Nicola Huntingford, der Afrikaander und das beste Pferd aller Zeiten
Ca. 1957
Mum auf Violet, Kenia, ca. 1958
Manchmal trickst einen das Gedächtnis aus und packt Ereignisse zusammen, verschmilzt sie miteinander, damit man leichter auf sie zurückgreifen kann. So ist es gekommen, dass Mum von dem Zirkus, der Mitte der fünfziger Jahre in Eldoret gastierte, nur noch eins in Erinnerung hat: dass Nane mit ihm fortgegangen ist. »Anscheinend fand meine Mutter, dass er mich oft genug abgeworfen hatte«, sagt sie, »also ging er als Löwenfutter mit.« Mum schluckt leise. »Und ich weiß nicht, ob es Einbildung ist oder tatsächlich so war, aber in meinem Kopf habe ich ein Bild von Nane hinter Gitterstäben, wie er die Landstraße entlangrumpelt und mich aus großen, flehenden Augen anschaut.«
»Ach, wie furchtbar«, sage ich.
Mum denkt einen Augenblick darüber nach. »Ja, das war es auch«, sagt sie. Und als sie etwas verlegen schaut, weiß ich, dass sie nicht wie ein verflucht undankbarer Christopher Robin erscheinen will. Sie räuspert sich und korrigiert ihre Geschichte, versteift zu diesem Zweck ihre Oberlippe. »Na ja«, sagt sie, »meine Eltern haben mir damals bestimmt nicht erzählt, dass er als Löwenfutter mitfährt. Sie werden gesagt haben, Nane hätte zum Zirkus gehen wollen. Trapezkünstler, Tanzbären, jede Menge Spaß.«
Meine Großeltern fragten gut informierte Freunde nach einem guten Ersatz für Nane. Dabei dürften sie an einen Vollblüter gedacht haben, einen rotzfrechen mit viel Mut, der zu Mums Tollkühnheit und Talent auf dem Parcours passte. Golden Duckling, das Pferd, das die Freunde aussuchten, hatte mit King Midas und Cold Duck ausgezeichnete Erzeuger. »Sie war ein großes kräftiges Vollblut«, sagt Mum, »schöner Kopf, eleganter Hals, vollendet gebaut, solange man nicht auf die Beine schaute.« Mum steigert den dramatischen Effekt mit einer Pause. »Die waren abgesägt.«
Ich mache ein angemessen entsetztes Gesicht.
»Ja«, sagt Mum. »Wir standen vor dem Stall in Nairobi, starrten auf dieses Pferd und waren einfach zu höflich, unseren Freunden, die sich Experten schimpften, klarzumachen, dass sie einen Blindgänger ausgewählt hatten. Abgesägte Beine und krumme Sprunggelenke« – Mum biegt pantomimisch die Ellenbogen nach außen –, »das hieß, sie käme über kein Hindernis. Ach ja«, fügt sie hinzu, »und absolut niederträchtig war sie auch.«
Trotzdem zahlte Mum – von ihren Eltern dazu erzogen, sich über nichts zu beschweren – brav vierzig Pfund von ihrem eigenen Geld für das Pferd (auch nach über einem halben Jahrhundert erinnert sie sich mit unverminderter Verbitterung an die exakte Summe), und die Kreatur wurde auf der Ladefläche eines Trucks nach Hause geschafft. »Ja, Duckling war nicht ideal«, räumt Mum ein. »Sie war sogar ziemlich furchtbar, aber ich hatte nur sie.« Also nahm Mum wie zuvor an Springturnieren teil und trug wie zuvor maßgeblich zur allgemeinen Erheiterung bei. »Meistens verließ ich den Platz bewusstlos, auf eine Bahre geschnallt und blutüberströmt«, sagt sie mit seligem Lächeln.
Für ein, zwei Jahre schlug dieses mörderische, abgesägte Vollblut meine Mum Woche für Woche k.o., doch Mum zog sich unverzagt wieder auf die Kreatur hinauf und steckte den nächsten Schlag ein.
Dann endlich brachte eine Reihe beinahe biblisch anmutender Ereignisse – beginnend mit dem Jahr, in dem sie dreizehn wurde – ihr Violet, ein derart makelloses Tier, dass ihm keines ihrer bisherigen Pferde auch nur annähernd das Wasser reichen konnte.
»1957 hatten wir ein entsetzliches Hochwasser in Eldoret«, sagt Mum. »Das Wasser kam die Zufahrt heruntergerauscht, das Klo war überflutet, Kühe und Pferde standen bis zu den Knien im Schlamm, die Straßen wurden weggespült, auf allen Häusern sogen die Lehmziegel sich voll, die Wände sackten ein, es regnete durchs Dach, die Wäsche wurde nicht mehr trocken, die Frösche zogen ins Haus ein.« Das ging wochenlang so weiter, und als die Sonne sich wieder blicken ließ, waren alle in der Gegend mit den Kräften am Ende und die Masern brachen aus. »Es begann in den Dörfern, dann erkrankten die alten Damen nebenan, in meiner Schule wurden die Hälfte der Schüler und alle Nonnen krank. Als Nächste waren die polnischen Flüchtlinge an der Reihe, bis es schließlich auch meinen Vater erwischte«, sagt Mum.
Mein Großvater musste monatelang in einem abgedunkelten Zimmer liegen. »Doktor Reynolds verbot ihm das Lesen, aber er hielt sich nicht daran und ruinierte sich für alle Zeiten die Sehkraft.« Meine Großmutter wurde mit der Pflege der Kranken auf Trab gehalten. Sie brachte Fleisch und Milch in die Dörfer der Nandi, sie schaffte Suppe und Brot hinauf zu den alten Damen. Sie besuchte die kranken Internatsschüler und versorgte die Nonnen mit frischer Bettwäsche. Sie fütterte die polnischen Flüchtlinge. »Aus irgendeinem Grund wimmelte es in Eldoret von denen«, sagt Mum, »und alle behaupteten, Prinzessinnen oder Grafen zu sein. Ziemlich unwahrscheinlich, würde ich sagen.« Und wenn sie am Abend zurückkam, musste sie den Ausschlag meines Großvaters mit Kieselzinkerzlösung auswaschen und ihm Abendessen machen.
In diesen anstrengenden und zerrissenen Wochen stand eines Morgens Flip Prinsloo vor der Haustür der Huntingfords, die Krempe seines schweißfleckigen Filzhuts mit beiden Händen umklammert, und wollte mit Mrs. Huntingford sprechen. Meine Großmutter gab bei der versoffenen Cherito Tee in Auftrag und setzte sich mit Flip auf die Veranda. Es ist bezeichnend für meine Großmutter – und natürlich auch für Flip –, dass sie in kameradschaftlichem Schweigen dasaßen, bis das Tablett mit dem Tee kam. Und nicht minder bezeichnend ist es für Flips Verzweiflung, dass er ausgerechnet eine Britin um Hilfe anging. »Weißt du«, sagt Mum, »in Eldoret gab es eine große Gruppe britischer Siedler wie unsere Familie. Und es gab eine gar nicht so kleine Gruppe afrikaanser Siedler wie Flip Prinsloo. Diese beiden Gruppen vermischten sich natürlich nicht.« Mums Augen werden schmal. »Der Burenkrieg«, sagt sie ominös. »Vergiss niemals den Burenkrieg, Bobo. Die vergessen ihn auch nicht.«
Die Holländer landeten 1652 am Kap der Guten Hoffnung, der äußersten Südspitze des afrikanischen Kontinents. Zunächst einmal verstanden sie sich nicht als Siedler, sondern als Arbeiter auf Zeit mit der Aufgabe, dort für die Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie, die zwischen Holland und Indonesien segelten, Gemüse anzupflanzen. Aber im frühen 18. Jahrhundert trennten sich unabhängige Trekboers – nomadische Bauern – von der Ostindien-Kompanie und drängten in die wilden, nach Pfeffer duftenden Länder im Norden. Dort vertrieben sie die eingeborenen Khoikhoi. Mit der Zeit begannen diese Trekboers sich Afrikaander (Afrikaner) zu nennen. Damit wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sie eine eigenständige Identität besaßen, die sich von den Holländern unterschied. Sie entwickelten auch eine eigene Sprache – Afrikaans –, ein mit Elementen der verschiedensten um das Kap herum gesprochenen Dialekte angereichertes Basisholländisch.
1795 schickten die Briten, die ihre Seewege schützen mussten und durch die imperialistischen Bestrebungen anderer europäischer Länder beunruhigt waren, ein Expeditionskorps ans Kap, das die Holländer schnell zur Räson brachte. Aber sie hatten den wachsenden Zusammenhalt und die nationalistischen Bestrebungen der Afrikaander unterschätzt oder nicht erkannt. Mitte der 1830er-Jahre waren die Afrikaander der Bevormundung durch die britische Herrschaft so überdrüssig (das Fass zum Überlaufen brachte die gesellschaftliche Gleichstellung der Sklaven), dass etwa zwölftausend von ihnen tief in das Innere des Kontinents zogen – später sprach man vom Großen Treck – und dort ihre eigenen, von Afrikaandern geführten Republiken gründeten, den Oranje-Freistaat und Transvaal.
Der Krieg ist Afrikas immerreife Frucht. Es gibt so viel Unrecht, das nach Sühne schreit, ein solches Verlangen nach Rache im Blut der Völker, so viel Korruption bei den Machthabenden, einen solch rücksichtslosen Wettlauf um die natürlichen Ressourcen. Die Verhältnisse ändern sich, der Wind dreht sich. Wieder fällt die Frucht zu Boden, und jeder neue Krieg erfindet noch grausamere Schrecklichkeiten als der vorhergehende. 1880 konfiszierten die Briten den Wagen eines Buren, weil der Mann keine Steuern entrichtet hatte. Dieser geringe Anlass reichte den Buren aus, um Britannien den Krieg zu erklären. Nach einem Jahr waren die Briten besiegt. Die Afrikaander sprachen von ihrem Ersten Unabhängigkeitskrieg, die Briten vom Ersten Burenkrieg.
Aber 1886 lockte der Goldrausch noch mehr Briten in die burischen Republiken. Die Afrikaander, die nicht gewillt waren, ihre Ressentiments zu vergessen, verweigerten den Briten das Wahlrecht. Als 1890 mehr Briten als Afrikaander in den Republiken lebten, wurde den Briten das Wahlrecht noch immer verweigert. Das führte im Oktober 1899 zum Ausbruch des Zweiten Englisch-Burischen Krieges oder – wie ihn die Afrikaander nannten – des Zweiten Unabhängigkeitskriegs. Diesmal gingen die Briten kein Risiko ein. Vierhundertfünfzigtausend Soldaten wurden aus Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada nach Südafrika eingeschifft, um gegen weniger als sechzigtausend Buren zu kämpfen. Dieser Krieg dauerte noch länger und war noch brutaler als der erste.
Die Afrikaander hatten keine offizielle Armee, doch sie waren seit zwei Jahrhunderten auf dem Kontinent ansässig und hatten das Land im Blut (von ihrem Blut im Land ganz zu schweigen). Sie brauchten weder Kasernen noch Uniformen und schon gar keine Generäle, die ihnen Befehle gaben. Sie hatten robuste Pferde, kräftige Männer und zähe Frauen. Ihre Kinder waren ausgezeichnete Schützen, zu Härte und Selbstgenügsamkeit erzogen. Dazu kam, dass die britischen Truppen unpraktische rote Uniformjacken trugen, die wie Warnlichter aus dem blonden Steppengras hervorleuchteten. Die Briten verstanden weder die Sprache dieses weiten, melancholischen Landes, noch liebten sie es. Also konnten sie diesen Krieg nur hintenherum gewinnen – indem sie die Afrikaander durch Hunger und Seuchen ausrotteten. Zwischen 1901 und 1902 brannten die Briten mehr als dreißigtausend ihrer Farmen nieder und steckten fast alle Frauen und Kinder in die ersten Konzentrationslager der Welt. Nicht weniger als neunundzwanzigtausend Buren starben unter entsetzlichen Bedingungen in diesen Lagern, dazu zwanzigtausend Schwarze, die man bei der Arbeit auf den Farmen der Buren aufgegriffen hatte. Als am 21. Mai 1902 in der Stadt Vereeniging ein Friedensvertrag unterschrieben wurde, hatten die Briten fast ein Viertel aller Buren getötet.
Flip Prinsloo war als Baby mit seinen Eltern und siebenundvierzig anderen Afrikaandern aus Transvaal nach Kenia gekommen. Die Familien waren größtenteils Bywoner (arme Pachtbauern ohne Hoffnung auf eine eigene Farm) oder Hensopper (Leute, die sich während des Burenkriegs den Briten ergeben hatten und jetzt mit der Schmach dieser Kapitulation leben mussten). Sowohl Bywoner als auch Hensopper wollten ein großes Gebiet freien, unbesetzten afrikanischen Landes, um sich dort niederzulassen. Aber um keinen Preis wollten sie um dieses Land kämpfen oder gar dafür sterben müssen – seit sie zurückdenken konnten, hatten sie nichts anderes getan. »Hier war Land für sie, und sie waren willkommen«, sagt Mum. »Niemand hatte sich dort ansiedeln wollen – zu windig und für den Geschmack der meisten Leute zu entlegen.«
Das Uasin-Gishu-Plateau, auf dem jetzt die Stadt Eldoret steht, war in vorkolonialer Zeit zuerst von den Sirikwa, dann von den Massai und schließlich den Nandi erobert worden. Mit anderen Worten, die Briten betrachteten es als »unbewohnt«, und diese gefühlte Leere war ihnen ein Dorn im Auge. Sie boten es den Zionisten an, als vorübergehende Zuflucht für russische Juden, bis in Palästina das neue Heimatland gegründet war. Aber die Zionisten lehnten das Angebot ab. Auf dem 6. Zionistischen Weltkongress im Jahre 1903 brachen einige von ihnen in Tränen aus und zitierten aus Psalm 137: »Wie sollten wir das Lied des Herren singen in fremden Landen? Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde ich meiner Rechten vergessen. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich nicht dein gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.«
Und so kam es, dass die Briten das Land zähneknirschend den britenverachtenden Afrikaandern aus Transvaal anboten, 1908 trafen über zweihundert Buren auf einem Schiff in Mombasa ein. Eisenbahnzüge brachten sie nach Nakuru, wo sie von Eingeborenen Ochsen kauften und dazu abrichteten, die ganze lange Regenzeit hindurch – März, April und Mai – Wagen zu ziehen. Ende Mai machten sie sich auf den Anstieg aus dem Rift Valley hinauf in ihr neues Heimatland. Für hundert Meilen brauchten sie zwei Monate, die Wagen quälten sich durch Schlamm, der bis zum oberen Rand der Räder reichte, und dichte, an manchen Stellen unpassierbare Wälder. Die Trekker schnitten Bambusstangen, um Fahrbahnen über Sümpfe zu legen. Die Wagenlenker blieben nah bei ihren Tieren, trieben sie von einem schlitternden Schritt zum nächsten.
In einem Sumpfgebiet am oberen Ende des Anstiegs versank ein mit Zucker beladener Wagen bis zu den Achsen, und der Zucker schmolz in der Hitze. Während sich die Trecker tagelang mühten, den Wagen zu befreien, starb ein zweijähriges Mädchen an Lungenentzündung. Die jungen Männer rammten Pfähle ein, schufen provisorisch eine Stätte für das Begräbnis, und auf ihre stoische Weise, schweigsam, mit feuchten Augen, betrauerten die Afrikaander das Mädchen. Den Ort, an dem sie es begruben, nannten sie Suiker Vlei – Zuckersumpf –, und tags darauf zogen sie den Wagen aus dem Schlamm und setzten ihre Reise zum Sosiani River fort.
»Damals gab es einen Jäger namens Cecil Hoey«, sagt Mum, »der ganz am Ende des Ortes wohnte, aus dem später Eldoret wurde. Zuerst meinte er eine lange Rauchspirale zu sehen, die sich den steilen Anstieg hinauf auf das Hochland zuschlängelte, bis er das bleiche Segeltuch der Planwagen erkannte, die sich auf das Plateau quälten. Die Trekker hatten ihr Ziel erreicht.« Mum fügt hinzu: »Cecil warf einen Blick auf den Haufen und prophezeite den Untergang der Tierwelt. Er sollte Recht behalten, denn als die Afrikaander hier ankamen, hatten sie nur das zum Leben, was sich töten ließ, und sie machten den Tieren im Handumdrehen den Garaus.«
Die Afrikaander bauten Eggen aus Ästen und Dornen, die sie mit Riemen aus Zebrahaut verschnürten, kochten Seife aus Antilopenfett und nähten sich Schuhe aus Giraffenfellen. Sie aßen, was sich mit Schlingen fangen oder schießen ließ, und wohnten in grasgedeckten Häusern, gemauert aus selbstgeformten, unter der hochstehenden Sonne gebackenen Lehmziegeln. »Viele von ihnen waren sehr einfache Leute«, sagt Mum. »Ohne Ausbildung und zum Lesen nichts als die Bibel. Aber zäh und erfinderisch waren sie und verstanden es, von nichts zu leben.« Dann schnieft sie, und ich weiß, das folgende Eingeständnis macht sie schweren Herzens. »Na ja, das traf für den Großteil von ihnen zu. Aber ein paar vornehmere waren auch dabei. Eine Familie war sogar so vornehm, dass die Königinmutter sie besuchte, als sie 1959 nach Kenia kam.« Mum gibt mir Zeit, diese ungeheuerliche Tatsache zu verdauen. Dann fährt sie fort: »Stell dir das vor. Nie und nimmer wäre unser schäbiges kleines Haus gut genug für königliche Gäste gewesen, aber die – diese piekfeinen Afrikaander – durften die Königinmutter bewirten!«
Endlich kam Cherito mit einem Teetablett und einer Flasche von Großmutters selbstgemachtem Wein auf die Veranda geschlurft.
»Danke«, sagte meine Großmutter.
Cherito stolperte zurück in die Küche. Die Hand meiner Großmutter verharrte über dem Tablett. »Tee, Mr. Prinsloo?«, fragte sie ihn. »Oder lieber etwas Stärkeres?«
Flip blinzelte.
Meine Großmutter schenkte ihnen beiden ein Glas Wein ein. »Zuerst brennt er ein bisschen«, warnte sie ihn, »aber wenn man sich daran gewöhnt hat, ist er gar nicht übel.« Sie trank einen Schluck. »Auf uns.« Sie hob das Glas. »Uns gibt’s nicht zweimal, und wenn doch, sind sie längst gestorben.«
Flip trank einen Schluck.
»Na, was sagen Sie?«, wollte meine Großmutter wissen.
Er konnte nicht antworten, weil die Lippen ihm an den Zähnen kleben blieben.
»Nicht schlecht, oder?« Meine Großmutter schenkte sich das Glas noch mal voll. »Prost!«, rief sie. Das zweite Glas schmeckte besser als das erste, und um die Theorie zu stützen, dass das dritte deshalb besser als das zweite schmecken musste, gönnte meine Großmutter sich noch eins. »Auf alle, die nicht bei uns sein können!«, rief sie. Und so kam es, dass sie relativ aufgeschlossener Stimmung war, als Flip schließlich auf den Grund seines Besuchs zu sprechen kam.
»Ich habe Ihre Tochter reiten sehen«, sagte Flip unvermittelt.
Meine Großmutter sah ihn aus schmalen Augen an. »Tatsächlich?«
»Mir gefällt ihr Stil«, sagte er. »Sehr temperamentvoll.«
»Na ja, wie man’s nimmt«, sagte meine Großmutter.
Es entstand eine längere Pause. Flip räusperte sich. »Bald ist wieder Dingaans Tag«, sagte er.
Jedes Jahr am 16. Dezember feierten alle Afrikaander überall den Dingaans Tag. Das wichtigste Datum in ihrem Kalender erinnert an eine Schlacht im Jahr 1838, in der eine Kolonne von Voortrekkern an den Ufern eines Flusses im heutigen KwaZulu-Natal die Krieger des Zulukönigs Dingaan besiegte. Die Zulu nennen die Schlacht iMpi yaseNcome, die Schlacht am Ncome-Fluss. Auf Afrikaans heißt sie die Slag van Bloedrivier, die Schlacht am Blutfluss. Aber wie man sie auch nennt, das Ergebnis bleibt dasselbe. An jenem Tag – an dem eigentlich alles, was man sich nur vorstellen kann, gegen sie sprach – rieben vierhundertsiebzig Voortrekkers Zehntausende von Zulu-Kriegern auf. Bei Einbruch der Dunkelheit war der Ncome-Fluss rot vom Blut dreitausend getöteter Zulu. Kein einziger Afrikaander verlor in der Schlacht sein Leben, nur drei wurden verwundet. Für die Afrikaander war es der Beweis, dass ihr Stamm ein göttliches Recht hatte, auf südafrikanischem Land zu leben.
Meine Großmutter seufzte und blickte mit leisem Bedauern auf ihr leeres Weinglas. »Ach ja?«, sagte sie. »Die Zeit vergeht im Fluge.«
Flip räusperte sich noch mal. »Bei den Rennen am Dingaan’s Day will ich meinen Cousin Pieter besiegen«, sagte er.
Meine Großmutter richtete sich auf. Wenn etwas geeignet war, ihr Interesse zu wecken, auch noch im Dunst selbstgekelterten Feigenweins, dann waren es Pferderennen. »Tatsächlich?«
»Ja«, sagte Flip.
»Haben Sie ein gutes Pferd?« Meine Großmutter musste aufstoßen und drohte Flip mit dem Zeigefinger. »Nur so gewinnt man nämlich Rennen«, sagte sie. »Mit einem guten Pferd.«
»Ich habe ein sehr gutes Pferd«, sagte Flip. »Aber ich brauche jemanden, der es reitet. Meine Söhne … ach …« Er vergrub sein Gesicht in den riesigen Händen. »Sie sind nicht gut.« Verzweifelt blickte er meine Großmutter an. »Ich brauche Ihre Tochter.«
Meine Großmutter hatte noch einen Hickser.
»Ich bezahle sie«, bot Flip an.
Entsetzt winkte meine Großmutter ab. »Nein, nein, reden Sie keinen Unsinn.« Der nächste Hickser. »Sie bekommen sie kostenlos. Gratis für gute Freunde. Nur zu. Nehmen Sie sie mit.«
Am Nachmittag des nächsten Tages kam Flip Prinsloo angefahren und holte Mum ab, um sie auf seine Farm zu bringen. »Unter dem Sitz hatte er eine Flasche südafrikanischen Brandy«, sagt Mum, »aus der er während der Fahrt hin und wieder einen Schluck trank. Er bot mir auch etwas an, aber ich mochte nicht aus einer Flasche trinken, an der ein schäbiger alter Afrikaander rumgeschlabbert hatte.« Als Ersatz kaufte Flip meiner Mutter bei einem Zwischenstopp in der Venus Bar eine Riesentafel Schokolade. Nebenbei ließ er dort auch seinen Brandyvorrat auffüllen. »Ich hab Pickel davon gekriegt«, sagt Mum. »Eine Lektion fürs Leben: Bietet dir jemand Brandy oder Schokolade an, immer den Brandy nehmen.«
Auf der Farm setzte man Mum allein in ein trübe beleuchtetes Wohnzimmer, während das Essen gemacht wurde. »Alle Möbelstücke waren dicht an die Fußbodenleisten gerückt, und von den Wänden glotzte einen eine Reihe schauerlicher Vorfahren an«, sagt Mum. Das Essen war eine peinliche Veranstaltung: »Eine strenge Ehefrau, zwei schwerfällige Söhne und eine bedrückt dreinschauende Schwiegertochter.« Abgesehen von gelegentlichen Ausbrüchen auf Afrikaans aß die Familie schweigend. »Ich hab kein Wort verstanden, aber es hat geklungen wie ein Mordkomplott gegen mich«, sagt sie.
Auf gesottenes Hammelfleisch – »Ein Graus«, sagt Mum – folgten aufgewärmter Kaffee und gebratenes Kalbsbries, bis Flip schließlich nach seinem durchgeschwitzten Hut langte und sich vom Tisch abstieß. »Zeit fürs Rennen«, sagte er. Die Söhne wischten sich die Mäuler ab und standen auf. Auch sie griffen nach ihren Rohlederhüten. »Kom«, sagte Flip zu Mum.
Die Farm lag am Rand des Plateaus, und obwohl die Prinsloos sie seit fünfzig Jahren bewirtschafteten, wirkten die Gebäude schäbig und provisorisch im Angesicht der Überfülle an Himmel und Erde, über die sie gebieten sollten. Der Ort hatte etwas Unheimliches, als trauerte er um ein früheres Selbst. Aus einem grob zusammengezimmerten Stall führte ein Bursche drei Pferde: zwei gewöhnlich aussehende Wallache und eine rotbraune, am Ende ihres Führstricks trippelnde Stute.
»Dit is jou Perd«, sagte Flip zu Mum. »Violet.«
Mum war sprachlos.
»Ich werde nie vergessen, wie ich sie zum ersten Mal sah«, sagt sie. »Ich glaube nicht, dass sie auch nur einmal zwei Hufe zur gleichen Zeit auf dem Boden hatte. Sie war nicht groß, aber sie hatte diese langen, eleganten Beine und eine kraftvolle Brust. Ein Blick auf sie, und ich wusste, dass sie schnell wie der Wind war.«
»Also«, sagte Flip. »Op jou merka. Der Erste am Ende des Maisfelds hat gewonnen.«
Ohne Vorwarnung und natürlich ohne auf meine Mutter zu warten, schwangen sich die Prinsloo-Brüder auf ihre Wallache und galoppierten los, am Rand eines Maisfelds entlang. »Diese Afrikaander hatten keine Ahnung, wie man Pferde trainiert«, sagt Mum. »Sie steckten ihnen besonders scharfe Kandaren ins Maul und ritten drauflos wie die Bekloppten.« Mum hüpfte noch auf einem Bein, versuchte, das andere über den Sattel zu schwingen, als Violet losstürmte, den beiden anderen Pferden nach.
»Keine Ahnung, wie ich oben geblieben bin«, sagt Mum. »Aber ich hab’s geschafft. Irgendwie hab ich mich in den Sattel gezogen, die Stute in vollem Galopp, und mir die Zügel geschnappt und mich festgehalten, während sie am Maisfeld entlangflog. Und ich habe die beiden Afrikaander-Jungs geschlagen, die beide schon weit vor der Ziellinie in Erdferkellöcher gestolpert waren.«
Am 16. Dezember gewann Mum auf Violet das Rennen am Dingaan’s Day, kam um Längen vor Flip Prinsloos Cousin Pieter ins Ziel. Flip war siegestrunken. Er kaufte Mum in der Venus Bar viele Tafeln Schokolade und bot ihr an, sie mit seinen Söhnen zu verheiraten. »Der eine war dreizehn, der andere längst unter der Haube«, sagt Mum. »Aber das focht Flip nicht an. Ich könnte einen von beiden haben oder beide, sagte er, ganz nach Belieben.«
»Ich will Ihre Söhne nicht«, sagte Mum zu Flip. Und Schokolade wollte sie auch keine. Sie wollte Violet.
Flip schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das Pferd«, sagte er.
»Wenn ich sie nicht haben kann, reite ich sie auch nicht«, sagte Mum.
Flip fummelte an seinem Hut herum. »Ist das so?«
»Ja«, sagte Mum.
Schließlich einigten sich Mum und Flip auf einen Kompromiss. Sie durfte sich das Pferd für Turniere und Ausritte ausleihen, sooft sie wollte, wenn sie als Gegenleistung jedes Jahr am Dingaan’s Day für ihn ritt.
»Abgemacht«, sagte Mum und schüttelte eine von Flip Prinsloos enormen Pranken.
Flip nahm einen tiefen Schluck aus der Brandyflasche. »Op Violet«, sagte er und bot Mum die Flasche an.
Mum setzte sie an die Lippen. »Auf Violet«, stimmte sie ein.
Und auf einmal und zum ersten Mal in ihrem Leben gewann Mum die Turniere, für die sie sich meldete: Springwettbewerbe, Pferderennen, Slalomreiten. »Die Stute kannte nur ein Tempo: Volldampf. Niemand konnte sie aufhalten. Auch ich nicht. Aber ich konnte sie lenken, und so lange ich oben blieb, siegten und siegten und siegten wir. Wir gewannen, was es zu gewinnen gab.«