angekündigt wurde. Sie deutete einen Fußfall an, senkte in ausgiebiger Inbrunst ihre Lippen auf die Ringhand des Papstes, lächelte ihn an, lächelte auch Pietro an, führte beide zu ihren mit brokatbezogenen Kissen bedeckten Sitzgelegenheiten und bat Johannes dann, ihren Sohn Giovanni zum Diaconus zu ernennen und ihm trotz seiner Jugend die entsprechende Weihe zu gewähren.
Pietro brachte einige Einwände vor, die Marozia mit schmelzender Stimme, anmutigen Bewegungen sowie Augenaufschlägen zu entkräften versuchte. Giovanni mußte schließlich in seinem neuesten Priestergewand aus edelster Seide und bestickten Brokatstoffen erscheinen und mit seinen Kenntnissen der Kirchenväter glänzen. Sein Pate, der Papst, zeigte sich beeindruckt, nannte ihn nicht nur ›meinen liebsten Sohn‹, sondern prophezeite ihm auch eine große Zukunft zum Wohle des Herrn in der Gemeinschaft seiner Jünger. Marozia strahlte, küßte den päpstlichen Ring, umarmte schließlich sogar Johannes, ohne sich an Pietros mißbilligendem Räuspern und den leicht indigniert schauenden Prälaten der Kurie, die den Troß des Papstes bildeten, zu stören. Auch dem zukünftigen Diaconus Giovanni war die Liebreizattacke seiner Mutter unangenehm.
Bevor sich Papst Johannes mit seinem Troß verabschiedete, kam das Gespräch auf einen weiteren Punkt, der Marozia am Herzen lag: Im Norden des Landes war ein Aufstand gegen König und Kaiser Berengar ausgebrochen: Insbesondere die westlichen Herzogtümer und Grafschaften der Po-Ebene hatten ihn für abgesetzt erklärt und an seiner Stelle Herzog Rudolf von Hochburgund nach Pavia gerufen. Marozia hatte schon immer zur Partei der Berengar-Gegner gehört und unterstellte dem ›aufgeblasenen Langobarden‹, wie sie ihn nannte, gefährliche Kungelei mit den Ungarn. Der Papst dagegen hatte bereits dafür gesorgt, daß Berengar in Rom zum Kaiser gekrönt wurde, und war sein Bundesgenosse geblieben. Ja, es gab sogar Gerüchte in Rom, Papst Johannes' Bruder Pietro sei nichts anderes als ein Gefolgsmann und Spion Berengars, der mit seiner Hilfe den Kirchenstaat und darüber hinaus ganz Mittelitalien unter seinen Einfluß bringen wollte.
Marozia erklärte nun, auf Grund von Berengars Tyrannis (dieses Wort hatte sie von mir gelernt) sei der Aufstand berechtigt; daher bitte sie den Heiligen Vater, seine bisherige Politik zu überdenken und die Sache der Aufständischen zu unterstützen.
Papst Johannes tauschte einen kurzen Blick mit Pietro aus, während unter den Prälaten ein Gemurmel entstand, räusperte sich und erklärte: »Meine liebe Tochter, der Herr hat in seiner Gnade deiner Familie Reichtum und Einfluß beschert, den sie in Rom und seiner Umgebung auszuüben berechtigt und in der Lage ist. Was jedoch die Politik betrifft, die über die Mauern der Ewigen Stadt hinausreicht, ja, über die Grenzen des Patrimoniums, so sollten sich diejenigen darum kümmern, die qua Amt, Alter und Berufung dafür auserwählt sind.«
Der Papst lächelte Marozia väterlich an, während ihr Lächeln gefror. Pietro, der hinter ihm stand und den Arm besitzergreifend auf seine Rückenlehne legte, verzog die Mundwinkel in höhnischem Triumph, nickte und fügte an: »Zumal der Blick eines Weibes nie über die engen Grenzen, die ihrem Geschlecht gezogen sind, hinausschauen kann. Und schon gar nicht sollte.« Er hob seinen Kopf in törichtem Stolz und fuhr sich anschließend mit seinen Fingern durch sein dichtes, wallendes Haar.
Ich nenne seinen Stolz töricht, weil er ohne Not die mächtigste Frau der Stadt vor aller Ohren demütigte und offensichtlich die Kraft ihrer Rachsucht unterschätzte.
Papst Johannes warf ihm einen mild tadelnden Blick zu und lächelte Marozia noch väterlicher an. »Wir danken für deinen Rat, geliebte Tochter, und werden ihn selbstredend zu überdenken wissen, zumal uns beide die gleichen Ziele antreiben: das Wohlergehen und die Einheit unserer italischen Länder unter der Schirmherrschaft des einzigen und einigen Gottes zu gewährleisten. Leider zeichnen sich die Herrscher Italiens durch ein besonders hohes Maß an brüderlicher Mißgunst, verräterischer Gesinnung und ruchloser Ränke aus. Wir haben die Sarazenen gemeinsam besiegt, doch ob es Uns gelingt, den Frieden nach innen zu erhalten … der Herr allein weiß es, es liegt in SEINER Hand. Du, meine Tochter, solltest dich um den Frieden in unserer Stadt, um die Sicherheit der Einwohner und Pilger sowie um die Versorgung der Armen, Alten und Schwachen kümmern.«
Der Papst war aufgestanden und hatte Marozia seine Ringhand hingehalten. Sie deutete einen Kuß an. Ihre Miene zeigte Verärgerung, die sich zu Zorn steigerte, als Pietro an ihr vorbeischritt, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Einige der Prälaten, die ihre Ämter durch unser Geld erhalten hatten, verneigten sich vor Marozia und flüsterten ihr etwas Aufmunterndes und Unterstützendes zu. Auch sie mußten in Pietro einen gefährlichen Konkurrenten sehen.
Kaum waren wir allein, nahm Marozia mit einem Schrei einen Weinkrug, der noch unangerührt auf dem Tisch stand, und schmetterte ihn mit einem zweiten Schrei zu Boden, so daß die Flüssigkeit über die Fliesen spritzte. Unser Giovanni, der verschüchtert zugeschaut hatte, konnte nicht mehr rechtzeitig zur Seite springen, so daß er wie blutüberströmt und zugleich wie ein begossener Pudel dastand. Marozia beachtete ihn nicht. Sie trommelte vor Wut mit den Fäusten auf den Tisch und schrie ein drittes Mal in unartikulierter Erregung auf. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, beugte sie sich, auf die Arme gestützt, über den Tisch, nahm einen noch vollen Becher, stürzte den Wein hinunter und stieß aus: »Er wird diese Frechheit mit dem Leben bezahlen!«
»Du willst den Heiligen Vater ermorden lassen?« fragte Giovanni ungläubig.
»Dummkopf!« fuhr sie ihn an. »Johannes doch nicht, sondern seinen sodomitischen Pietro!«
Während Marozia bei Angelos sanftem Flötenspiel über die besten Wege zur Entmachtung und Beseitigung des Papstbruders nachgrübelte, verschoben sich die Machtverhältnisse im Norden des Landes ohne römisches Zutun. Im Jahr 924 kam es zu der Entscheidungsschlacht bei Fiorenzuola, das in der Nähe von Piacenza liegt: Der Burgunder Rudolf, getragen und unterstützt von den Aufständischen, besiegte Kaiser Berengar von Friaul, der kurz darauf von einem seiner eigenen Vasallen ermordet wurde. Darüber war nicht nur Marozia hocherfreut, sondern ebenso Alberich und Wido von Tuszien, die den Ausgang der Ereignisse in Lucca abgewartet hatten. Nun gab es einen aufgeblasenen und zugleich heimtückischen Herrscher weniger, und der Kaisertitel war wieder vakant. Wundert es, daß daraufhin der schöne und reiche Markgraf von Tuszien davon zu träumen begann, er könne der nächste Kaiser werden? Vermutlich hatte ihm sogar Alberich diesen Wunschtraum eingeredet.
Um die neue Lage gebührend zu feiern, begaben sich die beiden Männer auf Wolfsjagd in die Sabiner Berge. Alberico, der seinen Vater bereits nach Lucca begleitet hatte, war mittlerweile alt und geschickt genug, mit seinem Vater und Onkel die grauen Walddämonen zur Strecke zu bringen.
Sie blieben mehrere Wochen unterwegs und zogen am Ende der Jagd gemeinsam nach Rom. Als sie unangekündigt und daher überraschend in unserem Palast auftauchten, gaben sich Marozia und Angelo gerade wieder dem Flötenspiel hin, während ich im Garten saß – in einer Stimmung, die mich regelmäßig zu abendlicher Stunde überfiel. Ich hatte mir angewöhnt, in der blauen Stunde, bevor das Licht von der Dunkelheit aufgesogen wird, um die Verlorenen zu trauern. Immer wieder sah ich Martinus in seinem Blut liegen und einen letzten Blick gen Himmel richten, in einen weißbewölkten Himmel, der sich langsam rot färbte. Ich hörte ihn ›Aglaia‹ flüstern, beugte mich über ihn und küßte seine sich schließenden Augen. Und dann tauchte ein junger Mann auf, der seinem Pferd die Sporen gab, um zu Hilfe zu eilen. Die Mähne des Pferdes flog wie eine Fahne im Wind, die Hufe trommelten im gestreckten Galopp über den Boden – doch die Hilfe kam zu spät. Martinus starb in meinen Armen, ich begrub ihn am Wegrand und wanderte dann, begleitet von meinem Sohn, in die staubige Ferne, um in einer schmerzfreien Zukunft die strahlende Heimat jenseits der Berge, jenseits der Meere zu erreichen …
Lautes Pferdewiehern und rufende Männerstimmen unterbrachen die Trauerstunde. Aufgeschreckt und zugleich neugierig eilte ich in den Palast, in dessen Atrium ich einen Stapel blutiger Wolfsfelle entdeckte und verdreckte Jagdhelfer, die nach Wein schrien.
Als erster bemerkte mich Alberico, der, laut meinen Namen rufend, herbeistürmte, seinen vor Wiedersehensfreude umhertaumelnden Spielhund an der Seite, mich umarmte, um mir dann mit vor Begeisterung glänzenden Augen und hektischer Stimme von den Abenteuern der Wolfsjagd zu erzählen. »Sieben Tiere haben wir erlegt, aber Papa hat sich verletzt. Eine Wölfin ist aus dem Hinterhalt auf ihn gesprungen, als er ihre Welpen abstach. Wir waren so erschrocken, daß sie entkommen ist. Nicht einmal die Hunde konnten sie stellen. Sie verschwand einfach vom Erdboden, wie verhext.«
Ich schaute mich unruhig um, ob ich Alberich entdecken konnte. In diesem Moment trat er mit seinem jungen Freund aus dem Halbdunkel der Arkaden, Berta auf dem rechten Arm, während der linke verbunden war. Giovanni, der neben ihm ging, schaute bewundernd zu ihm empor, und Alberich legte ihm väterlich seinen Arm auf die Schultern, was ihm wegen der Verletzung offenkundig Schmerzen bereitete. Da war auch der schöne Markgraf Wido. Er schaute unsere kleine Berta freundlich an, die verschämt zurücklächelte.
Wido hatte sich seit unserer letzten Begegnung wenig verändert: Er trug die Haare gestutzt, war bartlos. Die paar Kratzer, die er offensichtlich während der Jagd davongetragen hatte, taten seiner vom Alter kaum berührten Schönheit keinen Abbruch. Er war wirklich ein einnehmender Mann mit seinen weiten, hellen Augen, seinen langen, nahezu weiblichen Wimpern, und sein offener, vertrauenswürdiger Blick sowie sein argloses Lächeln erweckten spontane Zuneigung.
Mit lautem Hallo wurde ich begrüßt, und schon berichtete auch Alberich von den Abenteuern der Jagd. »Obwohl der alte Leitwolf direkt auf ihn zurannte, hat Alberico kaltblütig gewartet und ihm dann den Jagdspieß mit einem tödlichen Stoß in den Rachen gerammt.« Alberich wies auf seinen Sohn, der sich stolz reckte. »Er ist nun endgültig zum Mann geworden, mutig und besonnen zugleich!«
»Ganz der Vater!« rief Wido, und beide Männer lachten so herzhaft-stolz, daß ich mitlachen mußte und den groß gewordenen Alberico an meine Brust drückte. Ich mußte auch deshalb lachen, weil der Junge seinem Vater so ähnlich sah, als wäre er eine jüngere Ausgabe von ihm. Lediglich in der Haarfarbe unterschieden sich die beiden: Vater Alberichs ehemals blonde Mähne war zwar noch immer dicht, doch ergraut, während Albericos Mähne in goldenen Tönen schimmerte.
»Und du bist der zukünftige Papst?« fragte Wido unseren Giovanni, der verschämt grinste. »Ich habe schon viel von dir gehört: Du bist der Liebling deiner Mutter und bereits in jungen Jahren Diaconus.«
Alberich gab Giovanni einen auffordernden Stoß unter Männern.
Giovanni verbeugte sich linkisch in seinem hochgeschlossenen Priestergewand und mußte sich nun auch von seinem Bruder puffen lassen, was er geschmerzt über sich ergehen ließ.
»Nicht gleich wieder Streit, ihr Jungen!« ermahnte sie Alberich und setzte Berta ab, die sich liebebedürftig an ihn drückte.
Der Hund hatte mehrfach den lange vermißten Alberich angebellt, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und wurde kurz gekrault. Kaum hatte er jedoch eine vorbeistreifende Katze entdeckt, hechtete er los und nahm mit begeistertem Gekläff die Verfolgung der Fliehenden auf.
Ich hatte den Tieren nachgeschaut; als ich mich wieder den Männern zuwandte, entdeckte ich im Zimmerschatten des ersten Stocks, halb verdeckt und doch neugierig, Marozia. Sie mußte sich soeben mit wirren Haaren aus Angelos Armen gelöst haben, um nach der Ursache des Lärms zu schauen. Rasch verschwand sie, und es dauerte eine Weile, während nun auch Alberich nach Wein rief, bis sie mit einem verklärten Lächeln ans Fenster trat. Vorerst war ich die einzige, die sie bemerkte.
Sie trug eine leichte Tunika ohne Stola; ihre Haare fielen auf die weichen Rundungen ihrer Schultern, die in dem dunkler werdenden Licht sinnlich leuchteten: Halb erinnerte sie mich an ein unschuldiges Mädchen voller Erwartung, halb an eine Zauberin, die lockend am Eingang ihrer verheißungsvollen Grotte stand, geheimnisvoll lächelnd …
Rasch wandte ich mich ab, weil ich nicht den Blick der Männer auf sie lenken wollte, doch Wido hatte sie bereits erspäht.
Ich kenne mich in Liebesdingen nicht aus, habe nur davon gehört, daß ein Blick genügen kann, Leidenschaften auflodern zu lassen. Theodora hat mir häufig von der vorwärtspeitschenden Kraft geschlechtlichen Begehrens erzählt, von dem Sturm der Gefühle, dem kein Widerstreben standhält, von der Lust an Überwältigung und Überwältigtwerden, von der sich steigernden Sucht nach immer mehr, die jedoch von einem Punkt der Sättigung ab umschlage in eine Sucht nach Abwechslung.
Nein, ich kenne mich in den Stufen und Formen der Wollust nicht aus, doch ich sah Widos Blick und Marozias Lächeln.
Nun hatten auch die Kinder ihre Mutter entdeckt, riefen sie, winkten ihr. Alberich schaute ebenfalls empor, und über seinen Blick fiel ein Schatten.
»Ich komme!« rief Marozia. »Wartet, ich bin gleich bei euch!«
Es dauerte eine Weile, bis sie kam, das Haar noch offen, über den Schultern ein durchsichtiger Schleier, und ihre erste Willkommensgeste galt dem Gast.
Wido schaute sie wie ein Wunder an, dabei mußte er sie doch kennen. Er hatte als junger Mann gegen die Sarazenen mitgekämpft und an den römischen Siegesfeiern sowie der Kaiserkrönung Berengars teilgenommen. Marozia hatte sich seitdem nur in einem Punkt dem unerbittlichen Diktat der Zeit beugen müssen: Was sie an Formen gewonnen hatte, hatte sie an Festigkeit verloren. Ihre Haut jedoch war noch immer glatt wie die einer Jungfrau, die Fülle der Haare ungebrochen, die Stimme weich, und sie bewegte sich so geschmeidig, federnd und anmutig wie eh und je.
Marozia warf Wido einen ihrer leicht spöttischen und zugleich einladenden Blicke zu, bevor sie, mütterlich übertreibend, ihren Zweitältesten Sohn in lauter Bewunderung begrüßte, auf Giovannis geistlichen Erfolg hinwies und zudem die sich entfaltende ›Lilienschönheit‹ ihrer jüngsten Tochter pries, als wollte sie Wido seine zukünftige Braut schmackhaft machen.
Schließlich ließ sie sich von ihrem Gatten auf die Stirn küssen und erkundigte sich nach seiner Verletzung. Alberich nahm sie in den Arm und preßte seine rechte Hand auf ihr volles Hinterteil, doch mit einer geschickten Drehbewegung entschlüpfte sie ihm und nahm Widos Hand, um den Gast in den Speiseraum zu führen, den bereits ihre Mutter nach altrömischem Vorbild wie ein Triclinium hatte gestalten lassen, mit weichgepolsterten Liegen um einen Tisch, auf dem Speisen gereicht wurden.
Alberich erzählte erneut von den mutigen Taten seines Sohnes und seinem Sieg über den Leitwolf, während Alberico mit stolz-verschämtem Blick das Lob seines Vaters hinnahm und dann von der alten Wölfin erzählte, die ihre Welpen gerächt habe.
»Sie wird so alt noch nicht gewesen sein«, korrigierte ihn mild sein Vater.
»Vielleicht war es ja die auferstandene Agiltrud«, warf Marozia ein und lachte.
»Wer war Agiltrud?« fragte Alberico.
»Was für ein Unsinn! Erzähl dem Jungen keine Schauermärchen.« Sein Vater hatte sich kurz Marozia zugewandt, bevor er wieder seinen Sohn ansprach. »Deine Mutter meint eine Frau, an die sie sich selbst kaum erinnern dürfte.« Alberich goß sich Wein nach und trank einen kräftigen Schluck. »Dummes Weibergeschwätz!« stieß er noch aus.
»Kein dummes, sondern zutreffendes Weibergeschwätz«, sagte Marozia spitz. »Ich spreche von der früheren Herrin von Spoleto, deren älterer Sohn auf eurer gemeinsamen Jagd und deren jüngerer durch deine Klinge starb – worauf du die Herrschaft in der Markgrafschaft … antreten konntest.«
»Du hast ihn getötet?« fragten Giovanni und Alberico wie aus einem Mund.
»Er hat mich herausgefordert und beleidigt.«
»Sag ihnen auch, wie alt der Junge damals war!«
Alberich nahm einen weiteren großen Schluck, wischte sich anschließend gründlich den Mund ab und griff nach einem Stück Hühnerschenkel.
»Papa, wie alt war er?« fragte Giovanni.
»Und wie hast du ihn abgestochen?« fragte Alberico.
»Ich habe ihn nicht abgestochen«, antwortete sein Vater unwirsch. »Es war Notwehr.«
»Roms größter Schwertkämpfer gerät gegenüber einem vierzehnjährigen Knaben in Notwehr«, höhnte Marozia und fügte in gespielter Bewunderung an: »Euer Vater war damals ein Herkules an Mann, der sogar eure Großmutter auf einem Arm in die Luft stemmen konnte. Heute muß er dagegen seine Verletzung pflegen, die ihm eine kinderliebende Wölfin zugefügt hat.«
»Mama, warum sagst du das so höhnisch?« Alberico ergriff die Partei seines Vaters. »Die Wunde war tief und blutete stark.«
»War dieser Junge wirklich nicht älter als wir?« fragte Giovanni nach.
»Eure Mutter war damals sieben Jahre alt und weiß nicht, wovon sie spricht.« Alberich bemühte sich, die Fassung zu bewahren.
»Er hieß im übrigen Wido«, fügte sie bedeutungsvoll an.
In das entstehende Schweigen hinein wandte sich Marozia dem aufmerksam lauschenden Gast zu, als sei ihr Mann plötzlich Luft. Sie reichte ihm mit bezauberndem Lächeln eine Schüssel mit Süßigkeiten, und ihr Gast dankte, ebenso lächelnd, nahm eine in Honig eingelegte Frucht, obwohl er noch dabei war, einen Hühnerknochen abzunagen.
»Erzähl von deiner Familie, liebster Wido!« flötete sie. »Ich erinnere mich gut an deinen charmanten und fröhlichen Vater. Starb er nicht kurz vor unserem Feldzug gegen die Sarazenen?«
Wido nickte: »Er starb leider viel zu früh. Ich habe ihn sehr vermißt …«
»O wie ich dich verstehe«, fiel sie ihm ins Wort. »Auch ich vermisse meinen Vater … Und deine Mutter?«
»Sie ist die Tochter des Königs von Lotharingien und heißt Bertha«, kommentierte Alberich.
Unsere kleine Berta errötete.
»Ja, meine Mutter lebt noch«, sagte Wido. »Ich habe auch einen jüngeren Bruder, Lambert. Wir sind nur ein Jahr auseinander und mögen uns sehr.«
Die Kinder hörten aufmerksam zu, vermutlich, weil aus jedem von Widos Worten seine ehrlichen Gefühle sprachen.
»Lambert!« stieß Marozia in übertriebener Überraschung aus. »So hieß ja auch der Spoletaner, Widos älterer Bruder, der bei der Jagd tödlich verletzt wurde, weil Alberich den Eber nicht rechtzeitig abstechen konnte – welch seltsame Fügung!«
Unser Gast lächelte nur.
»Widos älterer Bruder heißt Hugo, er ist Graf von Arles und Herrscher der Provence«, mischte sich Alberich erneut, mit tiefer Furche zwischen den Augen, ins Gespräch. »Dieser Hugo, ein fähiger Mann, vertritt König Ludwig den Blinden, der nicht immer blind war.« Alberich wandte sich belehrend an seine Kinder: »Er wurde heimtückisch überfallen und geblendet, und wißt ihr, von wem? Von Berengar persönlich, den kürzlich der Dolch traf, den er seit langem verdiente. So soll es allen Verrätern und Usurpatoren gehen! Nicht wahr, mein Freund?«
Wido nickte nachdenklich und nahm einen Schluck Wein. »Hugo ist aber nur mein Halbbruder. Meine Mutter war früher mit Hugos Vater verheiratet, bevor dieser starb. Wir trafen uns einmal in unserem Leben, und das ist lange her.«
»Aber ihr habt euch sicher gut verstanden, was? Brüder müssen zusammenhalten!« rief Alberich aus, während er seine Söhne auffordernd anschaute. »Blut verbindet, merkt euch das, ihr Burschen!«
Marozia überging die Worte ihres Mannes und wandte sich an Wido: »Du bist noch jung, liebster Freund, und bereits der mächtigste Mann in Mittelitalien. Da Berengar jetzt den Weg alles Irdischen gegangen ist, könntest du der nächste König oder gar Kaiser werden. Es wird Zeit, daß endlich einer von uns die Herrschaft übernimmt und unser noch immer zersplittertes und zerstrittenes Land eint. Dieser Burgunder Rudolf, auf den die Herren des Nordens setzen, ist sicherlich nur ein Mann des Übergangs, oder was denkst du?«
Wido hatte, gemeinsam mit Alberich, kurz aufgelacht und legte den Hühnerknochen beiseite. »Das sehen wir genauso«, antwortete er. »Mit guten Freunden an meiner Seite könnte ich tatsächlich König werden.« Er schaute Alberich auffordernd an.
»Auf mich kannst du dich verlassen.«
»Nicht nur König, Wido!« rief Marozia. »Kaiser! Wenn mein kleiner Giovanni erst einmal Papst ist, wird er dich krönen, nicht wahr, mein Goldschatz?«
Ihr Ältester nickte schüchtern.
Wido griff nach der süßen Frucht, die Marozia ihm gereicht hatte, biß mit schlürfenden Lippen hinein und schaute ihr dabei tief in die Augen.
Noch heute sehe ich den jungen Wido vor mir, wie ihm der Saft der Frucht von den Lippen tropfte, wie Marozia darüber hell auflachte und ihm dann einen so eindeutigen Blick zuwarf, als wolle sie ihn vor aller Augen in ihr Schlafgemach ziehen. Angelo hatte offensichtlich ihre verderblichen Begierden angestachelt, aber nicht ausreichend befriedigen können, und ich sah eine Wiederholung dessen voraus, was Theodora ihrer Tochter vorgelebt hatte. Doch wiederholt sich die Geschichte nur selten, insbesondere dann nicht, wenn man als Tochter die Mutter übertreffen möchte. Marozias Versuch führte auf jeden Fall, so sehe ich dies heute, direkt ins Unglück.
Ich frage mich, was den schönen Wido – immerhin sechs Jahre jünger als Marozia – bewogen haben mochte, sich auf das folgende Ehebruch-Spiel mit der Frau seines Freundes und mächtigsten Verbündeten einzulassen. Sank er nur einfach hin, von ihr gezogen? Gab er als Mann mit strotzenden Kräften dem Zaubergesang einer Sirene nach? Bei allem verführerischem Liebreiz, den Marozia auszustrahlen vermochte, mußte er sich der Gefahr bewußt sein, in die er sich begab.
Doch der Markgraf von Spoleto war verletzt, bereits vor der Verwundung durch die Wölfin. Wie jeder Leitwolf durch Zeichen von Schwäche die Nebenbuhler und möglichen Nachfolger anzieht, so mochte auch Wido spüren, daß Alberich nicht mehr die Kraft besaß, seine Herrschaft über Herde und Weib zu behaupten.
Nach dem Sieg über die Sarazenen konnte er sich, solange Theophylactus lebte, in der Rolle des römischen Kronprinzen sonnen. Nach dem Tod seines väterlichen Förderers und Freundes gelang es ihm gleichwohl nicht, von Papst Johannes zum Konsul ernannt zu werden, was nicht viel über Macht und Einfluß besagte, jedoch ein Zeichen dafür war, daß sein Stern zu sinken begann. Auch Marozia unterstützte ihn nicht ausreichend bei seinem Bemühen, das päpstliche Amt des superista, durch das er die Palastwache des Lateran befehligt hätte, zu erhalten. Es gab keine Unruhen oder Kriege, für die man ihn benötigte.
Dafür traf ihn vor Theodoras Verschwinden die erniedrigende und niederschmetternde Nachricht, daß er nicht der Vater seines ältesten Sohnes sei. Vielleicht brachte ihn diese Erkenntnis zum Stolpern. Er wurde zu Alberich, dem Gehörnten, der kaum noch Witze erzählte, dafür selbst Gegenstand von Witzen in Kurie und Volk wurde. Dabei übertrieb man maßlos Marozias wollüstige Verirrungen.
Sein Ruf wurde auch nicht durch den Mord besser, auf den das Geschehen, scheinbar unaufhaltsam, zusteuerte.
Ich möchte mich an Mutmaßungen über seine Hintergründe nicht beteiligen, weil sie zu den traurigsten Kapiteln meines Berichts gehören. Ich möchte nicht den Männern Material liefern, die sich, angestiftet von Marozias Gegnern, in absehbarer Zeit daran machen werden, das Ansehen des Hauses Theophylactus in den Schmutz zu ziehen. Ich habe meine Mariuccia immer geliebt, selbst wenn ich sie nicht verstand, selbst wenn ich ihr Verhalten mißbilligte, sogar verurteilte – ich habe sie geliebt wie den Zwilling meines abwesenden, von verklärtem Licht überstrahlten Sohns. In manchen Stunden, in denen meine Stimmung so düster war wie die Gruft, in der wir hausen, sah ich in ihr sogar mich selbst, die ich hätte werden können – und erschrecke tödlich vor diesem Antlitz hinter der lächelnden Maske.
Ich habe auch Alberich geschätzt, obwohl mir sein lautes Soldatenwesen fremd war. Er gehörte nicht zu den skrupellos wortbrüchigen Ränkeschmieden, von denen es unter den Mächtigen der italischen Völker so wimmelt, und nicht zu denen, die sich an Folter und Blendung ihrer Gegner ergötzen.
Nachdem Alberich die Wahrheit über Giovanni erfahren hatte, rührte er Marozia nicht mehr an, weilte selten in unserem Palast, ging wochenlang mit oder ohne seine Freunde auf Jagd.
Nun war er verletzt zurückgekehrt, und seine Wunde wollte nicht heilen. Im Gegenteil, sie entzündete sich, und Alberich wurde von heftigem Fieber befallen. Nach einer Weile begann die Wunde zu stinken, so daß er sich in einen Seitentrakt des Palasts zurückzog. Außer mir pflegte ihn Wido, der an manchen Tagen nicht von seiner Seite weichen wollte. Worüber die beiden sprachen, entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich weiß, daß sie lange und intensiv miteinander sprachen. Auch Alberico saß häufig am Bett seines Vaters, und anschließend begegnete er seiner Familie, sogar mir, verschlossen und verängstigt, dann wiederum trotzig und wütend.
Ich schrieb von einem Ehebruch-Spiel, doch sollte ich meine Worte korrigieren. Es handelte sich um keine Tändelei, Marozia wurde von einer verschlingenden Liebe ergriffen, und ich glaube, daß sie, von Alexandros abgesehen, keinem Mann so zugetan war wie Wido. Daß dabei die geschlechtliche Erregung eine wichtige Rolle spielte, darüber hinaus Widos charmante Jugend, sein Reichtum und die Erkenntnis, er könne einmal der mächtigste Mann Italiens werden, spricht nicht gegen die Echtheit ihrer Liebe, die rasch auch Wido erfaßte.
Die beiden verhielten sich diskreter, als Theodora und Papst Johannes es getan hatten. Keine Lustschreie drangen durch Türen und Wände; nie sah man sie in verfänglichen Umarmungen oder gar in Küsse versunken. Ganz gegen ihr sonstiges Verhalten weihte mich Marozia nicht in ihre Gefühlsstürme ein und berichtete nichts über die Nächte mit Wido. Dies tat sie erst viel später.
Den ersten Schock traf die ganze familia, als Angelo mit abgeschnittener Männlichkeit und einem Dolch in der Brust im hinteren Teil unseres Parks aufgefunden wurde. Wido weilte noch als Gast im Palast, und ich, die ich als procuratrix geglaubt hatte, ein besonders gutes und offenes Verhältnis mit der Dienerschaft und den Sklaven zu pflegen, hatte zuvor keine Hinweise und Warnungen erhalten und stand auch nach der Entdeckung des Toten vor einem Rätsel. Natürlich schwirrten Gerüchte durch den Palast wie Fledermäuse auf der Suche nach Beute, böse Gerüchte, die sich an Marozia und Wido festklammerten, dann Alberich streiften, sich in der Küche niederließen und schließlich den Pferdestall aufsuchten.
Wir ließen Angelo ordentlich beisetzen und spendeten seiner sündigen, ohne die Segnungen der Kirche dahingegangenen Seele eine bedeutende Zahl an Fürbitten. Die Unruhe in der familia blieb jedoch, und wie ich kurz darauf während meiner regelmäßigen Besuche bei dem mittlerweile halbblinden Aaron erfuhr, hatten die Gerüchte Volk, Adel und Kurie erfaßt. Das Volk malte sich altrömische Orgien in unserem Palast aus, die Adelsfamilien schienen an der Führungsrolle des Hauses Theophylactus zu zweifeln, und von Papst Johannes hörte man bezeichnenderweise gar nichts. In der Kurie schien sich etwas vorzubereiten, was die problematisch gewordene Allianz zwischen dem Sitz Petri und unserem Haus in Frage stellte. Dies vermutete ich zumindest, und Aaron wollte mir nicht widersprechen.
Marozias Schwager Crescentius, unser viceclominus, erschien nur noch zu rein geschäftlichen Unterredungen und vermied dabei ostentativ das Thema Angelo. Seine Gemahlin Theodora ließ sich mit ihren Töchtern überhaupt nicht mehr blicken, ließ sich sogar verleugnen, als Marozia ihr einen Besuch am Kapitol abstatten wollte.
Alberich spürte trotz seines Fiebers und des stinkenden Arms, daß etwas geschehen müsse. Er erhob sich von seinem Krankenbett, grau und eingefallen, und wollte die Untersuchung des Mordes selbst in die Hand nehmen. Mit jedem einzelnen Mitglied der familia beabsichtigte er zu sprechen; keiner dürfe vor den Verhören den Palast verlassen, ordnete er an. Mich bat er, seine Verhöre zu protokollieren und ihn bei der Suche nach dem Mörder zu unterstützen.
»Bist du sicher, Alberich«, fragte ich ihn, »daß du nicht lieber die Sache auf sich beruhen lassen solltest? Angelo wird nicht wieder ins Leben zurückgerufen, für das Heil seiner Seele haben wir einiges getan …«
»Ich will die Wahrheit herausfinden«, unterbrach er mich. »Unser Haus ist eine Mördergrube – und auf mir bleibt der Mordverdacht hängen, wenn ich nichts unternehme. Das weißt du genau. Ich habe Angelo aber nicht ermorden lassen, ich wußte nicht einmal Genaues über ihn, weiß noch immer kaum etwas.«
Er tat mir leid, so abgemagert und knochig, wie er aussah, so verzweifelt über den Ehrverlust, den seine ganze Haltung ausdrückte. Und doch war seine Nähe wegen des Gestanks der schwärenden Wunde nur schwer auszuhalten.
»Die Wahrheit!« Marozia lachte höhnisch, als sie von Alberichs Motiv für seine Untersuchung hörte. »Er inszeniert diese Untersuchung, um den Verdacht von sich abzulenken.«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich.
Auch Wido glaubte es nicht. Er sprach ein letztes Mal lange unter vier Augen mit Alberich, dann verkündete er der heftig protestierenden und schließlich schmollenden Marozia, er müsse nach Lucca zurückkehren.
»Du liebst mich nicht mehr! Ich bin dir zu alt!« rief sie in meinem Beisein. Er warf einen warnenden Blick auf mich, doch Marozia winkte ab: »Vor Aglaia habe ich keine Geheimnisse. Ihr würde ich sogar den Mord an Angelo gestehen. Aber ich habe niemanden dazu angestiftet, also gibt es nichts zu gestehen. Und dich, Liebster, brauche ich mehr denn je.«
Wido nahm sie in den Arm. »Ich muß schon deshalb zurück, weil die Truppen der Ungarn Berengars Tod zum Anlaß genommen haben, wieder in Norditalien einzufallen und die Po-Ebene zu verwüsten. Wenn sie auf die Idee kommen, Tuszien ausrauben zu wollen, muß ich gewappnet sein.« Er gab Marozia einen Kuß auf die Stirn. »Pflege mir Alberich gut! Vielleicht brauchen wir noch einen starken Heerführer. Niemand sollte die ungarischen Barbarenhorden und ihre Gier unterschätzen.«
Kaum war Wido mit seinem kleinen Troß abgereist, wollte Alberich ein Gespräch mit seiner Gemahlin über Angelo führen. Marozia lachte ihn nur aus. »Wenn du zu den Pferdeknechten gehst, nimm die Peitsche mit und zieh jedem so lange eins über, bis er zu sprechen beginnt. Im Stall verkehrte Angelo besonders gern.«
Da Alberich von Tag zu Tag schwächer wurde, riet ich ihm dringend ab, seine Befragungen fortzusetzen. Ich tat es auch deshalb, weil unterdessen die ganze Stadt von den Vorgängen im Hause der Marozia und ihres ›Gehörnten‹ sprach, wie mir Aaron berichtete. Er bestätigte zudem Widos Hinweise auf den Einfall der Ungarn. »Sie müssen schrecklich hausen, so schlimm wie die Sarazenen.«
Die Erwähnung der Sarazenen löste in mir ein Erschrecken aus, das Aaron sofort bemerkte.
»Die Ungarn werden nicht bis Rom vorrücken«, sagte er beruhigend, »und schon gar nicht seine Mauern überwinden. Aber es droht euch eine andere Gefahr.«
Ich schaute ihn forschend an und wartete auf eine Erläuterung.
»Ihr habt in Pietro einen entschlossenen Gegner. Wenn die Stimmen, die mir etwas zuflüstern, nicht lügen, plant er einen Schlag gegen Marozia und ihre Familie.«
»Aber ist uns Johannes nicht zu Dankbarkeit verpflichtet? Ohne Theodora wäre er nie Papst geworden. Noch immer sind wir die reichste und mächtigste der Adelsfamilien in Stadt und Umland. Und wer ist Pietro? Marozia hält ihn nicht für den Bruder des Papstes, sondern für seinen … Gespielen.«
»Bruder oder Gespiele – als arcarius und saccellarius bestimmt er über die Gelder der Kurie, zudem ist er kürzlich zum praefectus und magister militum ernannt worden, befehligt somit nicht nur als superista die päpstliche, sondern auch die städtische Miliz; er ist der erste Ratgeber und Erfüllungsgehilfe des Papstes, der mächtigste Mann in Rom, verstehst du?«
Ich hatte verstanden. Aaron brauchte nicht darauf hinzuweisen, daß der kranke Alberich keine Stütze der Macht mehr darstellte.
Als ich auf den Aventin zurückkehrte, hatte Alberich die Befragung der Pferdeknechte ergebnislos abgebrochen und lag im Bett, kaum ansprechbar.
Ich ließ sofort den besten Arzt von Rom kommen, einen Juden aus Syrien, der in Bagdad seine Kunst gelernt hatte. Bereits als er in Alberichs stinkenden Krankenraum trat, schien er zu wissen, was er zu tun habe. Er schickte nach zwei Helfern, und noch am Abend ließ er Alberichs linken Arm abbinden und ihm einen Opiumtrank verabreichen. Als die Helfer eine Säge aus ihrer Tasche holten, verließ ich den Raum. Unsere Köchin war die einzige Person unserer familia, die in der Lage und bereit war, dem Arzt bei der Amputation zu helfen und das abgetrennte Glied anschließend in der hintersten Ecke des Parks zu verbrennen.
Wir hatten Alberich vorsorglich die Letzte Ölung spenden lassen, doch der Barmherzige schien ein Einsehen zu haben. Als Alberich zum ersten Mal wieder die Augen aufschlug, schickte ich einen Boten zum Heiligen Vater, benachrichtigte ihn von der Amputation und bat ihn, dem Todkranken geistlichen Beistand zu leisten.
Der Heilige Vater weile nicht in Rom, wurde uns bedeutet, arcarius, saccellarius und superista Pietro jedoch schließe Markgraf Alberich in seine Gebete ein und wünsche ihm baldige Genesung mit Gottes Hilfe.
Einige Tage ging es Alberich besser. Er ließ sich eine leichte Hühnerbrühe einflößen und trank einen Schluck Wein.
Dann mußten wir erneut den Arzt holen.
Sorgenvoll hielt er seine Hand an die Stirn des Kranken, schaute sich seine Augen und die Zunge an, ließ sich den letzten Urin zeigen und prüfte die Wunde. Auf einen Aderlaß verzichtete er. Leise sprach er von dem Ratschluß des Allmächtigen, dem wir alle, Christen, Juden und Sarazenen, gehorchen müßten.
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, als ich zum ersten Mal nach Alberich schaute, waren seine trüben Augen auf mich gerichtet, die Lippen bewegten sich. Ich ordnete an, kalte Tücher zu holen, und flößte ihm selbst ein wenig Wasser ein.
»Hol Marozia und meine Kinder«, flüsterte er. »Und einen Becher Wein!«
Als erster war Alberico zur Stelle. Dann erschien Marozia mit Giovanni und Berta. Nun eilte auch der Priester unserer familia herbei und bereitete eine weitere Letzte Ölung vor.
Der Becher stand unangerührt auf einem Schemel neben Alberichs Kopf.
Er winkte Marozia herbei, die sich zögernd zu ihm setzte.
»Ich weiß, daß ich dir nie genügt habe«, flüsterte er kaum verständlich. »Und doch habe ich dich verehrt …« Mit letzter Kraft brachte er ein »und geliebt« heraus.
Marozias Augen füllten sich mit Tränen, ohne daß sie etwas sagen konnte. Giovanni und Berta standen hinter ihrer Mutter, starr und hilflos. Nur Alberico warf sich schluchzend vor dem Bett seines Vater auf die Knie, griff nach seiner Hand, schrie »nein, nicht sterben!« Alberich drehte ihm seinen Kopf zu, bewegte seine Lippen, und es sah so aus, als wollte er ein letztes Mal, nach langer Zeit wieder, lachen. Aber ihn erfaßte nur ein erstickendes Husten. Sein Oberkörper schien sich aufrichten zu wollen, wie von einer inneren Kraft geschüttelt, der Mund stand offen und stieß kaum verständliche Laute aus. Ich bin sicher, daß er die Wölfin, die Wölfin sagen wollte.
Kraftlos fiel er zurück.
Der tapfere Alberich, der Vater unserer Kinder, hatte seine letzte Reise angetreten.
Kurz nach Alberichs Tod erschien, obwohl noch gar nicht benachrichtigt, Papst Johannes, mit Pietro an seiner Seite, sprach der Witwe, seiner ›liebsten Tochter‹, sein tiefempfundenes Mitgefühl über den schweren Verlust aus, der ganz Rom und auch das Haus Gottes treffe – ›besonders in diesen schweren Zeiten, in denen ruchlose Feinde von neuem ihr freches Haupt erheben‹. Er segnete Alberichs Söhne, vornehmlich Giovanni, und hielt eine kurze Gebetsandacht, bei der er sich von dem jungen Diaconus assistieren lassen wollte. Doch unser Sohn war derart verwirrt, daß er keinen der ihm übertragenen Texte mehr auswendig wußte, die liturgischen Handlungen durcheinander warf und schließlich sogar das Weihrauchfaß zu Boden fallen ließ. Selbst unser Hauspriester hatte Giovanni nicht helfen können, trotz aller Versuche, ihm vorzuflüstern, was er zu sagen und zu tun habe.
Marozia wand sich vor Peinlichkeit, doch der Heilige Vater zeigte sich milde und verständnisvoll, während Pietro unter höhnischem Lächeln für Giovanni einsprang, obwohl er nur eine der unteren Weihestufen erreicht hatte.
Bei der drei Tage später stattfindenden Totenmesse in Sancta Maria und der darauffolgenden Beisetzung in der Familiengruft spielte Giovanni seine Rolle besser. Mittlerweile war auch sein Mönchs-Bruder Konstantin aus dem Kloster Farfa eingetroffen, stand aber abseits, neben Pietro, der sich ebenfalls bei der Zelebrierung der Eucharistie zurückhielt.
Marozia verhielt sich gefaßt. Nur Alberico wurde derartig von haltlosen Anfällen der Trauer überwältigt, daß ich ihn zu mir nahm und an mich drückte, damit er nicht weiter durch sein Schluchzen den Verlauf der Messe störe.
Wer noch lebte von Alberichs alten Kampfgefährten, war ausnahmslos erschienen, während die Grafen aus seinem Spoletaner Herrschaftsbereich, vermutlich erst spät benachrichtigt, nicht gerade vollzählig ihrem Herrn die letzte Ehre erwiesen. Diejenigen, die erschienen waren, wußten nicht recht, wohin sie sich stellen sollten: in die Nähe der Witwe, des Sohns und möglichen Nachfolgers Alberico oder gar der päpstlichen Verwaltung, die offiziell über Titel und Herrschaft der Markgrafschaft zu befinden hatte, da diese zum Patrimonium Petri gehörte.
Marozia hatte ihrem Geliebten Wido von Tuszien unverzüglich nach Alberichs Ableben einen Boten geschickt und ihn gebeten, nach Rom zu eilen und ihr in dieser schweren Stunde beizustehen. Doch Wido war geschickt genug, nicht vor der Beisetzung zu erscheinen. Wahrscheinlich wäre es ihm bei der Kürze der Zeit auch nicht möglich gewesen. Ich glaube aber, er wollte all den umlaufenden Gerüchten keine zusätzliche Nahrung geben.
Es ist schwer zu sagen, wer bei den folgenden Verwicklungen der Treibende oder der Getriebene war, wer die Fäden zog und wer sich in ihnen verstrickte oder gar durch sie gefesselt wurde.
Ich benutze das blutleere Wort Verwicklungen und sehe doch ein blutiges Drama vor mir ablaufen, bei dem die Widersacher kein Gefühl für das Angemessene zeigten und kein Maß mehr halten konnten, Tugenden, die uns die griechischen und römischen Philosophen so eindringlich predigten und einprägten. Auch die christlichen Tugenden wurden mit Füßen getreten. Bestraft wurden letztlich alle: Wer triumphierte, mußte stürzen; wer darniederlag, durfte siegen. Und wer zum Schluß noch Haupt und Glieder erheben konnte, um sich auf den Thron zu schleppen, wurde nach einer so hochmütigen Dummheit herabgestoßen, daß das Erhabene dieser Tragödie im Lächerlichen einer Groteske unterging.
Bei dem feierlichen Mahl, das sich an die Beisetzung anschloß, ging es vorerst sehr gedämpft zu. Alberico hatte sich gefangen, saß stumm zur Linken seiner Mutter, die, ungebeugt in ihrer weiblichen Fülle, die Haare sorgsam gekämmt, geflochten und mit einem Seidenschleier bedeckt hatte. Zwei goldene Schmetterlingsgehänge mit mattglänzender Perle zierten ihre Ohren. Auf ihrer hochgeschlossenen Brust lag ein in Gold gefaßter Edelsteinschmuck, und an den Handgelenken berührten sich Armbänder mit weichen Klängen. Wie meist hatte sie sich intensiv schminken lassen. Da ich mich um die Kinder gekümmert hatte, war ich überrascht, als sie in der augenumrandeten Weise der Kleopatra erschien – wie einst ihre Mutter.
Neben Alberico hatten seine Tante Theodora und deren Gatte Crescentius mit den drei hübschen Grazien Platz genommen, dann folgte ich mit Berta. Neben unserer jungen Tochter saßen Aaron und sein Enkel Jakob, der seinen Großvater, unterdessen ein kahlköpfiger Abraham mit langem, schlohweißem Bart, zum Sitz geleitet hatte und ihm auch Speis und Trank reichen mußte, weil dieser kaum noch etwas sah.
Rechts neben Marozia hockte ihr Lieblingssohn Giovanni. Sie hatte versucht, den Heiligen Vater direkt anschließen zu lassen und zwischen ihn und Pietro unseren Konstantin, den zweiten der Kirche geweihten Sohn, zu plazieren – um zu verhindern, daß die beiden sich womöglich besprachen oder, ganz allgemein, eine Einheit bildeten. Dies war ihr jedoch nicht gelungen. Papst Johannes bestand darauf, daß die beiden Brüder neben ihrer Mutter saßen und Pietro ihm zur Seite. Die restlichen Würdenträger der Kurie, Kardinäle und Bischöfe, Adelsvertreter aus der Via Lata und diverse Grafen füllten die restlichen Plätze unserer Tafel und weitere Tische.
Während die Gerichte gereicht und verspeist wurden, kam ein Gespräch, das sich an einer der drängenden politischen Fragen festhakte, nicht auf. Dies änderte sich nach Ende der Fleisch- und Fischgänge: Die Gäste hatten nun dem Wein kräftig zugesprochen und delektierten sich an den Süßspeisen.
Marozia, in statuarischer Schönheit am Tisch thronend, wandte sich an den Heiligen Vater und sprach Alberichs Nachfolge für Spoleto an. Nach kurzer Einleitung konstatierte sie: Daß Alberico als Sohn seines Vaters die Markgrafschaft von Spoleto und Camerino übernehme, dazu den Titel magister militum, verstehe sich von selbst, bedürfe allein der formalen Bestätigung durch die päpstliche Kanzlei. Obwohl sie nicht sehr laut gesprochen hatte, hatte offensichtlich die gesamte Tafel sie verstanden, und es kehrte unverzüglich Stille ein. Im Ton einer königlichen Verkündigung fuhr sie fort: »Da unser Sohn Alberico erst in einem Jahr mündig wird, werde ich so lange die Vormundschaft übernehmen und damit die Herrschaft in Spoleto.«
Ich bin mir nicht sicher, ob sich Marozia wirklich als faktische Herrscherin Roms und der Markgrafschaft Spoleto fühlte und daher glaubte, ihre Vorstellungen diktieren zu können, oder ob sie durch ihre Äußerung diesen Anspruch anmelden wollte. Immerhin war sie eng mit dem reichen Tuszien liiert, wie jeder wußte.
Der Papst und sein angeblicher Bruder warfen sich einen kurzen Blick des Einverständnisses zu, der Heilige Vater nahm einen Schluck aus dem kostbaren Glas, das er als einer der wenigen erhalten hatte, und lächelte Marozia an, während Pietro sich kurz räusperte und vage von einer Zwischenlösung bis zu Albericos Volljährigkeit sprach, »die, verehrte Senatrix, den augenblicklichen Verhältnissen am besten entspricht.«
»Was für Verhältnisse?« fragte Marozia gereizt.
»Meine Tochter«, antwortete der Papst im freundlichen Ton, »für deine Verdienste um die Ewige Stadt und das Patrimonium Petri werden Wir dir den Titel der vestaratrix palatini verleihen, den bereits deine Mutter trug. Aufgaben und Kosten sind damit nicht verbunden, er soll allein die Wertschätzung zeigen, die Wir für dich hegen, und deine innige Verbundenheit mit der Kurie.«
»Ich danke Euch, ehrwürdiger Vater, für diese Wertschätzung, denke jedoch, daß sich aus ihr mit großer Selbstverständlichkeit die Übertragung der Markgrafschaft auf die Familie meines verschiedenen Gatten ergibt. Sogenannte Zwischenlösungen zeigen keine Wertschätzung, sondern das Gegenteil, und dies kann nicht in Eurem Sinne sein.«
Aaron beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir zu: »Ich spüre, daß tödlicher Streit in der Luft liegt. Marozia soll in eine Falle gelockt werden – und ist dabei, in sie hinein zu tappen.«
»Was kann ich tun?« flüsterte ich zurück.
Möglichst unauffällig ließ ich Berta mit Aaron den Platz wechseln, so daß der Alte neben mir saß und Berta neben dem freundlichen Jakob.
»Marozia muß sich zurückhalten. Eine Auseinandersetzung in dieser Öffentlichkeit schafft Positionen, die man nicht mehr ohne Gesichts- und Ehrverlust aufgeben kann. Genau das strebt der Papst an.«
»Und Pietro?«
»Ist die treibende Kraft hinter ihm.«
Mir war nicht klar, was Aaron meinte, weil ich mir nicht vorstellen konnte, worauf die Auseinandersetzung hinauslaufen würde. Aaron dagegen durchblickte wie ein blinder Teiresias oder ein alttestamentarischer Prophet die Strategie von Papst und Pietro. Weil ich noch nachdachte, zögerte ich aufzustehen, um Marozia eine Warnung ins Ohr zu flüstern. Ich hätte ihr erklären müssen, worum es ging.
»Selbstredend liegt es nicht in meinem Sinne, meine Tochter«, unterbrach Papst Johannes mein Nachdenken, »weil meine Wertschätzung über jeden Verdacht erhaben ist, doch kursieren im Volk von Rom und unter der Priesterschaft böse Gerüchte über den so tragisch Verstorbenen – Gott sei seiner armen Seele gnädig –, daß ich es gerade wegen meiner Wertschätzung für opportun erachte, die Gerüchte aus dem Weg zu räumen, bevor dein Sohn den ihm angemessenen Titel erhält.«
Ich wollte nicht glauben, was Papst Johannes mit samtener Vaterstimme von sich gab. Begriffsstutzig, wie ich in diesem Augenblick war, begriff ich noch immer nicht, worauf er hinauswollte.
»Die Falle schnappt zu!« sagte Aaron, leise zwar, doch so laut, daß Marozia seine Äußerung verstehen mußte. Sie schaute irritiert zu ihm herüber, aber nicht nur sie, so daß ich ihr kein Zeichen geben konnte. Ihre Irritation wog gleichwohl nur gering im Vergleich zu dem Zorn, der wegen der päpstlichen Andeutung hochschoß.
Noch einmal versuchte Aaron einzugreifen. Diesmal sagte er lauter: »De mortuis nil nisi bene.«
Sofort entstand ein erregtes Gemurmel unter den Anwesenden, das Pietro mit schneidender Stimme übertönte: »Wagt der ungläubige Jude etwa, den Heiligen Vater belehren zu wollen? Weiß er nicht, daß er und sein wucherisches Tun in dieser Stadt nur geduldet werden, weil der Heilige Vater in seiner christlichen Großmut …«
»Laß gut sein, Pietro«, mischte sich der Papst ein, »unser jüdischer Freund weiß, wovon ich spreche, sonst hätte er sich nicht so gefährlich belehrend geäußert.« Wie bisher lächelte er und ließ seine Stimme alle Freundlichkeiten tragen.
Wer auch immer am Tisch ahnte, worum es ging – die Beleidigung unseres Hauses stand im Raum und mußte geklärt werden.
»Was für Gerüchte?« fuhr Marozia Papst Johannes an.
Eine atemlose Stille entstand.
»Unser jüdischer Geldleiher hat recht: Über Tote soll man nur Gutes sagen.«
Ich begann zu begreifen, was hier für ein Spiel gespielt wurde. Marozia begriff es nicht oder wollte es nicht begreifen. Sie war jedoch geschickt genug, zu rufen: »Dann sag nur Gutes! Ich warte.«
Leider war der Ton dem Papst gegenüber nicht angemessen, und es war vorhersehbar, daß Pietro eingriff. »Der Heilige Vater ist es nicht gewöhnt, daß ein Weib ihm derart über den Mund fährt.«
Marozia brach in schrilles Gelächter aus.
»Ein Weib«, fuhr Pietro mit erhöhter Stimme fort, »über dessen soeben vor Gottes Richterstuhl tretenden Gatten gemunkelt wird, daß er nach der Ermordung des rechtmäßigen Kaisers Berengar die Ungarn ins Land rufen wollte …«
Pietro konnte nicht weiterreden, weil mehrere Freunde und Weggenossen Alberichs »Unerhört!« und »Verfluchte Lüge!« schrien.
Marozia stieß, fast stimmlos, aus: »Das ist so ungeheuerlich, daß ich …« Sie verstummte mitten im Satz.
Rasch verschaffte Pietro sich wieder Gehör: »Ist es vergessen, daß Markgraf Alberich seinen Titel durch den Mord an dem rechtmäßigen Erben der Spoletaner Dynastie erwarb, verliehen von einem wohlmeinenden, doch allzu willfährigen Hirten Gottes?«
Diesmal unterblieben die Protestrufe, weil die Anklage – zudem in diesem Raum und zu diesem Zeitpunkt – so ungeheuerlich war, daß sie nur mit dem Schwert geahndet werden konnte. Ich schaute auf Alberico, der, bleich geworden, zitterte, auf Giovanni, der hilflos grinste, auf Crescentius, der, ebenso wie seine Frau, erstarrt war.
»O Gott!« brach es aus mir heraus, »ihr werdet doch wohl nicht …« Auch ich konnte meinen Satz nicht zu Ende sprechen.
Nun hatte sich Marozia wieder gefangen. Ihr Antlitz war gerötet vor heiligem Zorn, ihre Haltung drückte Kampfbereitschaft und tödliche Entschlossenheit aus. »Zu welchem Zweck hätte Alberich mit den Ungarn paktieren sollen?«
»Ganz einfach: Er wollte König und Kaiser werden. Waren die norditalischen Landschaften und Städte erst einmal verwüstet, hätte er sich mit seinem Kumpanen Wido von Tuszien zusammentun können, um Schutz gegen die Ungarn zu versprechen. Seine Bedingung: Wahl zum König! Anschließend hätte er den Heiligen Vater mit vorgehaltenem Schwert gezwungen, ihn zum Kaiser zu wählen. Unser allmächtiger und gerechter Gott indes hat seinen ruchlosen Plan durchkreuzt.«
Bisher hatte ich Pietro für einen raffinierten Ränkeschmied gehalten, doch jetzt sah ich an der Reaktion der Anwesenden und an seiner Miene, mit der er sich selbstgefällig umsah, daß er lediglich dummdreist und längst über sein Ziel hinausgeschossen war.
Der Papst schien zurückrudern zu wollen. »Der Frieden des Herrn liege über diesem Haus«, sagte er in die erneut aufflammenden Protestrufe hinein und hob seine Hand wie zum Segen. »Ich sagte bereits«, wandte er sich an Marozia, nun mit entschiedener Stimme, »daß dies alles Unterstellungen und Gerüchte sind, die Wir nicht glauben, mit denen Wir uns gleichwohl auseinandersetzen müssen, um den Frieden in der Stadt zu erhalten. Ist dies nicht auch dein Ziel, liebste Tochter?«
Hätte es in unserer Familie einen einzigen Mann von Ehre gegeben, er hätte diesen Pietro an seiner seidenen Dalmatika gepackt und ihn eigenhändig aus Raum und Palast geworfen. Oder er hätte den Dolch gezückt, um die Ehre des Beleidigten, der sich nicht mehr wehren konnte, zu rächen. Indes, in diesem Raum gab es vielleicht den einen oder anderen Dolch, doch keinen wirklichen Mann. Auch Crescentius sah sich nur hilflos nach seinen Adelsfreunden um, die abwartend reagierten: die einen insgeheim schadenfroh darüber, daß offensichtlich die Macht des Hauses Theophylactus gestürzt werden sollte, die anderen amüsiert wie über ein Schauspiel.
Und Alberico? Er schien aufspringen zu wollen. Tränen der Wut standen in seinen Augen. Ihm gegenüber die höhnischen Mienen der Prälaten, die vermutlich nicht allein an die Ungarn und an Agiltruds jüngsten Sohn dachten.
Marozia legte ihm die Hand auf den Arm und erwiderte dem Papst, zu meiner Überraschung und dem Erstaunen zahlreicher Anwesenden: »Ihr habt recht, Heiliger Vater, Frieden und Wohlergehen in der Stadt wie unter den Völkern Italiens sind mir wie Euch ein Anliegen. Und damit niemand glaubt, ich persönlich strebe die Herrschaft über Spoleto an, will ich gern auf die Vormundschaft verzichten, bis Alberico, der Sohn des untadeligen und ehrenhaften Markgrafen Alberich, nächstes Jahr volljährig wird. Bis dahin werden alle Gerüchte zerstreut und diejenigen, die sie böswillig in die Welt gesetzt haben, ihrer gerechten Strafe zugeführt sein.«
Sie klang beherrscht und zugleich berechnend, und sie hatte nun, so glaubte ich zumindest, die richtige Strategie gefunden, um der ungeheuerlichen Attacke des Pietro auszuweichen und ihr zugleich die Stirn zu bieten.
»Ich bitte Euch jedoch, Heiligster Vater, den Ernst Eurer zuvor geäußerten Versprechungen vor allen Zeugen und in Erinnerung an meine Mutter Theodora zu bekräftigen und mir zuzusichern, Alberico bei Volljährigkeit in seine Rechte als Markgraf von Spoleto einzusetzen. Ich wünsche nicht mehr, aber auch nicht weniger.«
Wieder erhob sich Gemurmel, das zu aufgeregtem Durcheinanderreden anschwoll, es wurde sogar versteckt gelacht.
Marozia hätte nicht an ihre Mutter erinnern dürfen.
»Meine geliebte Tochter«, antwortete der Papst in eisiger Ruhe, »wir wollen es dabei belassen, den Frieden zu wahren und die Toten zu ehren.«
Mir war nicht klar, was er mit seiner Aussage bezweckte. Aber bevor ich zu einem Schluß kam, sprang Pietro auf und wies mit einer theatralischen Geste auf Alberico, dann während seiner Äußerung auf Giovanni: »Dein Sohn Alberico, verehrte Marozia, Tochter des Theophylactus, hat überhaupt keinen Anspruch darauf, Nachfolger des Alberich zu werden, weil er nicht sein Sohn ist.« Den aufbrausenden Lärm überschrie er: »Weder der erste noch der zweite deiner Söhne ist in sittlicher Ehe gezeugt, sondern im adulterium – und dies mit einem Papst!«
Nun brach das Chaos los. Alle sprangen auf, schrien durcheinander, fuchtelten mit den Fäusten, manche zückten sogar ihren Dolch. Nur Marozia und der Papst wie auch die Kinder waren sitzen geblieben. Marozia erstarrt, halb zurückgelehnt, mit Blick auf Pietro, der sich hinter dem Papst verschanzt hatte und ihren Gegenangriff erwartete.
Es dauerte lange, bis sich der Tumult so weit gelegt hatte, daß Marozia sprechen konnte: »Richtig ist, daß Giovanni von Papst Sergius gezeugt wurde, richtig ist aber auch, daß Alberico, wie jeder von euch durch den bloßen Augenschein erkennen kann, der wahre Sohn seines Vaters ist. Und so wahr ich die Tochter meiner Eltern bin, verspreche ich euch, daß Alberico seinem Vater als Herr über Spoleto nachfolgen wird; und ich verspreche euch außerdem, daß Giovanni in die Fußstapfen seines Vaters treten wird, um dereinst als Papst die Geschicke der Christenheit zu lenken.«
Hohngeschrei von den Anhängern des Pietro unterbrach ihre Rede. Papst Johannes, eine Spur bleicher geworden, schaute sie ernst an.
Schließlich konnte sie ihre Worte wieder aufnehmen: »Richtig ist ferner, daß dieser Papst, der hier vor euch sitzt, der langjährige Geliebte meiner Mutter war und nur durch sie den Stuhl Petri erklimmen konnte, richtig ist sogar, daß er jetzt ein sodomitisches Verhältnis mit dieser Kreatur pflegt« – sie zeigte auf Pietro – »und daher kein moralisches und schon gar kein pontifikales Recht hat, sich über andere zu erheben. Jeder von euch kennt mich und meine Sünden, und ich bekenne mich zu ihnen, aber jeder von euch dürfte auch soviel Verstand besitzen, in diesem Heuchler und angeblichen Bruder des Papstes das zu erkennen, was er in Wirklichkeit ist: ein bösartiger Usurpator, dem der von mir geliebte und verehrte Heilige Vater Johannes zu erliegen droht.« Noch einmal mußte Marozia ihre Stimme heben, weil sie sonst nicht mehr verstanden worden wäre. »Der Heilige Vater Johannes, auf dessen Schoß ich als Kind saß, der mich bereits als Kind streichelte …«
»Verfluchte Hure!« überschrie Pietro sie und den Tumult. »Du hast dich mit deinem Sklaven im Bett gewälzt und ihn nach dem Genuß deiner tierischen Brunst ermorden lassen. Du hast dich dem jungen Markgrafen von Tuszien an den Hals geworfen, deinen kranken Mann mit ihm betrogen und dann vergiftet – so war es! Nicht nur der Himmel wird dich richten, sondern auch die irdische Gerechtigkeit wird dir die Strafe zukommen lassen, die du verdienst, elende Mörderin!«
Er riß den Papst aus seinem Stuhl hoch und schob ihn hastig dem Ausgang zu. Sofort bildete sich eine Traube von Kurialen um sie, die sie vor den Fäusten derjenigen schützte, die zu Marozia hielten. Ich beugte mich schützend über Aaron, weil in dem Getöse und Getümmel die Tafel umzustürzen drohte und die Menschen übereinander fielen. Berta war bleich geworden und schien sich verkriechen zu wollen, doch Jakob zog sie auf die Beine und legte schützend seinen Arm um sie. Die Töchter der Theodora schrien in heller Angst wie die Hühner. Alberico versuchte, sich mit seinen Fäusten durch die Menschenleiber hindurchzuschlagen, um sich auf Pietro zu stürzen. Giovanni war ebenfalls aufgesprungen und drückte sich ängstlich an die Wand. Nur Marozia saß noch und starrte vor sich hin, als müßte sie einen Entschluß fassen, vor dem sie sich ihr Leben lang gefürchtet hatte.
Als der Papst und sein giftiger Adlatus sich mit all den Kardinälen und Prälaten bereits durch die Tür nach draußen quetschten, drehte sich Pietro unter Aufbietung all seiner Kräfte um, reckte den Arm, als rufe er den Herrn zum Zeugen an, und schrie mit gellender Stimme: »Das goldene Kreuz des Belisar, das ihr aus der heiligen Basilika des Lateran gestohlen habt, möge dir und deiner gesamten Familie zum Fluch werden!«
Marozia saß noch immer an dem verwüsteten Tisch, über den der Rotwein blutrot geflossen war.
»Das bedeutet Krieg«, hörte ich sie flüstern. »Ihr oder ich, nur einer wird überleben.«