Nicola Fuller und das perfekte Haus

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Mum und Dad mit Hunden vor
Lavender’s Corner, Kenia, ca. 1965

Nakuru nennen es die Massai, »Land des Staubs«, und ich hab mir eine Luft vorgestellt, in der ständig Staub aufgewirbelt wird und haufenweise Plastik herumfliegt. Aber bei meinem Besuch im November 2004 beginnt gerade die kurze Regenzeit, und schieferfarbene Wolken hängen tief über dem Great Rift Valley. Die Erde der grünend blassgelben Savanne erscheint feucht und schwer, der An- und Abflug Tausender Flamingos lässt den Nakuru-See rosarot leuchten. Der Krater des Menengai oberhalb der Stadt wirkt friedfertig bemoost, gar nicht wie der dämonenbetanzte Kia Ngoma der Legende. Nakuru, so scheint mir, ist weniger ein Ort roten Staubs als vielmehr blassvioletter Sättigung.

Bei der Suche nach allen Farben Nakurus stoße ich hier und da auf Spuren britischer Besiedlung – das klotzige War Memorial Hospital, ein altes, verfallenes Pub im Pseudo-Tudorstil, Wasserrinnen, die aussehen, als seien sie bereits von römischen Eroberern verlegt worden –, aber Lavender’s Corner kann ich nirgends finden. Also bleibt mir das Haus so in Erinnerung, wie Mum es beschrieben hat: »Ein schöner Bungalow mit einem Dach aus Holzschindeln, ein riesiger Pfefferbaum am Ende des Gartens und jede Menge Koppeln für die Pferde.«

Und so wie Lavender’s Corner mir im Gedächtnis bleibt, perfekt und irgendwie unschuldig, stelle ich mir auch meine Mutter vor, die damals in diesem wunderbaren Haus gelebt hat. Sie ist zwanzig und außerordentlich schön; weder die Zeit noch die Elemente haben ihre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Und in dieser Phase ihres Lebens arbeitet sie nicht, nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes. Und sie hat den Schmerz noch nicht kennengelernt, jedenfalls nicht den, der über die relativ harmlosen Tragödien einer kolonialen Kindheit hinausging. In vielerlei Hinsicht ist diese Person mir unbekannt. Sie ist die Mutter von irgendjemandem, nicht meine gebrochene, grandiose, grimmige Mutter.

Meine Eltern zogen kurz nach ihrer Hochzeit in Lavender’s Corner ein. Mit ihnen kamen Mums geliebte Violet, eine Katze namens Felix, eine deutsche Schäferhündin namens Suzy (»einer der besten Hunde, die wir je hatten«, sagt Dad) und ein paar Polo-Ponys (»Schrecklich misshandelte Kreaturen, die niemand mehr reiten wollte«, sagt Mum). Außerdem mehrere Koffer voller modischer Stöckelschuhe (»wahnsinnig unpraktisch, denen hab ich meine Ballenzehen zu verdanken, schau!«), Koffer und Holzkisten gefüllt mit irischem Leinen, ägyptischen Baumwollstoffen, aufgerollter Leinwand, Farbtöpfen, Porzellan, ein paar Jagdstichen, Silbergegenständen, einem Bronzeguss des Duke of Wellington auf seinem Lieblingspferd und einem Satz Le-Creuset-Töpfe und Pfannen.

»Stell dir vor«, sagt Mum, »diese Le-Creuset-Töpfe haben die vielen Jahre überlebt. Manchmal geht ein Besucher die Treppe runter in den Garten, sieht sie in meiner Küche hängen und ruft: ›Oh, deine schönen orangeroten Töpfe! Wie hübsch. Da muss ich mal schnell ein Foto machen!‹« Dieser Besucher weiß indes nicht, dass er mit den Le-Creuset-Töpfen auch die Schatten all der Dinge fotografiert, die es nicht bis hier geschafft haben. Jedes Mal, wenn Mum Segel setzte oder auf eine andere Farm oder in ein anderes Land zog, musste sie abschätzen, was in die wenigen Kisten passte, was auf der Ladefläche eines Landrover unterzubringen war, mit welchen Dingen man es durch die Grenzkontrollen eines unberechenbaren afrikanischen Landes schaffte. Weil Mum immer mit einem großen Sortiment an Haustieren und einer umfangreichen Bibliothek umgezogen ist, haben nur wenige andere kostbare Gegenstände die vielen Ortswechsel überlebt. »Verloren, gestohlen, zerbrochen, kaputtgegangen, zurückgelassen«, sagt sie.

Nach ihrer Rückkehr aus England war Mum von einer Anwaltskanzlei in Eldoret als Sekretärin eingestellt worden. »Doris Elwell, die andere Sekretärin, konnte so schnell tippen, dass die Maschine Funken sprühte«, sagt Mum. »Na ja, sie war als Tippse bei den Nürnberger Prozessen angestellt gewesen, ein unfairer Vorteil. Und dann kam ich: klipp-klipp-Pause, klipp-klipp-Pause. Und nach jeder dritten Zeile – knarz-knarz-knarz – der Bogen wieder hochgekurbelt, literweise Tipp-ex auf die vielen Schreibfehler geschmiert. Bei Shaw & Caruthers atmeten sie alle auf, als ich mich mit Tim verlobte, weil es damals nicht üblich war, dass eine Frau nach der Heirat in ihrem Beruf weiterarbeitete.«

In Lavender’s Corner – frisch verheiratet und fröhlich arbeitslos – beschloss Mum, sich ganz auf die Kunst zu konzentrieren. Sie stellte ihre Staffelei auf die Veranda und malte. »Was ich vor Augen hatte«, sagt Mum, »das Rift Valley in jeder Stimmung. Jeden Tag konnte man aus exakt demselben Blickwinkel ein anderes Bild malen. Das Licht wechselte ständig. Und die Savanne ist mitnichten nur ein großer beigefarbener Klecks.« Und wenn die Muse sie verließ, sattelte sie Violet und nahm Suzy mit auf lange, mäandernde Ausritte. »Das Land war damals noch nicht so zerteilt von Straßen und Zäunen und man konnte meilenweit reiten.«

Währenddessen hatte Dad einen lukrativen Posten bei einem deutschen Veterinärausrüster bekommen. »Vierhundert Leute hatten sich um den Job beworben«, sagt Mum, »aber sie haben Tim genommen, weil er vorher Black’s Veterinary Dictionary durchgeackert hatte – von wegen, ›Penicillin wurde 1928 von Alexander Fleming entdeckt‹ und so etwas. Aber richtig beeindruckt waren die Deutschen davon, dass Tim britisch bis ins Mark war. Sie waren total begeistert von ihm. Bis sie ihn einstellten, bekamen sie in einer ehemaligen britischen Kolonie aus naheliegenden Gründen kein Bein auf den Boden. Oder, Tim?«

»Was?«, fragt Dad.

»DIE DEUTSCHEN!«, schreit Mum. »KONNTEN IN OSTAFRIKA NICHT KONKURRIEREN! WEGEN DEM KRIEG

Montagmorgens verabschiedete Dad sich auf der Veranda von Mum. »Immer war sie umringt von ihren Tieren und roch nach Farben und Terpentin«, sagt er. Er fuhr tagelang quer durch Uganda, Tansania und Kenia, versorgte Großtierärzte mit Ausrüstung. »Man konnte meilenweit fahren und sah so gut wie keinen Menschen. Mal ein Massai-Hirte, oder es saßen ein paar Samburu-Krieger im Schatten einer Akazie. Wenn man einem anderen Auto begegnete, war das so aufregend, dass man ausstieg und sich begrüßte.« Aber Dad fand Trost in der Leere: die einsamen Rillen einer endlosen Schotterstraße, das provisorische Bett unter Sternen in summender Nacht. »Wenn man da mal auf den Geschmack gekommen ist, will man nicht zurück unter wimmelnde Menschen.«

Wenn Dad freitagabends nach Lavender’s Corner zurückkehrte, hatte Mum zu dem Anlass den Malerkittel mit etwas Vorzeigbarerem vertauscht. »Dreiviertelhosen und eine hübsche Leinenbluse«, sagt Mum. Später rauchte Dad am Küchentisch seine Pfeife und ließ Mum über ihre Woche plappern, während in einem Le-Creuset-Topf ein Auflauf oder ein Curry garte. Sie aßen spät, tranken ein paar Flaschen kaltes Bier und schauten dem Mond bei seiner langsamen Überquerung des Rift Valleys zu.

An den Wochenenden widmeten Mum und Dad sich vornehmeren Zeitvertreiben. Dad spielte Polo. Mum nahm an Springprüfungen teil. Zusammen beteiligten sie sich an Fuchsjagden. »Falls man das so nennen durfte«, sagt Mum. »Es handelte sich eher um Geländereiten der schlimmsten Sorte.« Das Jagdgebiet lag in Molo. In über zweitausend Metern Höhe gelegen, war Molo einer der kältesten Orte im Land. Ein ganzes Stück von der Hauptstraße nach Nairobi entfernt, an den Rand des Mau-Walds gedrängt, waren die Siedler dort oben einsam, hemmungslos und schlugen gerne über die Stränge.

»Happy-Valley-Pack«, sage ich.

Mum schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt sie. »Nein, nein, nein. Das Happy-Valley-Pack war längst weg, bis auf ein paar Überlebende, die vielleicht noch irgendwo herumhinkten. Nein, nein, die Molo-Leute standen eher auf Feld-Wald-und-Wiesen-Fummelei. Mehr nicht.«

Die Fuchsjagden wurden von einem englischen Pferdearzt namens Charlie Thompson veranstaltet, einem großen Freund der blutrünstigsten Sportarten: Hundekämpfen, Hahnenkämpfen, Partnertausch. Er hatte eine Adlernase, winzige dunkle Äuglein, rauchte Pfeife und ging, als wären seine Hüftgelenke fest verschraubt. Bei einem bizarren Unfall, über den niemand sprach, hatte er die Herrschaft über seine Reitmuskeln verloren. »Man fasst sich an den Kopf«, sagt Mum, »aber es hielt ihn nicht davon ab, seinen Hengst Amos zu reiten, sooft er konnte. Oh, das war ein wunderbares Pferd, oder, Tim?«

»Oh ja«, sagt Dad. »Ja, ein sehr schönes Pferd, ein Vollblutrappe mit einem Schuss warmem Blut.«

Während ich dasitze und staune, dass meine Eltern sich an Namen, Rasse und Farbe dieses lange dahingegangenen Pferdes erinnern, erzählt Mum weiter: »Charlie hat sich einfach auf dem Sattel festgeschnallt, klassisch englischer Sattelsitz, und los ging’s. Er ritt wie der Teufel! Er hatte auch ordentliche Hunde, aber statt einem Fuchs jagten wir einem Riedbock nach.«

So ein Jagdwochenende begann traditionell mit einem von Charlies berüchtigten Essen: Berge von Kartoffelmus, die Hinterkeule irgendeines frisch geschossenen Stücks Wild, zu Brei zerkochte Bohnen und viele Liter schlechten Wein. Er wohnte in einem dunklen Haus aus Zedernholz, eingerichtet mit abgewetzten Ledersesseln und mottenzerfressenen Tierfellen als Teppichen. An den Wänden hing die übliche Sammlung räudiger Tierköpfe und angelaufener indischer Säbel. »An die tausend schlecht erzogene Hunde lagen überall herum und zählten einem die Bissen in den Mund«, sagt Dad. Und es gab einen Papagei. »Wenn man um die Soße bat, rief das Mistvieh: ›Du kannst mich auch mal!‹« Das Essen endete traditionell mit Portwein vor dem Kamin. Gegen Mitternacht wurde der Generator ausgeschaltet, und die Gäste wankten mit Kerzen zu Bett. »Und dann ging das Herumgetappe auf dem Flur los«, sagt Dad. »Mum und ich haben unsere Tür verriegelt.«

»Ja, so war das«, sagt Mum. »Die Leute mussten ihre Kinder im Kinderwagen irgendwo ganz hinten im Garten verstecken, bis sie alt genug fürs Internat waren, weil sie dem Nachbarn so ähnlich sahen.«

Am nächsten Morgen versammelte sich alles im Garten zur Fuchsjagd, die Hunde warfen sich hin und her und jaulten und rieben sich an den Vorderläufen der Pferde. »Mit einer Stute wie Violet musste man sehr vorsichtig sein, denn Amos war scharf wie Nachbars Lumpi«, sagt Mum. »Ehe du dich versahst, waren Charlie und Amos neben dir und alles stand bei ihnen raus …« Ein Abschiedstrunk für die Reiter wurde herausgebracht. »Meistens Dry Sherry«, sagt Mum, »und davon konnte man einen kräftigen Schluck vertragen, denn es war lausig kalt da oben, und die Jagd war verflucht gefährlich.«

Dann sprangen die Pferde der Reihe nach über die hölzerne Einfriedung. »Damals hatte man den Pferden noch nicht beigebracht, über Stacheldraht zu springen, also gab es keinen anderen Weg«, sagt Mum. »Alle mussten sich über diese unmöglich hohen Viehzäune quälen, und dann ging’s hinein in den Nebel, am Waldrand entlang, die Hunde kläfften, und der Riedbock sprang vorneweg. Meistens kam er davon, Gott sei’s gedankt.« Mum seufzt. »Violet war begeistert. Sie war schnell wie der Wind – mit ihrem Mut und ihrer Ausdauer machte die Höhe ihr gar nichts aus. Wir waren den anderen immer um Längen voraus.«

»Sogar Amos und Charlie?«, frage ich.

»Vor allem Amos und Charlie«, sagt Mum.

Anfang August 1965, bei einer von Charlie Thompsons Jagden, bekam Mum zum ersten Mal in ihrem Leben Schiss. »Wir mussten wie immer über diesen scheußlichen Kraal springen, hundertmal hatte ich das schon gemacht, aber auf einmal verließ mich der Mut. Ich glaube, Violet hat mein Zögern gespürt, denn sie verweigerte, und ich fiel herunter.« Dad musste Violet schließlich über die Einfriedung reiten, und Mum ging zu Fuß außen herum. Den restlichen Ritt schaffte sie, doch der Sturz hatte sie ungewöhnlich heftig mitgenommen.

Zurück in Lavender’s Corner legte Mum sich ins Bett und wollte nicht wieder aufstehen. »Bis Suzy irgendwann die Nase voll hatte und mich zu einem Spaziergang nötigte, aber mir wurde schlecht von der Anstrengung«, sagt sie. »Vom Geruch meiner Ölfarben wurde mir schwindelig, jeder Bissen drehte sich mir im Magen um. Also ging ich zum Arzt und erklärte ihm, dass ich bei Charlie Thompsons Jagd gestürzt sei und mich noch immer nicht besser fühlte. Nach ein paar Tests teilte er mir mit, dass ich schwanger war. Ich war außer mir und rief: ›Nein, so ein Quatsch. Nur weil man vom Pferd fällt, wird man doch nicht schwanger. Das weiß doch jedes Kind.‹«

Anfang September waren die Beweise dafür, dass ein Baby ins Haus stand, nicht mehr zu übersehen. Mum ergab sich in ihren Zustand und fing an, dem Baby in ihrem Bauch Shakespeare-Dramen vorzulesen. »Sämtliche Untersuchungen in diesen sonderbaren Büchern über das richtige Kinderkriegen waren zu dem Ergebnis gekommen, dass lautes Vorlesen zu heiteren intelligenten Babys führt«, sagt Mum.

»Aber Shakespeare?«, gebe ich zu bedenken.

Mum blinzelt argwöhnisch. »Na ja, wieso soll man sich nicht von Shakespeare aus in die Literatur vorarbeiten?« Und so kam es, dass Vanessa Margaret Fuller zum Zeitpunkt ihrer Geburt am Abend des 9. März 1966 im Nakuru’s War Memorial Hospital bereits König Lear, Macbeth, Hamlet, den größten Teil von Coriolanus, mehrere Sonette und die wichtigsten Komödien zu Gemüte geführt bekommen hatte. Sie war blond, blauäugig und unnatürlich still. Mum zuckt die Achseln. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich ihr für den Rest ihres Lebens das Lesen verleiden würde.«

Mum brachte ihr neugeborenes Baby nach Lavender’s Corner, und ihr perfekt ausgeleuchtetes filmisches Leben verlief weiter wie nach Plan. Vom ersten Tag an schlief Vanessa die Nächte durch. »Sie machte so gut wie nie Probleme. Nachdem ich sie gestillt hatte, legte ich sie am Ende des Gartens in den Kinderwagen.«

»Sah sie dem Nachbarn ähnlich?«, frage ich.

Mum wirft mir einen bösen Blick zu. »Nein, Bobo, Vanessa sah dem Nachbarn nicht die Spur ähnlich, so leid es mir für deine grässlichen Bücher tut.« Die peinliche Pause, die entsteht, gibt mir Zeit, mich für meine hässliche Bemerkung gründlich zu schämen. »Nein«, fährt sie fort. »Ich habe sie in den Kinderwagen gelegt und ihn nach hinten in den Garten geschoben, um in Ruhe malen zu können.« Meine Mutter seufzt. »Na ja, ich fand das in Ordnung, weil sie so ein friedliches Kind war, und Suzy hat ja auf sie aufgepasst. Suzy war sehr fürsorglich. Wehe dem, der Vans Kinderwagen zu nahe kam.«

Und so stellte Mum Vanessa auch an einem hellen sonnigen Morgen Ende Juni wie jeden Tag unter den Pfefferbaum und kehrte zurück zur Staffelei auf der Veranda. Vanessa war noch zu klein, um sich aufzusetzen oder sich mit irgendetwas anderem zu beschäftigen als der Verarbeitung unverdaulicher Quanten Shakespeare-Texte, die ihr im embryonalen Zustand verabreicht worden waren. Inzwischen hatte die Trockenzeit begonnen, und das Licht war so diffus, dass es an Buschfeuer erinnerte oder an Staub, der aufgewirbelt wird. »Ach, und diese Farben an dem Tag, die vergesse ich nie. Alles Ocker mit violetten Schattierungen«, sagt Mum. »Man wird eben so sehr von der Welt in Anspruch genommen, verstehst du?«

Ungefähr nach einer Stunde sah Mum aus den Augenwinkeln, dass Suzy hektisch zwischen Veranda und dem Ende des Gartens hin- und herlief, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie ließ den Pinsel fallen und rannte hinaus auf den Rasen.

»Vanessa war nicht mehr da«, sagt Mum. »Ich schaute mich wie wild um, aber von ihr war nichts zu sehen und zu hören. Schließlich entdeckte ich den Kinderwagen zehn Meter weiter. Die Bremse musste sich wohl gelöst haben, er war weggerollt und umgekippt. Vanessa lag im Verdeck, begraben unter ihren Decken, krebsrot in der Sonnenhitze.« Mum schüttelt den Kopf. »Ich bin so erschrocken«, sagt sie. »Das war’s. Ich habe nie wieder einen Pinsel in die Hand genommen.«

Kurz vor Ende der Trockenzeit brachen Missgeschicke und Tragödien so geballt über ihr Leben herein, dass meine Mutter zu Beginn der nächsten kurzen Regenzeit ihre Welt nicht mehr wiedererkannte. Zuerst trieb eins von Dads Poloponys Violet über einen Stacheldrahtzaun. »Ich fand sie in einer der Koppeln, der Bauch aufgerissen, der Hals blutig, die Fesseln in Fetzen«, sagt Mum. Mum schickte Charlie Thompson eine Eilmeldung nach Molo und versorgte die Wunden in der Zwischenzeit mit May & Baker-Puder und flüssigem Paraffin. Violet zitterte. Blut lief meiner Mutter an den Armen herunter.

Charlie kam am nächsten Tag. Er schüttelte den Kopf. »Erschießen«, sagte er. »Wäre wirklich das Beste für das Pferd.« Aber als er Mums Gesicht sah, gab er auf und verabreichte Violet etwas gegen den Schmerz und noch ein Mittel, um die Infektion einzudämmen. »Es wäre wirklich das Beste …«, fing er wieder an, doch Mum schüttelte nur den Kopf. Charlie fuhr wieder weg. Mum blieb noch einen Tag und eine Nacht bei Violet. Alle sechs oder acht Stunden brachte die besorgte Kinderfrau ihr Vanessa rauf auf die Koppel. Abwesend, ohne den Blick von der Stute zu nehmen, stillte Mum das Baby.

Als Dad am Freitagabend heimkam, fand er Mum und Violet halb verrückt vor Erschöpfung. Mum wollte das Pferd auf den Beinen halten. Violet wollte sterben. »Wenn ich sie loslasse, gibt sie auf«, sagte Mum.

Dad streichelte den Hals der Stute. »Ja«, sagte er, »das tut sie.« Er wartete gemeinsam mit Mum noch ungefähr eine Stunde. Dann sagte er: »So, Tub.«

»Ich weiß«, sagte Mum. Sie ließ den Halfterstrick fallen. Die Stute seufzte, dann legte sie sich langsam hin, zuerst knickten die Vorderbeine ein, dann brach unter enormer Anstrengung das Hinterteil herunter. Mum zog ihre Strickjacke aus und legte sie dem Tier um die Schultern. »Good-bye, Violet«, sagte sie, Tränen liefen ihr an der Nase herunter, tropften dem Tier auf den Hals. Dad brachte Mum zurück ins Haus und setzte sie mit einem Glas Brandy an den Küchentisch. Er schloss jede Tür zwischen Mum und der Welt draußen. Dann ging er zurück in die Koppel, scharrte das Loch für sie, so tief es ging, und erschoss Violet.

Mum legte sich eine Woche lang ins Bett, danach noch eine. Als sie auch nach zwei Wochen keine Anstalten machte aufzustehen, kam Granny aus Eldoret. Sie nahm Vanessa auf den Schoß und setzte sich ans Fußende von Mums Bett. Mum stillte das Baby und trank den Tee, den Granny ihr brachte. Sie streichelte Suzys Ohren, ließ den Kater auf ihrem Kopfkissen schlafen, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen und verließ das Haus nicht. »Warum?«, fragte sie immer wieder.

Mum meinte damit, dass ihr das Medium genommen war, über das sie ihre Welt verstehen konnte. Sie hatte ihren Kompass, die Orientierung verloren. »Ein Blick zwischen Violets Ohren, und ich wusste, wo es langging«, sagt sie. Meine Großmutter schleppte ihre Tochter schließlich zum Arzt, weil sie sich Sorgen machte über Mums ungewöhnlich heftige Niedergeschlagenheit und weil sie der Überzeugung war, von einer ordentlichen Dosis Tranquilizer könnten sie alle profitieren. Der Doktor machte ein paar Tests, dann kam er zurück in das Behandlungszimmer. »Sie hatten’s aber eilig«, sagte er. Beide, Mum und Granny, schauten auf. Der Doktor betrachtete Mum, die blass und abgemagert war, und runzelte die Stirn. Dann sah er Vanessa an, die noch nicht einmal aufrecht sitzen konnte. »Sie sollten mit Ihren Kräften haushalten, Mrs. Fuller«, sagte er. Mum war wieder schwanger.

Ein neues Baby war unterwegs, und Dad kam zu der Auffassung, dass er lange genug kreuz und quer durch Ostafrika gefahren war. Er wollte eine Farm, ein Stück Land, auf dem seine wachsende Familie Wurzeln schlagen konnte. Ihm schwebte eine ostafrikanische Version von Douthwaite vor: Milchvieh, ein paar gute Pferde, das ganze Jahr über gefüllte Wasserläufe, hügeliges Land. Er leistete eine Anzahlung auf ein Stück in den Highlands, das seiner Vorstellung entsprach, aber bevor das Geschäft zum Abschluss kam, schaltete sich der Beamte der Landverwaltung ein. »Er lud mich zu einer Tasse Kaffee ein«, sagt Dad, »und erklärte mir, dass die Farm, die ich kaufen wollte, offiziell noch nicht vergeben war.« Dad verstand. »Die neue Regierung hatte sie für den Gemüseanbau reserviert. Wenn ich sie gekauft hätte, wären wir nach einem Jahr rausgeworfen worden und hätten unser ganzes Geld verloren.«

Meine Großeltern verkauften die Farm in Eldoret an ein Dutzend Kleinbauern. (»Die Bauern trugen ihr ganzes Geld bei sich, als sie zum Haus kamen. Sie hatten es in die Falten ihrer Kleider gesteckt, kein Geldstück größer als ein Schilling«, sagt Mum.) Meine Großeltern wohnten noch ein paar Monate in Nairobi, bevor sie sich ein letztes Mal nach England einschifften und in eine Doppelhaushälfte am Stadtrand von Pangbourne zogen, im Gepäck mehrere Kisten Bücher, das verräucherte Porträt einer Huntingford-Ahnin, Teppiche, die Generationen von Hunden als Schlafplätze gedient hatten, sowie ein Sofa, das Wolken roten Staubs ausatmete, wenn man ihm zu nahe kam.

Auch wenn sie für den Rest ihres Lebens in England, später in Schottland lebten, behielten meine Großeltern die Gewohnheiten kenianischer Siedler bei – sie bauten den Großteil ihres Gemüses im eigenen Garten an, mein Großvater pflanzte und räucherte seinen eigenen Tabak, sie kochten sich ihr Essen auf einem Holzofen, schluckten jeden Abend eine Chininpille und tranken um elf Uhr vormittags einen doppelten Gin mit French Coffee (nach dem meine Großmutter die Neigung hatte, im Kreis zu gehen, was sie auf ihr schon seit der Geburt verkürztes linkes Bein zu schieben pflegte).

»Als meine Mutter und mein Vater Kenia verließen, ging für uns eine Ära zu Ende«, sagt Mum. »Glug studierte in England, niemand von meiner Familie war mehr da, und alle unsere Freunde verließen das Land. Kenia hatte für uns sein Herz verloren. Wir sahen uns nach etwas anderem um. Wo konnten wir hinziehen? Ich hätte meinen Eltern nicht nach England folgen können. Es brach meiner Mutter das Herz, aber ich wusste, dass ich in Afrika bleiben wollte.«

Was Mum nicht sagt, aber meint, ist, dass sie im von Weißen regierten Afrika bleiben wollte. In mancherlei Hinsicht muss sie es gar nicht sagen. Die meisten weißen Afrikaner verließen den Kontinent oder zogen sich immer tiefer in den Süden zurück, je mehr Länder weiter nördlich die Unabhängigkeit errangen. Und noch etwas kann Mum nicht sagen – jedenfalls nicht mit vielen Worten: Ihre Entscheidung, im von Weißen regierten Afrika zu bleiben, kam sie teuer zu stehen; sie hätte beinahe mit dem Leben dafür bezahlt.

Um uns herum macht der südafrikanische Garten sich für den Abend bereit. Die Perlhühner haben aufgehört zu gurren und sich in den Bäumen bei den Ställen niedergelassen. Die knisternden Geräusche der Tagesinsekten werden nach und nach von den Klängen der Nacht abgelöst: quakenden Fröschen im Bach, zirpenden Zikaden in den Bäumen. Hinter uns an den Bergwänden wechselt die Farbe von Rosa zu Schiefergrau.

»Seht ihr«, sagt Mum, »die Sonne ist gleich unten.«

»Du sagst es«, sagt Dad.

Nach ein paar Sekunden wirft Mum die Arme in die Luft. »Austrocknung! Nicola Fuller of Central Africa leidet unter massiver Austrocknung!«

Dad lacht. »Bedienung!«, ruft er. »Barkeeper!«

»Hilfe!«, kreischt Mum. »Notfall!«