36 Maggie

»Maggie, kann ich rüberkommen?« Calebs Stimme dringt durch das Telefon. Er klingt nicht gut.

»Klar. Was ist los?«

»Ich erzähle es dir, wenn ich bei dir bin.«

Mom und Lou sind unten. Ich habe meiner Mutter noch nicht von Caleb erzählt. Ich wollte. Um ehrlich zu sein, habe ich es vor mir her geschoben, weil ich sie im Moment auf gar keinen Fall aufregen will. Sie versucht immer noch, sich wegen Dad und Lou klar zu werden.

Es ist an der Zeit, meiner Mutter die Wahrheit über mich und Caleb zu gestehen.

Lou und Mom sind in der Küche. Sie schnippeln beide Gemüse für eine neue Suppe, die sie kreieren. Sie trägt seinen Ring nach wie vor nicht, aber er kommt jeden Tag vorbei und kämpft darum, für immer mit ihr zusammen sein zu dürfen. Sie hat meinen Vater gezwungen, seinen Umzug zu verschieben … auf unbestimmte Zeit.

»Mom, können wir reden?«

Meine Mutter, Mehl im Haar und eine Möhre in der Hand, sieht von ihrem Schneidebrett auf. »Ist etwas passiert?«

»Nein. Es ist nur … wenn Caleb nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht jeden Lebensmut verloren.«

Mom hört auf, Gemüse zu schneiden. »Wie bitte?«

»Nach dem Unfall war es Caleb, der mich dazu gebracht hat, zu erkennen, dass das Leben noch lebenswert ist.«

»Maggie, das ist ein Haufen Unsinn.«

»Nein, Mom, das ist es nicht. Und möchtest du auch wissen, warum?«

»Ich bin sicher, du wirst es mir verraten, egal was ich sage.«

Ich weiß nicht, wie sie reagieren wird. Sie ist nicht gerade glücklich, aber sie hört mir zu. »Weil er mich aus meiner Depression geholt hat. Du hast es vor Glück darüber, dass ich endlich aus dem Krankenhaus kam, nicht einmal bemerkt. Aber ich war nicht glücklich. Ich war zutiefst unglücklich, bis Caleb aus dem Gefängnis kam und mir half zu erkennen, dass ich etwas wert war, obwohl ich eine Behinderung hatte.«

»Warum erzählst du mir das gerade jetzt?«, fragt Mom.

»Weil er rüberkommt und ich möchte, dass du …« Es klingelt. »Das ist er, Mom. Sei einfach nett und verurteile ihn nicht, ehe ich dir alles gesagt habe.«

Ich beeile mich, die Tür zu öffnen. Calebs blutunterlaufene Augen begrüßen mich. Er sagt kein Wort, er zieht mich nur an sich und umarmt mich fest, noch auf der Schwelle unseres Hauses.

»Ich war heute bei meiner Mom«, murmelt er in mein Haar. »Oh Gott, Maggie, es war so schrecklich. Leah hat unseren Eltern erzählt, dass sie diejenige war, die dich angefahren hat.«

Ich weiß, dass das wahrscheinlich das Schwerste war, was Leah je getan hat. »Wie geht es ihr?«

»Sie hat sehr viel geweint.« Er löst sich von mir, hält aber immer noch meine Hände. »Sie ist entschlossen, sich der Polizei zu stellen. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich habe gerade Damon angerufen. Er kommt morgen, um uns zu sagen, was wir tun sollen.«

Ich lehne meine Stirn an Calebs. Ich lese in seinem Gesicht, wie sehr ihn das alles zerreißt. »Es tut mir leid. Ich werde mit dir gehen. Ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen.«

»Was geht hier vor?«, fragt meine Mutter verwirrt. »Ich weiß nicht, wieso du hier bist«, sagt sie zu Caleb. »Und warum, um Himmels willen, haltet ihr euch an den Händen?«

Ich hole tief Luft und drücke Calebs Hand. Wir werden das hier gemeinsam hinter uns bringen. Ich führe ihn ins Haus und stehe mit ihm vor Mom und Lou. »Caleb und ich haben euch beiden etwas zu sagen.« Ich sehe Caleb mit feuchten Augen an. »Ich weiß, es wird ein Schock für euch sein, aber versucht bitte, zu verstehen …«

Das hier muss einer der schlimmsten Tage in Calebs Leben sein. Während er sich von der Schuld befreit, ist die unbarmherzige Realität, dass er damit gleichzeitig seine Schwester belastet. »Ich war nicht derjenige, der Maggie angefahren hat«, sagt er. Er räuspert sich. »Um …« Er hält meine Hand eisern umklammert. »Es war Leah.«

»Du lügst.«

»Er lügt nicht, Mom«, sage ich.

»Warum?«, fragt Mom, der inzwischen Tränen das Gesicht hinunterlaufen. Ich weine ebenfalls.

Caleb hebt die Schultern. »Ich dachte, ich käme besser damit klar als Leah. Ich dachte, ich würde ihr dadurch ersparen, etwas durchzumachen, das sie zerstören würde. Ich dachte, ich käme damit klar, ins Gefängnis zu gehen, aber meine Schwester nicht. Die ganze Sache ist einfach außer Kontrolle geraten, und als ich erkannte, dass ich falschlag, war es schon zu spät.« Er sieht mich an. »Und Maggie geriet mitten zwischen die Fronten.«

Lou geht kurz aus dem Zimmer, dann kommt er mit einer Packung Taschentücher zurück. Er drückt meiner Mutter ein paar in die Hand. Sie tupft sich damit die Augen ab. »Das ist sehr viel auf einmal. Maggie, wusstest du darüber Bescheid?«

Ich nicke.

»Wie konntest du mir das verschweigen? Ich bin deine Mutter!«

»Mir ist es erst bewusst geworden, kurz bevor Caleb Paradise verlassen hat. Ich habe geschwiegen, weil ich wollte, dass Caleb derjenige ist, der die Wahrheit enthüllt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es sei an ihm, dieses Geheimnis zu offenbaren. Außerdem habe ich mich verzweifelt danach gesehnt, den Unfall nicht wieder und wieder durchleben zu müssen. Ich wollte, dass es vorbei ist. Ich musste ihn um meiner selbst willen hinter mir lassen.« Ich hebe den Blick zu dem Jungen, der die Leere in meinem Leben gefüllt hat. »Caleb hat mir geholfen zu erkennen, dass mein Leben nicht zu Ende war, nur weil ich jetzt eine Behinderung hatte.«

Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Ich brauche Zeit, um das alles zu verarbeiten. Das ist einfach … zu viel auf einmal. Ich muss jetzt ein bisschen allein sein.«

Sie eilt die Treppe nach oben. Kurz darauf höre ich, wie ihre Zimmertür ins Schloss fällt, und zucke zusammen. Es war nicht meine Absicht, sie zu verletzen oder ihr das Gefühl zu geben, von uns beiden hintergangen worden zu sein.

Das Re-Start-Programm hat mir ein für alle Mal vor Augen geführt, dass Unfälle sich auf so viele Menschen auswirken … sie sind wie Lawinen, die jeden und alles in ihrer Reichweite mit sich reißen.

Ich sehe Lou an. »Es tut mir leid. Ich wollte sie nicht aufregen.«

»Ich weiß. Ich glaube, es wird eine Weile dauern, das zu verdauen. Gib ihr etwas Zeit, dann wird sie sich schon wieder beruhigen.« Lou wendet sich Caleb zu. »Es war mutig von dir, zurückzukommen.«

»Im Moment fühle ich mich überhaupt nicht mutig. Mein Familienleben ist ein einziges Chaos, und ich habe zwei Typen im Haus meiner Eltern wohnen, die sich mit ähnlichen Problemen rumschlagen wie ich.«

Lou schweigt einen Moment, dann lächelt er. »Ich habe dir einen Vorschlag zu machen«, sagt er zu Caleb. »Das Haus meiner Mutter steht leer. Falls du und deine Freunde eine Weile dort wohnen möchtet und ihr mir genug Miete bezahlt, um Nebenkosten und Steuern abzudecken, gehört es euch.«

»Meinen Sie das ernst, Sir?«, fragt Caleb total geschockt.

Lou nickt. »Ich weiß, dass meine Mutter dich für einen guten Jungen gehalten hat und dir helfen wollte. Ich schätze, es ist Schicksal – es ist das, was meine Mutter gewollt hätte. Was sagst du dazu?«

Caleb schüttelt Lou begeistert die Hand. »Ich würde sagen, abgemacht.«

Als ich mit Caleb zu den Beckers gehe, um nach Leah zu sehen und Lenny und Julio die guten Nachrichten zu überbringen, sagt Caleb: »Lou ist ein anständiger Kerl.«

»Ich weiß. Ich hoffe, meine Mutter überwindet ihre Angst davor, jemand anderen als meinen Dad zu lieben.«

»Was sind deine Ängste?«, fragt er. »In Bezug auf uns, meine ich.«

»Nach dem heutigen Tag habe ich keine, weil«, ich gebe ihm die ehrliche Antwort, die ich viel zu lange für mich behalten habe, »weil ich dich liebe.«