IX.II
Ihr Körper schläft in Capulets Begräbnis
Und ihr unsterblich Teil lebt bei den Engeln
Als ich Siena am Vortag mit Alessandro verlassen hatte, wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ich so bald, so dreckig und mit gefesselten Händen zurückkehren würde. Außerdem hatte ich definitiv nicht damit gerechnet, dass mich meine Schwester und mein Vater begleiten würden, ganz zu schweigen von den drei Schlägertypen, die aussahen, als wären sie gerade dem Todestrakt entronnen - und zwar nicht mit Gnadengesuchen, sondern mit Dynamit.
Es bestand kein Zweifel daran, dass Umberto, auch wenn er diese Männer beim Vornamen kannte, ebenso ihre Geisel war wie wir. Sie warfen ihn genau wie Janice und mich in den Laderaum ihres kleinen - und höchstwahrscheinlich gestohlenen -Blumen-Lieferwagens, wo wir ziemlich hart auf dem Metallboden landeten. Da wir alle an den Händen gefesselt waren, dämpfte lediglich ein Potpourri aus verfaulenden Blumenresten unseren Fall.
»Hey!«, protestierte Janice an Umberto gewandt. »Wir sind immerhin deine Töchter, oder etwa nicht? Sag ihnen, dass sie uns nicht so behandeln dürfen. Also ehrlich ... Jules, sag was zu ihm!«
Aber mir fiel nichts Passendes ein. Es kam mir vor, als stünde um mich herum plötzlich die ganze Welt köpf... Oder vielleicht war mit der Welt alles in Ordnung, und nur ich allein war kopfüber gekippt. Während ich noch krampfhaft versuchte, Umbertos Wandlung vom Helden zum Schurken zu verarbeiten, galt es nun zusätzlich zu verdauen, dass er auch mein Vater war, was mich fast wieder an meinen Ausgangspunkt und zu meinem ursprünglichen Problem zurückkatapultierte: Ich liebte ihn, obwohl ich das definitiv nicht sollte.
Erst als die Ganoven die Türen hinter uns zuschlugen, fiel mein Blick auf ein weiteres Opfer, das sie wohl unterwegs schon irgendwo eingeladen hatten. Der Mann saß geknebelt und mit verbundenen Augen in einer Ecke. Hätte er nicht diese besondere Kleidung getragen, hätte ich ihn bestimmt nicht erkannt. Nun endlich fand ich die Sprache wieder und rief spontan: »Bruder Lorenzo! Mein Gott, sie haben Bruder Lorenzo entführt!«
In dem Moment setzte sich der Lieferwagen mit einem Ruck in Bewegung, und die nächsten paar Minuten verbrachten wir damit, auf dem gerillten Boden der Ladefläche hin und her zu rutschen, während der Fahrer uns durch die Wildnis von Moms Zufahrt chauffierte.
Als das Geholpere schließlich ein Ende hatte, stieß Janice einen tiefen, bekümmerten Seufzer aus. »Also gut«, sagte sie laut in die Dunkelheit hinein, »du hast gewonnen, die Steine gehören dir ... oder denen. Wir wollen sie sowieso nicht. Wir werden dir helfen und alles tun, was diese Typen von uns verlangen. Du bist schließlich unser Dad, nicht wahr? Da müssen wir doch zusammenhalten! Sie brauchen uns nicht ... umzubringen. Oder?«
Sie bekam auf ihre Frage keine Antwort.
»Die wissen doch hoffentlich«, fuhr sie mit zittriger Stimme fort, »dass sie die Statue ohne uns nie finden ...«
Umberto gab ihr noch immer keine Antwort. Das brauchte er auch gar nicht. Obwohl wir den Banditen bereits von dem angeblichen Geheimeingang in Santa Maria della Scala erzählt hatten, waren sie wohl immer noch der Meinung, dass wir ihnen bei der Suche nach den Edelsteinen von Nutzen sein könnten, denn sonst hätten sie uns bestimmt nicht mitgenommen.
»Was ist mit Bruder Lorenzo?«, fragte ich.
Endlich bequemte sich Umberto zu einer Antwort. »Was soll mit ihm sein?«
»Nun hör aber auf«, sagte Janice, deren Lebensgeister langsam zurückkehrten, »glaubst du wirklich, der arme Kerl kann da irgendwie helfen?«
»Oh, der wird schon noch singen.«
Als Umberto hörte, wie wir wegen seines gleichgültigen Tonfalls beide nach Luft schnappten, stieß er ein Geräusch aus, das fast nach einem Lachen klang, wahrscheinlich aber keines war. »Was zum Teufel habt ihr erwartet?«, grunzte er. »Dass sie einfach ... aufgeben? Ihr hattet Glück, dass wir es zuerst auf die nette Art versucht haben ...«
»Auf die nette Art... ?«, begann Janice entrüstet, doch ehe sie richtig loslegen konnte, gelang es mir, ihr das Knie warnend in die Seite zu rammen.
»Leider«, fuhr Umberto fort, »hat unsere kleine Julia ihre Rolle nicht richtig gespielt.«
»Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass ich eine Rolle spielen soll!«, antwortete ich, obwohl es mir derart die Kehle zuschnürte, dass ich die Worte kaum herausbrachte. »Warum hast du es mir nicht gesagt? Warum musste das alles auf diese Art ablaufen? Wir hätten schon vor Jahren gemeinsam auf Schatzsuche gehen können. Womöglich hätten wir dabei sogar ... Spaß gehabt.«
»Oh, verstehe!« Umberto rutschte unruhig hin und her. Allem Anschein nach fühlte er sich in der Dunkelheit genauso unbehaglich wie wir. »Ihr glaubt also, dass es mir darum geht? Hierher zurückzukommen und alles zu riskieren, indem ich Scharaden mit alten Mönchen spiele und mich von diesen Arschlöchern herumschubsen lasse, nur um nach ein paar alten Steinbrocken zu suchen, die sich wahrscheinlich schon vor Hunderten von Jahren verflüchtigt haben? Ich glaube nicht, dass euch klar ist ...«Er seufzte. »Nein, natürlich ist euch das nicht klar. Warum, glaubt ihr, habe ich euch von Tante Rose wegbringen und in den Staaten aufziehen lassen? Hmm? Ich sage euch, warum. Weil sie euch gegen mich benutzt hätten ... um mich dazu zu bringen, wieder für sie zu arbeiten. Es gab nur eine einzige Lösung: Wir mussten verschwinden.«
»Meinst du mit sie ... die Mafia?«, fragte Janice.
Umberto lachte verächtlich. »Die Mafia! Verglichen mit diesen Leuten ist die Mafia so harmlos wie die Heilsarmee. Als sie mich damals rekrutierten, brauchte ich dringend Geld, und wenn sie einen erst einmal am Haken haben, entkommt man ihnen nicht mehr. Jedes Mal, wenn man zappelt, dringt der Haken nur noch tiefer ein.«
Ich hörte Janice Luft holen und zu einem ihrer zickigen Kommentare ansetzen, schaffte es aber irgendwie, sie erneut zum Schweigen zu bringen, indem ich ihr in der Dunkelheit eine mit dem Ellbogen verpasste. Umberto zu provozieren und einen Streit vom Zaun zu brechen war bestimmt nicht der richtige Weg, uns auf das vorzubereiten, was vor uns lag. Was auch immer das sein mochte.
»Lass mich raten«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Sobald sie uns nicht mehr brauchen ... ist es vorbei?«
Umberto zögerte. »Cocco schuldet mir einen Gefallen. Ich habe ihn einmal am Leben gelassen. Ich hoffe, er wird sich dafür erkenntlich zeigen.«
»Wenn, dann verschont er höchstens dich«, bemerkte Janice kalt. »Was ist mit uns?«
Nun folgte eine lange Pause. Zumindest erschien sie mir lang. Erst jetzt drang durch das Motorengeräusch und das allgemeine Rattern zu mir durch, dass im Hintergrund jemand leise betete. »Und was«, fügte ich rasch hinzu, »ist mit Bruder Lorenzo?«
»Wir können nur hoffen«, antwortete Umberto schließlich, »dass Cocco seinen großzügigen Tag hat.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Janice. »Wer sind diese Typen überhaupt, und warum lässt du zu, dass sie uns das antun?«
»Das«, erwiderte Umberto müde, »ist nicht gerade eine Gutenachtgeschichte.«
»Rein zufällig liegen wir hier auch nicht gemütlich im Bett«, gab Janice zurück. »Also erzähle uns doch, lieber Vater, was zum Teufel im Feenland falsch gelaufen ist!«
Als Umberto schließlich zu reden anfing, gab es für ihn kein Halten mehr. Es war, als hätte er all die Jahre darauf gewartet, uns die Geschichte erzählen zu können, doch nun, da er es endlich tat, verschaffte es ihm offenbar keine große Erleichterung, denn je länger er sprach, umso bitterer klang er.
Wie wir von ihm erfuhren, hatte sein Vater, der als Graf Salimbeni bekannt gewesen war, immer über die Tatsache geklagt, dass seine Frau, Eva Maria, ihm nur ein einziges Kind gebar. Deswegen hatte der Graf beschlossen, dafür zu sorgen, dass sein Sohn nicht verwöhnt wurde, sondern eine durchweg strenge Erziehung genoss. Gegen seinen Willen an einer Militärakademie untergebracht, floh Umberto schließlich nach Neapel, um sich dort einen Job zu suchen und vielleicht Musik zu studieren. Schon bald aber ging ihm das Geld aus, und er begann sich seinen Lebensunterhalt mit Jobs zu verdienen, die andere nicht anzunehmen wagten. Wie sich herausstellte, war er darin sehr gut, so dass er binnen kurzer Zeit zehn maßgeschneiderte Anzüge, einen Ferrari und eine noble Wohnung ohne störendes Mobiliar besaß. Er fühlte sich wie im Paradies.
Als er schließlich zurückkehrte, um seine Eltern im Castello Salimbeni zu besuchen, behauptete er, Börsenmakler geworden zu sein, und konnte seinen Vater dazu bewegen, ihm seinen Ausstieg aus der Militärakademie zu verzeihen. Ein paar Tage später gaben seine Eltern ein großes Fest. Unter ihren Gästen waren auch Professor Tolomei und dessen junge amerikanische Assistentin Diane.
Umberto entführte Diane direkt von der Tanzfläche zu einer Spritztour bei Vollmond. Damit begann ein langer, schöner Sommer. Bald verbrachten sie jedes Wochenende zusammen und machten Ausflüge durch die Toskana. Als er sie schließlich einlud, ihn in Neapel zu besuchen, sagte sie ja. Dort führte er sie ins beste Restaurant der Stadt aus und gestand ihr bei einer Flasche Wein, womit er in Wirklichkeit seinen Lebensunterhalt verdiente.
Diane war so entsetzt, dass sie weder seine Erklärungen noch seine Entschuldigungen hören wollte. Sobald sie wieder in Siena war, schickte sie ihm alles zurück, was sie von ihm bekommen hatte - Schmuck, Kleider, Briefe -, und ließ ihn wissen, dass sie nie wieder ein Wort mit ihm sprechen wollte.
Danach sah er sie über ein Jahr nicht mehr, und als es schließlich doch zu einem Wiedersehen kam, war es ein großer Schock für ihn. Diane schob einen Kinderwagen mit Zwillingen über den Campo von Siena, und jemand erzählte ihm, sie sei mittlerweile mit Professor Tolomei verheiratet. Umberto wusste sofort, dass er der Vater der Zwillinge war. Als er zu Diane hinging und sie zur Rede stellte, wurde sie blass und antwortete, ja, er sei der Vater, aber sie wolle nicht, dass ihre Töchter von einem Kriminellen aufgezogen würden.
Da tat Umberto etwas Schreckliches. Er erinnerte sich daran, dass Diane ihm im Zusammenhang mit Professor Tolomeis Forschung von einer Statue mit Edelsteinaugen erzählt hatte, und da er vor Eifersucht ganz krank war, erzählte er die Geschichte ein paar Leuten in Neapel. Es dauerte nicht lange, bis sein Boss ebenfalls davon hörte und ihn drängte, Professor Tolomei aufzusuchen und mehr über die Sache in Erfahrung zu bringen. Begleitet von zwei anderen Männern tat Umberto, wie ihm geheißen. Die drei warteten, bis Diane und die Zwillinge aus dem Haus waren, ehe sie an die Tür klopften. Der Professor verhielt sich zunächst sehr höflich und bat sie hinein, doch als er erfuhr, warum sie gekommen waren, wurde er schnell abweisend.
Da er nicht reden wollte, versuchten es Umbertos Partner mit etwas Druck auf den alten Mann, der daraufhin einen Herzanfall bekam und starb. Natürlich war Umberto deswegen sehr erschrocken, doch seine Versuche, den Professor wiederzubeleben, blieben vergebens. Er schickte die beiden anderen zurück nach Neapel und erklärte ihnen, er werde dort wieder zu ihnen stoßen. Sobald sie weg waren, steckte er das Haus in Brand, weil er hoffte, mit der Leiche des Professors auch seine ganze Forschungsarbeit zu verbrennen, so dass die Geschichte von der goldenen Statue ein Ende hätte.
Nach dieser Tragödie beschloss Umberto, mit seiner krimineuen Vergangenheit zu brechen und mit dem Geld, das er verdient hatte, wieder in der Toskana zu leben. Ein paar Monate nach dem Brand suchte er Diane auf und erklärte ihr, dass er inzwischen ein ehrlicher Mann sei. Zuerst glaubte sie ihm nicht und beschuldigte ihn, bei dem dubiosen Brand, durch den ihr Mann ums Leben gekommen war, die Finger im Spiel gehabt zu haben. Doch Umberto war fest entschlossen, sie zurückzugewinnen, und schließlich gab sie nach, obwohl sie nie völlig von seiner Unschuld überzeugt war.
Zwei Jahre lang lebten sie fast wie eine Familie zusammen, und Umberto nahm Diane sogar mit, wenn er zum Castello Salimbeni fuhr. Natürlich erzählte er seinen Eltern nie die Wahrheit über die Zwillinge, und sein Vater war fuchsteufelswild, weil er nicht heiratete und eigene Kinder bekam. Denn wer sollte einmal Castello Salimbeni erben, wenn Umberto kinderlos blieb?
Es wäre eine glückliche Zeit gewesen, hätte sich Diane nicht immer besessener mit dem alten Familienfluch beschäftigt, den sie »Hol der Henker unsere beiden Häuser« nannte. Sie hatte Umberto schon bei ihrer ersten Begegnung davon erzählt, aber er hatte es damals nicht ernst genommen. Nun musste er endlich einsehen, dass diese schöne Frau - die Mutter seiner Kinder - von Natur aus eine sehr nervöse und zwanghafte Person war und die Strapazen der Mutterschaft das nur noch verschlimmerten. Anstelle von Kinderbüchern las sie den kleinen Mädchen immer wieder Romeo und Julia vor, bis Umberto irgendwann hereinkam und ihr das Buch sanft aus der Hand nahm. Doch wo er es auch versteckte, sie fand es immer wieder.
Wenn die Zwillinge schliefen, zog sie sich stundenlang zurück und versuchte, die Ergebnisse von Professor Tolomeis Forschung hinsichtlich der Familienschätze und des Grabes von Romeo und Giulietta zu rekonstruieren. Die Edelsteine interessierten sie nicht, sie wollte nur ihre Töchter retten. Sie war überzeugt davon, dass die kleinen Mädchen aufgrund der Tatsache, dass sie eine Tolomei-Mutter und einen Salimbeni-Vater hatten, durch Bruder Lorenzos Fluch doppelt gefährdet waren.
Umberto hatte keine Ahnung, wie dicht Diane davor stand, den Ort der Grabstätte ausfindig zu machen, als eines Tages ein paar von seinen alten Kumpanen aus Neapel bei ihnen auftauchten und Fragen stellten. Da Umberto wusste, dass diese Männer wahre Teufel waren, sagte er zu Diane, sie solle mit den Zwillingen durch eine Hintertür verschwinden und sich verstecken, während er versuchte, den Männern zu erklären, dass weder er noch Diane etwas wussten.
Als aber Diane hörte, wie sie ihn verprügelten, kam sie mit einer Waffe zurück, bereit, die Männer zu erschießen. Ungeübt, wie sie war, traf sie nicht. Stattdessen drehten die Männer den Spieß um und erschossen sie. Danach erklärten sie Umberto, das sei nur der Anfang. Sollte er ihnen die vier Edelsteine nicht beschaffen, würden sie sich als Nächstes seine Töchter holen.
An diesem Punkt der Geschichte platzten Janice und ich genau gleichzeitig heraus: »Du hast Mom also nicht getötet?«
»Natürlich nicht!«, fauchte Umberto. »Wie konntet ihr das nur denken?«
»Vielleicht«, antwortete Janice mit gepresster Stimme, »weil du uns bisher auf der ganzen Linie belogen hast?«
Umberto stieß einen tiefen Seufzer aus und legte sich erneut anders hin. Offenbar fand er keine Position, in der er sich wohlfühlte. Frustriert und müde nahm er seine Geschichte wieder auf und erzählte uns, Dianes Tod habe ihm das Herz gebrochen, und er habe überhaupt nicht gewusst, was er tun sollte, nachdem die Männer das Haus wieder verlassen hatten. Auf keinen Fall wollte er die Polizei oder einen Priester kommen lassen und riskieren, dass irgendwelche Bürokraten ihm die Mädchen wegnahmen. Deshalb fuhr er Dianes Leiche schließlich an einen einsamen Ort, wo er den Wagen von einer Klippe schieben und es so aussehen lassen konnte, als wäre sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er legte sogar noch ein paar Sachen der Mädchen ins Auto, um die Leute glauben zu machen, sie wären ebenfalls gestorben. Anschließend brachte er die Mädchen zu ihren Taufpaten, Peppo und Pia Tolomei, machte sich aber rasch wieder aus dem Staub, ehe die Tolomeis Fragen stellen konnten.
»Moment mal!«, warf Janice ein. »Was war mit der Schusswunde? Hätte die Polizei denn nicht merken müssen, dass Mom schon vor dem Autounfall tot war?«
Umberto zögerte einen Moment und antwortete dann widerstrebend: »Ich habe den Wagen in Brand gesteckt. Ich dachte, sie würden da nicht weiter nachforschen. Warum sollten sie auch? Sie bekommen ihr Gehalt ja sowieso. Doch irgend so ein Presse-Klugscheißer fing an, Fragen zu stellen, und ehe ich es mich versah, wollten sie mir alles in die Schuhe schieben - den Tod des Professors, den Brand, den Tod eurer Mutter ... ja sogar den von euch beiden! Lieber Himmel!«
Wie Umberto uns weiter erzählte, hatte er noch am selben Abend Tante Rose in den Staaten angerufen und sich als Polizeibeamter aus Siena ausgegeben. Er erklärte ihr, dass ihre Nichte gestorben sei und die kleinen Mädchen sich bei Verwandten aufhielten, wo sie aber nicht sicher seien, so dass es am besten wäre, wenn sie umgehend käme und sie hole. Nach diesem Telefonat fuhr er hinunter nach Neapel und stattete zuerst Dianes Mördern einen Besuch ab und dann auch den meisten anderen, die von dem Schatz wussten. Dabei versuchte er nicht einmal, seine Identität zu verbergen. Er wollte das Ganze als Warnung verstanden wissen. Der Einzige, den er am Leben ließ, war Cocco. Er brachte es einfach nicht übers Herz, einen Neunzehnjährigen zu töten.
Danach verschwand er für viele Monate, während die Polizei überall nach ihm suchte. Am Ende setzte er sich in die Staaten ab, um die Mädchen ausfindig zu machen und sich davon zu überzeugen, dass es ihnen gut ging. Er hatte keine konkreten Pläne. Nachdem er herausgefunden hatte, wo sie lebten, blieb er einfach in ihrer Nähe und wartete auf eine passende Gelegenheit. Ein paar Tage später sah er eine Frau im Garten herumwandern und Rosen schneiden. In der Annahme, dass es sich um Tante Rose handelte, trat er auf sie zu und fragte, ob sie bei der Gartenarbeit vielleicht Hilfe gebrauchen könne. So fing es an. Sechs Monate später zog Umberto, der sich bereiterklärt hatte, für wenig mehr als Kost und Logis zu arbeiten, als Vollzeitkraft ein.
»Ich glaube es einfach nicht!«, platzte ich heraus. »Hat sie sich denn nie gefragt, warum du ... rein zufällig in der Gegend warst?«
»Sie war einsam«, murmelte Umberto, nicht gerade stolz auf sich. »Zu jung für eine Witwe, aber zu alt für eine Mutter. Sie wollte mir einfach glauben.«
»Und Eva Maria? Wusste sie, wo du warst?«
»Ich blieb mit ihr in Kontakt, habe am Telefon aber nie gesagt, wo ich mich gerade aufhielt. Und die Wahrheit über euch beide habe ich ihr auch nie erzählt.«
Wie Umberto uns nun erklärte, hatte er damals befürchtet, Eva Maria könnte - hätte sie von ihren zwei Enkeltöchtern gewusst - darauf bestehen, dass wir alle wieder nach Italien kamen. Ihm war klar, dass er nie zurückkehren durfte. Die Leute würden ihn wiedererkennen, und zweifellos würde sich die Polizei trotz seines falschen Namens und Passes sofort auf ihn stürzen. Außerdem kannte er seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie, selbst wenn sie nicht auf unserer Rückkehr bestand, einen Weg finden würde, uns Mädchen zu sehen. Dadurch aber wäre unsere Sicherheit gefährdet gewesen. Andererseits hätte Eva Maria, wäre sie nicht in der Lage gewesen, uns zu sehen, höchstwahrscheinlich den Rest ihres Lebens damit verbracht, sich nach den Enkeltöchtern zu sehnen, die sie nicht kennenlernen durfte. Am Ende wäre sie an gebrochenem Herzen gestorben und hätte zweifellos Umberto die Schuld daran gegeben. Aus all diesen triftigen Gründen hatte er ihr niemals die Wahrheit gesagt.
Im Lauf der Jahre aber gelangte Umberto allmählich zu der Überzeugung, dass endgültig Gras über seine schlimme Vergangenheit in Neapel gewachsen war. Diese Illusion fand ein abruptes Ende, als er eines Tages eine Limousine auf Tante Roses Haus zufahren und vor ihrer Haustür halten sah. Aus dem Wagen stiegen vier Männer, von denen Umberto einen auf den ersten Blick als Cocco wiedererkannte. Er kam nie dahinter, wie sie ihn nach all den Jahren ausfindig gemacht hatten, nahm jedoch an, dass sie jemanden von der Telefongesellschaft bestochen hatten, Eva Marias Anrufe zurückzuverfolgen.
Die Männer verkündeten, Umberto schulde ihnen noch etwas und müsse nun seinen Verpflichtungen nachkommen, ansonsten würden sie seine Töchter aufspüren und ihnen unsägliche Dinge antun. Umberto antwortete ihnen, er habe kein Geld, woraufhin sie ihn nur auslachten und an die Statue mit den vier Edelsteinen erinnerten, die er ihnen schon vor langer Zeit versprochen habe. Als er ihnen begreiflich zu machen versuchte, dass das unmöglich sei, weil er nicht nach Italien zurückkehren könne, meinten sie nur achselzuckend, das sei aber schade, denn nun mussten sie sich auf die Suche nach seinen Töchtern machen. Am Ende erklärte Umberto sich bereit, es zu versuchen, und sie gaben ihm drei Wochen Zeit, den Schatz zu finden.
Ehe sie wieder aufbrachen, wollten sie ihm noch demonstrieren, wie ernst sie es meinten. Zu diesem Zweck gingen sie mit ihm in die Diele und begannen ihn zusammenzuschlagen. Dabei stießen sie gegen die venezianische Vase auf dem Tisch unter dem Lüster, die daraufhin zu Boden fiel und in tausend Scherben zerbrach. Durch den Lärm erwachte Tante Rose, die sich zu einem Nickerchen hingelegt hatte. Als sie aus ihrem Schlafzimmer trat und sah, was vor sich ging, begann sie oben an der Treppe laut zu schreien. Einer der Männer zog eine Waffe und wollte sie erschießen, doch Umberto schaffte es, die Waffe zur Seite zu stoßen. Unglücklicherweise verlor Tante Rose vor lauter Angst das Gleichgewicht und stürzte die halbe Treppe hinunter. Als die Männer weg waren und Umberto endlich nach ihr sehen konnte, war sie bereits tot.
»Die arme Tante Rose!«, rief ich aus. »Und zu mir hast du gesagt, sie sei friedlich eingeschlafen!«
»Ja, da habe ich dich angelogen«, räumte Umberto mit gepresster Stimme ein. »In Wirklichkeit ist sie meinetwegen gestorben. Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dir das gesagt?«
»Es wäre mir lieber gewesen«, erwiderte ich leise, »du hättest uns die Wahrheit gesagt. Und zwar schon Vorjahren.« Ich hielt einen Moment inne, um tief Luft zu holen, weil mir meine Emotionen noch immer den Hals zuschnürten. »Vielleicht hätten wir das alles dann vermeiden können.«
»Vielleicht. Aber dafür ist es nun zu spät. Ich wollte nicht, dass ihr Bescheid wisst ... Ich wollte, dass ihr ein glückliches Leben führen könnt, wie ganz normale Menschen.«
Umberto erzählte uns, wie er an dem Abend nach Tante Roses Tod bei Eva Maria in Italien angerufen und ihr alles erzählt hatte - sogar, dass sie zwei Enkeltöchter habe. Als er sie anschließend fragte, ob sie irgendeine Möglichkeit sehe, ihm zu helfen, die Ganoven auszuzahlen, antwortete sie ihm, innerhalb von nur drei Wochen könne sie unmöglich so viel Geld flüssig machen. Zuerst wollte sie die Polizei und ihren Patensohn Alessandro einschalten, aber Umberto wusste es besser. Es gab nur einen einzigen Weg aus diesem Dilemma: zu tun, was diese Arschlöcher sagten, und die verdammten Steine zu finden.
Letztendlich erklärte sich Eva Maria bereit, ihm zu helfen, und versprach, sich durch irgendeinen Trick die Unterstützung der Lorenzo-Bruderschaft in Viterbo zu sichern. Ihre einzige Bedingung war, dass sie, wenn alles vorbei war, endlich ihre Enkeltöchter kennenlernen konnte, diese aber nie von all den Verbrechen ihres Vaters erfahren durften. Damit war Umberto einverstanden. Er hatte sowieso nie gewollt, dass die Mädchen von seiner kriminellen Vergangenheit erfuhren. Genau aus diesem Grund hatte er ihnen ja sogar verschwiegen, dass er ihr Vater war. Er befürchtete, dass sie, sollten sie jemals hinter dieses Geheimnis kommen, auch alles andere herausfinden würden.
»Aber das ist doch lächerlich!«, widersprach ich. »Hättest du uns die Wahrheit gesagt, hätten wir es bestimmt verstanden.«
»Meinst du?«, antwortete Umberto bedrückt. »Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Tja«, mischte Janice sich in scharfem Ton ein, »das werden wir nun niemals wissen.«
Umberto ignorierte ihren Kommentar und erzählte einfach weiter. Demnach war Eva Maria gleich am nächsten Tag nach Viterbo gefahren, um mit Bruder Lorenzo zu sprechen, und hatte durch dieses Gespräch in Erfahrung gebracht, was alles nötig war, damit ihr die Mönche bei der Suche nach dem Grab von Romeo und Giulietta halfen. Bruder Lorenzo erklärte ihr, sie müsse ihn und seine Mitbrüder zu einer bestimmten Zeremonie einladen, die dazu diene, die Sünden der Salimbenis und Tolomeis »zu sühnen«. Anschließend werde er sie und die anderen reuigen Sünder dann zu dem Grab führen, damit sie vor der Jungfrau Maria knien und sie um Gnade bitten konnten.
Das einzige Problem war, dass Bruder Lorenzo nicht ganz genau wusste, wie man zu dem Grab gelangte. Ihm war bekannt, dass es irgendwo in Siena einen geheimen Eingang gab, und er kannte auch den weiteren Weg bis zum Grab, doch wo genau sich der Eingang befand, wusste er nicht. Irgendwann einmal, so erzählte er Eva Maria, hatte ihn eine junge Frau namens Diane Tolomei aufgesucht, die behauptete, herausgefunden zu haben, wo der Eingang sei, sich aber weigerte, es ihm zu verraten, weil sie befürchtete, die falschen Leute könnten die Statue finden und zerstören.
Sie hatte außerdem behauptet, sie sei auch auf den Cencio aus dem Jahre 1340 gestoßen und habe damit ein Experiment vor: Ihre kleine Tochter Giulietta sollte sich zusammen mit einem Jungen namens Romeo auf den Cencio legen, weil das ihrer Meinung nach irgendwie dazu beitragen würde, die Sünden der Vergangenheit ungeschehen zu machen. Bruder Lorenzo war nicht so sicher, dass das funktionieren würde, erklärte sich aber bereit, einen Versuch zu wagen. Sie einigten sich darauf, dass Diane ein paar Wochen später noch einmal kommen sollte und sie sich dann gemeinsam auf die Suche nach dem Grab machen würden. Bedauerlicherweise aber fand dieses zweite Treffen nie statt.
Als Eva Maria Umberto das alles berichtete, keimte in ihm die Hoffnung auf, dass ihr Plan wirklich funktionieren könnte. Soweit er wusste, hatte Diane eine Truhe mit wichtigen Dokumenten in der Bank im Palazzo Tolomei deponiert. Er war sicher, dass sich in diesen Papieren ein Hinweis auf den geheimen Eingang zum Grab finden würde.
»Ihr müsst mir glauben«, sagte Umberto, weil er wahrscheinlich meinen Zorn spürte, »dass ich euch wirklich nicht in die Sache mit hineinziehen wollte, aber da mir nur noch zwei Wochen blieben ...«
»Hast du mir dieses Theater vorgespielt«, sprach ich den Satz für ihn zu Ende, während ich eine völlig neue Art von Wut auf ihn empfand, »und mich in dem Glauben gelassen, das sei alles auf Tante Roses Mist gewachsen.«
»Und was ist mit mir?«, rief Janice. »Mir hat er vorgegaukelt, ich hätte ein Vermögen geerbt!«
»Du Arme!«, gab Umberto zurück. »Sei lieber froh, dass du noch am Leben bist!«
»Wahrscheinlich habe ich für deinen kleinen Plan einfach nicht getaugt«, fuhr Janice in beleidigtem Tonfall fort. »Jules war ja schon immer die Schlauere von uns beiden.«
»Jetzt hör aber auf!«, fauchte ich sie an. »Ich bin Giulietta, und ich bin diejenige, die in Gefahr war ...«
»Genug!«, bellte Umberto. »Glaubt mir, am liebsten hätte ich euch beide aus alledem herausgehalten, aber es gab einfach keine andere Möglichkeit. Deswegen beauftragte ich einen alten Kumpel damit, ein Auge auf Julia zu haben und dafür zu sorgen, dass ihr nichts passierte ...«
»Du meinst Bruno?«, keuchte ich. »Ich dachte, er sollte mich umbringen!«
»Er sollte dich beschützen«, widersprach Umberto. »Bedauerlicherweise dachte er wohl, er könnte nebenbei schnelle Kohle machen ... Bruno war ein Fehler«, fügte er seufzend hinzu.
»Und deswegen hast du ihn ... zum Schweigen bringen lassen?«, fragte ich.
»Das war gar nicht nötig. Bruno wusste zu viel über zu viele Leute. Solche Typen überleben im Knast nicht lang.« Allem Anschein nach war ihm dieses Thema ziemlich unangenehm, denn er schloss es rasch mit der Bemerkung ab, insgesamt sei alles durchaus nach Plan verlaufen, nachdem Eva Maria sich erst einmal davon überzeugt hatte, dass ich tatsächlich ihre Enkelin war und nicht nur irgendeine von ihm engagierte Schauspielerin, die sie dazu bringen sollte, ihm zu helfen. Sie war derart misstrauisch, dass sie Alessandro sogar in mein Zimmer einbrechen und eine DNA-Probe besorgen ließ. Sobald sie jedoch über den gewünschten Beweis verfügte, hatte sie sofort mit den Vorbereitungen zum Fest begonnen.
Da Eva Maria sich alle Einzelheiten des Gesprächs mit Bruder Lorenzo genau eingeprägt hatte, bat sie Alessandro, Romeos Dolch und Giuliettas Ring mit zum Castello Salimbeni zu bringen, sagte ihm aber nicht, warum. Sie wusste genau, dass er, hätte er auch nur die leiseste Ahnung von ihren Plänen, alles vereiteln würde, indem er die Carabinieri ins Spiel brachte. Am liebsten hätte sie ihren Patensohn völlig aus der ganzen Sache herausgehalten, aber da er in der Tat Romeo Marescotti war, brauchte sie ihn, damit er - ohne es zu wissen - vor Bruder Lorenzo seine Rolle spielte.
Umberto gab zu, dass es rückblickend besser gewesen wäre, wenn Eva Maria mich zumindest teilweise in ihre Pläne eingeweiht hätte. Was aber nur daran lag, dass gewisse Dinge schiefgelaufen waren. Hätte ich plangemäß den Wein getrunken und mich anschließend ins Bett gelegt und tief geschlafen, wäre alles glattgelaufen.
»Moment mal!«, unterbrach ich ihn. »Soll das heißen, sie hat mich tatsächlich unter Drogen gesetzt?«
Umberto zögerte. »Nur ein ganz klein wenig. Zu deiner eigenen Sicherheit.«
»Ich fasse es nicht! Sie ist meine Großmutter!«
»Sie hat es nur sehr widerstrebend getan, falls dich das tröstet. Aber ich konnte sie davon überzeugen, dass es die einzige Möglichkeit war, dich aus der Sache herauszuhalten. Dich und Alessandro. Leider hat er den Wein wohl ebenfalls nicht getrunken.«
»Eins verstehe ich noch nicht«, wandte ich ein. »Er hat Moms Buch aus meinem Hotelzimmer gestohlen und gestern Abend dir übergeben. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen!«
»Du irrst dich!« Umberto war zweifellos wütend auf mich, weil ich ihm widersprach, und vielleicht auch ein wenig schockiert darüber, dass ich sein heimliches Treffen mit Alessandro beobachtet hatte. »Er war nur der Überbringer. Gestern früh hat ihm in Siena jemand das Buch in die Hand gedrückt und ihn gebeten, es Eva Maria zu geben. Offenbar wusste er nicht, dass es gestohlen war, denn sonst hätte er bestimmt ...«
»Augenblick mal!«, mischte sich Janice ein. »Das ist doch völlig bescheuert. Wer auch immer der Dieb war - warum zum Teufel hat er nicht die ganze Truhe genommen? Warum nur das Taschenbuch?«
Umberto schwieg einen Moment, ehe er leise antwortete: »Weil ich von eurer Mutter wusste, dass das Buch den Code enthielt. Sie hat zu mir gesagt, falls ihr etwas zustoßen sollte ...« Er konnte nicht weitersprechen.
Eine Weile schwiegen wir alle drei, bis Janice schließlich seufzend sagte: »Tja, ich glaube, du schuldest Jules eine Entschuldigung ...«
»Jan!«, unterbrach ich sie. »Fang besser gar nicht erst davon an!«
»Aber überleg doch mal, was dir passiert ist ...«, antwortete sie stur.
»Das war meine eigene Schuld!«, gab ich zurück. »Immerhin war ich diejenige, die ...« Ich wusste nicht recht, wie ich es formulieren sollte.
Umberto grunzte. »Es ist wirklich nicht zu fassen! Habe ich euch beiden eigentlich gar nichts beigebracht? Du kennst ihn gerade mal eine Woche ... und schon gibt es kein Halten mehr! Ihr zwei wart wirklich süß!«
»Du hast uns beobachtet?« Vor Scham wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. »Das ist so ...«
»Ich brauchte den Cencio!«, erklärte Umberto. »Es wäre alles so einfach gewesen, hättet ihr beide nicht ...«
»Weil wir gerade bei dem Thema sind«, unterbrach ihn Janice, »wie viel hat Alessandro eigentlich von alledem gewusst?«
Umberto schnaubte verächtlich. »Nicht viel. Er wusste, dass Julia Eva Marias Enkeltochter ist und dass Eva Maria ihr das persönlich sagen wollte. Sonst nichts. Wie bereits erwähnt, konnten wir auf keinen Fall riskieren, dass er die Polizei einschaltete. Deswegen hat Eva Maria ihn, was den Dolch und den Ring betraf, erst kurz vor Beginn der Zeremonie aufgeklärt. Glaub mir, Julia, er war alles andere als glücklich darüber, dass sie ihn darüber so lange im Dunkeln gelassen hatte, aber sie konnte ihm begreiflich machen, wie wichtig es für sie und für dich war, eine Zeremonie durchzuführen, die - angeblich - dem Familienfluch ein Ende setzen würde. So erklärte sich Alessandro schließlich doch bereit mitzuspielen.« Umberto schwieg einen Moment, ehe er in sanfterem Ton hinzufügte: »Wie schade, dass das alles nun auf diese Weise endet.«
»Wer sagt, dass wir schon am Ende sind?«, fauchte Janice.
Umberto sprach es nicht laut aus, aber ich bin sicher, meine Schwester wusste genau wie ich, was er dachte: Oh, glaubt mir, es ist das Ende.
Während wir so dalagen, eingehüllt in bitteres Schweigen, spürte ich, wie die Schwärze von allen Seiten auf mich zukroch und durch unzählige kleine Wunden in meinen Körper eindrang, bis ich das Gefühl hatte, von Kopf bis Fuß von Verzweiflung erfüllt zu sein. Die Angst, die ich verspürt hatte, als Bruno Carrera hinter mir her war oder als Janice und ich in den Bottini festsaßen, war nichts im Vergleich zu dem, was ich nun empfand - zerrissen von Bedauern und gequält von dem Bewusstsein, dass ich keine Gelegenheit mehr haben würde, die Dinge richtigzustellen.
»Nur so aus Neugier«, murmelte Janice, deren Gedanken offenbar in eine ganze andere Richtung gingen als meine, aber vielleicht genauso verzweifelt waren, »hast du sie eigentlich je wirklich geliebt? Mom, meine ich?«
Als Umberto ihr nicht gleich eine Antwort gab, fügte sie ein wenig zaghafter hinzu: »Und hat sie ... dich geliebt?«
Umberto seufzte. »Sie hat es geliebt, mich zu hassen. Das bereitete ihr den allergrößten Genuss. Sie hat immer gesagt, es sei in unseren Genen verankert, dass wir uns ständig streiten mussten, und sie wolle es auch gar nicht anders. Sie nannte mich immer ...« - er hielt einen Moment inne, weil ihm die Stimme fast den Dienst versagte - »Nino.«
Als der Lieferwagen schließlich zum Stehen kam, hatte ich fast vergessen, wohin wir unterwegs waren, und warum. Sobald jedoch die Türen aufschwangen und vor dem Hintergrund des vom Mond beleuchteten Doms von Siena die Silhouetten von Cocco und seinen Kumpanen sichtbar wurden, kam die Erinnerung sofort zurück und traf mich wie in Tritt in den Magen.
Die Männer zerrten uns an den Knöcheln von der Ladefläche, als wären wir nichts als Gepäck, ehe sie hineinstiegen, um Bruder Lorenzo zu holen. Das alles passierte so schnell, dass ich kaum Schmerz empfand, obwohl ich ein paarmal hart auf dem gerillten Boden aufschlug. Sowohl Janice als auch ich schwankten ein wenig, als sie uns schließlich draußen abstellten, weil wir uns nach dem langen Liegen im Dunkeln beide erst wieder ans aufrechte Stehen gewöhnen mussten.
»Sieh mal!«, zischte Janice mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme. »Musikanten!«
Sie hatte recht. Nur einen Steinwurf von unserem Lieferwagen entfernt parkten drei andere Wagen, und ein halbes Dutzend Männer stand im Frack und mit Cello- oder Geigenkoffern herum und unterhielt sich, die meisten mit einer Zigarette in der Hand. Bei ihrem Anblick empfand auch ich eine Spur von Erleichterung, doch sobald Cocco auf sie zusteuerte und dabei die Hand zum Gruß hob, begriff ich, dass diese Männer nicht hier waren, um Musik zu machen, sondern zu seiner Schurkenbande aus Neapel gehörten.
Als die Männer Janice und mich erblickten, taten sie ihre Begeisterung sofort lautstark kund. Ohne sich im Geringsten um den Lärm zu kümmern, den sie veranstalteten, bemühten sie sich nach Kräften, uns durch Rufe und Pfiffe auf sich aufmerksam zu machen. Umberto unternahm gar nicht erst den Versuch, dem Spaß ein Ende zu setzen. Es stand außer Frage, dass er -und auch wir - einfach Glück hatten, noch am Leben zu sein. Erst als die Männer Bruder Lorenzo hinter uns aus dem Wagen auftauchen sahen, machte ihr Übermut so etwas wie Unbehagen Platz, und sie beugten sich alle hinunter, um nach ihren Instrumentenkoffern zu greifen wie Schuljungen nach ihren Taschen, wenn der Lehrer kommt.
Für alle anderen, die sich in dieser Nacht auf der Piazza aufhielten - und das waren eine ganze Menge, hauptsächlich Touristen und Teenager -, müssen wir ausgesehen haben wie eine normale Gruppe von Einheimischen, die von irgendeiner Festivität im Zusammenhang mit dem Palio zurückkam. Coccos Männer unterhielten sich die ganze Zeit lachend, während Janice und ich umringt von ihnen dahintrotteten - beide mit je einer großen Contraden-Flagge geschmückt, die auf höchst elegante Weise sowohl unsere Fesseln als auch die Klingen der Schnappmesser an unseren Rippen verhüllte.
Als wir uns dem Haupteingang von Santa Maria della Scala näherten, sah ich plötzlich Maestro Lippi mit einer Staffelei des Weges kommen. Seiner Miene nach zu urteilen, sann er gerade über Dinge nach, die nicht von dieser Welt waren. Da ich es nicht wagte, ihn auf uns aufmerksam zu machen, indem ich seinen Namen rief, starrte ich ihn so eindringlich an, wie ich nur konnte - in der Hoffnung, ihn auf irgendeine spirituelle Art zu erreichen. Nach einer Weile wandte er tatsächlich den Kopf in unsere Richtung, doch sein Blick glitt ohne ein Zeichen des Erkennens über uns hinweg. Enttäuscht stieß ich die Luft aus.
In dem Moment begannen die Kirchenglocken zu läuten.
Mittemacht. Bis jetzt war es eine schwülwarme, windstille Nacht gewesen, doch nun braute sich irgendwo in der Ferne ein Gewitter zusammen. Gerade als wir das bedrohlich wirkende Tor des alten Krankenhauses erreichten, fegten die ersten Windböen über den Platz und ließen Abfallfetzen, die ihnen in den Weg kamen, hochwirbeln, als suchten sie wie unsichtbare Dämonen nach etwas - oder jemandem.
Cocco verlor keine Zeit, sondern holte sofort ein Handy heraus und tätigte einen Anruf. Sekunden später erloschen die beiden großen Lampen zu beiden Seiten der Tür, und man hatte das Gefühl, als stieße der ganze Gebäudekomplex mit einem tiefen Seufzer die Luft aus. Ohne viel Aufhebens zog er einen großen schmiedeeisernen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn in das Schlüsselloch unter dem massiven Türgriff und sperrte mit einem lauten Scheppern das Tor auf.
Erst jetzt, als wir kurz davorstanden, das Gebäude zu betreten, ging mir durch den Kopf, dass Santa Maria della Scala so ziemlich der letzte Ort war, den ich mitten in der Nacht erforschen wollte, egal, ob mir jemand ein Messer an die Rippen drückte oder nicht. Obwohl dieses Bauwerk laut Umberto schon viele Jahre zuvor in ein Museum umgewandelt worden war, hatte es dennoch eine lange Geschichte der Krankheit und des Todes. Selbst für jemanden, der sich weigerte, an Geister zu glauben, gab es Grund genug, sich Sorgen zu machen, angefangen bei schlafenden Seuchenkeimen. Letztendlich aber spielte es keine Rolle, wie ich mich fühlte, denn ich hatte längst die Kontrolle über mein Schicksal verloren.
Als Cocco das Tor öffnete, rechnete ich halb mit davonhuschenden Schatten und Verwesungsgeruch, doch auf der anderen Seite empfing uns nichts als kühle Dunkelheit. Trotzdem blieben sowohl ich als auch Janice zögernd an der Schwelle stehen. Erst, als die Männer uns grob vorwärtszerrten, stolperten wir widerstrebend weiter, hinein ins Unbekannte.
Nachdem unsere ganze Schar drinnen und die Tür hinter uns wieder fest verschlossen war, gingen ein paar kleine Lichter an, weil die Männer Stirnlampen aufsetzten und ihre Instrumentenkoffer öffneten. Wie sich herausstellte, befanden sich darin keine Musikinstrumente, sondern Taschenlampen, Waffen und Elektrowerkzeuge. Sobald alles ausgeladen war, wurden die Koffer einfach zur Seite geworfen.
»Andiamo!«, rief Cocco und forderte uns mit einer Bewegung seiner Maschinenpistole auf, über das etwa hüfthohe Sicherheitstor zu steigen - was Janice und mir ziemliche Probleme bereitete, da unsere Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren. Schließlich packten uns die Männer einfach an den Armen und zerrten uns hinüber, ohne sich darum zu kümmern, dass wir vor Schmerz aufschrien, als wir mit dem Schienbein die Metallstangen entlangschrammten.
Zum ersten Mal wagte Umberto, gegen ihre Brutalität Einspruch zu erheben, indem er zu Cocco etwas sagte, das nur bedeuten konnte: Komm schon, geh mit den Mädchen ein bisschen sanfter um! Das Einzige, was ihm das einbrachte, war ein derart heftiger Schlag mit dem Ellbogen gegen die Brust, dass er sich vor Schmerzen krümmte und hustend nach Luft rang. Als ich daraufhin stehenblieb, um nach ihm zu sehen, packten mich zwei von Coccos Männern an den Schultern und zerrten mich ungeduldig weiter, wobei ihre versteinerten Mienen keinerlei Gefühlsregung verrieten.
Der Einzige, der mit so etwas wie Respekt behandelt wurde, war Bruder Lorenzo. Ihm ließ man Zeit, in Ruhe über das Tor zu steigen und sich den Rest von Würde zu bewahren, der ihm noch geblieben war.
»Warum nehmen sie ihm die Augenbinde nicht ab?«, flüsterte ich Janice zu, sobald die Männer mich wieder losgelassen hatten.
»Weil sie vorhaben, ihn am Leben zu lassen«, lautete ihre niederschmetternde Antwort.
»Schhh!«, machte Umberto mit einer Grimasse in unsere Richtung. »Je weniger Aufmerksamkeit ihr auf euch lenkt, desto besser.«
Das war in Anbetracht der Umstände leichter gesagt als getan. Janice und ich hatten seit dem Vortag nicht mehr geduscht, ja, uns noch nicht mal die Hände gewaschen, und ich steckte immer noch in dem langen roten Kleid, das ich zu Eva Marias Fest getragen hatte - auch wenn es mittlerweile einen traurigen Anblick bot. Stunden zuvor hatte Janice vorgeschlagen, ich solle doch irgendetwas aus Moms Schrank anziehen und endlich dieses Grufti-Outfit ablegen, doch als ich ihrer Bitte schließlich nachgekommen war, hatten wir den Geruch nach Mottenkugeln beide nicht ertragen. Deswegen stand ich hier nun barfuß und völlig verdreckt, aber noch immer für einen Ball gekleidet, und sollte in diesem Zustand auch noch versuchen, möglichst wenig aufzufallen.
Eine Weile folgten wir den wippenden Kopflampen schweigend durch dunkle Gänge und etliche Treppen hinunter, angeführt von Cocco und einem seiner Handlanger - einem großen, gelbsüchtig aussehenden Kerl, dessen hagere Gesichtszüge und hängende Schultern mich an einen Aasgeier erinnerten. Hin und wieder blieben die beiden stehen, um einen Blick auf ein großes Stück Papier zu werfen, vermutlich einen Plan des Gebäudes. Jedes Mal, wenn sie haltmachten, zerrte jemand brutal an meinem Haar oder Arm, um sicherzustellen, das ich ebenfalls stehen blieb. Janice genoss neben mir genau dieselbe Behandlung. Auch wenn ich nicht zu ihr hinübersehen durfte, wusste ich doch, dass sie genauso verängstigt und wütend war wie ich und genauso wenig in der Lage, sich zu wehren.
Trotz ihrer Abendanzüge und Gelfrisuren verströmten die Männer einen scharfen, fast ranzigen Geruch, aus dem ich schloss, dass sie ebenfalls unter Druck standen. Oder aber es war der Gestank des Gebäudes, den ich da roch, denn je weiter hinunter es ging, umso schlimmer wurde es. Auf den ersten Blick wirkte alles sehr sauber, fast steril, doch während wir immer tiefer in das Netzwerk aus schmalen Gängen unter dem Keller hinabstiegen, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich - gleich auf der anderen Seite dieser trockenen, gut versiegelten Wände - etwas ganz und gar Fauliges durch den Gips fraß.
Als die Männer schließlich stehen blieben, hatte ich längst die Orientierung verloren. Mir kam es so vor, als befänden wir uns mindestens fünfzehn Meter unter der Erdoberfläche, konnte jedoch nicht mehr sagen, ob wir noch direkt unter Santa Maria della Scala waren. Vor Kälte schaudernd, hob ich abwechselnd meine eisigen Füße und presste sie in der Hoffnung, das Blut damit wieder zum Fließen zu bringen, kurz gegen meine Waden.
»Jules«, unterbrach Janice plötzlich meine Gymnastik, »nun komm schon!«
Ich rechnete halb damit, dass wir beide gleich einen Schlag auf den Kopf bekommen würden, weil sie mich angesprochen hatte, doch stattdessen schoben uns die Männer nach vorne, bis wir Cocco und dem Aasgeier von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
»E ora, ragazze?«, fragte Cocco.
»Was hat er gesagt?«, zischte Janice, während sie, geblendet von Coccos Stirnlampe, den Kopf in meine Richtung wandte.
»Er hat gesagt: Und jetzt, meine Damen?«, kam mir Umberto zuvor. »Das dort ist der Raum von Santa Caterina. Wie geht es von hier aus weiter?«
Erst jetzt bemerkten wir, dass der Aasgeier mit seiner Taschenlampe durch eine Gittertür in eine kleine, fast klösterlich wirkende Zelle mit einem schmalen Bett und einem Altar hineinleuchtete. Auf dem Bett lag die Statue einer Frau - wahrscheinlich Santa Caterina -, und die Wand hinter ihr war blau gestrichen und mit goldenen Sternen besetzt.
»Ähm«, stammelte Janice, die es wohl genau wie ich kaum fassen konnte, dass wir nun tatsächlich neben der in Moms Rätsel erwähnten Kammer standen, »hol ein Brecheisen mir.«
»Und dann?«, fragte Umberto, der Cocco offenbar unbedingt demonstrieren wollte, wie wichtig wir für das Gelingen des Unterfangens waren.
Janice und ich wechselten einen raschen Blick, weil uns beiden nur allzu bewusst war, dass Moms Anweisungen gleich danach endeten, und zwar mit einem fröhlichen Und los geht's, Mädels!
»Moment...«, sagte ich, weil mir plötzlich noch etwas einfiel, »o ja ... hinweg mit dem Schwarz …«
»Dem Schwarz?«, wiederholte Umberto ratlos. »Was soll denn das heißen?«
Wir alle reckten erneut den Hals. Genau in dem Moment, als Cocco uns zur Seite schob, um selbst noch einmal einen Blick in den Raum zu werfen, begann Janice heftig zu nicken, als wollte sie mit der Nase auf etwas deuten. »Dort! Seht doch! Unter dem Altar!«
Tatsächlich befand sich unterhalb des Altars eine große Marmorfliese mit einem schwarzen Kreuz darauf. Das Ganze sah durchaus nach dem Eingang zu einem Grab aus. Ohne kostbare Sekunden zu verschwenden, trat Cocco einen Schritt zurück und zielte mit seiner Maschinenpistole auf die Halterung der Gittertür. Ehe irgendjemand Zeit hatte, in Deckung zu gehen, feuerte er eine ohrenbetäubende Salve ab, die das Ding regelrecht aus den Angeln riss.
»Um Gottes willen ! «, stöhnte Janice und verzog dabei gequält das Gesicht. »Ich glaube, mir ist das Trommelfell geplatzt! Der Kerl gehört doch in die Klapsmühle!«
Wortlos wirbelte Cocco herum und packte sie so heftig am Hals, dass sie kaum noch Luft bekam. Das Ganze ging derart schnell, dass ich erst begriff, was da eigentlich passierte, als er sie plötzlich wieder losließ und Janice keuchend auf die Knie sank.
»Oh, Jan!«, rief ich erschrocken und kniete mich neben sie. »Alles in Ordnung?«
Sie brauchte einen Moment, bis sie wieder genug Luft bekam, um sprechen zu können. »Das muss ich mir merken ...«, murmelte sie blinzelnd, weil ihr wohl immer noch alles vor den Augen verschwamm, »der kleine Charmeur versteht Englisch!«
Bereits wenige Augenblicke später nahmen sich die mit Brecheisen und Bohrern bewaffneten Männer die Marmorfliese unter dem Altar vor. Als diese sich schließlich löste und mit einem dumpfen Schlag, der eine Staubwolke aufwirbeln ließ, auf den Steinboden fiel, war niemand von uns besonders erstaunt darüber, dass dahinter der Eingang zu einem Tunnel gähnte.
Als Janice und ich drei Tage zuvor aus dem Gully auf den Campo geklettert waren, hatten wir uns geschworen, nie wieder Höhlenforschung in den Bottini zu betreiben. Trotzdem krochen wir nun erneut durch einen fast dunklen Gang, der kaum größer als ein Wurmloch war - und zwar ohne dass am anderen Ende ein Stück blauer Himmel auf uns wartete.
Bevor Cocco uns in das Loch hineinschob, schnitt er unsere Fesseln auf - nicht aus Barmherzigkeit, sondern weil er uns sonst nicht hätte mitnehmen können. Zum Glück glaubte er immer noch, uns zu brauchen, um das Grab von Romeo und Giulietta zu finden. Er konnte ja nicht wissen, dass das schwarze Kreuz unter dem Altar in Santa Caterinas Zimmer der allerletzte Hinweis in Moms Wegbeschreibung gewesen war.
Während ich hinter Janice herkroch und nichts als ihre Jeans und hin und wieder das Flackern einer Stirnlampe an der rauen Tunnelwand sah, wünschte ich, ich trüge ebenfalls eine Hose, denn ich verfing mich immer wieder in dem langen Rock des Kleides. Hinzu kam, dass der dünne Samtstoff meine ohnehin schon ramponierten Knie kaum vor dem unebenen Sandstein schützte. Das einzig Positive war, dass mein ganzer Körper vor Kälte allmählich so taub wurde, dass ich den Schmerz fast nicht mehr spürte.
Als wir schließlich das Ende des Tunnels erreichten, war ich genauso erleichtert wie die Männer, dass am anderen Ende kein großer Steinblock oder Geröllhaufen den Weg versperrte und uns zum Umkehren zwang. Stattdessen landeten wir in einer Art Höhle, die etwa sechs Meter breit und so hoch war, dass jeder von uns aufrecht stehen konnte.
»E ora?«, fragte Cocco, sobald Janice und ich uns aufgerichtet hatten. Diesmal brauchten wir Umberto nicht mehr als Übersetzer. Was nun? Das war in der Tat die Frage.
»O nein«, flüsterte Janice so leise, dass nur ich es hören konnte, »eine Sackgasse!«
Hinter uns kamen die restlichen Männer zum Vorschein, unter anderem auch Bruder Lorenzo, dem der Aasgeier und ein anderer Typ mit Pferdeschwanz aus dem Tunnel halfen, als wäre er ein Prinz, der gerade von königlichen Hebammen entbunden wurde. Zum Glück hatte jemand die Güte besessen, dem alten Mönch die Augenbinde abzunehmen, ehe sie ihn in das Loch geschoben hatten, so dass Bruder Lorenzo nun neugierig vortrat und dabei voller Verwunderung die Augen aufriss, als hätte er völlig vergessen, welch gewaltsamen Umständen er sein Hiersein verdankte.
»Was sollen wir denn jetzt machen?«, zischte Janice, die verzweifelt versuchte, Blickkontakt mit Umberto aufzunehmen. Der jedoch war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Hose vom Staub zu befreien, um die plötzliche Spannung in der Luft zu registrieren. »Was heißt Sackgasse auf Italienisch?«
Zum Glück täuschte sich Janice. Als ich die Höhle etwas genauer in Augenschein nahm, stellte ich fest, dass es in Wirklichkeit sogar zwei Ausgänge aus der Höhle gab, mal ganz abgesehen von dem Wurmloch, durch das wir soeben hereingekommen waren. Einer befand sich an der Decke, doch dabei handelte es sich um einen langen, dunklen Schacht, in dem ganz oben etwas steckte, das nach einem Betonblock aussah. Selbst mit einer Leiter wäre er unmöglich zu erreichen gewesen. Für mich hatte das Ganze große Ähnlichkeit mit einem Müllschacht - ein Eindruck, der durch die Tatsache bestätigt wurde, dass sich der zweite Ausgang direkt darunter im Boden befand. Zumindest nahm ich an, dass sich unter der rostigen, mit einer dicken Schicht aus Staub und Geröll bedeckten Metallplatte im Boden der Höhle eine Öffnung verbarg. Alles, was von oben herabgeworfen wurde, musste rein theoretisch -vorausgesetzt, beide Löcher waren offen - schnurstracks und ohne Zwischenstopp durch die Höhle und weiter in die Tiefe fallen.
Als mir bewusst wurde, dass Cocco in froher Erwartung neuer Weisungen immer noch Janice und mich anstarrte, tat ich das einzig Logische und deutete auf die Metallplatte auf dem Boden. »Sucht, späht, erforscht«, sagte ich, krampfhaft bemüht, mir eine möglichst orakelhaft klingende Weisung einfallen zu lassen, »zu euren Füßen. Denn hier liegt Julia.«
»Ja«, nickte Janice und zerrte dabei nervös an meinem Arm, »hier liegt Julia!«
Nach einem fragenden Blick zu Umberto, der zustimmend nickte, befahl Cocco seinen Mannen, sich die Metallplatte vorzunehmen und zu versuchen, sie mit ihren Brecheisen zu lockern und zur Seite zu schieben. Dabei gingen sie so heftig zu Werke, dass Bruder Lorenzo sich in eine Ecke zurückzog und den Rosenkranz zu beten begann.
»Der arme Kerl!«, bemerkte Janice und biss sich dabei auf die Unterlippe. »Der ist doch völlig von der Rolle! Ich hoffe nur ...« Sie sprach es nicht aus, doch ich wusste auch so, was sie dachte, weil mir der gleiche Gedanke schon vor geraumer Zeit gekommen war. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Cocco merkte, dass er nur unnötigen Ballast darstellte. Wenn das passierte, würden wir nicht das Geringste tun können, um ihn zu retten.
Zwar waren unsere Hände nun nicht mehr gefesselt, aber wir wussten beide, dass wir noch genauso in der Falle saßen wie vorher. Nachdem der letzte Mann aus dem Tunnel getreten war, hatte der Typ mit dem Pferdeschwanz direkt vor der Öffnung Stellung bezogen, um dafür zu sorgen, dass niemand auf die dumme Idee kam, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Deswegen gab es für Janice und mich - mit oder ohne Umberto und Bruder Lorenzo - nur einen einzigen Ausweg aus dieser Höhle: Wir mussten wie alle anderen hinunter in den Ausguss.
Als sich der Metalldeckel schließlich löste, kam darunter tatsächlich eine Öffnung zum Vorschein, die so groß war, dass ein Mann hindurchpasste. Cocco trat vor und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinunter, woraufhin die anderen Männer nur den Bruchteil einer Sekunde zögerten, ehe sie unter halbherzigem Gemurmel seinem Beispiel folgten. Aus der dunklen Tiefe stieg ein ausgesprochen übler Geruch herauf. Janice und ich waren nicht die Einzigen, die sich anfangs die Nase zuhielten, doch schon nach ein paar Augenblicken empfanden wir ihn nicht mehr als völlig unerträglich. Wir gewöhnten uns langsam ein bisschen zu sehr an den Gestank der Verwesung.
Was auch immer Cocco dort unten sah, ließ ihn bloß mit den Achseln zucken. »Un bei niente«, bemerkte er.
»Er sagt, da ist nichts«, übersetzte Umberto stirnrunzelnd.
»Was zum Teufel hat er erwartet?«, höhnte Janice. »Ein Neonschild mit der Aufschrift: Grabräuber in diese Richtung?«
Ihr Kommentar ließ mich erschrocken den Kopf einziehen, und als ich dann auch noch sah, wie sie Cocco provozierend anfunkelte, war ich sicher, dass er gleich mit einem großen Satz über das Loch im Boden direkt an ihre Gurgel springen würde.
Doch das tat er nicht. Stattdessen musterte er sie auf eine gruselige, abschätzende Weise. Schlagartig begriff ich, dass meine clevere Schwester schon die ganze Zeit herauszufinden versuchte, wie sie ihn am besten an die Angel bekam. Aber warum? Weil das unsere einzige Chance war, diesen Ausflug lebend zu überstehen.
»Dai, daü«, sagte er nur und forderte seine Männer mit einer Handbewegung auf, nacheinander in das Loch hinunterzuspringen. Als ich mitbekam, wie sie sich vorher alle sammelten und dann mit einem gedämpften Japsen auf dem Boden der unteren Höhle aufkamen, wurde mir klar, dass es so weit hinunterging, dass der Sprung eine gewisse Herausforderung darstellte, aber doch nicht weit genug, um den Einsatz eines Seils zu rechtfertigen.
Schließlich waren wir an der Reihe. Janice, die Cocco wohl demonstrieren wollte, dass wir keine Angst hatten, trat sofort vor. Trotzdem streckte er - vermutlich zum ersten Mal in seiner Karriere - die Hand aus, um ihr zu helfen, doch statt danach zu greifen, spuckte Janice ihm auf die Handfläche, ehe sie sich abstieß und durch das Loch verschwand. Erstaunlicherweise bleckte er bloß die Zähne und sagte etwas zu Umberto, das ich zum Glück nicht verstand.
Als ich sah, dass Janice mir bereits von unten zuwinkte und der Höhenunterschied höchstens zweieinhalb bis drei Meter betrug, ließ ich mich ebenfalls in den Wald aus Armen fallen, die sich mir entgegenreckten, um mich in Empfang zu nehmen. Nachdem sie mich aufgefangen und auf dem Boden abgesetzt hatten, schien allerdings einer der Männer der Meinung zu sein, sich dadurch das Recht erworben zu haben, mich zu begrabschen. Vergeblich versuchte ich, seine Hände abzuschütteln.
Lachend packte er mich an beiden Handgelenken und versuchte die anderen dazu zu bringen, bei dem Spaß mitzumachen, doch genau in dem Moment, als ich spürte, wie ein Gefühl von Panik in mir hochstieg, eilte Janice mir zu Hilfe, indem sie eine Bresche durch all die Hände und Arme schlug, um anschließend zwischen mir und den Männern Stellung zu beziehen.
»Ihr wollt ein bisschen Spaß?«, fragte sie und verzog dabei angewidert das Gesicht. »Das wollt ihr doch, oder? Was haltet ihr dann von ein bisschen Spaß mit mir ... ?« Sie begann sich das eigene Hemd vom Leib zu reißen und legte dabei eine solche Wut an den Tag, dass die Männer gar nicht recht wussten, wie sie reagieren sollten. Vom Anblick ihres BHs wie gebannt, wichen sie langsam zurück - mit Ausnahme des Kerls, der angefangen hatte. Immer noch höhnisch grinsend, streckte er kühn die Arme aus, um ihre Brüste zu berühren, wurde dabei jedoch von einer ohrenbetäubenden Maschinenpistolensalve unterbrochen, die uns alle vor Schreck und Angst zur Seite springen ließ.
Wenige Augenblicke später streckte ein prasselnder Regen aus Sandstein alle nieder. Während ich mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug und spürte, wie sich mein Mund und meine Nasenlöcher mit Staub füllten, hatte ich das schwindelerregende Gefühl, mich plötzlich wieder in Rom zu befinden und vor lauter Tränengas keine Luft mehr zu bekommen. Genau wie damals empfand ich Todesangst. Mehrere Minuten lang hustete ich so heftig, dass ich mich fast übergeben musste, und den anderen erging es wohl ähnlich. Alle um mich herum waren zu Boden gegangen - einschließlich Janice. Das einzig Tröstliche war, dass sich der Untergrund der Höhle gar nicht richtig fest, sondern seltsam federnd anfühlte. Wäre es ein harter Steinboden gewesen, hätte ich durch meinen Aufprall bestimmt das Bewusstsein verloren. Als ich schließlich durch einen Nebel aus Staub hochblickte, sah ich Cocco mit seiner Maschinenpistole in der Hand über uns stehen und sich herausfordernd umblicken, ob noch irgendjemand Lust auf ein bisschen Spaß verspürte. Was jedoch nicht der Fall war. Wie es schien, hatten seine Warnschüsse die Höhle derart erschüttert, dass ein Teil der Decke heruntergekommen war. Damit beschäftigt, ihr Haar und ihre Kleidung vom Geröll zu befreien, kamen die Männer gar nicht erst auf die Idee, ihn wegen seiner heißblütigen Reaktion zur Rede zu stellen.
Cocco, der von der Wirkung recht angetan schien, deutete mit zwei Fingern auf Janice und verkündete in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »La stroma è mia!« Obwohl ich nicht so recht wusste, was eine stroma war, konnte ich mir trotzdem in etwa vorstellen, wie die Grundaussage lautete: Niemand durfte sich an meiner Schwester vergreifen, außer er selbst.
Mühsam rappelte ich mich wieder hoch und stellte bei der Gelegenheit fest, dass ich meine Nerven nicht mehr ganz unter Kontrolle hatte, sondern am ganzen Körper zitterte. Als Janice zu mir herkam und mir die Arme um den Hals schlang, spürte ich, dass sie ebenfalls zitterte.
»Du bist verrückt«, bemerkte ich und drückte sie ganz fest. »Diese Typen sind nicht wie die armen Kerle, mit denen du sonst zu tun hast. Das Böse funktioniert nicht nach Gebrauchsanleitung.«
Janice schnaubte verächtlich. »Jeder Mann funktioniert nach Gebrauchsanleitung. Gib mir ein bisschen Zeit. Unsere kleine Cocco-Nuss wird uns erster Klasse hier herausfliegen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte ich, während ich beobachtete, wie die Männer einen sehr nervösen Bruder Lorenzo aus der oberen Höhle herunterließen. »Ich glaube, unser Leben ist diesen Menschen sehr wenig wert.«
Janice löste sich von mir. »Warum legst du dich dann nicht auf der Stelle hin und stirbst? Gib doch einfach auf! Das ist viel leichter als zu kämpfen, habe ich recht?«
»Ich versuche mich doch nur rational zu verhalten ...«, begann ich, aber sie ließ mich nicht ausreden.
»Du hast in deinem ganzen Leben noch nie etwas Rationales getan!« Sie band ihr zerrissenes Hemd mit einem festen Knoten zu. »Warum willst du ausgerechnet jetzt damit anfangen?«
Während sie zornig von mir wegstapfte, war ich tatsächlich sehr knapp davor, mich hinzusetzen und aufzugeben. Am meisten machte mir zu schaffen, dass das alles meine Schuld war - dieser ganze Albtraum einer Schatzsuche - und ich es hätte vermeiden können, wenn ich Alessandro vertraut hätte und nicht Hals über Kopf aus dem Castello Salimbeni geflohen wäre. Wäre ich einfach geblieben, wo ich war, ohne etwas zu hören oder zu sehen und - noch wichtiger - ohne etwas zu tun, dann läge ich jetzt womöglich immer noch in meinem Bett und in seinen Armen.
Doch mein Schicksal hatte es anders gewollt. Deswegen steckte ich nun stattdessen hier, irgendwo tief im Untergrund und musste - verdreckt bis zur Unkenntlichkeit - hilflos mit ansehen, wie ein gemeingefährlicher Irrer schreiend mit seiner Maschinenpistole vor meinem Vater und meiner Schwester herumfuchtelte, weil er von ihnen wissen wollte, wohin er sich in dieser Höhle ohne Ausgang als Nächstes wenden sollte.
Da mir sehr wohl klar war, dass ich nicht einfach so herumstehen konnte, während sie mich so dringend brauchten, bückte ich mich nach einer Taschenlampe, die jemand hatte fallen lassen. Erst in dem Moment bemerkte ich, dass direkt vor mir etwas aus dem Boden ragte. Im bleichen Strahl der Lampe sah es aus wie eine große, gesprungene Muschel, aber das konnte natürlich nicht sein. Das Meer war fast achtzig Kilometer entfernt. Als ich mich hinkniete, um mir das Ding genauer anzusehen, schlug mein Herz plötzlich schneller, denn ich begriff, dass ich gerade auf ein Stück eines menschlichen Schädels hinunterstarrte.
Nach dem ersten Schreck stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass mich diese Entdeckung gar nicht übermäßig aufregte. Mir ging durch den Kopf, dass in Anbetracht von Moms Wegbeschreibung ja damit zu rechnen war, dass wir auf die sterblichen Überreste von Menschen stoßen würden. Schließlich waren wir auf der Suche nach einem Grab. Mit bloßen Händen fing ich an, in dem porösen Boden herumzugraben, und wurde sehr schnell fündig. Es handelte sich tatsächlich um ein ganzes Skelett. Aber es war nicht allein.
Unter einer dünnen oberen Schicht, die sich nach einer Mischung aus Erde und Asche anfühlte, bestand der Höhlenboden aus dicht aufgehäuften, willkürlich ineinandergreifenden menschlichen Knochen.