Nicola Huntingford und die Mau-Mau

art12.JPG

Donnie auf der Farm, Kenia, ca. 1960

Einmal die Woche ging mein Großvater mit Tante Glug und Mum in eins der beiden Kinos in Eldoret: entweder das Roxy oder das Lyric. Und jede Woche litt Mum Höllenqualen, weil sie zwischen Rowan-Tree-Fruchtgummis und Wilkinson’s Dolly-Mischung wählen musste. »Wenn wir am Kino ankamen, hätte ich fast sterben können. Beides war so köstlich, und ich wusste nicht, wofür ich mich entscheiden sollte«, sagt sie. Und wenn sie sich dann endlich nach sorgfältigster Abwägung für eine der Süßigkeiten entschieden hatte, wurden Mum, Tante Glug und mein Großvater von Platzanweiserinnen, die wie die Affen der Leierkastenmänner in lustige Uniformen gekleidet waren, den Fes schräg auf dem Kopf, an ihre Plätze geführt.

Die Lichter gingen aus, und in dem von hinten angestrahlten Malvengrau des Zigarettenrauchs begann die Vorstellung. Zuerst eine Pathé-Wochenschau, eine patriotische britische Produktion, die immer auch Amüsantes über entlegene Themen brachte. »Die königliche Familie bei irgendwelchen pferdenärrischen Verrichtungen oder eine Fabrik in Manchester, die jede Menge patriotischen Qualm in den düsteren englischen Himmel rülpste«, sagt Mum. Nach der Wochenschau gab es eine Pause, in der die Erwachsenen ihre Cocktails auffrischten und die Inder, die das Kino betrieben, über den steinalten, rost- und staubbedeckten Projektoren schwitzten.

»Und nach all dem Brimborium dann endlich der Hauptfilm«, sagt Mum. »Meistens ein Kriegsfilm, Unmengen von fiesen Nazis, die dran glauben müssen, weil heldenhafte britische Soldaten der Übermacht des Bösen trotzen. Die Lautsprecher waren miserabel, deshalb taten wir uns bei den Western immer schwer mit dem amerikanischen Akzent.« Mum wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als sei ich persönlich verantwortlich für die mangelhafte Wiedergabe von John Waynes breitem, amerikanischem Akzent. Dann fährt sie in versöhnlicherem Tonfall fort: »Natürlich war die Handlung meist schrecklich simpel, deshalb hat es nicht so viel ausgemacht – eine Handvoll Cowboys knallten massenweise Rothäute ab.« Mum rümpft die Nase. »Sehr steif auf ihren Pferden, fanden wir immer.«

Wir führen dieses Gespräch während einer Fahrt durch Südafrika von Kapstadt nordwärts nach Clanwilliam am westlichen Kap. Ich bin mit dem Flieger aus Wyoming gekommen, Mum und Dad sind von Sambia hierhergeflogen, um mich abzuholen. Die kalte Regenzeit ist gerade vorüber, die Luft draußen summt in Erwartung der grausamen Sommerhitze, die beinahe stündlich an Kraft gewinnt. Die Tage beginnen noch mit einer Reminiszenz an die Kühle, aber schon mittags flirren Wellen sengender Hitze über den Boden. Mum schaut zum Fenster hinaus; ich sehe ihr an, dass sie die Zitronenfarmen, die wie Edelsteine längs der sandigen Ufer des Olifants River aufgereiht sind, nicht richtig zur Kenntnis nimmt und auch nicht die asche- und purpurfarbene Fynbosvegetation, mit der hier die kargen Bergflanken überzogen sind. In Gedanken ist Mum noch in Eldoret, in einem stickigen, verrauchten Kino Anfang der fünfziger Jahre.

»Und die Nationalhymne durfte natürlich nicht fehlen«, sagt Mum träumerisch und legt eine Hand übers Herz. »Vor jedem Film wurde ›God Save the King‹ gespielt – oder ›the Queen‹, je nachdem, wer gerade dran war –, und wir mussten ehrfürchtig von unseren Sitzen aufspringen, God save our gracious Queen, long live our noble Queen. God save the Queen!« Mum singt leise: »La la la la! Send her victorious, happy and glorious, Tra la la la la laaa la la! God save the Queen.«

Wieder mit ihrer Sprechstimme sagt sie nicht ohne Stolz: »Wusstest du, dass Prinzessin Elizabeth in Kenia war, als ihr Vater starb?«

»Ja«, antworte ich.

»Wirklich?«, sagt Mum, als bezweifele sie, dass dieser traumhaft imperialistische Umstand mir tatsächlich bekannt sein kann. »Na gut, jedenfalls hielten sie und Phil sich im Februar 1952 gerade in der Treetops Lodge in Aberdares auf.« Mum bekommt feuchte Augen. »Und Elizabeth ist als Prinzessin in ihr Zimmer hinaufgegangen, heißt es, und als Königin wieder heruntergekommen wie im Märchen. Wir alle fanden es sehr bedeutsam und waren ausgesprochen stolz darauf, dass sie den Thron in Kenia bestiegen hat.«

Mum spricht den Namen mit dem gedehnten E der Kolonialzeit – Keen-ya (/ki nja/), als wäre der Globus noch immer zu einem guten Viertel rosa eingefärbt vom Herrschaftsbereich Großbritanniens. Ich dagegen spreche es mit einem postkolonialen kurzen E – Kenia (k nja). Es ärgert meine Mutter, wenn ich »Kenja« sage, und sie verbessert mich: »Keen-ja«. Aber dieses Beharren auf der anachronistischen Aussprache verstärkt nur meinen Eindruck, dass sie von einem Fantasieland spricht, das für alle Zeiten auf das Zelluloid einer vergangenen Epoche gebannt ist, in einem Film, in dem sie selbst, das vollkommene Pferd und das perfekte äquatoriale Licht die Hauptrollen spielen. Die Gewalt, die Ungerechtigkeiten, die mit dem Kolonialismus einhergingen, scheinen – in der Lesart meiner Mutter – einem anderen, nie gesehenen Volk in einem anderen, nie gesehenen Film zugestoßen zu sein.

Und ein bisschen war es ja auch so.

Irgendwann in den späten 1940er-Jahren rief der Generalrat der verbotenen Kikuyu Central Association zu einer Kampagne des zivilen Ungehorsams auf. Der Protest richtete sich gegen die Annexion kenianischer Gebiete durch die Briten und gegen die kolonialen Arbeitsgesetze, die schwarze Kenianer in ein Feudalsystem zwangen, von dem nur die achtzigtausend weißen Siedler profitierten. »Nein«, sagt Mum ungeduldig. »Nein, nein, nein, du erzählst das ganz falsch. Eldoret ist von niemandem annektiert worden. Dort hat ja keiner gelebt, bevor die Weißen kamen. Den Eingeborenen war es zu kahl und zu windig. Die Nandi lebten in den warmen Wäldern um das Plateau herum. Außerdem waren sie keine Farmer. Sie waren Viehbauern und sehr unabhängige, sehr wilde, sehr gefährliche Krieger.« Mum schweigt kurz. »Insofern sind wir bestens miteinander ausgekommen.« Und dann gibt sie der Überzeugung sehr vieler Siedler Ausdruck. »Das Problem waren nicht die Nandi, die Kikuyu waren so schwierig.«

Was die Kikuyu selbst Muingi (die Bewegung), Muigwithania (das Übereinkommen) oder Muma wa Uiguano (der Einheitsschwur) nannten, wurde außerhalb ihrer Kreise als Mau-Mau-Krieg bekannt. Möglicherweise war der Name ein Akronym des Swahili-Spruchs »Mzungu Aende Ulya. Mwafrika Apate Uhuru« – »Lass den weißen Mann wieder gehen. Lass die Afrikaner frei sein.« Oder es handelt sich um eine nachlässige Aussprache von »Uma, Uma« – »Haut ab! Haut ab!«.

Die Mitglieder der Mau-Mau-Bewegung banden sich durch die traditionellen Schwurrituale der Kikuyu aneinander, zu denen angeblich auch Tieropfer, die Verabreichung tierischen und menschlichen Blutes, Kannibalismus und Sodomie gehörten. Sie benutzten die traditionellen Waffen der Kikuyu – Speere, Kurzschwerter, Peitschen aus Flusspferdleder, Macheten mit breiten Klingen – und folterten viele ihrer Opfer, schnitten ihnen die Eingeweide heraus und zerstückelten sie bis zur Unkenntlichkeit. Anfang 1952 trieben in den Flussläufen um Nairobi die verstümmelten und verbrannten und mit Draht gefesselten Leichen mehrerer Kikuyu-Polizisten, die in den Diensten der Briten gestanden hatten. Kurz darauf fanden Siedler in der Nähe des Mount Kenya ihr Vieh ausgenommen auf der Weide, die Sehnen der Beine durchtrennt.

»Nein«, sagt Mum, »mit den Kikuyu war nicht gut Kirschen essen. Sie waren unheimlich und haben sich die seltsamsten Dinge einfallen lassen. Wir hatten alle Angst vor ihnen, sogar hier oben auf dem Plateau. Wir haben das Personal vor Dunkelheit nach Hause geschickt, das Haus nachts verschlossen und Hühnerdraht vor die Fenster genagelt. Mein Vater nahm seine Dienstpistole überall mit hin, und Mutter hatte eine Beretta unter dem Kopfkissen liegen.«

Aber weder den Huntingfords noch irgendeinem ihrer Freunde stieß etwas zu. Das Leben ging in all seinem fadenscheinigen cinematographischen Glanz weiter. Bis den Huntingfords an einem Tag Mitte Oktober 1952 von einem von Babs Owens’ Stallburschen eine Nachricht an die Haustür gebracht wurde. Der Bursche war atemlos vor Angst. Auf der Rennbahn war ein Kikuyu-Rebell aufgetaucht. »Weiß der Teufel, warum Babs meinen Vater zu Hilfe gerufen hat«, sagt Mum. »Man hätte ihr jederzeit zugetraut, so einen Kerl eigenhändig zu versohlen oder ihm ein Ohr abzubeißen oder so etwas, aber nein, sie ließ meinen Vater rufen, und er, Gentleman, der er war, schnappte sich seine Pistole und ging zu ihr rüber.«

Im Schutz der Ruinen des ehemaligen Internierungslagers für Italiener schlich sich mein Großvater vorsichtig an die Rennbahn heran. Im ungefilterten äquatorialen Licht warfen die bröckelnden Gebäude unheimliche blaue Schatten. »Das alte Gefängnis, verlassen und düster«, sagt Mum. Plötzlich sah mein Großvater den vermeintlichen Kikuyu-Rebellen kurz ins Licht hinauslaufen und gleich wieder in das Dunkel eines der verfallenden Häuser eintauchen. »Mein Vater trat näher an das Gebäude heran und feuerte einen Warnschuss in eins der Fenster. Natürlich hatte er nicht vor, den Mann zu erschießen, aber die Kugel prallte von einer der Wände ab und traf ihn, ohne ihn zu töten. Doch er war verletzt, und damit war es ein Fall für die Polizei. Mein Vater musste vor Gericht erscheinen.«

Mum schüttelt den Kopf. »Ein paar Tage später hätte mein Vater den Kikuyu ruhig abknallen können, weil die Briten inzwischen den Notstand ausgerufen hatten. Aber an diesem Nachmittag war es noch nicht in Ordnung.« Es kam zu einer Verhandlung, und mein Großvater wurde zu einem Tag Gefängnis verurteilt, ein Richterspruch, der helle Empörung bei den Leuten von Eldoret auslöste. »Mein Dad war als Flag-Marshal für die Rennen am Nachmittag vorgesehen«, erklärt Mum. »Er konnte den Tag unmöglich im Gefängnis verbringen. Keiner außer ihm konnte beim Start die Flagge schwenken.«

Nachdem der Notstand ausgerufen war, strömten britische Soldaten in das Land, und weiße Siedler schlossen sich ihnen an. Bis Ende November 1952 waren achttausend Kikuyu festgenommen worden. Was die Spannungen nicht minderte, im Gegenteil – die Angriffe auf britische Siedler eskalierten. Vor Januar 1953 war es nur zu vereinzelten Angriffen gekommen, und die Ziele waren ausschließlich Männer gewesen, bis am 24. des Monats die gefolterten und zerstückelten Leichen einer jungen britischen Siedlerfamilie auf ihrer Farm gefunden wurden – Roger Rucks (37 Jahre alt), seine schwangere Frau Esmee (32 Jahre alt) und ihr sechsjähriger Sohn Michael. Der Kikuyu-Koch der Familie (bezeichnenderweise wurden sein Name und sein Alter in keinem der Berichte erwähnt) war ebenfalls totgeschlagen und zerstückelt worden.

Die Siedler entließen ihr Kikuyu-Personal, und die Festnahmen von Kikuyus, die zu Recht oder Unrecht als Rebellen verdächtigt wurden, mehrten sich. Bis Ende 1954 hielt das britische Militär an die siebenundsiebzigtausend Männer, Frauen und Kinder der Kikuyu in überfüllten, unhygienischen Konzentrationslagern fest. Sie zwangen die Häftlinge zur Arbeit, und wer sich weigerte, wurde geschlagen, nicht selten totgeprügelt. Ein Gefangener, John Maina Kahihu, beschreibt die Atmosphäre in diesen Lagern sehr anschaulich: »Wir weigerten uns, diese Arbeiten zu tun. Wir kämpften für unsere Freiheit. Wir waren keine Sklaven … Im Lager gab es zweihundert Bewacher. Hundertsiebzig von ihnen standen mit Maschinenpistolen um uns herum. Dreißig Bewacher waren bei uns in den Gräben. Wenn der diensthabende Weiße in die Trillerpfeife blies, fingen sie an, auf uns einzuprügeln. Sie prügelten uns von 8 Uhr bis 11.30 Uhr. Sie prügelten uns wie Hunde. Ich war unter den Körpern der anderen begraben – nur die Arme und Beine schauten noch hervor. Ich hatte Glück, dass ich überlebte. Aber die anderen wurden weiter geschlagen. Für sie gab es kein Entrinnen.«

Nervös gewordene Siedler machten Pläne, Kenia zu verlassen, verkauften eilig ihre Farmen und machten sich nach Australien oder Großbritannien auf, um dort allen, die Ohren hatten zu hören, mit dem Loblied auf das perfekte äquatoriale Licht Ostafrikas auf den Wecker zu gehen. »Man nannte sie die ewig Gestrigen. Ihre Leier war, ›damals, als wir noch in Kenia lebten‹, verstehst du? Aber jeder wusste, dass das alte koloniale Kenia am Ende war. Man konnte noch so viele britische Soldaten in die Kolonie schicken, noch so viele Kikuyu festnehmen oder erschießen – mit dem wohlgefälligen Honigschlecken einer Minderheit auf Kosten einer grollenden Mehrheit war es vorbei.«

Etwa um diese Zeit stand plötzlich Flip Prinsloo wieder vor der Tür der Huntingfords und wollte meine Großmutter sprechen. Und meine Großmutter setzte sich wieder mit ihm auf die Veranda und schenkte ihnen beiden selbstgekelterten Wein in die Gläser. »Auf uns«, sagte sie und erhob ihr Glas.

»Ja«, stimmte Flip ein. Er drehte das Glas ein paarmal in der Hand, bevor er trank. »Also«, sagte er, nachdem das Brennen in der Kehle so weit nachgelassen hatte, dass er sprechen konnte. »Ihr habt diesen Krieg verloren.«

»Ja, das ist uns nicht entgangen«, antwortete meine Großmutter.

Schweigend tranken sie ihre Gläser leer, dann erhob sich Flip. »Wir gehen zurück nach Südafrika«, sagte er.

»Davon hab ich gehört«, sagte meine Großmutter. Sie nahm die Flasche zur Hand. »Bleiben Sie wenigstens noch auf ein Gläschen?«

»Nee dankie.« Flip stülpte sich seinen rohledernen Hut wieder auf den Kopf. Dann holte er tief Luft. »Wenn Ihre Tochter das Pferd will, kriegen Sie’s für hundert Pfund.« Einen Augenblick lang verharrte er auf der Stelle, als wartete er darauf, dass die genannte Summe sich vor seinen Augen materialisierte.

»Ach ja?«, sagte meine Großmutter.

Flip nickte, und in den folgenden Augenblicken verwandelte der fragile Friede, den er und meine Großmutter zwischen Buren und Briten geschlossen hatten, sich zurück in gegenseitiges Misstrauen. »Auf Wiedersehen, Mrs. Huntingford«, sagte Flip.

»Gehen Sie mit Gott, Mr. Prinsloo«, antwortete meine Großmutter.

Meine Großmutter schaute Flip Prinsloo nach, dann schenkte sie sich ein stärkendes Glas Wein ein. Einhundert Pfund überstiegen ihre Möglichkeiten bei Weitem. Kurz darauf erschien ein Anschlag auf dem Mitteilungsbrett im Sportclub und noch einer auf dem Mitteilungsbrett an der Rennbahn. »ZU VERKAUFEN: Violet.« Dann folgte eine Auflistung ihrer Erfolge: »Gewinner dieses und jenes und noch eines Preises«, sagt Mum. »Jeder kannte Violet, eigentlich hätte er sich die Anschläge sparen können.«

Mum schmollte und sprach wochenlang mit niemandem. »Zum Glück wollte sie keiner kaufen«, sagt Mum. »Sie war zu schwierig. Außerdem verließen die Leute in Scharen das Land, und alle wollten ihre Tiere loswerden. Niemand wollte sich noch Verantwortung aufladen.« Flip Prinsloo fand keinen Käufer für Violet und musste Mum die Stute umsonst überlassen. Sie lächelt: »Da hatte der Mau-Mau-Aufstand doch noch sein Gutes gehabt.«

Obwohl die meisten ihrer Freunde aufgegeben hatten, dachten meine Großeltern erst einmal nicht daran, Kenia zu verlassen. »Australien kam überhaupt nicht in Frage«, sagt Mum. »Und ich wüsste nicht, welchen Grund meine Eltern gehabt haben sollten, in Großbritannien zu leben. Dad fühlte sich als Kenianer. Das Land war seine Heimat.« Also blieben die Huntingfords und kauften die Hälfte einer Farm in einem langen, flachen Becken etwa fünf Meilen nördlich der Rennbahn. Catherine Angleton, die reiche, beinamputierte englische Witwe, bei der meine Großmutter während des Krieges gewohnt hatte, kaufte die andere Hälfte unter der Bedingung, dass ihr Sohn Martin nach Kenia kommen und dort wohnen konnte.

»Tante Glug hat mir mal erzählt, Martin hätte gemuffelt und einen Wasserkopf gehabt.«

»Tatsächlich?«, fragt Mum stirnrunzelnd.

»Ja«, sage ich.

»Ich vermute, du wirst das in einem von deinen grässlichen Büchern schreiben«, sagt Mum.

»Und?«, lasse ich nicht locker.

»Na ja, kann schon sein«, räumt Mum widerwillig ein. »Doch, es gab da ein paar kleine Probleme, und deshalb wollten die Mädchen alle nicht mit ihm ausgehen, und das hat dann zu größeren Problemen geführt.«

»Nämlich?«, frage ich.

Mums Blick durchbohrt mich. »Na, zu größeren Problemen eben«, antwortet sie ominös.

Mum war fast sechzehn, als der Mau-Mau-Aufstand im Januar 1960 endgültig niedergeschlagen war. Weniger als hundert Europäer waren ums Leben gekommen. Offiziellen britischen Quellen zufolge sollen britisches Militär und Mau-Mau-Rebellen über elftausend schwarze Kenianer getötet haben, aber in einem Artikel in der Zeitschrift African Affairs aus dem Jahr 2007 schätzt der Demograph John Blacker die Gesamtzahl der toten Schwarzkenianer auf fünfzigtausend, die Hälfte davon Kinder unter zehn Jahren. Der Aufstand war niedergeschlagen, aber Meldungen von Gräueltaten britischer Soldaten und weißer Siedler machten Schlagzeilen in Großbritannien, und die Briten verloren die Lust an ihrer Kolonie. »Die Unabhängigkeit war nicht mehr aufzuhalten«, sagt Mum.

Als Vorbereitung auf die Selbstverwaltung Kenias drängten die afrikanischen Führer auf die Rücksiedlung der während des Aufstands in den Arbeits- und Konzentrationslagern inhaftierten Kikuyu. Im Juli 1960 erschien eine Delegation der Regierung auf der Farm der Huntingfords und bat meine Großeltern, eine Kikuyu-Familie aufzunehmen. Mein Großvater ließ den Blick über seine kleine Farm mit dem frisch gepflanzten Windschutz und den zu Feldern gepflügten Hügeln schweifen und sagte: »Warum eigentlich nicht?«

Und so baute die Familie Njoge sich ihre neue Heimstatt windwärts von Martin Angletons kleiner strohgedeckter Hütte. Martin ging dem Wind nach und hieß sie auf der Farm willkommen. »Und bald darauf fingen die Leute im Club an, meinen Vater zu hänseln, und wollten wissen, ob er das Aufgebot schon bestellt habe.« Mum zwinkert mir zu, als hätte sich das Sensationelle dieses Moments noch kein bisschen abgenutzt. »Es stellte sich heraus, dass Martin sich kurzerhand mit Mary Ngoje verlobt hatte.« Mum kneift die Augen zusammen. »Tja, die Hochzeit ging problemlos über die Bühne. Jeder brachte ein Stück Fisch oder was auch immer mit. So war es – das neue Kenia.« Und nach einer Pause: »Also, sag, was du willst, wir waren fortschrittlich.« Sie sucht nach dem anderen Wort. »Ja«, sagt sie schließlich, »richtig egalitär waren wir.«

1961 – in dem Jahr, in dem sie siebzehn wurde – beschloss man, dass mit Mum etwas geschehen müsse. »Meine Eltern wollten, dass ich etwas Nützliches lerne, und solange ich in Kenia war, wurde da nichts draus.« Sie schickten sie auf Mrs. Hoster’s Kolleg für junge Damen in London und quartierten sie in einem Frauenwohnheim in Queensgate ein. »Ich werde das nie vergessen – sobald man die Tür öffnete, stank es entsetzlich nach verkochtem Kohl«, sagte Mum. »Später müssen sie das alles mit Dunstabzugshauben in die Ozonschicht hinausgeblasen haben, denn heute ist es ja nicht mehr ganz so schlimm, aber damals hat ganz England nach verkochtem Kohl gestunken.«

Mrs. Hoster’s Kolleg für junge Damen war ein hochangesehenes Institut gegenüber dem National History Museum in South Kensington, »geleitet von einem Haufen gruselig madamiger Lesben. Auch wenn sie ein paar wirklich vornehme Schülerinnen hatten.« Sie schließt die Augen und zählt sie an zwei Fingern ab. »Prinz Philips Assistentin ist dort gewesen – aus Liebe zur Noblesse. Und die Schwester des Dalai Lama – aus Liebe zur Sache.«

Jeden Vormittag setzte man die Schülerinnen in Mrs. Hoster’s Kolleg für junge Damen hinter Remington-Schreibmaschinen. »So an die zwei Tonnen Stahl, und dann haben sie Schallplatten mit Marschmusik aufgelegt, und wir mussten zum Rhythmus der Coldstream Band tippen. Klickedi-klack, klickedi-klack.« Dann gibt Mum eine Kostprobe ihres eigenen Tempos: »Ich dagegen – ping, Pause – ping, Pause – ping, Pause. So kam es aus meiner Ecke.« Und nachmittags Stenographie. »Tja, hinterher konnte ich selber nicht mehr lesen, was ich geschrieben hatte – es sah aus wie die Krakeleien einer Wahnsinnigen.«

Mum seufzt. »Ich brauchte länger als alle anderen für den Kurs, weil ich nicht die mindeste Lust hatte, Sekretärin zu werden. Außerdem hatte ich chronische Nebenhöhlenprobleme.« Sie zögert, korrigiert sich: »Nein, stimmt nicht, ich war in London, und es waren die Sixties. Was meinst du, was da los war. Von wegen Nebenhöhlenprobleme, ich war ständig verkatert.«

»Warst du ein Hippie?«, frage ich.

»Hippie?«, wiederholt Mum kühl. »Sei nicht albern, Bobo. Nein, es war die Zeit des Kalten Kriegs; jede Menge herrliche Affären und Machenschaften – der Profumo-Skandal, Mandy Rice-Davies, Christine Keeler. Alle rechneten fest damit, dass wir jeden Moment von den Russen in die Luft gesprengt werden würden; das war alles wahnsinnig aufregend.« Mum schüttelt den Kopf. »Und um nichts in der Welt wollte ich während so einer verfluchten Stenographiestunde das Zeitliche segnen, da kannst du Gift drauf nehmen.«

Catherine Angleton bot meiner Mutter an, einen Ball für sie zu geben. »Damit ich mal hinter der Schreibmaschine hervorkommen und andere Leute kennenlernen konnte. Aber ich als Debütantin?«, sagt Mum. »Wozu? Die Sorte Engländer, die auf solche Bälle gingen, rümpfte ohnehin die Nase über eine wie mich, die aus den Kolonien kam.« Sie seufzt. »Das waren alles schreckliche Snobs, die nur auf Fehler bei der Aussprache lauerten; beim geringsten Fauxpas hätten die sich wie die Geier auf mich gestürzt.«

Jahre später versuchte Mum, mir und Vanessa den korrekten Akzent einzupauken. Stundenlang fütterte sie unsere Ohren mit Radioprogrammen der BBC, in der Hoffnung, die britische Standardaussprache möge auf uns abfärben. Außerdem wollte sie unsere Stimmen mit aller Gewalt um ein bis zwei Oktaven senken – mit unserem schrillen rhodesischen Akzent klangen wir wie verschnupfte Streifenhörnchen. Tante Glug fand unsere Stimmchen süß, für Mum hörten sie sich haarsträubend an.

Mein gegenwärtiger Akzent klingt für Mums Ohren ähnlich haarsträubend – ein hybrides südafrikanisch-englisch-amerikanisches Patois, als die Sprache Elizabeths der Zweiten kaum noch zu erkennen. Bei meiner Schwester ist es nicht viel besser. Sie kehrte aus dem London ihrer späten Teenager- und frühen Twenjahre mit einer nach Mums Auffassung »grauenhaften Cockneyquäke« als idealer Ergänzung zu ihrer kolonialen Schnellfeuersprache zurück. »Bei Vanessa weiß ich nie, ob sie mich absichtlich oder nur aus Gedankenlosigkeit auf die Palme bringt«, sagt Mum.

Als ich Vanessa frage, welches von beidem es ist, zieht sie an ihrer Zigarette und sagt: »Beides.«

Zusätzlich zum Bombardement mit britischer Standardaussprache wurden Vanessa und ich mit einer verwirrenden Liste von Verboten traktiert, was Sprache und Vokabular anging. Es war ordinär, über Geld zu reden, was uns nichts ausmachte, weil wir ohnehin über keine erwähnenswerten Beträge verfügten. (Irgendwie wurde Geld auch leichtfertig verplempert – als Mum 1993 nach dem Tod ihrer Mutter schließlich zu einem kleinen Erbe kam, gab sie es für Bücher, Pferde, Royal-Ascot-Hüte und einen ausgiebigen Aufenthalt im Londoner West End aus, wo sie sich jede Aufführung anschaute.) Ebenso ordinär war es, über seine Gesundheit zu reden. »Kein Mensch will wirklich wissen, wie es einem geht«, sagte Mum, »also erzählt allen, es geht euch blendend.« Wir mussten Mundtuch statt Serviette sagen, Klosett statt Toilette, Kanapee statt Sofa, Veranda statt Terrasse und was? statt wie bitte? Wir bekamen eingeschärft, dass es unhöflich war, jemanden zu fragen, ob er »noch etwas trinken« wolle. Wir hatten ihn zu fragen, ob er »einen« Drink oder »ein Gläschen« wünsche.

In der Schule gaben die Hausmütter uns Magnesiamilch für den Darm, auch wenn wir ihnen tausendmal versicherten, wie »blendend« es uns ging. Die Lehrerinnen fanden »was?« und »Klosett« bäurisch. Sie korrigierten Vanessa und mich, brachten uns bei, »wie bitte?« und »Toilette« zu sagen. Inzwischen waren die Hälfte der Schüler an unserer Schule der Meinung, Vornehmsein hieße, sich geziert zu geben und beim Teetrinken den kleinen Finger abzuspreizen. Die andere Hälfte pfiff auf Manieren und kultivierte eine bewusste Unvornehmheit. Ich tat mein Bestes, mich anzupassen.

»Gut, das musst du selber wissen«, sagte Mum. »Aber gib bitte nicht mir die Schuld, wenn du bei der Queen zum Tee eingeladen wirst und nicht weißt, wie du dich zu benehmen hast.«

Im Dezember 1963 gelangte man zu der Auffassung, dass an Mrs. Hoster’s Kolleg für junge Damen alles für Mum getan worden war, was getan werden konnte. »Nach zwei langen Jahren konnte ich weder Schreibmaschine noch Steno.« Es lodert in ihren Augen. »Sie wollten mich zähmen und sind gescheitert.« Eine Woche später verließ Mum London und landete im perfekten äquatorialen Licht Nairobis. »Ich hatte mir die Haare blond färben und auf Schulterlänge schneiden lassen, sehr mondän«, sagt sie. »Es war die Zeit, als man sich für den Flug richtig aufdonnerte, und ich wollte gut aussehen für Kenia.« Sie trug marineblaue, vorne spitz zulaufende Stöckelschuhe und ein blassblaues Leinenkostüm. »Von der Stange, aber sehr schick – kurz genug, um aufzufallen, ohne gleich die Pferde scheu zu machen.« Mum lächelt. »Aber was ich bestimmt nicht vergessen werde, war der erste Atemzug kenianischer Luft auf der Gangway – so frisch und würzig. Und ein absolut perfektes Licht, völlig unverschmutzt und klar.« Ein vielsagender Blick. »Viele Leute haben versucht, darüber zu schreiben, weißt du, aber die richtigen Worte hat kaum jemand gefunden. Man muss einfach dort sein. Es mit eigenen Augen sehen.«

Mum erwähnt nicht, dass Kenia ein unabhängiges Land war, als sie aus England zurückkehrte. Im Mai 1963 gewann die Kenya African National Union die ersten freien und allgemeinen Wahlen in dem Land. Als die Ergebnisse bekannt wurden, liefen Tausende von Kenianern durch die regendurchweichten Straßen Nairobis und riefen: »Uhuru! Uhuru!« Jomo Kenyatta, der dreiundsiebzigjährige ehemalige Vorsitzende der Kikuyu Central Association, rief in einer Rede die Nation dazu auf, Stammes- und Rassenzwistigkeiten zugunsten der nationalen Einheit zu begraben. »Schauen wir nicht zurück in die Vergangenheit – auf rassische Verbitterung, die Verweigerung fundamentaler Rechte, die Unterdrückung der Kultur«, sagte er. »Lasst Versöhnung herrschen.« Am 12. Dezember 1964 wurde die Republik Kenia ausgerufen, und Mzee Jomo Kenyatta wurde Kenias erster Präsident.

»Tja, nun«, sagt Mum.