Nicola Fuller und das Ende Rhodesiens
Bo und Van vor den
Victoriafällen,
Rhodesien, 1978
Meine Mutter hat nichts übrig für Fragen, die mit »Was wäre, wenn« beginnen. Ich dagegen verbringe einen Großteil meiner Zeit in diesem unsinnigen Strudel. Was wäre, wenn ich besser aufgepasst hätte? Was wäre, wenn wir ein normaleres Leben geführt hätten? Was wäre, wenn wir mehr Vorsicht hätten walten lassen bei all der Begeisterung für Afrika? »Was-wäre-wenns sind langweilig und sinnlos«, sagt Mum. Denn meine Mutter – so nah sie dem irreparablen Wahnsinn in ihrem Leben immer wieder gekommen ist – lebt heute nicht zerstört und voller Reue in einer Miss-Havisham-Welt, sie möchte keinen ihrer Lebensabschnitte ungeschehen machen, auch nicht den schrecklichsten, schmerzhaftesten, zerstörerischsten. »Mit ›was wäre, wenn‹ beginnen Leichenreden der schlimmsten Sorte«, sagt sie. »Und ich kann Leichenreden nicht ausstehen. Besser, man akzeptiert die Wahrheit, krempelt die Ärmel auf und nimmt in die Hand, was vor einem liegt.«
Und die Wahrheit ist folgende: Der Krieg geht seinem Ende entgegen (fin de everything), und seine halluzinatorische, verführerische Gewalt hat unser Denken so durcheinandergeschüttelt, dass unsere Familie sich weder in Rhodesien eine sicherere Adresse vorstellen kann noch irgendwo außerhalb des Landes. Jedenfalls denken wir nicht daran, das Land zu verlassen. Wir empfinden unser Leben als nervenaufreibend und aufregend, schrecklich und gesegnet, wild und verführerisch. Und ein so anstrengend volles und kompliziertes Leben hinter sich zu lassen, kostet Kraft.
Außerdem war es verräterisch und feige, von Aufgabe zu reden. »Die Fullers sind keine Memmen«, sagt sie. »Nein, ein Land, das man liebt, verlässt man nicht kampflos, nur weil es mal ein bisschen ungemütlich wird.« Und so ließen wir den Krieg weiter eskalieren, bis nur noch sehr wenige Familien – schwarz oder weiß, auf dem Land oder in der Stadt – nicht mehr davon berührt waren, und hielten trotzdem durch.
Aber dann geschah etwas, das alles hätte ändern können: Der Vater meines Vaters starb. Seine englischen Angehörigen benötigten eine volle Woche, um ihn davon in Kenntnis zu setzen. »Das Begräbnis ist in zwei Tagen«, teilte Onkel Toe Dad am Telefon mit. »Schade, dass du es nicht mehr schaffen kannst.« Die Augen meiner Mutter werden hell. »Na, wir waren doch nur in Rhodesien«, sagt sie. »Wir lebten ja nicht auf einem anderen Stern.« Binnen weniger Stunden nach dem Anruf hatte Dad über die »Freunde Rhodesiens«, eine Organisation, die weniger bemittelten Rhodesiern bei Notfällen zur Seite stand, ein billiges Flugticket nach England besorgt. In Umtali fand er einen indischen Schneider, der bereit war, über Nacht einen Anzug zu nähen. »Barzahler!«, versprach er. »Ich brauche einen erstklassigen Anzug zum Preis eines drittklassigen.«
Am nächsten Vormittag landete Dad in London. Er warf sich in den neuen Anzug, mietete sich ein Auto und traf zwei Minuten vor Beginn der Trauerfeier in der Kirche ein. »Der absolute Knalleffekt«, sagt Mum. »Da stand Tim, extra aus Afrika eingeflogen, sonnengebräunt und elegant.« Als ehemalige Kolonie und abtrünniges Land sorgte Rhodesien in der internationalen Presse für zahlreiche, alarmierende Schlagzeilen: RHODESIEN – DIE APARTHEID BEWEGT SICH NACH NORDEN; RHODESIEN VOR DEM AUS; DAS ARMAGEDDON HAT BEGONNEN. Mein Vater muss seinen Angehörigen erschienen sein wie einer, den man auf dem schwarzen Kontinent verschollen wähnte. »Der Schock hätte nicht größer sein können, wenn Donald sich im Sarg aufgerichtet und einen Gin rosé verlangt hätte«, sagt Mum.
Dad suchte sich einen Platz bei einer der Seitentüren und betrachtete seine Mittrauernden. Ich stelle sie mir so vor: Lady Fuller sitzt in steifem Schweigen in der ersten Reihe, sehr elegant in ihrer Trauerkleidung (ich wusste so wenig von der zweiten Frau meines Großvaters, dass sie für mich nur ein Name war, den ich in Anwaltsbriefen gelesen habe; verschlossen und abgekapselt wie eine Figur aus einem Noel-Coward-Stück); Onkel Toe, blass und ernst in der Bank hinter ihr, in seinem Gefolge ein respektables Aufgebot an Cousins und Cousinen, ein paar Tanten, ein, zwei Onkel, die Reihe gestandener Kameraden von der Marine und ganz hinten der Schweineknecht meines Großvaters.
Nach den obligatorischen Begrüßungen des Vikars mussten sich alle erheben und »The Day Thou Gavest, Lord, Is Ended / Das Licht des Tages ist zerronnen« singen. Dann erklomm ein ranghoher Marineoffizier die Kanzel und ließ sich wortgewandt über die Laufbahn Captain Connell-Fullers aus (seine Ausführungen geschickt um den wunden Punkt herumnavigierend, dass er nie den ersehnten Rang eines Admirals oder gar Konteradmirals erlangt hatte). Dann erhob sich einer der älteren Angehörigen und erzählte von Donalds Begeisterung für den Polosport, die nach der Pensionierung entdeckte Leidenschaft für die Schweinezucht (die der Schweineknecht mit einem leisen unglücklichen Schnaufen kommentierte) und von der Zeit, als er in Douthwaite eine alte Eiche wegsprengte, weil sie seinem Golfabschlag im Weg stand (allgemeines Gekicher). Dann wurde die Gemeinde gebeten, sich für den Schlusschoral zu erheben: »Eternal Father, Strong to Save.«
Anschließend trug man den Sarg des alten Mannes aus der Kirche heraus, ließ ihn in die frisch ausgehobene Grube hinab, und als die ersten Klumpen feuchter englischer Erde auf den hölzernen Deckel prasselten, war das eine Art Startschuss für den Streit zwischen den Erben, der sich über anderthalb Generationen hinziehen sollte, bis praktisch nichts mehr geblieben war, um das zu streiten sich lohnte. Meine Mutter schließt die Augen und schüttelt den Kopf. »Wie du weißt, gab es ein paar – sagen wir – Probleme mit dem Testament.« Aber Mum will nicht näher darauf eingehen. Sie wedelt mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Schnee von gestern«, sagt sie. »Es bringt ja nichts, es immer wieder aufzuwühlen, oder?«
Unser Schicksal war also unweigerlich mit Rhodesien verknüpft, und selbst zu einem derart späten Zeitpunkt kämpften wir weiter für dieses Land, als wäre es der letzte Ort auf Erden, den wir nicht verlieren durften, ohne uns selber zu verlieren. Und das Leben – das Leben, das uns geblieben war – ging in all seiner zunehmend surrealen Unmöglichkeit weiter. Vanessa und ich besuchten weiter unsere rassengetrennte Staatsschule und beteten bei der Andacht jeden Morgen mit nicht nachlassender Konzentration und Inbrunst für unsere Väter, Brüder, Jungs und Männer. Dad verschwand weiter alle sechs Wochen in den Himalaya Hills und kämpfte gegen Guerilla-Verbände, kam erschöpft wieder nach Hause, die rechte Schulter gebeugt wie ein gebrochener Flügel von der permanenten Last des FN-Gewehrs. Und Mum verrichtete weiterhin die Arbeit auf der Farm: schaute vormittags zu Pferde nach dem Vieh, verbrachte die Nachmittage auf den Tabakfeldern, saß abends sorgenvoll über einem Stapel unbezahlter Rechnungen.
Sie wurde mager und sehnig, ihre Füße trugen Blasen von den Sandalen, die aus alten Traktorreifen gefertigt waren. An den Händen hatte sie Schwielen und Hornhaut. Was sie anfangs an sanfter Mütterlichkeit besessen hatte – die lächelnde junge Frau im Gingham-Kleid, die eine shakespeare-gesättigte Vanessa auf dem Rasen von Lavender’s Corner auf dem Schoß wiegte –, war so gut wie aufgezehrt. Aber dann, eines Abends im September 1979, stieß Mum sich plötzlich vom Esszimmertisch ab und schlug die Hand vor den Mund, die Augen glasig vor Übelkeit. Sie starrte auf ihren Teller und rief: »Bäh! Wie das riecht!« Mein Vater erkannte die Symptome, legte Messer und Gabel auf den Tisch. »Alles in Ordnung, Tub?«
Mum hielt einen Finger in die Höhe. »Wird schon wieder.«
Sie eilte aus dem Zimmer, und Dad sah ihr nach. Er schob seinen Teller von sich, zündete sich eine Zigarette an und stützte den Kopf in beide Hände – der Rauch kräuselte sich durch sein dünner werdendes Haar. Draußen schwirrten noch die Insekten, Mums Milchkühe grölten einen Störer an (vielleicht einen streunenden Hund), und oben aus den Bergen war ein gedämpfter Knall zu hören – etwas oder jemand in der Pufferzone hatte eine Landmine zur Detonation gebracht. Ob es nun der rechte Zeitpunkt war oder nicht, Mum war mal wieder schwanger.
Es ist eine uralte und törichte List, sich einzureden, ein neues Baby könnte dem Universum seine Unschuld zurückgeben. So als ließe sich mit der trostreichen Routine eines nach Milch duftenden Kinderzimmers verhindern, dass die Welt um einen herum zusammenbricht. Dahinter steht der Wunsch, sich mit der Unschuld eines Neugeborenen von seinen Sünden reinwaschen zu können. Aber unser Land lag gegen Ende 1979 weit jenseits des Wirkungsbereichs kleiner Kinder, wie wunderkräftig sie auch sein mochten. Der Krieg dauerte schon so lange und wurde so verzweifelt geführt, dass er kein Bürgerkrieg mehr war, sondern zu einem Krieg der Zivilisten, einem Kampf Mann gegen Mann, einem tief ins Persönliche reichenden Konflikt ausgeartet war. Das Kampfgebiet hatte sich von der Grenze zu Mosambik über die städtischen Gebiete bis vor unsere Türschwelle ausgeweitet, und wenn uns nicht selbst Blut an den Händen klebte, kannte doch so ziemlich jeder von uns jemanden, der welches an den Händen hatte.
Die Halbwertzeit unserer Gewalt war inzwischen auf unbestimmte Zeit verlängert: Man war dazu übergegangen, biologische Waffen einzusetzen. Mit Hilfe des südafrikanischen Militärs hatten rhodesische Spezialeinheiten das Wasser entlang der Grenze zu Mosambik mit Cholera und Warfarin verseucht; mit Thallium versetzte Konservendosen waren über den Kampfgebieten abgeworfen worden; Kleidungsstücke wurden mit Organophosphat, einem Pflanzenschutzmittel, getränkt und an Guerillakämpfer und deren Sympathisanten ausgegeben. In den Dörfern hatten sie Anthrax deponiert, und über zehntausend Männer, Frauen und Kinder in den Stammesgebieten waren an nicht selten tödlichen nekrotischen Beulen, Fieber, Herz/Kreislauf- und Atemversagen erkrankt – die größte Anthraxepidemie in der Geschichte der Menschheit.
All diese Feindseligkeiten setzten sich fort und nahmen sogar noch zu, als die Führer der rhodesischen Regierung und die Führer der Befreiungsstreitkräfte sich bereits im Lancaster House in London gegenübersaßen, um darüber zu streiten, wie der Übergang vom Schurkenstaat zur Mehrheitsregierung – vom Krieg zum Frieden – am besten zu bewerkstelligen sei. Lord Carrington, der britische Außenminister, eröffnete das Treffen ohne Umschweife mit den Worten: »Ich kann nicht verhehlen, dass es für mich und meine Kollegen ein höchst befremdlicher und enttäuschender Umstand ist, dass die Feindseligkeiten während dieser Konferenz andauern …«
Es hatte schon vorher Friedensverhandlungen gegeben – zum Beispiel 1975 in einem Eisenbahnwaggon auf der Eisenbahnbrücke über die Victoriafälle –, aber der Dialog war jedes Mal abgebrochen worden. So war es beinahe eine Überraschung – für manche allerdings auch ein schrecklicher Schlag –, als am 6. Dezember 1979 nach dreimonatigen zähen Verhandlungen das Lancaster-House-Abkommen von allen zuständigen Führern unterzeichnet wurde. Und es wurde in die Tat umgesetzt. Der Krieg war vorbei. Innerhalb weniger Wochen bekam das Land einen neuen Namen: Simbabwe. Und wir hatten einen neuen Premierminister: Robert Mugabe.
In der Schule wurde uns erzählt, von nun an seien wir alle gleich. Bei der Morgenandacht sangen wir nicht mehr »Onward Christian Soldiers«, sondern »Precious Lord, Take My Hand«, ein Lied, das unsere Beziehung zu Gott in ein ganz anderes Licht stellte und beinahe schon an die vormals verpönte öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen grenzte (uns wäre es nicht in den Sinn gekommen, unsere Eltern, geschweige denn den Herrn zu bitten, unsere Hand zu halten). Und anstatt für unsere Jungs zu beten, unsere Brüder, Väter, Ehemänner, beteten wir jetzt für Frieden, Einheit und Vergebung. Anstelle von Kartoffelbrei gab es zum Mittagessen jetzt Sadza, und man forderte uns auf, es auf traditionelle Art zu essen: in der Handfläche zu Bällchen gerollt und mit den Fingern zum Mund geführt. Unsere neue schwarze Hausmutter (wesentlich jünger und dynamischer als die alte weiße) erklärte uns, dass die neuen Worte, die wir benutzten, auch unsere Herzen erneuern würden. Sie brachte uns bei, Freiheitskämpfer statt Terroristen zu sagen und Einheimische statt Munts und nicht mehr »garden boys« oder »boss boys« zu sagen, sondern »Gärtner« oder »Stammesführer«.
»Ich glaube, wir alle haben das kommen sehen«, sagt Mum, »aber ein Schock war es trotzdem, den Krieg auf diese Weise zu verlieren, das Land zu verlieren, alles zu verlieren. Eines Morgens wurden wir wach, und alles war beschlossen, und es gab nichts mehr, für das man kämpfen konnte.« Sie lehnt sich zurück in ihren Sessel, den Mund an den Rändern gekräuselt, als wäre die Erinnerung an die Zeit zu viel für sie. »Alle redeten nur noch über Frieden und Versöhnung, aber ich wusste genau, dass es so nicht funktionieren würde. Nein, ein Zuckerschlecken würde es nicht werden, das war mir klar.«
Simbabwische Flüchtlinge, die während des Kriegs in Mosambik gewesen waren, kamen in großer Zahl zurück über die Grenze und ließen sich entlang des Flusses oberhalb von Robandi nieder, blockierten die Wasserversorgung der Farm und brachten unserer Rinderherde mit ihrem ungeimpften Vieh das Zeckenfieber. »Auf einmal hatten wir einen ganz anderen Kampf am Hals«, sagt Mum. »Ich wollte diese Besetzer runter von der Farm haben. Aber sie gingen nicht. Wir wurden schikaniert und waren erschöpft, unsere Nerven zum Zerreißen gespannt.« Mum konnte nicht mehr schlafen, wurde schreckhaft und weinerlich. »Ich glaube, heute würde man meinen Zustand als Depression bezeichnen, aber damals hatten wir noch keinen Ausdruck dafür.« (Vanessa und ich hatten einen, für uns hatte Mum mal wieder ihren »Moralischen«.)
In Anbetracht der Lage beschloss Dad, es sei das Beste für uns alle, Robandi, die Besetzer, das aprikosenfarbene Haus mit seiner ständigen Mahnung an das, was wir verloren hatten, zu verlassen. Er unterschrieb einen Jahresvertrag als Sektionsverwalter auf der Devuli Ranch, einem weitläufigen, abgelegenen Stück nahezu wilder Erde im Südosten des Landes. Er sollte dort das Vieh zusammentreiben, das auf den siebenhundertfünfzigtausend Morgen der Ranch während des Krieges verwildert war. »Für ein Jahr weit weg von allem«, sagt Dad. »Richtiger Frieden, die Gelegenheit, mal wieder richtig Luft zu holen.«
Ein Jahr lang packte Dad alle vierzehn Tage ein Moskitonetz, seinen Schlafsack, zwei Flaschen Brandy, eine Dose Pulverkaffee, etwas Reis und ein Gewehr ein und schlug sein Lager in den wilden unbewohnten Mopane-Wäldern fern jeglicher Zivilisation auf. In der Nacht schlief er unter einem unschuldig schwarzen Himmel, auf rauen Urwaldwegen eine Tagesreise von der nächsten menschlichen Behausung entfernt. Ich kann nicht beweisen, dass er sich in dieser Zeit die sechs Jahre, die er zuvor gekämpft hatte, aus dem Leib marschierte, aber als Erklärung dafür, dass er sich fast vollständig vom Krieg im Busch regenerierte, scheint sie mir so tauglich wie jede andere.
Anfangs nahm er Mum mit in sein Lager. Er setzte sie den Tag über im Schutz eines Baobab-Baums auf einen Campingstuhl, ausgerüstet mit seinem besten Feldstecher und einem neuen Vogelbuch, und zog los, um Rinder aufzuspüren und einzufangen. Einmal in der Woche schoss er einen jungen Impalabock, hängte ihn zum Pökeln in einen Drahtkäfig, damit sie immer frisches Fleisch hatten. Die Nacht über ließ er ein Feuer brennen und stellte Paraffinlichter um das Lager herum auf, damit sie nicht stolperte oder auf eine Schlange trat, wenn sie nachts mal rausmusste.
Aber Mum kam mit der Einsamkeit nicht so gut zurecht wie Dad. Sie machte einen ruhelosen und verwirrten Eindruck, konnte sich nicht lange genug konzentrieren, um auch nur eine Seite in ihrem Buch zu lesen, und verlor, was noch schlimmer war, jegliches Interesse an der Vogelwelt. Ihre Haut wurde gelblich, als würde die stechende Sonne des Lowveldt ihr die Farbe rauben, und sie litt immer häufiger unter Herzrasen. Doktor Mitchell machte sich Sorgen. Er schickte meine Mutter ins Krankenhaus. »Bettruhe, bis das Kind auf der Welt ist«, ordnete er an. Also verließ Mum die Ranch und blieb in Umtali im Krankenhaus, bis das Baby, ein Junge, Ende Juni 1980 per Kaiserschnitt zur Welt kam.
»Er hatte die blauesten Augen der Welt, genau wie Dad«, sagt Mum. »Er war perfekt – perfektes kleines Gesicht, perfekter kleiner Körper.« Sie legt den Zeigefinger an die Lippen. »Aber da drinnen war etwas nicht in Ordnung, weißt du, der hintere Gaumen war nicht richtig ausgebildet …« Trotzdem schaffte es das Baby, ein bisschen zu saugen, und wenn es schrie, legte Mum es an die Schulter und sang ihm etwas vor. Aber im Lauf der Tage wurde das Baby immer lethargischer, verlor seine Fähigkeit, nach Mums Fingern zu greifen, und sein Geschrei klang zunehmend kläglicher. »Wir erwarteten ein medizinisches Teil aus Südafrika«, sagt Mum. »Etwas, das man in den Gaumen einsetzte, um ihm das Saugen zu ermöglichen, ohne dass er sich verschluckte.« Aber bevor die Sendung aus Johannesburg eingetroffen war, kam eine der Krankenschwestern an Mums Bett. »Sie sollten nach Ihrem Kind sehen«, sagte sie. »Es geht ihm nicht gut.«
Mum hielt sich die Naht am Unterbauch und rannte aus der Wöchnerinnenstation in den Säuglingssaal. »Viele der Schwestern waren inzwischen Schwarze«, sagt Mum, »und nach allem, was wir durchgemacht hatten … na ja, wahrscheinlich ist das ganz normal. Sie waren nicht sehr teilnahmsvoll.« Mum seufzt. »Manche waren sogar ein bisschen rachgierig.« Sie schaut zur Seite. »Es war jedenfalls sehr grausam.« Als sie in den Säuglingssaal kam, lag ihr Baby erschreckend reglos in dem kleinen Bettchen. »Oh Gott, es war furchtbar«, sagt Mum. »Er ist allein gestorben. Weißt du? Mutterseelenallein, das kleine Wesen.« Sie hob den winzigen steifen Körper ihres Sohns aus dem Bettchen und wiegte ihn – »Es tut mir leid«, sagte sie zu ihm, »es tut mir so schrecklich leid« – und ließ ihm die Tränen auf das Gesicht tropfen. Dann legte sie das Baby vorsichtig zurück in das Krankenhausbettchen, deckte es mit einer Decke zu und sank auf die Knie.
Sie wartete darauf, dass der alte, vertraute Schmerz über sie kam. Stattdessen versank alles, was Mum je gefühlt hatte, versank immer tiefer, bis ihr eigener Körper zu keiner Reaktion mehr fähig war: Die Knie auf dem roten Zementfußboden stumpften sich ganz von allein gegen noch mehr Schmerz ab; den frischen Kaiserschnitt spürte sie nur noch als fernes Stechen. Da war nichts mehr – nur noch Leere. Meine Eltern hatten dem Kind keinen Namen gegeben. Mum schüttelt den Kopf: »Dazu war es nicht lange genug auf der Welt. Wir wollten einfach nur vergessen, weitermachen.« Vanessa und ich dagegen konnten uns keinen namenlosen Bruder vorstellen, deshalb tauften wir das Baby in Abwesenheit auf den Namen Richard. Von meinen drei toten Geschwistern wird und darf am wenigsten über ihn gesprochen werden.
Vier Wochen nach dem Tod des Babys lag Mum im heißen, filigranen Schatten eines Kameldornbaums neben dem Ranchhaus in Devuli und fühlte sich völlig leer. Wenn nachts der Generator für ein paar Stunden eingeschaltet war, trank sie Brandy und spielte immer wieder »The Final Farewell« von einer Roger-Whittaker-Langspielplatte. An manchen kühleren Vormittagen ritt sie ihr Pferd durch das ausgetrocknete Flussbett, das die Grenze der Ranch markierte, summte das Lied vor sich hin und dachte, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod hatte und nicht genug Worte für die Liebe, die sie für das verlorene Kind empfunden hatte. Beileibe nicht genug.
Über zwanzig Jahre nachdem wir Robandi verlassen hatten, im Oktober 2002, kehrte ich noch einmal zurück ins Burma Valley, um dort nach Spuren meiner Familie zu suchen. Wir hatten gar nicht so lange auf Robandi gelebt – etwas mehr als sechs Jahre, nicht einmal der siebte Teil von Mums Leben, während ich dieses hier schreibe. Aber diese Jahre haben wegen allem, was sie dort verloren hatte, wie eine dunkle Wolke über ihrem Leben geschwebt. Robandi bildet heute noch den Hintergrund meiner Alpträume: die braunen Streifen an den weißgetünchten Scheunen, weil das Wellblechdach darüber rostzerfressen war; der Geruch nach säuerlichem Atem in den Werkstätten, das Waffenöl, das klebrig-zäh an den Fingern haften blieb. Zu viel für eine Sitzung stürmt auf mich ein, wenn ich den Deckel zurückklappe, mit dem meine Erinnerungen an die Farm verschlossen sind – kein bloßes Stück Land kann für all dies verantwortlich sein.
Die Umrisse von Robandi waren im Wesentlichen erhalten geblieben, auch wenn an keiner Stelle mehr die ums Überleben kämpfende Farm zu erkennen war, die meine Eltern während des Kriegs verwaltet hatten. Noch immer führte die Flammenbaumallee von der Straße nach Mazonwe herauf zu dem apricotrosa Haus, aber die Straße war fortgespült. Die Zäune waren zusammengebrochen, statt Nutzpflanzen und Vieh machte wildes Buschwerk sich breit. Wo Mums ordentliche, strohgedeckte Milchkammer gestanden hatte, wucherte nur noch ein Wandelröschen-Dickicht. Ich holperte so weit ich konnte auf einer neu angelegten provisorischen Fahrspur, die sich quer durch eins der ehemaligen Tabakfelder zog. Schließlich ließ ich den Wagen neben der Abflussrinne stehen, in der die Kobra gewohnt hatte, und ging zum Haus hinauf.
Es waren keine frischen Fahrspuren auf der Straße, und als ich oben ankam, wirkte das Haus verlassen, Fensterscheiben waren zerbrochen, dem Dach fehlten Teile der Asbestabdeckung, auf den apricotfarbenen Wänden hatten sich Schimmelflecken ausgebreitet. Der Garten war vertrocknet und abgestorben. Ich klopfte an die Haustür (in der noch die uralten Kratzer von den Pfoten unserer sämtlichen Hunde zu erkennen waren), und ein Mann öffnete mir. Er trug in der Oktoberhitze kein Hemd und sah aus, als hätte ich ihn aufgeweckt. Ich entschuldigte mich für mein Eindringen, stellte mich vor und bat ihn um die Erlaubnis, mich einen Moment lang auf die Veranda setzen und mir die Aussicht betrachten zu dürfen.
Der Mann dachte kurz über mein Ansinnen nach, dann zuckte er die Achseln und sagte, die Aussicht gehöre ihm nicht. »Schauen Sie sie an, wenn es Ihnen Spaß macht.« Aber bevor ich ihm danken konnte, hatte er die Tür zugemacht, und ich war allein. Also setzte ich mich auf die Veranda und sog die wilde, schöne Landschaft in mich ein – die staubig roten Felsblöcke, die graublauen Kopjes, die unter wuchernder dunkler Wildnis versteckten Himalaya Hills. Dann ließ ich den Blick weiterschweifen über das Tal, hin zu John Parodis italienisch anmutender Farm mit der mediterranen Zypressenallee, den ionischen Säulen und dem gepflasterten Hof.
Von heute aus betrachtet, hätten wir alle diesen Ausgang kommen sehen müssen. Wir hätten erkennen müssen, dass eine mit solch eindimensionaler, unkritischer Fröhlichkeit begonnene Geschichte – mit edelsteinfarbenen Likören und portugiesischem Wein an einem klaren, rhodesischen Oktobervormittag – weniger als ein Jahrzehnt später mit Niederlage und gebrochenen Herzen enden musste. Aber wer besitzt in der Glut der Liebe, der Hitze der Schlacht, der dumpfen Verleugnung des Jetzt die Weisheit, mit ungetrübtem Blick nach vorne zu schauen? Meine Eltern sicher nicht. Die meisten von uns nicht. Doch die wenigsten müssen so teuer für ihre Vorurteile, Leidenschaften, ihre Fehler bezahlen. An vielen Orten dieser Welt kann man die lächerlichsten, zerstörerischsten, intolerantesten Überzeugungen hegen, ohne von etwas anderem als den eigenen Gedanken zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Während der Osterferien 1983 – ich war gerade vierzehn geworden – erfuhr ich von Mum, dass John Parodi auf seiner Veranda von einem oder mehreren unbekannten Mördern erschossen worden war. Der Krieg schwitzte noch lange nach seinem offiziellen Ende Rache und Mordlust aus. Die Leute, die seine Leiche gefunden hatten, erzählten, dass Johns blutige Handabdrücke noch über die ganze Veranda zu verfolgen gewesen waren, weil er versucht hatte, zu seinem Sohn Giovanni zu kriechen. Aber Giovanni – gerade mal vierzehn und schon attraktiv auf die augenbrauenschwingende Art seines breitschultrigen Vaters, dazu das respektlose Lächeln seiner Mutter – war von den Mördern seines Vaters von der Farm entführt worden. Madeline, Johns achtzehnjährige Tochter, war am Tag des Überfalls nicht zu Hause gewesen. Noch Monate und Jahre nach dem Begräbnis ihres Vaters war sie auf dem Motorrad durch die Himalaya Hills gefahren, hatte nach Spuren ihres Bruders gesucht und nutzlos seinen Namen in die heißen violetten Hügel gerufen: »Giovanni! Giovanni!«
Niemand beginnt einen Krieg mit der Warnung, dass alle Beteiligten ihre Unschuld verlieren werden – dass mit Sicherheit Kinder sterben oder für immer verschwinden werden als Opfer eines Konflikts, der noch über viele Generationen weitergehen wird, lange nachdem Waffenstillstände geschlossen, Friedensabkommen unterzeichnet wurden. Unter solchen Prämissen beginnt niemand einen Krieg, dabei wäre es das Mindeste, was man tun könnte. Es wäre eine faire Warnung und ein aufrichtiges Eingeständnis: Auch ein gerechter Krieg – wenn es so etwas überhaupt gibt – tötet alle, die alt genug zum Sterben sind.