14 Maggie

Ich trete an den Rand der Plattform, klinke mich an der Taille in das Bungeeseil ein, das am Baum befestigt ist, und schaue hinunter. Caleb steht dort mit ausgestreckten Armen, bereit, mich aufzufangen.

Plötzlich geht diese Übung irgendwie darüber hinaus, ob ich glaube, dass er mich auffängt oder nicht.

Deshalb war ich seit jener Nacht letzte Woche so wütend auf ihn … Ein Gedanke lässt mich stutzen. Ich war nicht bloß seit jener Nacht wütend auf ihn. Ich bin seit acht Monaten wütend auf ihn. Seit ich herausgefunden habe, dass er mich belogen hat. Seit er gegangen ist, ohne mir die Wahrheit zu sagen.

Ich denke an all die Dinge, die ungesagt geblieben sind … all die Dinge, die ich hätte sagen sollen. Da steht so viel Unehrlichkeit zwischen uns. Ich weiche an den Baumstamm zurück und umschlinge mich mit den Armen. »Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«, fragt Caleb.

Alle starren mich an, warten auf eine Erklärung. Und obwohl ich vor der Gruppe eigentlich nicht darüber reden möchte, habe ich die Geheimniskrämerei so satt. Ich wünsche mir verzweifelt, hier und jetzt auszusprechen, was ich fühle, weil ich später vielleicht nicht mehr den Mut dazu haben werde.

Ich löse das Bungeeseil und trete von der Plattform. »Ich möchte es einfach nicht machen.«

»Ich werde dich nicht fallen lassen«, sagt Caleb. »Versprochen.«

Ich sehe in seine durchdringenden blauen Augen, die dunkler werden, wenn er aufgewühlt ist.

»Es geht nicht darum, ob du mich fängst oder nicht«, sage ich zu ihm. »Es geht um den Unfall.«

Caleb wirkt misstrauisch und verwirrt, und ich bin mir ziemlich sicher, seine Laune ist im Begriff, noch düsterer zu werden, als ich sage: »Bei dieser ganzen Übung geht es um Vertrauen. Und die Wahrheit ist nun mal, ich vertraue dir nicht.«

»Jetzt wird’s interessant«, sagt Lenny und reibt sich die Hände. »Und ich dachte die ganze Zeit, ihr zwei würdet übereinander herfallen, wenn gerade keiner hinguckt.«

Caleb wirft ihm einen funkelnden Blick zu. »Halt endlich die Fresse, Lenny, oder ich bin gezwungen, sie dir zu polieren.« Seine Hände sind jetzt zu Fäusten an seiner Seite geballt und ein Muskel an seinem Kiefer zuckt. Ich fürchte, er wird sich jeden Moment auf Lenny stürzen, aber hier geht es nicht um Lenny. Es geht um uns.

Dex hebt eine Hand, aber ich glaube nicht, dass Caleb sich darum schert.

»Nach allem, was wir durchgemacht haben, schuldest du mir Vertrauen, finde ich«, sagt Caleb zu mir.

Er blickt es einfach nicht. Oh, wie sehr ich mir wünsche, er würde mir von allein die Wahrheit über den Unfall gestehen. Es ist der einzige Weg, wie wir das hier hinter uns lassen können. Ich muss die Lügen und den Verrat endlich hinter mir lassen.

Der Gedanke an den Unfall und alles, was seitdem geschehen ist, lässt mich schaudern. Ich werde körperlich nie wieder dieselbe sein. Die Leute werden immer den Krüppel in mir sehen. Ich klammerte mich an den Glauben, dass Caleb mich trotz meiner Verletzungen wollte, aber vielleicht war das alles nur Taktik, um mich dazu zu bringen, den Mund zu halten.

Die einzige Person, die die Wahrheit ans Licht bringen kann, steht jetzt hier vor mir.

»Sieh der nackten, harten Tatsache ins Gesicht, Caleb. Du vertraust mir auch nicht.« Ich kann jetzt nicht aufhören. Tränen laufen mir die Wangen hinunter, als ich auf Caleb zumarschiere und ihn mit dem Finger in die Brust steche. »Du hast mich angelogen! Du hast mich verraten! Das Mindeste, was du hättest tun können, nachdem wir uns nähergekommen waren, war, ehrlich zu sein.«

Er starrt mich an, die Augenbrauen über den verwirrten Augen zusammengezogen.

»Sag mir die Wahrheit über den Unfall, Caleb. Wetten, du traust dich nicht?«

Ich sehe, wie er begreift und einen Augenblick schockiert den Atem anhält.

Caleb schüttelt den Kopf und weicht vor mir zurück. »Tu das nicht.«

»Erzähl allen, was in jener Nacht wirklich geschehen ist.« Ich breite die Arme aus und hebe den Blick zum Himmel. »Schrei es laut heraus und befreie uns alle von den Lügen!«

Lenny wirft die Arme hoch, als sei er in der Kirche. »Hallelujah!«

Caleb stürmt auf Lenny zu und wirft ihn zu Boden. Er schlägt ihn. Lenny schlägt zurück. Ich habe Angst, und ich brülle sie an aufzuhören, insbesondere weil Caleb ein erfahrener Ringer ist und Lenny keine Chance gegen ihn hat. Im nächsten Moment zerrt Damon Caleb von Lenny runter und schreit ihn an, sich zu beruhigen. Caleb sieht rot, und ich bin nicht sicher, ob er durch den Schleier seiner Wut überhaupt noch etwas wahrnimmt.

»Caleb, reiß dich zusammen«, befiehlt Damon.

Caleb befreit sich aus Damons Griff. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, bereit für den Kampf. »Nein!«

»Hier geht es nicht um Lenny!«, brülle ich, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. »Es geht um dich und mich.«

Caleb sieht mich an. Er atmet keuchend und sein Blick ist finster und wild. Er ist nicht bereit nachzugeben, noch lange nicht.

»Ich bin diejenige, die von dem Auto angefahren wurde, nicht du«, schleudere ich ihm entgegen. »Tu nicht so, als wärst du das Opfer hier. Du hast Entscheidungen getroffen, um die ich dich nicht gebeten habe. Ich bin überzeugt, niemand hat dich darum gebeten.« Ich schreie die Worte heraus, mir ist es völlig egal, dass mich wahrscheinlich die ganze Welt hören kann. »Du glaubst, es gefällt mir, überall hinhinken zu müssen? Das tut es nicht. Ich bin das Opfer! Sei ehrlich mit mir! Ich habe dir nicht genug bedeutet, dass du mir vertraut hättest. Ich habe dir mein Herz geschenkt, aber das war nicht genug.« Ich wende mich ab und gehe davon, die Blätter knirschen laut unter meinen Schuhen.

»Lass uns eine Sache klarstellen, Süße«, sagt er in meinem Rücken. »Ich habe dich nie darum gebeten, meine Freundin zu sein.«

Ich bleibe stehen und drehe mich wieder zu ihm um. »Nein, du hast mich nicht darum gebeten. Aber du hast alles in deiner Macht Stehende getan, um ein Paar aus uns zu machen. Du hast mich unter dem Baum im Paradise Park geküsst. Du warst derjenige, der mir im Haus von Mrs Reynolds gesagt hat, dass er da sein wolle, wo ich sei. Du warst derjenige, der …« Es fühlt sich an, als hätte ich einen Kloß von der Größe eines Tennisballs im Hals. »Du hast gesagt, was wir hätten, sei echt, aber es war alles eine einzige Lüge. Gib es zu.«

»Was willst du von mir hören, Maggie?«

»Die Wahrheit! Das ist alles, was ich je wollte.«

»Ich kann nicht.«

»Du kannst nicht oder du willst nicht?«

»Was macht das jetzt noch für einen Unterschied?«

Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen, weil die Tränen meine Sicht verschwimmen lassen. Unsere sprachlosen Zuschauer sind mir vollkommen egal. »Du bist nichts anderes als ein Feigling! Jeder Mann in meinem Leben hat mich enttäuscht. Zuerst mein Dad und jetzt du.«

Er sieht mich an, als sei ich der Feind. »Ich bin kein bisschen wie dein Dad. Beleidige mich nicht, indem du mich mit ihm in einem Atemzug nennst.«

Ich lache kurz auf. »Er hat mich verlassen. Du hast mich verlassen. Er hat mich verraten, indem er mich verlassen hat und sich nicht einmal umgedreht hat, um zu sehen, ob es mir gut geht. Du hast mich verraten, indem du mich verlassen hast und dich nicht einmal umgedreht hast, um zu sehen, ob es mir gut geht. Er lügt mich an. Du lügst mich an. Du bist genau wie er.«

»Du hast doch keinen verfluchten Schimmer, Maggie.«

Ich hinke davon, auf dem Weg zum Büro oder dem Van oder … Ich weiß nicht, wo ich hingehe, ich weiß nichts, außer dass ich hier wegmuss. Vielleicht wird dieser zermürbende Schmerz in meinem Herzen geringer, wenn ich etwas Abstand zwischen Caleb und mich bringe.

»Lügen sind einfacher zu schlucken als die Wahrheit, Maggie«, ruft Caleb. Dieses Mal folgt er mir nicht.

Ich bleibe stehen, drehe mich aber nicht zu ihm um. »Da liegst du falsch.«

»Die Wahrheit ist, dass ich nichts mit dir zu tun haben wollte, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde und zurück nach Paradise kam. Ich habe dir die Schuld dafür gegeben, dass ich ins Gefängnis musste. Ich habe dir die Schuld dafür gegeben, mein Leben ruiniert zu haben. Und trotz aller Schuldzuweisungen und aller Vorbehalte habe ich mich in dich verliebt. Dein verdammtes Summen, deine verdammte Unsicherheit, deine verdammte Verletzlichkeit … und das Mal, als du in meinen Armen geweint hast und dich an mir festgeklammert hast, als sei ich dein Fels in der Brandung, war ich verloren, weil ich wusste, was immer zwischen uns brodelte, war echt. Ich habe mich dafür gehasst, dass ich mich in dich verliebt hatte.«

»Also bist du gegangen.«

»Was hast du von mir erwartet? Wir mussten unsere Beziehung vor deiner Mutter verstecken, meine Mutter war auf Droge, mein Dad ein verfluchter Fußabtreter und meine Schwester … nun, du hast sie selbst gesehen. Sie sah aus wie ein Zombie.«

»Wenn du einfach die Wahrheit gesagt hättest …«

»Die Wahrheit ist beschissen!«, brüllt Caleb, und seine Worte triefen vor Wut und Frust.

»Also hast du beschlossen, dich hinter den Lügen zu verstecken, richtig?« Jetzt drehe ich mich um, damit ich ihn über das kleine Stück Gras, Dreck und Blätter hinweg ansehen kann. Ich blicke ihm direkt in die Augen. Ich werde auf gar keinen Fall nachgeben.

Angespannte Sekunden vergehen.

Caleb drischt mit der Faust auf den Baumstamm ein. Seine Fingerknöchel bluten von der Wucht des Schlages, aber es scheint ihm nicht aufzufallen, als er auf mich zustürmt.

»Die Wahrheit ist, dass ich dich nicht mit diesem Auto angefahren habe! Ich bin für etwas, das ich verflucht noch mal nicht getan hatte, ein verfluchtes Jahr in den verfluchten Bau gewandert! Und weißt du was? Es war beschissen. Ich habe jeden Moment im Knast gehasst, weil ich eigentlich gar nicht hätte dort sein dürfen!«

Seine Augen sind weit aufgerissen, seine Atemzüge hektisch und schnell. Er dreht sich um und konzentriert seine Aufmerksamkeit auf einen äußerst schockierten Damon, dann wandert sein Blick über die übrigen Mitglieder unserer Gruppe, die alle gleichermaßen schockiert sind.

Caleb presst die Augen zusammen und verzieht das Gesicht, als wolle er am liebsten jedes wahrheitsgetreue Wort, das er gerade ausgespuckt hat, zurücknehmen. Als er die Augen wieder öffnet, sind keine Gefühle mehr darin zu erkennen. Er verbirgt sie alle.

»Bist du jetzt glücklich?«, knurrt er.