IV.III
Ja, ja! geritzt! geritzt!
Wetter, 's ist genug.
Wo ist mein Bursch?
Geh, Schurk! Hol einen Wundarzt
Mit sehr gemischten Gefühlen verließ ich das Eulenmuseum. Einerseits empfand ich es als Erleichterung, dass der Cencio und Romeos Dolch nun in Peppos Safe lagen. Andererseits bedauerte ich, die Sachen so schnell aus der Hand gegeben zu haben. Was, wenn es der Wunsch meiner Mutter gewesen war, dass ich sie für einen bestimmten Zweck benutzte? Was, wenn sie irgendeinen Hinweis darauf bargen, wo sich Julias Grab befand?
Auf dem Rückweg zum Hotel quälte mich der Wunsch, kehrtzumachen und meine Schätze wieder einzufordern. Ich gab diesem Wunsch nur deswegen nicht nach, weil mir klar war, dass meine Befriedigung darüber, die Sachen wiederzuhaben, von der Sorge überschattet sein würde, was wohl als Nächstes mit ihnen passieren würde. Wer sagte mir, dass sie in Direttor Rossinis Safe sicherer waren als in dem von Peppo? Mein Verfolger wusste schließlich, wo ich wohnte - wie hätte er sonst in mein Zimmer einbrechen können? -, und früher oder später würde er herausfinden, wo ich meine Sachen aufbewahrte.
Ich glaube, in dem Moment blieb ich mitten auf der Straße wie angewurzelt stehen. Mir war bisher gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich kaum etwas Dümmeres tun konnte, als ins Hotel zurückzukehren, auch wenn ich die kostbaren Gegenstände inzwischen nicht mehr bei mir trug. Zweifellos wartete der Kerl nur darauf, dass ich genau das tat, und nach unserem kleinen Versteckspiel im Universitätsarchiv war er vermutlich nicht besonders großherzig gestimmt.
Ich sollte auf jeden Fall das Hotel wechseln, und zwar so, dass sich meine Spur verlor. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, in den nächsten Flieger zurück nach Virginia zu springen?
Nein. Ich durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt, wo ich endlich ein wenig vorankam. Ich musste mir ein anderes Hotel suchen, und zwar am besten heute Abend, im Schutz der Dunkelheit. Ab jetzt war ich unsichtbar, gerissen und gefährlich. Diesmal würde Julia es allen zeigen.
In der Straße, in der das Hotel Chiusarelli lag, gab es auch ein Polizeirevier. Ich trödelte ein wenig davor herum, und während ich zusah, wie die Beamten kamen und gingen, fragte ich mich, ob das wirklich ein kluger Schachzug wäre - mich bei den örtlichen Vertretern des Gesetzes bekanntzumachen und zu riskieren, dass sie hinter meine Doppelidentität kamen. Am Ende beschloss ich, es lieber sein zu lassen. Aufgrund meiner Erfahrungen in Rom und Kopenhagen wusste ich, dass Polizeibeamte genau wie Journalisten sind: Sie hören sich deine Geschichte zwar an, ziehen es dann aber vor, ihre eigene zu fabrizieren.
Also ging ich zurück in die Innenstadt, wobei ich mich alle zehn Schritte nach einem potentiellen Verfolger umdrehte und gleichzeitig überlegte, welche Taktik ich nun konkret anwenden sollte. Ich machte sogar einen Abstecher in die Bank im Palazzo Tolomei, um in Erfahrung zu bringen, ob Presidente Maconi vielleicht Zeit hatte, mich zu empfangen und zu beraten. Unglücklicherweise war dem nicht so, aber die Schalterangestellte mit den schmalen Brillengläsern - inzwischen meine beste Freundin - versicherte mir, dass er sich bestimmt sehr freuen würde, mich wiederzusehen, wenn er aus seinem Urlaub am Comer See zurückkam. Was allerdings noch zehn Tage dauern würde.
Seit meiner Ankunft in Siena war ich bereits mehrfach am furchteinflößenden Haupteingang von Monte dei Paschi vorübergegangen. Ich hatte jedes Mal meine Schritte beschleunigt, um möglichst schnell und unbemerkt an dieser Salimbeni-Festung vorbeizukommen, und dabei sogar den Kopf eingezogen, weil ich nicht wusste, ob das Büro des Sicherheitschefs auf den Corso oder auf eine andere Seite hinausging.
Heute aber war das anders. Heute war der Tag, an dem ich den Stier bei den Hörnern packen und so richtig schütteln wollte. Entschlossen steuerte ich auf die gotische Eingangstür zu und stellte beim Hineingehen sicher, dass die Überwachungskamera eine schöne Aufnahme von meiner neuen Geisteshaltung einfing.
Für ein Gebäude, das von Feindesfamilien - unter anderem meiner eigenen - niedergebrannt, von einem wütenden Mob in seine Einzelteile zerlegt und von seinen Besitzern mehrmals wieder aufgebaut worden war, um dann irgendwann von der Regierung konfisziert und im Jahre 1472 als Finanzbetrieb wiedergeboren zu werden, so dass es heute als das älteste noch existierende Bankgebäude der Welt gilt, war der Palazzo Salimbeni ein bemerkenswert friedlicher Ort. Bei der Gestaltung der Innenräume hatte man mittelalterliche und moderne Elemente so kombiniert, dass beides gut zur Geltung kam. Während ich auf den Empfangsbereich zusteuerte, hatte ich das Gefühl, dass sich die große zeitliche Lücke, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart klaffte, um mich herum ganz nahtlos schloss.
Der Herr am Empfang telefonierte gerade, hielt aber sofort eine Hand über den Hörer, um mich - erst auf Italienisch und dann auf Englisch - zu fragen, zu wem ich denn wolle. Als ich ihm erklärte, ich sei eine Freundin des Sicherheitschefs und hätte eine dringende Angelegenheit mit ihm zu besprechen, lächelte mich der Mann an und erklärte, das, wonach ich suche, sei im Untergeschoss zu finden.
Angenehm überrascht, dass er mich ohne Begleitung oder Ankündigung durchließ, marschierte ich betont lässig die Treppe hinunter, obwohl in meiner Brust eine ganze Tanzgruppe aus kleinen Mäusen herumhüpfte. Während meiner wilden Flucht vor dem Kerl im Trainingsanzug hatten sie sich seltsamerweise ganz ruhig verhalten, doch nun gaben sie ihr Bestes - und das nur, weil ich gleich Alessandro treffen würde.
Nach unserem abrupten Abschied am Vorabend hatte ich ehrlich gesagt nicht den Wunsch verspürt, ihn jemals wiederzusehen. Was bestimmt auf Gegenseitigkeit beruhte. Trotzdem war ich nun hier, schnurstracks unterwegs in sein Hauptquartier, und hatte dafür keinen anderen Beweggrund als puren Instinkt. Janice sagte immer, Instinkt sei nichts anderes als Vernunft unter Zeitdruck. Was den Teil mit der Vernunft betraf, war ich mir nicht so sicher. Meine Vernunft sagte mir, dass Alessandro und die Salimbenis höchstwahrscheinlich bei all den schlimmen Dingen, die mir gerade passierten, die Finger im Spiel hatten, wohingegen mein Instinkt mir sagte, dass ich mich auf den Mann verlassen konnte - und sei es nur insofern, als er mir bestimmt wieder zu verstehen geben würde, wie unsympathisch ich ihm war.
Während ich in den Keller hinunterstieg, wurde die Luft merklich kühler, und Spuren des ursprünglichen Gebäudes kamen zum Vorschein. Die Mauern, die mich hier unten umgaben, waren rau und alt. Damals im Mittelalter hatte dieses Fundament einen hohen Turm getragen, vielleicht sogar von der Höhe des Mangia-Turms auf dem Campo. Die ganze Stadt war voll gewesen von diesen Turmbauten, die in unruhigen Zeiten als Festungen dienten.
Am Fuß der Treppe zweigte ein schmaler Gang in die Dunkelheit ab, und die eisenverstärkten Türen zu beiden Seiten gaben einem das Gefühl, sich in einer Folterkammer zu befinden. Ich befürchtete schon, falsch abgebogen zu sein, als ich plötzlich durch eine halb offenstehende Tür mehrere Stimmen laut aufschreien und dann in Jubel ausbrechen hörte.
Nervös näherte ich mich der Tür. Egal, ob ich Alessandro hier unten antraf oder nicht, ich würde auf jeden Fall eine Menge Erklärungen abgeben müssen, und Logik war noch nie meine Stärke gewesen. Als ich vorsichtig hineinspähte, sah ich einen Tisch voller Metallteile und halb verspeister Sandwiches, eine Wand voller Gewehre, und drei Männer in T-Shirts und Uniformhosen, die um einen kleinen Fernseher herumstanden. Einer von ihnen war Alessandro. Erst dachte ich, sie würden Aufnahmen betrachten, die ihnen eine der Überwachungskameras im Gebäude lieferte, doch als sie plötzlich alle aufstöhnten und sich an den Kopf fassten, begriff ich, dass sie sich ein Fußballspiel ansahen.
Nachdem auf mein erstes Klopfen niemand reagierte, trat ich einen Schritt in den Raum hinein - nur einen ganz kleinen Schritt - und räusperte mich. Nun wandte Alessandro endlich den Kopf, um zu sehen, wer die Frechheit besaß, während des Spiels zu stören. Bei meinem Anblick machte er ein Gesicht, als hätte ihm gerade jemand eine Bratpfanne über den Kopf gezogen.
»Tut mir leid, dass ich störe«, sagte ich mit einem zaghaften Lächeln und gab mir gleichzeitig große Mühe, nicht auszusehen wie Bambi auf Stelzen, obwohl ich mich genau so fühlte, »aber hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich?«
Wenige Sekunden später hatten die beiden anderen Männer bereits den Raum verlassen. Im Gehen hatten sie nach ihren Waffen und Uniformjacken gegriffen und sich die Reste ihrer Sandwiches in den Mund geschoben.
»So«, sagte Alessandro, während er dem Fußballspiel den Garaus machte und die Fernbedienung beiseite warf, »nun bin ich aber neugierig.« Er war definitiv kein Mann vieler Worte. Die Art, wie er mich ansah, ließ allerdings vermuten, dass er - ungeachtet der Tatsache, dass ich zum kriminellen Abschaum der Gesellschaft gehörte - insgeheim erfreut war mich zu sehen.
Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und betrachtete die Waffen an der Wand. »Ist das Ihr Büro?«
»Ja ...«Er zog einen heruntergerutschten Hosenträger hoch und ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder. »Hier unten führen wir unsere Befragungen durch. Meist trifft es Amerikaner. Früher war es mal eine Folterkammer.«
Sein herausfordernder Blick ließ mich mein Unbehagen und den Anlass meines Kommens fast vergessen. »Das passt zu Ihnen.«
»Fand ich auch.« Er stemmte einen schweren Stiefel gegen die Seite des Tisches und ließ sich dann nach hinten sinken, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. »Also schießen Sie los, ich höre Ihnen zu. Sie haben bestimmt einen handfesten Grund für Ihren Besuch.«
»Als handfest würde ich ihn nicht gerade bezeichnen.« Ich wandte den Blick ab und versuchte mich vergeblich an die offizielle Version meiner Geschichte zu erinnern, die ich mir auf dem Weg nach unten zurechtgelegt hatte. »Sie halten mich ja offensichtlich für ein ganz raffiniertes Luder ...«
»Da kenne ich schlimmere.«
»... und ich gehöre auch nicht gerade zu Ihrem Fanclub.«
Er lächelte ironisch. »Trotzdem sind Sie hier.«
Während ich die Arme vor der Brust verschränkte, musste ich mir ein nervöses Lachen verbeißen. »Mir ist bekannt, dass Sie mich nicht für Giulietta Tolomei halten, aber wissen Sie, was? Das ist mir egal. Was ich Ihnen zu sagen habe, lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen ...« Ich musste schlucken, ehe ich weitersprechen konnte. »Jemand versucht mich zu töten.«
»Sie meinen, abgesehen von Ihnen selbst?«
Sein Sarkasmus half mir, mich wieder zu fangen. »Jedenfalls ist ein Kerl hinter mir her«, antwortete ich schroff. »Von der übelsten Sorte. Trägt immer Trainingsanzug. Echter Abschaum. Anfangs dachte ich, er wäre ein Freund von Ihnen.«
Alessandro zuckte nicht mal mit der Wimper. »Und was erwarten Sie jetzt von mir?«
»Keine Ahnung ...« Ich hielt in seinen Augen nach einem Funken Mitgefühl Ausschau. »Vielleicht, dass Sie mir helfen?«
Da war doch ein Funke - allerdings eher einer des Triumphes. »Warum sollte ich?«, fragte er. »Helfen Sie mir auf die Sprünge.«
»Hey«, rief ich, über seine Einstellung ehrlich entsetzt, »immerhin bin ich eine ... Maid in Not!«
»Und wer bin ich, Zorro?«
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Mittlerweile ärgerte ich mich über mich selbst. Wie war ich nur auf die Idee gekommen, mein Schicksal könnte ihn interessieren? »Ich dachte, italienische Männer wären empfänglich für weiblichen Charme.«
Er ließ sich meinen Einwand kurz durch den Kopf gehen. »Sind wir ja auch. Wenn uns welcher unterkommt.«
»Also gut, hören Sie zu.« Ich versuchte, meinen Zorn hinunterzuschlucken. »Sie wollen, dass ich mich zum Teufel schere, und das werde ich auch. Ich werde in die Staaten zurückkehren und Sie und Ihre märchenhafte Patentante nie wieder belästigen. Aber vorher möchte ich wissen, wer dieser Kerl ist, und dafür sorgen, dass ihm jemand den Arsch wegbläst.«
»Und dieser jemand bin ich?«
Ich funkelte ihn finster an. »Offenbar nicht. Ich war bloß der irrigen Annahme, Sie würden vielleicht nicht wollen, dass ein solcher Kerl in Ihrem teuren Siena sein Unwesen treibt. Aber ...« - ich machte Anstalten, mich zu erheben - »wie ich sehe, habe ich Sie da völlig falsch eingeschätzt.«
Nun endlich lehnte sich Alessandro nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Tisch und fragte mich mit gespielter Besorgnis: »Na schön, Miss Tolomei, dann erklären Sie mir doch mal, warum Sie glauben, dass Ihnen jemand nach dem Leben trachtet.«
Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo ich hinsollte - ich wäre auf der Stelle aus seinem Büro marschiert, hätte er mich nicht endlich Miss Tolomei genannt. »Nun ja ...«, begann ich, während ich verlegen auf die vordere Kante meines Stuhles rutschte, »wie wäre es damit: Er ist mir durch die Straßen gefolgt, in mein Hotelzimmer eingebrochen und heute Vormittag mit einer Schusswaffe in der Hand hinter mir hergeschlichen ...«
»Das«, sagte Alessandro, der aussah, als müsste er meinetwegen viel Geduld aufbringen, »heißt noch nicht, dass er wirklich vorhat, Sie zu töten.« Für einen Moment betrachtete er mein Gesicht, dann runzelte er die Stirn. »Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen?«
»Aber das tue ich doch! Ich schwöre es!« Ich überlegte, was ich noch sagen könnte, um ihn zu überzeugen, doch mein Blick wurde wie magisch von den Tätowierungen auf seinem rechten Unterarm angezogen. Mein Gehirn brauchte eine Weile, um diese Information zu verarbeiten. Das war nicht der Alessandro, mit dem ich hier im Palazzo Salimbeni gerechnet hatte. Der Alessandro, den ich kannte, wirkte geschliffen und subtil, wenn nicht sogar steif und altmodisch. Jedenfalls passte es ganz und gar nicht zu ihm, sich eine Libelle - oder was zum Teufel das sein mochte - ins Handgelenk ätzen zu lassen.
Falls er meine Gedanken erriet, ließ er es sich nicht anmerken. »Nicht die ganze Wahrheit. Da fehlen noch eine Menge Puzzleteile zum großen Bild.«
Ruckartig richtete ich mich auf. »Wie kommen Sie darauf, dass es ein großes Bild gibt?«
»Das gibt es immer. Los, nun erzählen Sie mir schon, hinter was er her ist.«
Ich holte tief Luft. Mir war nur allzu bewusst, dass ich mich selbst in diese Situation gebracht hatte und ich ihm eine substantiellere Erklärung schuldete. »Also gut«, sagte ich schließlich, »ich glaube, er hat es auf etwas abgesehen, das meine Mutter mir hinterlassen hat. Irgendein Familienerbstück, das meine Eltern vor Jahren gefunden haben, und von dem meine Mutter wollte, dass ich es bekomme. Deswegen hat sie es an einem Ort versteckt, wo nur ich es finden konnte. Und warum? Weil ich - ob es Ihnen gefällt oder nicht - Giulietta Tolomei bin.«
Ich bekräftigte meine Worte mit einem trotzigen Blick. Dabei stellte ich fest, dass der Ausdruck, mit dem er mich musterte, fast schon an ein Lächeln grenzte. »Und, haben Sie das Erbstück gefunden?«, fragte er.
»Ich glaube nicht. Noch nicht. Bisher beschränkt sich meine Ausbeute auf eine rostige Truhe voller Papiere, ein altes Banner und eine Art Dolch, und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen ...«
»Aspetti!« Alessandro forderte mich mit einer Handbewegung auf, eine Pause einzulegen. »Was für Papiere, was für ein Banner?«
»Geschichten, Briefe. Albernes Zeug. Das wollen Sie bestimmt nicht hören. Und bei dem Banner handelt es sich allem Anschein nach um einen Cencio aus dem Jahre 1340. Er war um einen Dolch gewickelt, und ich habe beides in einer Schublade gefunden ...«
»Warten Sie! Wollen Sie damit behaupten, Sie haben den Cencio von 1340 gefunden?«
Es überraschte mich, dass er auf diese Neuigkeit noch heftiger reagierte als mein Cousin Peppo. »Ja, ich glaube schon. Anscheinend ist er etwas ganz Besonderes. Und der Dolch ...«
»Wo ist er?«
»An einem sicheren Ort. Ich habe ihn im Eulenmuseum gelassen.« Da ich merkte, dass er mir nicht folgen konnte, fügte ich hinzu: »Mein Cousin Peppo ist dort Kurator. Er hat mir versprochen, ihn in den Safe zu legen.«
Alessandro stöhnte auf und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.
»Was?«, fragte ich. »War das keine gute Idee?«
»Merda!« Er sprang auf, nahm eine Pistole aus einer Schublade und schob sie in das Halfter an seinem Gürtel. »Kommen Sie, lassen Sie uns gehen!«
»Moment mal! Was soll denn das?« Widerwillig stand ich auf. »Sie schlagen doch wohl nicht vor, dass wir mit dieser ... Knarre zu meinem Cousin gehen?«
»Nein, ein Vorschlag war das nicht. Los jetzt!«
Während wir den Gang entlangeilten, warf er einen kritischen Blick auf meine Füße. »Können Sie mit den Dingern rennen?«
»Hören Sie«, antwortete ich, während ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten, »damit eines von vorneherein klar ist: Ich halte nichts von Waffen. Ich will einfach nur Frieden. Verstanden?«
Alessandro blieb mitten auf dem Gang stehen und zückte seine Pistole. Bevor ich überhaupt begriff, was er da tat, hatte er sie mir bereits in die Hand gedrückt. »Spüren Sie das? Das ist eine Waffe. Sie existiert, und es gibt dort draußen eine Menge Leute, die durchaus etwas davon halten. Sie müssen also entschuldigen, wenn ich mich um diese Leute kümmere, damit Sie Ihren Frieden haben können.«
Wir verließen die Bank durch einen Hinterausgang und rannten eine Straße entlang, die auch für den motorisierten Verkehr zugelassen war. Das war nicht der Weg, den ich kannte, doch wie sich herausstellte, führte er uns direkt zur Piazzetta del Castellare. Während wir auf die Tür des Eulenmuseums zusteuerten, zückte Alessandro erneut die Waffe, doch ich tat, als bemerkte ich es nicht.
»Bleiben Sie hinter mir«, wies er mich an, »und falls es brenzlig wird, werfen Sie sich auf den Boden und schützen Sie den Kopf mit den Armen.« Ohne meine Antwort abzuwarten, legte er einen Finger an die Lippen und öffnete langsam die Tür.
Gehorsam betrat ich das Museum ein paar Schritte hinter ihm. Obwohl für mich außer Frage stand, dass er überreagierte, wollte ich ihm Gelegenheit geben, selbst zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Im gesamten Gebäude herrschte völlige Stille, und es gab keinerlei Anzeichen für irgendwelche kriminellen Aktivitäten. Wir gingen durch mehrere Räume, immer Alessandro mit der Waffe voraus, bis ich schließlich stehenblieb. »Das ist doch ...« Aber Alessandro brachte mich sofort zum Schweigen, indem er mir eine Hand über den Mund legte. Wir lauschten beide angespannt, und plötzlich hörte ich es auch: Irgendwo stöhnte jemand.
Rasch eilten wir durch die restlichen Räume und fanden schnell heraus, woher das Geräusch kam. Nachdem Alessandro sichergestellt hatte, dass es sich nicht um einen Hinterhalt handelte, stürmten wir hinein und fanden Peppo auf dem Boden seines eigenen Büros vor - angeschlagen, aber am Leben.
»O Peppo«, rief ich, während ich ihm zu helfen versuchte, »geht es dir gut?«
»Sehe ich so aus?«, gab er zurück. »Ich glaube, ich bin gestürzt. Ohne meine Krücke komme ich nicht hoch. Mein Bein tut's nicht mehr.«
»Moment ...« Als ich mich nach der Krücke umsah, fiel mein Blick auf den Safe in der Ecke. Er stand offen und war leer. »Hast du den Mann gesehen, der das getan hat?«
»Welchen Mann?« Peppo versuchte sich aufzusetzen, verzog aber vor Schmerzen das Gesicht. »Oh, mein Kopf! Ich brauche meine Tabletten. Salvatore! O nein, Salvatore hat ja heute frei... Was für ein Tag ist heute?«
»Non si muova!« Alessandro kniete sich neben ihn und untersuchte für einen Moment Peppos Beine. »Ich glaube, sein Schienbein ist gebrochen. Ich rufe einen Krankenwagen.«
»Nein!« Offenbar wollte Peppo nicht ins Krankenhaus. »Ich war gerade im Begriff, den Safe zu schließen. Versteht ihr? Ich muss den Safe schließen.«
»Um den Safe kümmern wir uns später«, sagte ich.
»Der Dolch ... er ist drüben im Konferenzraum. Ich habe ihn in einem Buch nachgeschlagen. Er muss auch in den Safe! Das Teufelsding bringt Unglück!«
Alessandro und ich wechselten einen Blick. Wir hielten es beide nicht für den richtigen Zeitpunkt, Peppo zu sagen, dass es viel zu spät war, um den Safe zu schließen. Der Cencio war zweifellos weg, genau wie alle anderen Schätze, die mein Cousin im Safe aufbewahrt haben mochte. Aber vielleicht hatte der Dieb den Dolch übersehen. Ich stand auf und ging ins Konferenzzimmer hinüber, wo tatsächlich Romeos Dolch auf dem Tisch lag, und daneben ein Fachbuch für Sammler mittelalterlicher Waffen.
Mit dem Dolch in der Hand kehrte ich in Peppos Büro zurück. Alessandro rief gerade einen Krankenwagen.
»Ah ja«, sagte mein Cousin beim Anblick des Dolches, »da ist er ja. Schnell in den Safe damit! Er bringt Unglück. Schau, was mir passiert ist. In dem Buch steht, dass dieser Dolch vom Geist des Teufels erfüllt ist.«
Peppo hatte nur eine leichtere Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Bein, aber die Ärztin bestand darauf, ihn sicherheitshalber an allerlei Maschinen anzuschließen und über Nacht im Krankenhaus zu behalten. Unglücklicherweise bestand sie außerdem darauf, ihn genau darüber zu informieren, was mit ihm passiert war.
»Sie erklärt ihm gerade, dass ihm jemand einen Schlag auf den Kopf verpasst und dann den ganzen Inhalt des Safes gestohlen hat«, übersetzte Alessandro im Flüsterton den temperamentvollen Wortwechsel zwischen der Ärztin und ihrem verschrobenen Patienten, »und er sagt, dass er mit einem richtigen Arzt sprechen will, und dass ihm niemals jemand in seinem eigenen Museum einen Schlag auf den Kopf verpassen würde.«
»Giulietta«, rief Peppo, als es ihm schließlich gelungen war, die Ärztin zu vertreiben, »was hältst du davon? Die Krankenschwester behauptet, jemand sei ins Museum eingebrochen!«
»Ich fürchte, das stimmt«, antwortete ich und nahm seine Hand. »Es tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld. Hätte ich nicht ...«
»Und wer ist der da?« Peppo beäugte Alessandro misstrauisch. »Ist er gekommen, um einen Bericht zu schreiben? Sag ihm, dass ich nichts gesehen habe.«
»Das ist Capitano Santini«, erklärte ich. »Er hat dich gerettet. Wäre er nicht gewesen, dann wärst du jetzt immer noch ... schlimm dran.«
»Hmm.« Peppo wirkte nach wie vor recht streitlustig. »Den habe ich schon mal gesehen. Das ist ein Salimbeni. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von diesen Leuten fernhalten?«
»Schhh! Bitte!« Ich versuchte ihn zu beruhigen, so gut ich konnte, war aber sicher, dass Alessandro jedes Wort mitbekommen hatte. »Du musst dich jetzt ausruhen.«
»Nein, das muss ich nicht! Ich muss mit Salvatore sprechen.
Wir müssen herausfinden, wer das war. In dem Safe lagen jede Menge wertvolle Schätze.«
»Ich fürchte, dem Dieb ging es nur um den Cencio und den Dolch«, entgegnete ich. »Hätte ich dir die Sachen nicht gebracht, wäre das alles nicht passiert.«
Peppo starrte mich verblüfft an. »Aber wer sollte ... oh!« Sein Blick wirkte plötzlich seltsam verhangen, als wäre er in eine nebulose Vergangenheit eingetaucht. »Natürlich! Warum habe ich daran nicht gleich gedacht? Aber warum sollte er das tun?«
»Von wem sprichst du?« Ich drückte seine Hand, um ihn dazu zu bringen, sich zu konzentrieren. »Weißt du, wer dir das angetan hat?«
Peppo packte mich am Handgelenk und betrachtete mich mit einem fiebrigen, durchdringenden Blick. »Er hat immer gesagt, dass er zurückkommen würde. Patrizio, dein Vater. Er hat immer gesagt, eines Tages würde Romeo kommen und sich alles zurückholen ... sein Leben ... seine Liebe ... alles, was wir ihm genommen haben.«
»Peppo« - ich streichelte seinen Arm - »ich glaube, du solltest jetzt versuchen zu schlafen.« Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie Alessandro Romeos Dolch in die Hand nahm und dabei die Stirn runzelte, als könnte er seine verborgenen Kräfte spüren.
»Romeo«, fuhr Peppo in schläfrigerem Ton fort, weil das Beruhigungsmittel endlich zu wirken begann, »Romeo Marescotti. Tja, man kann nicht ewig ein Geist bleiben. Vielleicht ist das seine Rache. An uns allen. Dafür, wie wir seine Mutter behandelt haben. Er war - wie sagt man? - un figlio illegittimo? ... Capitano?«
»Unehelich«, übersetzte Alessandro, der nun endlich zu uns trat.
»Si, sii«, nickte Peppo »Unehelich! Ein großer Skandal. Oh, sie war ein so schönes Mädchen ... Jedenfalls hat er sie hinausgeworfen ...«
»Wer?«, fragte ich.
»Marescotti. Der Großvater. Ein sehr altmodischer Mann. Aber sehr gutaussehend. Ich erinnere mich noch genau an die comparsa von '65 ... damals hat der legendäre Reiter Aceto zum ersten Mal gewonnen, müsst ihr wissen ... Ah, Topoione, ein schönes Pferd. Solche gibt es heutzutage gar nicht mehr ... Damals haben sie sich nicht die Knöchel verstaucht und sind dann disqualifiziert worden, und wir brauchten auch keine Tierärzte und Bürgermeister, die uns sagten, dass wir nicht starten durften ... uff!« Angewidert schüttelte er den Kopf.
»Peppo!« Ich tätschelte seine Hand. »Du hast von den Marescottis gesprochen. Von Romeo. Erinnerst du dich?«
»O ja! Es hieß immer, der Junge habe teuflische Hände. Alles, was er anfasste ... ging zu Bruch. Die Pferde haben verloren. Menschen sind gestorben. Zumindest behaupten das die Leute. Weil er nach Romeo benannt war. Er stammte von dieser Linie ab. Es liegt ihnen einfach im Blut ... Probleme zu machen. Bei ihm musste alles schnell und laut sein - er konnte einfach nicht stillsitzen. Immer Mopeds, immer Motorräder ...«
»Du hast ihn gekannt?«
»Nein, ich weiß nur, was die Leute erzählen. Die beiden sind nie zurückgekehrt. Er und seine Mutter. Kein Mensch hat sie je wieder zu Gesicht bekommen. Es heißt ... Es heißt, er ist gestorben. In Nassiriyah. Unter einem falschen Namen.«
Ich wandte mich zu Alessandro um, der meinen Blick mit ungewohnt finsterer Miene erwiderte. »Wo liegt Nassiriyah?«, flüsterte ich. »Wissen Sie das?«
Aus irgendeinem Grund befremdete ihn meine Frage, aber er hatte keine Zeit zu antworten, denn Peppo fuhr mit einem tiefen Seufzer fort: »Meiner Meinung nach ist es nur eine Legende. Die Leute lieben Legenden. Und Tragödien. Und Verschwörungstheorien. Im Winter ist es hier sehr ruhig.«
»Du glaubst also nicht, dass es stimmt?«
Wieder seufzte Peppo. Allmählich bekam er schwere Augenlider. »Ich weiß selber nicht mehr, was ich glauben soll. Ach, warum schicken die nicht endlich einen Doktor?«
In dem Moment flog die Tür auf, und die ganze Familie Tolomei kam in den Raum geströmt und versammelte sich unter lautem Jammern und Lamentieren rund um ihren gefallenen Helden. Als Peppos Frau Pia mich zur Seite stieß, um statt meiner den Platz neben ihrem Gatten einzunehmen, bedachte sie mich mit einem bitterbösen Blick, sagte aber kein Wort. Von den anderen kam ebenfalls nichts, was sich auch nur ansatzweise als Dankbarkeit interpretieren ließ. Um mir endgültig den Rest zu geben, wackelte genau in dem Moment, als ich mich zur Flucht bereitmachte, Nonna Tolomei zur Tür herein. Für sie bestand kein Zweifel, dass der eigentliche Missetäter bei der ganzen Sache nicht der Dieb war, sondern ich.
»Tu!«, knurrte sie, während sie mit dem Zeigefinger anklagend auf mein Herz zielte. »Bastarda!«
Sie gab noch eine Menge mehr von sich, was ich jedoch nicht verstand. Von ihrem Zorn hypnotisiert wie ein Reh vor einem heranbrausenden Zug, blieb ich wie angewurzelt stehen, bis mich Alessandro - entnervt von dieser Familienfete - am Ellbogen packte und auf den Gang hinauszerrte.
»Puh!«, keuchte ich. »Das ist vielleicht ein giftiges Frauenzimmer. Kaum zu glauben, dass sie meine Tante ist, oder? Was hat sie gesagt?«
»Nicht so wichtig«, antwortete Alessandro, während wir den Krankenhausgang entlanggingen. Dabei machte er ein Gesicht, als wünschte er, er hätte eine Handgranate mitgebracht.
»Immerhin habe ich verstanden, dass sie Sie einen Salimbeni genannt hat!«, verkündete ich voller Stolz.
»Ja, das hat sie. Und es war nicht als Kompliment gemeint.«
»Was hat sie über mich gesagt? Das habe ich nicht ganz mitbekommen.«
»Ist auch nicht so wichtig.«
»O doch.« Ich blieb mitten auf dem Gang stehen. »Wie hat sie mich genannt?«
Alessandro sah mich an. Sein Blick wirkte plötzlich weich. »Sie hat gesagt: Bastardkind. Du bist keine von uns.«
»Oh.« Das musste ich erst mal verdauen. »Es glaubt anscheinend kein Mensch, dass ich wirklich Giulietta Tolomei bin. Vielleicht habe ich das ja verdient. Vielleicht ist das eine besondere Art von Fegefeuer, reserviert für Menschen wie mich.«
»Ich glaube Ihnen.«
Ich starrte ihn überrascht an. »Tatsächlich? Das ist ja ganz was Neues. Seit wann denn das?«
Achselzuckend setzte er sich wieder in Bewegung. »Seit ich Sie heute bei mir in der Tür stehen sah.«
Da ich nicht wusste, wie ich auf seine plötzliche Freundlichkeit reagieren sollte, legten wir den Rest des Weges schweigend zurück. Draußen vor dem Krankenhaus empfing uns jenes sanfte, goldene Licht, mit dem sich der Tag seinem Ende zuneigt und etwas weitaus weniger Vorhersehbares beginnt.
»Heraus mit der Sprache, Giulietta«, sagte Alessandro, während er sich mir zuwandte und die Hände in die Hüften stemmte, »gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Nun ja« - ich musste die Augen zusammenkneifen, weil mich die Abendsonne blendete -, »da war noch ein Kerl auf einem Motorrad ...«
»Santa Maria!«
»Aber der ist nicht so schlimm. Er ... er folgt mir nur. Ich weiß nicht, was er von mir will ...«
Alessandro verdrehte die Augen. »Sie wissen nicht, was er von Ihnen will? Muss ich Ihnen das wirklich erklären?«
»Nein, nicht nötig.« Ich zog mein Kleid zurecht. »Er ist nicht das Problem. Aber dieser andere Kerl - der im Trainingsanzug -, der ist in mein Hotelzimmer eingebrochen. Deswegen ... deswegen glaube ich, ich sollte das Hotel wechseln.«
»Sie glauben?« Alessandro wirkte nicht gerade beeindruckt. »Ich sage Ihnen jetzt mal was: Als Erstes gehen wir zur Polizei und ...«
»Nein, nicht zur Polizei!«
»Nur dort können Sie in Erfahrung bringen, wer Peppo das angetan hat. Von Monte dei Paschi aus habe ich keinen Zugang zur Verbrecherdatei. Keine Sorge, ich komme mit. Ich kenne die Leute dort.«
»Ja, genau!« Beinahe hätte ich ihm den Zeigefinger in die Brust gebohrt. »Das ist doch bloß ein raffinierter Plan, um mich hinter Gitter zu bringen.«
Er breitete die Hände aus. »Wenn ich Sie hinter Gitter bringen wollte, brauchte ich mir keinen raffinierten Plan auszudenken, oder?«
»Wissen Sie, was?« Ich machte mich so groß, wie ich nur konnte. »Ihre Machtspielchen gefallen mir nach wie vor nicht!«
Dass ich mich so aufplusterte, brachte ihn zum Lachen. »Warum hören Sie dann nicht selber auf zu spielen?«
Auf der Polizeiinspektion von Siena war es sehr ruhig. Die Wanduhr war irgendwann in der Vergangenheit um zehn vor sieben stehengeblieben, und während ich dort so saß und mir eine Seite voller digitalisierter böser Jungs nach der anderen ansah, fühlte ich mich, als würde auch meine eigene Batterie langsam den Geist aufgeben. Je eingehender ich die Gesichter auf dem Computerbildschirm studierte, umso klarer wurde mir, dass ich, um ehrlich zu sein, gar keine Ahnung hatte, wie mein Verfolger aus der Nähe aussah. Bei unserer ersten Begegnung hatte der Mistkerl eine Sonnenbrille getragen, beim zweiten Mal war es so dunkel gewesen, dass ich nicht viel erkennen konnte, und beim dritten Mal - vor wenigen Stunden - war ich viel zu sehr auf die Waffe in seiner Hand fixiert gewesen, um mir seine Visage genauer einzuprägen.
»Es tut mir leid ...« - ich wandte mich an Alessandro, der neben mir die Ellbogen auf die Knie gestützt hatte und geduldig auf meinen Heureka-Moment wartete, »aber ich erkenne niemanden wieder.« Entschuldigend lächelte ich zu der Beamtin hinüber, die für den Computer zuständig war. Mir war voll und ganz bewusst, dass ich nur ihre Zeit verschwendete.
»Mi dispiacer.«
»Kein Problem«, antwortete sie und erwiderte mein Lächeln, weil ich eine Tolomei war, »es wird bestimmt nicht lange dauern, bis wir die Fingerabdrücke verglichen haben.«
Bei unserer Ankunft in der Polizeiwache hatte Alessandro als Erstes den Einbruch im Eulenmuseum gemeldet, woraufhin sofort zwei Streifenwagen losgeschickt wurden. Die vier Beamten waren sichtlich begeistert darüber, dass sie es endlich einmal mit einem richtigen Verbrechen zu tun hatten. Falls der Kerl tatsächlich so blöd gewesen war, im Museum irgendwelche Spuren oder gar Fingerabdrücke zu hinterlassen, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis wir seinen Namen kannten - natürlich nur unter der Voraussetzung, dass er vorher bereits einmal verhaftet worden war.
»Während wir warten, könnten wir doch mal einen Blick auf Romeo Marescotti werfen«, schlug ich vor. »Meinen Sie nicht auch?«
Alessandro runzelte die Stirn. »Sie glauben wirklich, dass Peppo recht hat?«
»Warum nicht? Vielleicht war er es tatsächlich. Womöglich ist er schon die ganze Zeit hinter mir her.«
»In einem Trainingsanzug? Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht? Kennen Sie ihn?«
Alessandro holte tief Luft. »Ja, aber sein Bild ist nicht in dieser Kartei. Das habe ich schon überprüft.«
Sprachlos vor Überraschung starrte ich ihn an. Ehe ich weiter nachhaken konnte, betraten zwei Polizeibeamte den Raum. Einer hatte einen Laptop dabei, den er nun vor mich hinstellte. Da keiner von beiden Englisch sprach, musste Alessandro übersetzen. »Sie haben im Museum einen Fingerabdruck gefunden«, erklärte er, »und sie möchten, dass Sie sich ein paar Bilder ansehen und ihnen sagen, ob Ihnen jemand bekannt vorkommt.«
Ich wandte mich zu dem Display um. Darauf waren fünf männliche Gesichter aufgereiht, die mir alle mit der gleichen Mischung aus Apathie und Abscheu entgegenstarrten. Ich betrachtete sie eine Weile. »Hundertprozentig sicher bin ich mir nicht, aber wenn Sie wissen wollen, wer meinem Verfolger am ähnlichsten sieht, dann würde ich sagen, Nummer vier.«
Nach kurzer Rücksprache mit den Beamten nickte Alessandro. »Das ist der Mann, der ins Museum eingebrochen ist. Jetzt möchten sie wissen, warum er dort eingebrochen ist und warum er Ihnen schon die ganze Zeit folgt.«
»Vorher würde ich gerne wissen, wer er ist.« Ihre ernsten Mienen machten mir Angst. »Ist er eine Art ... Mörder?«
»Der Mann heißt Bruno Carrera. Er hatte in der Vergangenheit mit dem organisierten Verbrechen zu tun und stand mit ein paar sehr üblen Leuten in Verbindung. Dann war er für eine Weile verschwunden, aber nun ...« - Alessandro nickte zum Bildschirm hinüber - »ist er wieder da.«
Erneut warf ich einen Blick auf das Foto. Bruno Carrera hatte seine besten Jahre definitiv schon hinter sich. Seltsam, dass er aus dem Ruhestand zurückkehrte, um ein Stück Seide zu stehlen, das keinerlei kommerziellen Wert besaß. »Ich frage das aus reiner Neugier«, sagte ich, ohne nachzudenken, »aber hatte er jemals mit einem Mann namens Luciano Salimbeni zu tun?«
Die Beamten sahen sich an.
»Sehr geschickt«, flüsterte Alessandro und meinte damit das genaue Gegenteil. »Ich dachte, Sie wollten sich möglichst bedeckt halten.«
Als ich hochblickte, merkte ich, dass mich die Beamten mit neuem Interesse musterten. Ganz offensichtlich fragten sie sich gerade, was ich eigentlich in Siena zu suchen hatte und wie viele wichtige Informationen ich ihnen im Zusammenhang mit dem Einbruch im Museum noch vorenthielt.
»ha signorina conosce Luciano Salimbeni?«, wandte sich einer von ihnen an Alessandro.
»Sagen Sie ihnen, dass mein Cousin Peppo mir von Luciano Salimbeni erzählt hat«, wies ich ihn an. »Anscheinend war er vor zwanzig Jahren hinter irgendwelchen Erbstücken unserer Familie her. Und nur zu Ihrer Information: Das entspricht der Wahrheit.«
Alessandro erklärte es ihnen, so gut er konnte, doch die Polizeibeamten gaben sich damit nicht zufrieden, sondern fragten nach weiteren Einzelheiten. Es war ein seltsamer Machtkampf, denn allem Anschein nach respektierten sie ihn sehr. Trotzdem hatten sie wohl das Gefühl, dass mit mir und meiner Geschichte irgendetwas nicht stimmte. Schließlich verließen beide den Raum, und ich wandte mich mit fragender Miene an Alessandro, weil ich nicht wusste, was ich davon halten sollte. »War es das jetzt? Können wir gehen?«
»Sie glauben wirklich«, entgegnete er müde, »dass sie Sie gehen lassen, bevor Sie ihnen erklärt haben, was Ihre Familie mit einem der meistgesuchten Kriminellen Italiens zu schaffen hat?«
»Zu schaffen? Ich habe doch nur gesagt, dass Peppo den Verdacht hat ...«
»Giulietta ...« - Alessandro beugte sich zu mir vor, damit niemand unseren Wortwechsel mitbekam -, »warum haben Sie mir das alles denn nicht schon vorher gesagt?«
Ehe ich antworten konnte, kehrten die Beamten mit einem Ausdruck von Bruno Carreras Akte zurück. Sie baten Alessandro, mich zu einer bestimmten Passage zu befragen.
»Wie es scheint, liegen Sie richtig«, erklärte er, während er den Text überflog, »Bruno hat früher hin und wieder für Luciano Salimbeni gearbeitet. Einmal wurde er festgenommen und erzählte irgendeine Geschichte von einer Skulptur mit goldenen Augen ...« Er sah mich an, als versuchte er herauszufinden, wie aufrichtig ich war. »Wissen Sie etwas darüber?«
Obwohl es mich ein wenig erschütterte, dass die Polizei - wenn auch wohl nur ansatzweise - über die goldene Skulptur Bescheid wusste, brachte ich es nichtsdestotrotz fertig, entschieden den Kopf zu schütteln. »Nein, nie davon gehört.«
Für ein paar Sekunden lieferten wir uns ein lautloses Blickduell, doch ich gab nicht klein bei. Schließlich reichte er ihnen den Ausdruck zurück. »Wie es aussieht, könnte Luciano auch etwas mit dem Tod Ihrer Eltern zu tun gehabt haben. Kurz darauf ist er verschwunden.«
»Verschwunden? Ich dachte, er ist tot?«
Alessandro würdigte mich keines Blickes. »Vorsicht. Ich werde Sie jetzt nicht fragen, wer Ihnen das erzählt hat. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nicht vorhaben, diesen Beamten weitere Informationen zu liefern?« Er sah mich an, und als ich nickte, fuhr er fort: »In diesem Fall würde ich vorschlagen, dass Sie allmählich einen auf traumatisiert machen, damit wir endlich von hier verschwinden können. Die haben mich nämlich schon zweimal nach Ihrer Sozialversicherungsnummer gefragt.«
»Darf ich Sie daran erinnern«, antwortete ich im Flüsterton, »dass Sie derjenige waren, der mich hierhergeschleppt hat?«
»Und jetzt schleppe ich Sie wieder raus.« Er legte einen Arm um mich und streichelte mir übers Haar, als müsste er mich trösten. »Keine Sorge wegen Peppo. Dem geht es bald wieder gut.«
Um meiner Rolle gerecht zu werden, lehnte ich mich an seine Schulter und sog laut und tränenreich die Luft ein. Es klang fast wie ein echter Seufzer. Als die Beamten sahen, wie verstört ich war, hatten sie endlich ein Einsehen und traten den Rückzug an. Fünf Minuten später verließen Alessandro und ich die Polizeiwache.
»Gute Arbeit«, lobte er mich, sobald wir außer Hörweite waren.
»Gleichfalls. Allerdings war das heute definitiv nicht mein Tag, Sie dürfen also nicht erwarten, dass ich vor Begeisterung einen Freudentanz aufführe.«
Er blieb stehen und betrachtete mich mit einem leichten Stirnrunzeln. »Wenigstens kennen Sie jetzt den Namen Ihres Verfolgers. Deswegen sind Sie doch heute Nachmittag zu mir gekommen, nicht wahr?«
Während wir auf der Polizeiwache waren, hatte die Nacht ihren dunklen Mantel über die Welt gebreitet, aber die Luft war noch warm, und die Straßenlampen tauchten alles in ein sanftes gelbes Licht. Wären nicht aus allen Richtungen Vespas an uns vorbeigeschossen, hätte man die ganze Piazza für eine Opernbühne halten können - kurz vor dem Einsetzen der Musik und dem ersten Auftritt des Helden.
»Was bedeutet >fìdanzata<?«, fragte ich. »Etwas Schlimmes?«
Alessandro schob die Hände in die Taschen und setzte sich in Bewegung. »Ich habe Sie als meine Freundin ausgegeben, weil ich dachte, dann würden sie am ehesten aufhören, nach Ihrer Sozialversicherungsnummer zu fragen. Und nach Ihrer Telefonnummer.«
Ich musste lachen. »Haben die beiden sich denn gar nicht gewundert, was um alles in der Welt Julia mit einem Salimbeni zu schaffen hat?«
Obwohl Alessandro lächelte, spürte ich, dass er meine Frage gar nicht so lustig fand. »Ich fürchte, an der hiesigen Polizeiakademie steht Shakespeare nicht auf dem Lehrplan.«
Wir marschierten eine Weile schweigend dahin, ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Eigentlich wäre es langsam an der Zeit gewesen, sich zu verabschieden, aber mir war noch nicht nach Abschied zumute. Ganz unabhängig von der Tatsache, dass in meinem Hotelzimmer höchstwahrscheinlich Bruno Carrera auf mich wartete, erschien es mir einfach das Normalste der Welt zu sein, in Alessandros Nähe zu bleiben.
»Wäre jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt«, fragte ich, »um mich bei Ihnen zu bedanken?«
»Jetzt?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Assolutamente sì. Der perfekte Zeitpunkt.«
»Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Abendessen einlade?«
Mein Vorschlag amüsierte ihn. »Gerne. Es sei denn, Sie hängen lieber auf Ihrem Balkon herum und warten auf Romeo?«
»Über meinen Balkon ist jemand eingebrochen. Haben Sie das vergessen?«
»Verstehe.« Seine Augen verengten sich leicht. »Sie wollen, dass ich Sie beschütze.«
Ich öffnete den Mund, um irgendetwas Freches zu erwidern, merkte aber gerade noch rechtzeitig, dass ich das gar nicht wollte. Die Wahrheit war, dass ich mir angesichts dessen, was alles passiert war und womöglich noch passieren würde, nichts sehnlicher wünschte, als während meiner restlichen Zeit in Siena allerhöchstens eine Armlänge von Alessandro - samt seiner Waffe - entfernt zu sein. »Tja«, sagte ich und schluckte meinen Stolz hinunter, »ich glaube fast, da hätte ich nichts dagegen einzuwenden.«