VI.I

Kann ich von hinnen, da mein Herz hier bleibt?

Geh, frostge Erde, suche deine Sonne!

 

Janice hatte nicht gelogen, als sie sagte, sie sei gut im Klettern.

Aus irgendeinem Grund war ich bei den Postkarten, die sie mir von exotischen Orten schickte, immer leicht skeptisch, es sei denn, sie erzählten von Enttäuschung und Ausschweifung. Ich stellte mir meine Schwester lieber sturzbetrunken in einem Hotel in Mexiko vor als beim Schnorcheln in Korallenriffen, wo das Wasser so sauber war, dass man - wie sie einmal, allerdings nicht mir, sondern Tante Rose geschrieben hatte - als schmutziger alter Sünder hineinstieg und sich beim Herauskommen fühlte wie Eva an ihrem ersten Morgen im Paradies, bevor Adam mit der Zeitung und den Zigaretten auftauchte.

Während ich ihr von meinem Balkon aus zusah, wie sie mühsam heraufkletterte, wurde mir schlagartig bewusst, wie sehr ich mich auf die Rückkehr meiner Schwester gefreut hatte. Nachdem ich mindestens eine Stunde lang nervös in meinem Zimmer auf und ab getigert war, hatte sich mir die frustrierende Erkenntnis aufgedrängt, dass ich alleine einfach nicht imstande war, mir einen Reim auf die Situation zu machen.

Das war schon seit jeher so. Jedes Mal, wenn ich als Kind versuchte, Tante Rose meine Probleme zu schildern, machte sie zwar ein riesengroßes Tamtam, kam aber nie zu einer Lösung, so dass ich mich am Ende viel schlimmer fühlte als vorher. Nervte mich in der Schule ein Junge, dann hängte sie sich an die Strippe und verlangte vom Direktor und sämtlichen Lehrkräften, dass sie mit den Eltern sprachen. Janice dagegen - die unser Gespräch rein zufällig belauschte - meinte bloß achselzuckend:

»Er ist eben in sie verknallt. Der beruhigt sich schon wieder. Was gibt es denn heute zum Abendessen?« Und sie hatte immer recht, auch wenn ich das nur ungern zugab.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie auch jetzt wieder recht. Ihre abfälligen Bemerkungen über Alessandro und Eva Maria gefielen mir zwar gar nicht, aber irgendjemand musste diese Bemerkungen nun mal machen, und ich selbst war dazu nicht imstande, weil ich mich hoffnungslos hin und her gerissen fühlte.

Von ihrer waghalsigen Kletterei außer Atem, griff Janice bereitwillig nach der Hand, die ich ihr entgegenstreckte, und schaffte es schließlich, ein Bein über die Brüstung zu schwingen. »So süß ...«, stöhnte sie, während sie auf der anderen Seite wie ein Sack Kartoffeln niederplumpste und keuchend auf dem Boden sitzen blieb, »ist Kletterwehe!«

»Warum hast du nicht die Treppe benutzt?«, fragte ich.

»Sehr witzig!«, gab sie zurück. »Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass da draußen ein Massenmörder herumläuft, der mich auf den Tod nicht ausstehen kann.«

»Jetzt hör aber auf«, entgegnete ich, »wenn Umberto danach zumute gewesen wäre, uns den Hals umzudrehen, hätte er das längst tun können.«

»Man weiß nie, wann solche Leute ausrasten!« Janice stand auf und zog sich die Kleider zurecht. »Vor allem jetzt, wo wir Moms Truhe haben. Ich plädiere dafür, prontissimo von hier zu verschwinden und ...« Erst jetzt sah sie mir ins Gesicht und bemerkte meine roten, verquollenen Augen. »Lieber Himmel, Jules!«, rief sie. »Was ist denn passiert?«

»Nichts«, antwortete ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich habe nur gerade die Geschichte von Romeo und Giulietta fertig gelesen. Tut mir leid, wenn ich dir die Spannung verderbe, aber es gibt kein Happy End. Nino will Giulietta verführen - oder vergewaltigen -, und kurz bevor Romeo hereinrauscht, um sie zu retten, nimmt sie eine tödliche Dosis Schlafmittel.«

»Was zum Teufel hast du erwartet?« Janice ging hinein, um sich die Hände zu waschen. »Leute wie die Salimbenis ändern sich nie, nicht einmal in einer Million Jahren. Es ist fest in ihren Genen verankert, mit einem Lächeln auf den Lippen Böses zu tun. Nino ... Alessandro ... alle aus demselben Holz geschnitzt. Entweder man tötet sie oder wird von ihnen getötet.«

»Eva Maria ist nicht so ...«, begann ich, aber Janice ließ mich den Satz nicht zu Ende sprechen.

»Ach nein?«, höhnte sie aus dem Badezimmer. »Dann werde ich jetzt mal deinen Horizont erweitern. Eva Maria manipuliert dich schon seit Tag eins. Glaubst du allen Ernstes, sie saß rein zufällig in dem Flugzeug?«

Ich schnappte vor Verblüffung nach Luft. »Das ist doch lächerlich! Niemand hat gewusst, dass ich mit diesem Flugzeug komme, außer ...« Abrupt brach ich ab.

»Genau!« Janice warf das Handtuch zur Seite und ließ sich aufs Bett fallen. »Sie und Umberto arbeiten offensichtlich zusammen. Es würde mich gar nicht wundern, wenn sie Geschwister wären. So funktioniert das nämlich bei der Mafia. Alles dreht sich um die Familie, man hilft sich gegenseitig aus der Patsche oder gibt sich ein Alibi. Alle stecken unter einer Decke. Wobei ich liebend gern mit deinem Süßen unter einer Decke stecken würde, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich am Ende wirklich Lust hätte, unter dem Holzboden zu schlafen.«

»Oh, jetzt hör aber auf!«

»Nein, das tue ich nicht.« Janice missbrauchte eine Nackenrolle, um ihre Füße hochzulegen. »Unserem Cousin Peppo zufolge war Eva Marias Mann Salimbeni ein bastardo classico und definitiv in irgendwelche üblen, hyperorganisierten Machenschaften verwickelt. Du weißt schon, Limos und schmierige Typen in schimmernden Anzügen mit sizilianischen Krawatten, die ganze Szene. Manche glauben, dass Eva Maria ihren betuch-ten Alten hat umlegen lassen, um das Geschäft selbst zu übernehmen und das Limit ihrer Kreditkarte loszuwerden. Und dein Mister Zuckerschnute ist ihr liebster Handlanger, wenn nicht sogar ihr persönliches Schoßhündchen. Aber jetzt - ta-daa! -hat sie ihn auf dich angesetzt, und die Frage ist: Für wen wird er den Knochen ausbuddeln, für sie oder für dich? Kann die Virgitarierin den Playboy vom Pfad des Lasters abbringen, oder wird die furchteinflößende Patin gewinnen und ihre Familienjuwelen zurückstehlen, sobald du sie in deinen süßen kleinen Fingern hältst?«

Ich sah sie an. »Bist du jetzt fertig?«

Blinzelnd kam Janice wieder von ihrem geistigen Solo-Höhenflug herunter. »Definitiv. Lass uns von hier verschwinden, ja?«

»Blödsinn!« Während ich mich neben ihr niederließ, fühlte ich mich plötzlich sehr erschöpft. »Mom wollte uns einen Schatz hinterlassen, und wir haben es vermasselt. Ich habe es vermasselt. Bin ich es ihr da nicht schuldig, dass ich das wieder in Ordnung bringe?«

»Wenn du mich fragst, sind wir ihr bloß schuldig, dass wir am Leben bleiben.« Janice klimperte mit einem Paar Schlüsseln vor meiner Nase herum. »Lass uns nach Hause fahren.«

»Was sind das für Schlüssel?«

»Die zu Moms altem Haus. Peppo hat mir alles darüber erzählt. Es liegt irgendwo südöstlich von hier, an einem Ort namens Montepulciano. Laut Peppo steht es seit Jahren leer.« Aus ihrem Blick sprach zaghafte Hoffnung. »Magst du mitkommen?«

Diese Frage aus ihrem Munde zu hören verblüffte mich dermaßen, dass ich sie mit großen Augen anstarrte. »Du möchtest wirklich, dass ich mitkomme?«

Janice setzte sich auf. »Jules«, erklärte sie mit ungewohntem Ernst, »ich möchte wirklich, dass wir beide von hier verschwinden. Bei der ganzen Sache geht es nicht nur um eine Statue und ein paar Edelsteine. Da ist etwas richtig Unheimliches im Gange. Peppo hat mir von einem Geheimbund erzählt, dessen Mitglieder fest davon überzeugt sind, dass auf unserer Familie ein Fluch liegt und es ihre Aufgabe ist, dem Übel ein Ende zu setzen. Und dreimal darfst du raten, wer die ganze Show leitet. Ja, genau, deine kleine Mafiakönigin. Auf dasselbe kranke Zeug ist damals auch Mom abgefahren ... irgendwas mit geheimen Blutritualen, die dazu dienen sollen, die Geister der Toten heraufzubeschwören. Du musst entschuldigen, wenn ich das nicht so prickelnd finde.«

Ich stand auf und trat ans Fenster, wo ich stirnrunzelnd mein eigenes Spiegelbild betrachtete. »Sie hat mich zu einem Fest eingeladen. Auf ihren Landsitz im Orcia-Tal.«

An Janices Schweigen merkte ich, dass etwas nicht stimmte, und drehte mich nach ihr um. Sie hatte sich zurück aufs Bett sinken lassen und die Hände vors Gesicht geschlagen. »Um Himmels willen!«, stöhnte sie. »Ich glaube es einfach nicht! Lass mich raten: El Nino kommt auch?«

Ich warf entnervt die Arme hoch. »Jetzt hör aber auf, Jan! Möchtest du der Sache denn nicht auf den Grund gehen? Ich schon!«

»Und das wirst du auch!« Janice sprang vom Bett auf und stapfte mit geballten Fäusten hin und her. »Du wirst irgendwo tief unten auf dem Grund landen, das steht fest, und zwar mit gebrochenem Herzen und einbetonierten Füßen. Ich schwöre bei Gott ... wenn du das durchziehst und wie unsere Vorfahren endest, die angeblich alle unter Eva Marias Haustreppe begraben liegen, dann rede ich nie wieder ein Wort mit dir!«

Sie starrte mich kampflustig an, und ich starrte ungläubig zurück. Das war nicht die Janice, die ich kannte. Der Janice, die ich kannte, wäre es völlig egal gewesen, wo ich hinwollte oder wie ich endete, Hauptsache, ich scheiterte mit all meinen Vorhaben möglichst kläglich. Bei der Vorstellung, jemand könnte auf die Idee kommen, mir die Füße einzubetonieren, hätte sie sich früher lachend auf die Schenkel geklatscht, statt sich wie jetzt bekümmert auf die Lippe zu beißen, als wäre sie den Tränen nahe.

»Na schön«, fuhr sie in ruhigerem Ton fort, da ich nicht reagierte, »dann renn doch da hin und riskiere dein Leben bei irgendeinem ... satanischen Ritual. Mir doch egal!«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich fahre.«

Sie entspannte sich ein wenig. »Oh ! Na, wenn das so ist, wird es höchste Zeit, dass wir beide uns ein gelato gönnen.«

 

Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, in der Bar Nannini, die praktischerweise nahe der Piazza Salimbeni lag, alte und neue Eisgeschmacksrichtungen auszuprobieren. Obwohl wir uns nicht direkt versöhnt hatten, waren wir uns mittlerweile in immerhin zwei Punkten einig: Erstens wussten wir viel zu wenig über Alessandro, um ein gutes Gefühl dabei zu haben, wenn er am nächsten Tag mit mir wegfuhr, und zweitens war gelato besser als Sex.

»Was das betrifft, kannst du mir wirklich vertrauen«, meinte Janice mit einem verschwörerischen Augenzwinkern, das mich wohl aufheitern sollte.

Ungeachtet ihrer vielen Fehler war meine Schwester seit jeher mit einer ungeheuren Hartnäckigkeit gesegnet, so dass sie nun drei Stunden lang mehr oder weniger allein Ausschau hielt, während ich in der hinteren Ecke der Eisdiele auf einer Bank hockte und mich bei dem Gedanken, ertappt zu werden, schon im Voraus schämte.

Plötzlich zerrte Janice wortlos an meinem Arm. Es war auch gar nicht nötig, dass sie etwas sagte. Gemeinsam beobachteten wir durch die Glastür, wie Alessandro die Piazza Salimbeni überquerte und dann in den Corso einbog.

»Er geht Richtung Zentrum!«, stellte Janice fest. »Habe ich es doch gewusst! Solche Typen wohnen nicht am Ortsrand. Oder vielleicht ...«, - sie sah mich an und klimperte mit den Wimpern -, »will er zu seiner Geliebten.« Wir reckten beide den Hals, um einen besseren Blick zu haben, doch von Alessandro war nichts mehr zu sehen. »Verdammt!« Hastig verließen wir die Bar Nannini und eilten die Straße entlang, so schnell wir konnten, ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erregen - was in Janices Gesellschaft immer eine Herausforderung darstellte. »Warte!« Ich packte sie am Arm, um sie ein wenig abzubremsen. »Ich sehe ihn! Er ist direkt ... oh-oh!«

Alessandro war stehen geblieben. Rasch gingen wir in einem Hauseingang in Deckung. »Was macht er?«, zischte ich. Vor lauter Angst, von ihm entdeckt zu werden, traute ich mich nicht, selbst hinauszuspähen.

»Er redet auf irgendeinen Typen ein«, berichtete Janice, die wagemutig den Hals reckte, »einen Kerl mit einer gelben Fahne. Was soll denn das mit den ganzen Fahnen? Jeder hat hier ...«

Wenige Augenblicke später waren wir wieder auf der Pirsch, wobei wir dicht an den Schaufenstern und Hauseingängen entlangschlichen, um ja nicht von ihm gesehen zu werden. Auf diese Weise folgten wir unserer Beute die ganze Straße entlang, vorbei am Campo und weiter in Richtung Piazza Postieria. Er hatte bereits mehrfach haltgemacht, um Leute zu begrüßen, die in die Gegenrichtung unterwegs waren, doch je steiler die Straße wurde, umso mehr Freunde traf er.

»Also ehrlich!«, ereiferte sich Janice, als Alessandro ein weiteres Mal stehen blieb, um ein Baby in einem Kinderwagen zu betüddeln. »Kandidiert dieser Kniich eigentlich als Bürgermeister?«

»Man nennt das zwischenmenschliche Beziehungen«, murmelte ich. »Solltest du vielleicht auch mal probieren.«

Janice verdrehte die Augen. »Und das sagst ausgerechnet du!«

Während ich noch über eine passende Antwort nachdachte, bemerkten wir plötzlich beide, dass unsere Zielperson verschwunden war.

»O nein!«, keuchte Janice. »Wo ist er bloß hin?«

Wir hasteten zu der Stelle, wo wir Alessandro eben noch gesehen hatten - praktisch direkt gegenüber Luigis Friseursalon - und entdeckten die winzigste, dunkelste Gasse von ganz Siena.

»Kannst du ihn sehen?«, flüsterte ich aus meiner Deckung hinter Janices Rücken.

»Nein, aber woanders kann er ja nicht hin sein.« Sie packte mich an der Hand und zerrte mich weiter. »Los!«

Während wir auf Zehenspitzen die überdachte Gasse entlangschlichen, musste ich wider Willen kichern. Als Kinder hatten wir auch immer Hand in Hand die Gegend unsicher gemacht. Janice bedachte mich mit einem strengen Blick, weil sie befürchtete, er könnte uns hören, doch als sie mein lachendes Gesicht sah, entspannte sie sich ein wenig und begann ebenfalls zu kichern.

»Nicht zu fassen, was wir gerade tun!«, flüsterte ich. »Das ist so peinlich!«

»Schhh!«, zischte sie. »Ich glaube, wir sind hier in einem üblen Viertel.« Sie nickte zu den Graffiti hinüber, die an einer der Hauswände prangten. »Was bedeutet galleggiante? Klingt ziemlich obszön. Und was zum Teufel ist '92 passiert?«

Vor uns machte die Gasse einen scharfen Rechtsknick, so dass wir kurz stehen blieben und lauschten, ob Schritte zu hören waren. Janice spähte sogar um die Ecke, zog den Kopf aber sehr schnell wieder zurück.

»Hat er dich gesehen?«, flüsterte ich.

Janice rang aufgeregt nach Luft. »Komm!« Sie zog mich am Arm um die Ecke, und wir liefen nervös weiter, bis wir plötzlich Leute sahen, die um ein Pferd herumstanden.

Tatsächlich befand sich am hinteren Ende der schmalen Gasse, wo ein paar helle Sonnenstrahlen auf das antike Pflaster fielen, ein kleiner Stall mit einem Pferd. Von Alessandro war jedoch nichts mehr zu sehen.

»Halt!« Ich stieß Janice gegen eine Wand. »Vorsicht, diese Typen ...«

Ohne meine Zustimmung abzuwarten, stieß Janice sich von der Hauswand ab und marschierte auf die Männer zu, die mit dem Pferd beschäftigt waren. Da Alessandro nirgends auftauchte, rannte ich hinter ihr her und versuchte sie am Arm festzuhalten.

»Bist du verrückt?«, zischte ich. »Das ist vermutlich ein Pferd für den Palio, und diese Leute wollen bestimmt nicht, dass hier Touristen herumrennen und ...«

»Oh, ich bin keine Touristin«, erwiderte Janice, die meine Hand ungeduldig abschüttelte und weiterging, »ich bin Journalistin.«

»Nein! Jan, warte!«

Während sie auf die Männer zusteuerte, die das Pferd bewachten, empfand ich eine seltsame Mischung aus Bewunderung und Mordlust. Das letzte Mal hatte ich so gefühlt, als wir in die Neunte gingen und Janice spontan einen Jungen aus unserer Klasse anrief, nachdem ich beiläufig erwähnt hatte, dass ich ihn mochte.

In dem Moment öffnete direkt über uns jemand Fensterläden. Sobald ich begriff, dass das Alessandro war, sprang ich zurück an die Wand und zerrte Janice mit mir. Die Vorstellung, er könnte uns dabei ertappen, wie wir nach Art verliebter Teenager in seinem Viertel herumschnüffelten, erfüllte mich mit Entsetzen.

»Nicht hochsehen!«, flüsterte ich, immer noch ganz panisch, weil wir nur um Haaresbreite der Entdeckung entgangen waren. »Ich glaube, er wohnt dort oben, im zweiten Stock. Mission erfüllt, Fall abgeschlossen. Zeit zu gehen.«

»Was meinst du mit Mission erfüllt?« Mit leuchtenden Augen lehnte Janice sich zurück, um zu Alessandros Fenster hinauf-zuspähen. »Wir sind hergekommen, um herauszufinden, was er im Schilde führt. Ich würde sagen, wir bleiben hier.« Mit diesen Worten steuerte sie auf den nächstgelegenen Eingang zu. Nachdem sich die Tür problemlos öffnen ließ, zog Janice selbstzufrieden die Augenbrauen hoch und trat ein. »Los, komm schon!«

»Bist du jetzt komplett durchgedreht?« Nervös schielte ich zu den Männern hinüber. Sie fragten sich offensichtlich schon, wer wir waren und was wir wollten. »Ich setze keinen Fuß in dieses Gebäude. Immerhin wohnt er hier!«

»Kein Problem.« Janice zuckte mit den Achseln. »Du kannst ja auf mich warten und in der Zwischenzeit den Männern Gesellschaft leisten. Ich wette, die haben nichts dagegen.«

Wie sich herausstellte, befanden wir uns nicht in einem Treppenhaus. Nachdem ich Janice in den dunklen Eingangsbereich gefolgt war, hatte ich zunächst befürchtet, sie würde mich geradewegs in den zweiten Stock schleifen, Alessandros Tür eintreten und ihn mit Fragen bombardieren. Dann aber sah ich, dass es keine Treppe gab, und entspannte mich etwas.

Am Ende des Gangs stand eine Tür ein Stück weit offen, und wir reckten beide den Hals, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befand.

»Fahnen!«, bemerkte Janice, sichtlich enttäuscht. »Jede Menge Fahnen. Irgendjemand steht hier ziemlich auf Gelb. Und Vögel.«

»Es ist ein Museum«, klärte ich sie auf, nachdem ich an den Wänden ein paar Cenci entdeckt hatte, »ein Contradenmuseum, genau wie das von Peppo. Ich frage mich ...«

»Cool«, meinte Janice und stieß die Tür ganz auf, ehe ich Einspruch erheben konnte, »lass es uns ansehen. Du stehst doch auf staubigen alten Kram.«

»Bist du verrückt?« Ich versuchte sie zurückzuhalten, aber sie schüttelte meine Hand ab und betrat kühn den Raum. »Komm zurück!Jan!«

»Was für ein Mann«, überlegte sie laut, während sie den Blick über die ausgestellten Kunstgegenstände schweifen ließ, »wohnt in einem Museum? Das ist irgendwie unheimlich.«

»Nicht in, sondern über einem Museum«, korrigierte ich sie. »Außerdem bewahren sie hier ja nicht gerade Mumien auf.«

»Woher willst du das wissen?« Sie klappte das Visier einer Rüstung hoch, um auf Nummer sicher zu gehen. »Vielleicht Pferdemumien. Womöglich halten sie hier ihre geheimen Blutrituale ab und beschwören die Geister der Toten.«

»Ja, klar.« Ich funkelte sie von der anderen Seite der Tür bitterböse an. »Gut, dass du der Sache hiermit auf den Grund gegangen bist.«

»Hey, nun sei doch nicht so!« Entnervt warf sie die Arme in die Luft. »Mehr konnte mir Peppo nun mal nicht sagen!«

Ich sah ihr dabei zu, wie sie noch eine Minute auf Zehenspitzen herumschlich und so tat, als würde sie sich für die Ausstellung interessieren. Wir wussten beide, dass sie das nur machte, um mich zu ärgern. »Na«, zischte ich schließlich, »hast du jetzt genug Fahnen gesehen?« Statt mir eine Antwort zu geben, verschwand Janice einfach durch eine Tür in einen weiteren Raum, so dass ich, halb hinter der Tür verborgen, alleine zurückblieb.

Ich brauchte eine Weile, bis ich sie gefunden hatte. Sie wanderte gerade in einer kleinen Kapelle umher, wo auf dem Altar Kerzen brannten und an sämtlichen Wänden wunderbare alte Ölgemälde hingen. »Nicht schlecht!«, meinte sie, als ich schließlich neben sie trat. »Wie würde dir das als Wohnzimmer gefallen? Was sie hier drin wohl treiben? Aus menschlichen Eingeweiden die Zukunft lesen?«

»Ich hoffe, sie verwenden dafür als Nächstes die deinen! Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir jetzt gehen?«

Doch bevor sie mir eine freche Antwort geben konnte, hörten wir beide Schritte. Eilig verließen wir die Kapelle, um uns im angrenzenden Raum ein Versteck zu suchen, und stellten uns dabei vor lauter Panik fast gegenseitig ein Bein.

»Hier!« Ich zog Janice in eine Ecke hinter einem Glasschrank voller ramponierter Reithelme. Fünf Sekunden später ging eine ältere Frau mit einem Arm voller gefalteter gelber Kleidungsstücke direkt an uns vorbei, gefolgt von einem etwa achtjährigen Jungen, der die Hände in die Hosentaschen geschoben hatte und ein missmutiges Gesicht zog. Während die Frau den Raum zielstrebig durchquerte, blieb der Junge bedauerlicherweise keine drei Meter von unserem Versteck entfernt stehen, um sich die antiken Schwerter an der Wand anzusehen.

Janice schnitt eine Grimasse, doch keine von uns beiden wagte sich zu bewegen, geschweige denn zu flüstern. Stattdessen kauerten wir uns weiter wie Bilderbuchsünder in unsere Ecke. Zum Glück war der Junge zu sehr auf seinen eigenen Unfug fixiert, um auf irgendetwas anderes zu achten. Er überzeugte sich davon, dass seine Großmutter wirklich weg war, und versuchte dann auf Zehenspitzen, einen der Degen von seinen Haken an der Wand zu heben. Was ihm schließlich auch gelang. Stolz nahm er damit ein paar Fechtpositionen ein, die gar nicht so übel aussahen. Völlig in sein unerlaubtes Abenteuer versunken, bekam er erst viel zu spät mit, dass eine weitere Person den Raum betreten hatte.

»No-no-no!«, schimpfte Alessandro, während er quer durch den Raum stürmte und dem Jungen den Degen abnahm. Doch statt ihn sofort an die Wand zurückzuhängen, wie es jeder ver-antwortungsbewusste Erwachsene getan hätte, zeigte er dem Jungen lediglich die korrekte Position und gab ihm den Degen dann zurück. »Tocca a te!«

Die Waffe ging ein paarmal zwischen den beiden hin und her, bis Alessandro schließlich einen weiteren Degen von der Wand holte und den Jungen zu einem Scheinkampf herausforderte, der erst endete, als eine Frauenstimme zornig rief: »Enrico! Dove sei?«

Binnen einer Sekunde hingen die Waffen wieder an der Wand, und als die Großmutter kurz darauf im Türrahmen auftauchte, standen Alessandro und der Junge beide ganz unschuldsvoll da, die Hände hinter dem Rücken.

»Ah«, rief die Frau, die über Alessandros Anblick sichtlich erfreut war und ihn auf beide Wangen küsste, »Romeo!«

Sie sagte noch etliches andere, aber das bekam ich alles nicht mehr mit. Hätte ich nicht so dicht neben Janice gestanden, dann wäre ich, da meine Beine sich soeben in Softeis verwandelt hatten, wahrscheinlich auf die Knie gesunken.

Alessandro war Romeo.

Natürlich. Wieso hatte ich das nicht schon viel eher begriffen? Befanden wir uns hier nicht im Adlermuseum? Hatte ich die Wahrheit nicht schon in Malènas Augen gesehen? ... Und in seinen?

»Lieber Himmel, Jules«, formte Janice lautlos mit den Lippen, »reiß dich zusammen!«

Aber dazu war ich in dem Moment nicht mehr in der Lage.

Alles, was ich über Alessandro zu wissen geglaubt hatte, drehte sich vor meinen Augen wie eine Roulettescheibe, und mir wurde klar, dass ich - in jedem einzelnen Gespräch mit ihm - mein ganzes Geld auf die falsche Farbe gesetzt hatte.

Er war weder Paris noch Salimbeni, und auch nicht Nino. Nein, er war von Anfang an Romeo gewesen: nicht Romeo, der Playboy und Partyschreck mit dem Elfenhut, sondern Romeo der Verbannte, der - vor langer Zeit durch Tratsch und Aberglauben vertrieben - sein ganzes Leben versucht hatte, ein anderer zu werden. Ich erinnerte mich noch genau an den Moment, als er Romeo mir gegenüber als seinen Rivalen bezeichnet hatte. Den Leuten zufolge besaß Romeo teuflische Hände, und deswegen wünschten sie ihm den Tod. Romeo war nicht der Mann, den ich zu kennen glaubte. Er würde in meinen Armen niemals Reime von sich geben. Andererseits war Romeo sehr wohl der Mann, der spät nachts in Maestro Lippis Atelier auftauchte, um ein Glas Wein zu trinken und das Porträt von Giulietta Tolomei zu betrachten. Für mich sagte das mehr als die schönsten Verse.

Warum aber hatte er mir niemals die Wahrheit gestanden? Ich hatte ihn immer wieder nach Romeo gefragt, aber jedes Mal hatte er geantwortet, als sprächen wir von jemand anderem. Einem Jemand, den ich besser nie kennenlernte, weil das sehr schlecht für mich wäre.

Plötzlich musste ich daran denken, wie er mir die Patronenkugel gezeigt hatte, die an einem Lederband um seinen Hals hing. Und Peppo hatte mir auf seinem Krankenbett erzählt, alle hielten Romeo für tot. Mir fiel auch wieder ein, was für ein Gesicht Alessandro gemacht hatte, als Peppo über Romeos uneheliche Geburt sprach. Erst jetzt begriff ich seine Wut auf die Mitglieder meiner Tolomei-Familie, die es - in Unkenntnis seiner wahren Identität - alle so genossen, ihn wie einen Salimbeni und somit wie einen Feind zu behandeln.

Ich selbst machte da keine Ausnahme.

Nachdem endlich alle den Raum verlassen hatten - Großmutter und Enrico in die eine Richtung, Alessandro in eine andere -, packte Janice mich an den Schultern und funkelte mich an. »Würdest du dich jetzt bitte zusammenreißen!«

Aber das war zu viel verlangt. »Romeo!«, stöhnte ich und fasste mir an den Kopf. »Wie kann er Romeo sein? Ich bin eine solche Idiotin!«

»Ja, bist du, aber das ist ja nichts Neues.« Janice war nicht in der Stimmung, nett zu mir zu sein. »Wir wissen doch gar nicht, ob er tatsächlich Romeo ist! Der Romeo. Vielleicht heißt er einfach mit zweitem Vornamen so. Romeo ist ein absolut gebräuchlicher italienischer Name. Und sollte er tatsächlich der Romeo sein ... dann ändert das gar nichts. Er steckt trotzdem mit den Salimbenis unter einer Decke und hat dein dämliches Hotelzimmer verwüstet.«

Ich schluckte ein paarmal. »Es geht mir gar nicht gut.«

»Na, dann lass uns schleunigst von hier verschwinden.« Janice nahm mich an der Hand und zog mich hinter sich her.

Eigentlich wollte sie mit mir zum Hauptausgang, doch stattdessen landeten wir in einem Teil der Ausstellung, den wir noch nicht gesehen hatten. Es handelte sich um eine schwach beleuchtete Kammer mit Glaskästen an der Wand, in denen sehr alte, zum Teil halb verschlissene Cenci ausgestellt waren. Der Raum hatte etwas von einem antiken Schrein, und von einer Seite aus führte eine gewundene Treppe aus geschwärztem Stein steil in die Tiefe hinunter.

»Was wohl dort unten ist?«, flüsterte Janice und reckte den Hals.

»Vergiss es!«, gab ich zurück. Mittlerweile hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. »Ich habe keine Lust, mit dir in irgendeinem unterirdischen Verließ festzusitzen!«

Aber Fortuna zog Janices Kühnheit eindeutig meiner Ängstlichkeit vor, denn kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, hörten wir wieder Stimmen. Da sie diesmal von allen Seiten auf uns zuzukommen schienen, hatten wir es so eilig, in Deckung zu gehen, dass wir fast die Stufen hinunterstürzten. Vor Anspannung keuchend gingen wir am Fuß der Treppe in die Hocke.

Wie sich herausstellte, mussten wir tatsächlich damit rechnen, jeden Moment entdeckt zu werden, denn die Stimmen kamen immer näher, bis schließlich jemand direkt oberhalb der Treppe stehen blieb. »O nein«, flüsterte ich, ehe Janice mir den Mund zuhalten konnte, »das ist er\«

Mit weit aufgerissenen Augen starrten wir uns an. Da wir mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes in Alessandros Keller kauerten, schien selbst Janice einer Begegnung nicht gerade mit Freude entgegenzublicken.

In dem Moment gingen rundherum die Lichter an, und wir sahen, dass Alessandro bereits im Begriff war, die Treppe herunterzukommen, dann aber mitten in der Bewegung innehielt. »Ciao, Alessio, come stai ...?«, hörten wir ihn jemanden begrüßen. Janice und ich starrten uns an. Wir begriffen beide, dass uns die Demütigung vorerst noch erspart blieb, wenn auch vermutlich nur für ein paar Minuten.

Als wir uns daraufhin panisch nach weiteren Fluchtmöglichkeiten umblickten, stellten wir fest, dass wir tatsächlich in einer unterirdischen Sackgasse gefangen waren, genau, wie ich es vorhergesagt hatte. Abgesehen von drei klaffenden Löchern in der Wand - den schwarzen Mündungen von Bottini-Gängen - gab es keinen anderen Ausweg als den nach oben, vorbei an Alessandro. Die Höhlen zu betreten war unmöglich, da die Mündungen mit schwarzen Eisengittern versehen waren.

Doch zu einer Tolomei sollte man niemals nie sagen. Der Gedanke, hier in der Falle zu sitzen, ging uns beiden derart gegen den Strich, dass wir aufstanden und mit zitternden Fingern die Gitter untersuchten. Während ich in erster Linie herauszufinden versuchte, ob wir uns nicht irgendwo mit roher Gewalt hindurchzwängen konnten, befühlte Janice fachmännisch jeden Bolzen und jedes Scharnier. Offenbar weigerte sie sich zu akzeptieren, dass sich die Gitter nicht irgendwie öffnen ließen. Für sie gab es in jeder Wand eine Tür, zu jeder Tür einen Schlüssel - oder anders ausgedrückt, zu jedem Problem einen Lösungsknopf. Man musste ihn einfach nur finden.

»Psst!« Sie winkte mich hektisch heran, um mir zu demonstrieren, dass das dritte und letzte Gitter tatsächlich wie eine Tür aufschwang, noch dazu ohne das leiseste Ächzen. »Komm!«

Wir gingen so weit in die Höhle hinein, wie das Licht reichte, und stolperten dann noch ein paar Schritte in vollkommener Dunkelheit weiter, ehe wir schließlich stehen blieben. »Wenn wir eine Taschenlampe hätten ...«, begann Janice. »Oh, Mistl« Wir wären beinahe mit den Köpfen zusammengeknallt, als plötzlich ein Lichtstrahl fast bis zu der Stelle fiel, wo wir standen. Ein paar Zentimeter mehr, und der Strahl hätte uns erfasst. Dann zog sich das Licht wieder zurück wie eine Welle, die ans Ufer geklatscht war und nun wieder aufs Meer hinausschwappte.

Vor Erleichterung keuchend, weil wir erneut so knapp der Entdeckung entgangen waren, stolperten wir weiter in die Höhle hinein, bis wir schließlich eine Art Nische fanden, die groß genug war, um uns beide zu verschlucken. »Kommt er? Kommt er?«, zischte Janice, die nichts sehen konnte, weil ich ihr die Sicht versperrte. »Ist er das?«

Ich streckte kurz den Kopf vor, zog ihn aber schnell wieder zurück. »Ja, ja und ja!«

Geblendet vom grellen, hin und her schwankenden Lichtstrahl seiner Taschenlampe hatte ich kaum etwas erkennen können, doch nach einer Weile pendelte sich alles ein, so dass ich einen weiteren Blick riskierte. Es war tatsächlich Alessandro - oder vielleicht sollte ich besser sagen, irgendeine Version von Romeo -, und soweit ich sehen konnte, war er stehengeblieben, um eine kleine Tür an der Höhlenwand aufzusperren, wobei er die Taschenlampe fest unter einen Arm geklemmt hielt.

»Was macht er?«, wollte Janice wissen.

»Sieht aus wie eine Art Safe ... Er nimmt etwas heraus. Eine Kiste.«

Janice grub aufgeregt die Finger in meinen Arm. »Vielleicht ist es der Cencio !«

Ich spähte noch einmal hinaus. »Nein, dafür ist das Ding zu klein. Eher eine Zigarrenkiste.«

»Habe ich es doch gewusst! Er raucht.«

Aufmerksam sah ich zu, wie Alessandro den Safe wieder absperrte und mit der Kiste zurück in Richtung Museum verschwand. Wenige Augenblicke später schloss sich das Eisengitter mit einem Klirren, das viel zu lang durch die Bottini - und unsere Ohren - hallte.

»O nein!«, stöhnte Janice.

»Das heißt jetzt aber nicht ...!« In der Hoffnung, dass sie meine Bedenken sofort wieder zerstreuen würde, drehte ich mich nach ihr um. Doch selbst in der Dunkelheit sah ich ihre erschrockene Miene.

»Na ja, ich habe mich schon gefragt, warum vorher nicht abgeschlossen war.«

»Was dich aber nicht abgehalten hat, oder?«, fauchte ich. »Und jetzt sitzen wir hier fest!«

»Wo bleibt denn dein Sinn für Abenteuer?« Janice versuchte stets, aus der Not eine Tugend zu machen, doch dieses Mal überzeugte sie nicht einmal sich selbst. »Ist doch super! Höhlenforschung hat mich schon immer interessiert. Irgendwo gibt es bestimmt einen Ausgang.« Sie sah mich an und kam offenbar zu dem Schluss, dass es ihre Nerven entspannen würde, mich ein wenig aufzuziehen: »Oder wäre es Wulietta wieber, Womeo würde wie wetten?«

Nachdem wir Tante Rose mal einen ganzen Abend lang mit Fragen genervt hatten, wie es denn in Italien sei und warum sie nie mit uns hin wolle, war Umberto auf die Idee gekommen, uns die römischen Katakomben zu beschreiben. Nachdem er uns beiden ein Geschirrtuch in die Hand gedrückt hatte, damit wir uns nützlich machen konnten, während er abspülte, erklärte er uns, die frühen Christen hätten sich in geheimen unterirdischen Höhlen getroffen, weil sie dort Versammlungen abhalten konnten, ohne Gefahr zu laufen, von Außenstehenden bei ihren Aktivitäten beobachtet und an den heidnischen Kaiser verraten zu werden. Darüber hinaus hätten sich diese frühen Christen der römischen Tradition der Einäscherung widersetzt, indem sie ihre Toten in Tücher hüllten und hinunter in die Höhlen brachten, wo sie die Leichen in Nischen in der Felswand legten und Bestattungsriten vollzogen, die mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zu tun hatten.

Wenn wir wirklich unbedingt nach Italien wollten, so schloss Umberto, dann würde er uns als Erstes diese Höhlen zeigen, damit wir uns all die interessanten Skelette ansehen könnten.

Während Janice und ich nun durch die Bottini wanderten, wo wir in der Dunkelheit ständig stolperten und abwechselnd die Führung übernahmen, musste ich plötzlich wieder an Umbertos gruselige Geschichten denken. Genau wie die Leute aus seinen Erzählungen wanderten wir hier durch unterirdische Gänge, um nicht entdeckt zu werden, und genau wie jene frühen Christen wussten auch wir nicht genau, wann und wo wir am Ende herauskommen würden - wenn überhaupt.

Eine kleine Hilfe war immerhin, dass Janice das Feuerzeug für ihre wöchentliche Zigarette dabeihatte. Etwa alle zwanzig Schritte blieben wir stehen und ließen es kurz aufflammen, um sicherzustellen, dass wir nicht im Begriff waren, in ein tiefes Loch zu fallen oder - wie Janice wimmernd meinte, als sich die Höhlenwand an einer Stelle plötzlich glitschig anfühlte - direkt in ein riesiges Spinnennetz zu rennen.

»Krabbeltiere«, bemerkte ich, während ich ihr das Feuerzeug abnahm, »sind unser geringstes Problem. Brauch nicht das ganze Gas auf. Womöglich müssen wir hier die Nacht verbringen.«

Eine Weile marschierten wir schweigend dahin - ich voraus, und dicht hinter mir Janice, die sich murmelnd darüber ausließ, dass Spinnen es feucht mochten -, bis ich mit dem Fuß an einem vorstehenden Felsen hängen blieb und mir auf dem rauen Boden derart die Knie und Handgelenke auf riss, dass ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre, hätte ich es nicht so eilig gehabt nachzusehen, ob das Feuerzeug noch intakt war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Janice mit angstvoller Stimme. »Kannst du noch gehen? Ich glaube nicht, dass ich es schaffe, dich zu tragen.«

»Keine Sorge«, knurrte ich, während ich an meinen Fingern schnüffelte, die eindeutig nach Blut rochen. »Geh du wieder voraus. Hier ...« Ich drückte ihr das Feuerzeug in die Hand. »Hals- und Beinbruch.«

Nachdem Janice die Führung übernommen hatte, nutzte ich die Gelegenheit, ein wenig zurückzufallen und meine Kratzer - sowohl die körperlichen als auch die seelischen - zu untersuchen, während wir uns weiter ins Unbekannte vortasteten. Die Haut an meinen Knien hing mehr oder weniger in Fetzen herab, doch verglichen mit dem Aufruhr in meinem Inneren war das eine Lappalie.

»Jan?« Im Gehen berührte ich sie am Rücken. »Glaubst du, er hat mir absichtlich nicht erzählt, dass er Romeo ist, weil er wollte, dass ich mich aus den richtigen Gründen in ihn verliebe, und nicht nur wegen seines Namens?«

Dass sie statt einer Antwort nur stöhnte, konnte ich ihr wohl nicht verdenken.

»Du meinst also«, fuhr ich fort, »er hat mir nur deswegen nicht gesagt, dass er Romeo ist, weil er auf keinen Fall wollte, dass eine nervige Virgitarierin seine Tarnung auffliegen lässt?«

»Jules!« Janice war so darauf konzentriert, sich durch die bedrohliche Schwärze zu tasten, dass sie für meine Spekulationen wenig Geduld aufbrachte. »Könntest du bitte damit aufhören, dich selbst zu quälen? Wir wissen doch nicht mal, ob er wirklich Romeo ist. Und selbst wenn, werde ich ihm trotzdem den Arsch aufreißen, weil er dich so behandelt.«

Trotz ihres zornigen Tonfalls erstaunte es mich einmal mehr, dass sie sich wegen meiner Gefühle Gedanken machte. Allmählich fragte ich mich, ob es sich dabei tatsächlich um ein völlig neues Phänomen handelte, oder ob es mir früher nur nicht aufgefallen war.

»Fakt ist nämlich«, fuhr ich fort, »dass er im Grunde nie behauptet hat, ein Salimbeni zu sein. Das habe immer ich ... oje!« Beinahe wäre ich erneut gestürzt. Ich klammerte mich an Janice, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

»Lass mich raten«, sagte sie und betätigte das Feuerzeug, damit ich ihre hochgezogenen Augenbrauen sehen konnte, »er hat also auch nie behauptet, etwas mit dem Einbruch ins Museum zu tun zu haben?«

»Das war Bruno Carrera!«, rief ich. »Er hat für Umberto gearbeitet!«

»O nein, Julia-Baby«, höhnte Janice mit verstellter Stimme, klang dabei aber kein bisschen wie Alessandro, »ich habe Romeos Cencio nicht gestohlen ... warum hätte ich das tun sollen? Für mich ist das bloß ein alter Fetzen. Aber gib her, ich trage das scharfe Messer für dich, damit du dich nicht verletzt. Wie hast du es genannt? ... Einen Dolch?«

»So war das überhaupt nicht«, murmelte ich.

»Liebes, er hat dich angelogen!« Endlich ließ sie das Feuerzeug zuschnappen und setzte sich wieder in Bewegung. »Je eher du das in dein kleines Julia-Gehirn hineinbekommst, umso besser. Glaub mir, dieser Kerl hat null Gefühle für dich. Das ist alles nur eine große Scharade, um an die Edelsteine zu ... Autsch!« Dem Klang nach zu urteilen, hatte sie sich an irgendetwas den Kopf angestoßen. Wieder blieben wir stehen. »Was zum Teufel war das?« Janice wollte nachsehen, brachte das Feuerzeug aber erst beim dritten Versuch zum Brennen - und musste bei der Gelegenheit feststellen, dass ich weinte.

Der ungewohnte Anblick erschreckte sie derart, dass sie mich mit linkischer Zärtlichkeit in den Arm nahm. »Es tut mir leid, Jules. Ich will dich nur vor Herzschmerz bewahren.«

»Dabei sagst du doch immer, ich habe gar kein Herz.«

»Tja« - sie drückte mich - »anscheinend ist dir in letzter Zeit eines gewachsen. Eigentlich schade, ohne warst du lustiger.« Sie schaffte es, mich zum Lachen zu bringen, indem sie mit ihrer klebrigen, nach Mokka-Vanille riechenden Hand mein Kinn kraulte, und fuhr dann ganz gnädig fort: »Es ist sowieso meine Schuld. Ich hätte es kommen sehen müssen. Schließlich fährt der Kerl einen gottverdammten Alfa Romeo!«

Wären wir nicht an genau dieser Stelle stehengeblieben, noch dazu im letzten flackernden Licht des Feuerzeugs, dann hätten wir die Öffnung in der Höhlenwand zu unserer Linken wahrscheinlich nie bemerkt. Sie war kaum einen halben Meter tief, aber soweit ich sehen konnte, als ich mich auf den Boden kniete und den Kopf hineinstreckte, reichte sie - wie ein Luftschacht in einer Pyramide - mindestens zehn bis zwölf Meter hinauf und endete mit einem kleinen Muschelmuster aus blauem Himmel. Ich bildete mir sogar ein, Verkehrslärm zu hören.

»Gelobt sei Maria!«, rief Janice. »Wir sind wieder im Geschäft. Du zuerst. Alter vor Schönheit.«

Der Schmerz und die Frustration, die ich bei unserem Marsch durch den dunklen Tunnel empfunden hatte, waren nichts im Vergleich zu der Platzangst und den Höllenqualen, die ich litt, während ich mit meinen wunden Knien und Ellbogen den engen Schacht hinaufkletterte. Jedes Mal, wenn es mir gelungen war, mich mit Fingerspitzen und Zehen zwanzig Zentimeter hochzuarbeiten, rutschte ich gleich darauf wieder zehn hinunter.

»Nun komm schon«, drängte mich Janice von hinten, »leg mal einen Zahn zu!«

»Warum bist du denn nicht als Erste gegangen?«, fauchte ich zurück. »Schließlich bist du doch unser großes Ass im Felsenklettern.«

»Hier ...« Sie platzierte eine Hand unter meiner eleganten Sandale. »Nimm das als Trittbrett.«

Quälend langsam kämpften wir uns ganz hinauf. Obwohl sich der Schacht im letzten Teil beträchtlich weitete - so dass Janice neben mich kriechen konnte -, blieb er doch ein ekliger Ort.

»Igitt!«, rief Janice, als sie sah, welchen Müll die Leute durch das Gitter geworfen hatten. »Das ist ja widerlich! Ist das ... ein Cheeseburger?«

»Kannst du Käse darin entdecken?«

»Sieh mal!« Sie griff nach etwas. »Ein Handy! Mal sehen ... Nein, schade. Akku leer.«

»Wenn du fertig bist mit Mülldurchwühlen, können wir dann weiterklettern?«

Wir bahnten uns mit den Ellbogen einen Weg durch Widerwärtigkeiten, die sich mit Worten nicht beschreiben ließen, bis wir schließlich den künstlerisch gestalteten Kanaldeckel erreichten, der uns von der Erdoberfläche trennte. »Wo sind wir?« Janice presste die Nase gegen das filigrane Bronzegitter, und wir blickten beide zu den vorübereilenden Beinen und Füßen hinaus. »Es scheint eine Art Platz zu sein. Sehr groß.«

»Lieber Himmel!«, rief ich aus, als mir klar wurde, dass ich diesen Platz schon viele Male gesehen hatte, wenn auch aus völlig anderer Perspektive. »Ich weiß genau, wo wir sind. Das ist der Campo.« Ich klopfte gegen den Deckel. »Autsch! Der ist ziemlich stabil!«

»Hallo? Hallo?« Janice reckte den Hals, um besser sehen zu können. »Hört mich jemand? Ist da jemand?«

Ein paar Sekunden später kam ein ungläubig dreinblickendes junges Mädchen mit einer Eiswaffel und grünen Lippen in Sicht. Sie beugte sich zu uns herunter. »Ciao«, sagte sie und lächelte dabei, als wären wir von Versteckte Kamera, »ich bin Antonella.«

»Hallo, Antonella.« Ich versuchte, Blickkontakt mit ihr herzustellen. »Sprichst du Englisch? Wir sitzen hier irgendwie fest. Meinst du, du könntest ... jemanden finden, der uns heraushilft?«

Zwanzig ausgesprochen peinliche Minuten später kehrte Antonella mit einem Paar nackten Füßen in Sandalen wieder.

»Maestro Lippi?« Ich war so erstaunt, meinen Freund, den Maler, zu sehen, dass mir die Stimme fast den Dienst versagte. »Erinnern Sie sich an mich? Ich habe auf Ihrer Couch übernachtet.«

»Natürlich erinnere ich mich!«, antwortete er strahlend. »Wie geht es Ihnen?«

»Ähm ...«, sagte ich, »meinen Sie, es wäre möglich, dieses ... Ding zu entfernen?« Ich schob meine Finger durch das Gitter. »Wir stecken irgendwie fest. Das hier ist übrigens meine Schwester.«

Maestro Lippi ging in die Knie, um uns besser sehen zu können. »Sie beide haben wohl verbotene Wege beschritten?«

Ich bedachte ihn mit meinem schüchternsten Lächeln. »Ich fürchte, ja.«

Der Maestro runzelte die Stirn. »Haben Sie ihr Grab gefunden? Haben Sie ihr die Augen gestohlen? Hatte ich Sie nicht gebeten, sie dort zu lassen, wo sie hingehören?«

»Wir haben nichts dergleichen getan ! « Ich warf einen raschen Blick zu Janice hinüber, um sicherzugehen, dass auch sie einen ausreichend unschuldigen Eindruck machte. »Wir sitzen hier in der Falle, das ist alles. Glauben Sie, dieses Ding ...« - wieder klopfte ich gegen das Kanalgitter, das sich nach wie vor ziemlich stabil anfühlte - »lässt sich irgendwie aufschrauben?«

»Natürlich«, antwortete er, ohne zu zögern, »das geht ganz einfach.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher!« Er hob beide Hände. »Schließlich habe ich es gemacht!«

 

Zum Abendessen gab es Pasta Primavera aus der Dose, aufgepeppt mit einem Zweig Rosmarin von Maestro Lippis Fensterbrett. Als Draufgabe bekamen wir eine Schachtel Pflaster für unsere Schürfwunden. Zu dritt passten wir kaum an den Tisch in seinem Atelier, weil wir uns den Platz mit etlichen Kunstwerken sowie Topfpflanzen in unterschiedlichen Stadien des Dahinwelkens teilen mussten, doch er und Janice hatten trotzdem eine Menge Spaß.

»Sie sind heute sehr still«, bemerkte der Künstler irgendwann an mich gewandt, während er sich von seinem letzten Lachanfall erholte und uns Wein nachschenkte.

»Julia hatte einen kleinen Zusammenstoß mit Romeo«, erklärte Janice statt meiner. »Er hat sie mit dem Mond verglichen. Ein böses Foul.«

»Ah«, meinte Maestro Lippi, »er war gestern Abend hier. Er wirkte gar nicht glücklich. Jetzt weiß ich, warum.«

»Er war gestern Abend hier?«, wiederholte ich.

»Ja.« Der Maestro nickte. »Er hat gesagt, Sie sehen gar nicht so aus wie auf dem Bild, sondern noch viel schöner. Und viel - wie hat er noch mal gesagt? - ach ja, viel ... tödlicher.« Mit einem verschwörerischen Grinsen prostete der Maestro mir zu.

»Hat er zufällig auch erwähnt«, fragte ich, wider Willen mit leicht beleidigtem Unterton, »warum er schon die ganze Zeit schizophrene Spielchen mit mir treibt, statt mir gleich zu sagen, dass er Romeo ist? Ich habe ihn für einen anderen gehalten.«

Maestro Lippi starrte mich überrascht an. »Aber haben Sie ihn denn nicht erkannt?«

»Nein!« Frustriert fasste ich mir an den Kopf. »Ich habe ihn genauso wenig erkannt wie er mich!«

»Was genau können Sie uns über diesen Kerl erzählen?«, wandte sich Janice an den Maestro. »Wie viele Leute wissen davon, dass er Romeo ist?«

»Ich weiß bloß«, antwortete Maestro Lippi achselzuckend, »dass er nicht Romeo genannt werden will. Nur seine Familie nennt ihn so. Es ist ein großes Geheimnis. Keine Ahnung, warum. Er möchte Alessandro Santini genannt werden ...«

Ich schnappte nach Luft. »Sie haben die ganze Zeit gewusst, wie er heißt! Warum haben Sie mir das denn nicht gesagt?«

»Ich dachte, Sie wüssten es!«, gab der Maestro zurück. »Sie sind doch Julia! Vielleicht brauchen Sie eine Brille!«

»Entschuldigen Sie die dumme Frage«, mischte Janice sich ein, während sie gleichzeitig über einen Kratzer an ihrem Arm rieb, »aber woher wissen Sie denn, dass er Romeo ist?«

Maestro Lippi starrte sie verblüfft an. »Ich ... ich ...«

Sie griff nach einem weiteren Pflaster. »Erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, dass Sie ihn aus einem früheren Leben kennen.«

»Nein«, entgegnete der Maestro stirnrunzelnd, »ich habe ihn auf dem Fresko erkannt. Im Palazzo Pubblico. Und dann habe ich auch noch den Marescotti-Adler an seinem Arm gesehen ...« - er nahm mich am Handgelenk und deutete auf die Innenseite meines Unterarms -, »genau hier. Ist Ihnen der nie aufgefallen?«

Für ein paar Sekunden befand ich mich wieder im Untergeschoss des Palazzo Salimbeni und versuchte, nicht auf Alessandros Tätowierungen zu starren, während wir über meinen mutmaßlichen Verfolger sprachen. Selbst damals war mir klar gewesen, dass es sich - im Gegensatz zu Janices kitschigem Kinderkram - nicht um Souvenirs aus zugedröhnten Semesterferien in Amsterdam handelte. Dass diese Tätowierungen wichtige Hinweise auf seine Identität bargen, hatte ich allerdings nicht begriffen. Nein, ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, an der Wand seines Büros nach Diplomen und Vorfahren Ausschau zu halten, um zu erkennen, dass ich es mit einem Mann zu tun hatte, der seine Vorzüge nicht in einem Silberrahmen zur Schau stellte, sondern sie - in welcher Form auch immer - am Leibe trug.

»Nicht, dass ich das Thema wechseln möchte«, erklärte ich und griff nach meiner Handtasche, »aber wären Sie eventuell so nett, uns etwas zu übersetzen?« Ich reichte Maestro Lippi den italienischen Text aus der Truhe meiner Mutter, den ich in der Hoffnung, einen willigen Übersetzer zu finden, schon seit Tagen mit mir herumtrug. Ursprünglich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Alessandro zu bitten, aber irgendetwas hatte mich zurückgehalten. »Wir glauben, es könnte wichtig sein.«

Der Maestro nahm den Text entgegen und überflog die Überschrift und die ersten paar Absätze. »Das ist eine Erzählung«, erklärte er ein wenig überrascht. »Sie trägt den Titel La Maledizione sul Muro ... Der Fluch an der Wand. Sie ist ziemlich lang. Sind Sie sicher, dass Sie sie hören wollen?