1. Abschnitt

 

Unter: SIE sucht IHN im Berliner Tagesspiegel

 

Wer zeigt mir Berlin? Neu in dieser Stadt und voller Aufbruchspläne, suche ich einen Partner (55-65 Jahre), der die Kunst und das Leben liebt, gerne reist, viel liest, großzügig denkt, Güte und Humor besitzt. Ich (62 Jahre alt, 163 cm, 60 kg): apart, dunkle Haare, blaue Augen, Musikerin und Autorin, geschieden, keine Kinder, selbstständig, erfolgreich, fröhlich und mutig. Zuschriften unter Chiffre.‹

 

 

 

 

Maximilian Baron von Clausenthal

Fredericiastr. 44

14059 Berlin

max-von-clausenthal@web.de

Berlin, den 11. März

Liebe Inserentin,

seit 1990 lebe ich zwar erst in Berlin, dennoch kenne ich schon einige Eckkneipen und Parkbänke, die sehenswert sind, und die ich Ihnen mit dem typischen Stolz des Zugereisten gern zeigen würde.

Da ich keinen Fernseher besitze, muss ich nolens volens viel lesen, um mich in den langen Berliner Winternächten nicht zu langweilen. Beim Reisen halte ich mich zurzeit etwas zurück, weil ich erstens nicht sehr viel Zeit habe und zweitens nur dorthin reise, wo mich Freunde oder Bekannte erwarten. Da ich in Florida genauso wenig Menschen kenne wie in Thailand, und ich bisher noch keine engere Bekanntschaft mit der in Tansania einheimischen Familie Leo Leonis gemacht habe, werden mir diese Länder wohl immer fremd bleiben.

Aber: Einen spätsommerlichen Sonnenuntergang kann man – genauso Seele, Herz und Gemüt bewegend – vom Teufelsberg (Bauschutthaufen im westlichen Charlottenburg) aus beobachten, wie vom Tafelberg bei Kapstadt. Unter ökologischen Gesichtspunkten ist der Teufelsberg vorzuziehen!

Ich bin nicht gütig und schon gar nicht humorvoll, dafür aber 64 Jahre. Ich genieße neben vier Kindern schon die Liebe und Zuwendung der ersten zwei Enkel und hoffe inständig, dass mein Vermehrungsdrang vererbt wurde und eine unüberschaubare Enkelzahl die aktuellen demografischen Probleme in diesen unseren blühenden Landschaften lösen wird!

Mit einem BMI von 24,5 bewege ich mich zwar so gerade im Normbereich, bin allerdings mit 1,71 und 71 kg nicht ganz so schlank wie Sie.

Ich würde mich freuen, wenn diese Kurzbewerbung im Wettbewerb um die aparte, dunkelhaarige, blauäugige, selbstständige, erfolgreiche, fröhliche und mutige Autorin und Musikerin Erfolg hätte und zu einer Kontaktaufnahme per E-Mail führen würde.

Wenn nicht, wünsche ich Ihnen, dass Sie einen Herrn finden, der Ihnen Berlin in der amüsanten, anregenden und unterhaltenden Form zeigt, die Sie sich wünschen.

Liebe Grüße

Ihr Maximilian

 

 

EvaMariaGlaser@web.de

14. März – 17:23 Uhr

Hallo Maximilian,

vielen Dank für Ihren fröhlichen Gruß, der heute in meinen Briefkasten einflog.

Ein Blick in den Stadtplan zeigt mir, dass Sie ganz in meiner Nähe wohnen. Ich lebe in der Schlossstraße in Charlottenburg, wo ich mich sehr wohl fühle und mich täglich am Ausblick auf die weiten Wolken und das Charlottenburger Schloss erfreue. Ich bin erst vor zwei Monaten – aus Frankfurt kommend – hier eingezogen.

 

Natürlich war ich schon früher öfter in Berlin, habe hier auch Konzerte gegeben, aber meine Stadtkenntnis beschränkt sich auf die Straßen, in denen ich damals bei meinen Freunden zu Gast war (das war Charlottenburg und Prenzlauer Berg) und auf die Gebäude, die man als Tourist eben so aufsucht.

Ich fahre kein Auto und habe leider keinen besonders ausgeprägten Orientierungssinn. Diesen Mangel kann ich aber mit gutem Klavierspiel und anderen Gaben ausgleichen. Ich bin Pianistin und Autorin und schreibe gerade an meinem ersten Roman. Oft ziehe ich mich für meine Arbeit nach Italien zurück, wo ich ein Häuschen am Meer bewohne. Ich liebe Sprachen, spreche gut Französisch, Italienisch, Englisch, etwas Spanisch und Tschechisch.

 

Sie haben also vier Kinder und zwei Enkel – und wie viele Ehefrauen? – Und wie kommt es, dass Sie nicht gütig sind, wo das doch eine so schöne Eigenschaft ist! Was bedeutet BMI 24,5? Und warum ist Ihnen der Humor ausgegangen?

 

Ich rauche gerne, liebe edlen Wein, meine Freunde und meinen Hund Claudio (nach meinem großen Vorbild Claudio Arrau benannt!).

 

Das reicht erstmal zur Kontaktaufnahme, denke ich.

Freundliche Grüße

Eva-Maria

 

 

max-von-clausenthal@web.de

14. März – 19:54 Uhr

Liebe Eva-Maria,

vielen Dank für Ihre prompte und mein zartes, unterentwickeltes Selbstbewusstsein verwirrende Antwort. So viele Sprachen! Wie kommt denn eine gebildete Mitteleuropäerin dazu, Tschechisch sprechen zu können?

Mit welchen anderen Gaben als Klavierspielen können Sie denn Ihren »nicht ausgeprägten Orientierungssinn« kompensieren? An gewöhnlichen und außergewöhnlichen Gaben von Damen bin ich äußerst interessiert.

Ich habe keine Gaben: Ich bin musikalisch wie eine klanglose Mülltonne (Ausdruck meines Musiklehrers!), doch ich liebe Musik, vor allem Wagner und Mozart. Unter der Dusche habe ich immer gern ›Nur wer der Minne Macht entsagt‹ gesungen, sehr laut, dafür falsch. Manchmal auch Leporellos ›madamina, il catalogo …‹, wobei vor ›mille e tre‹ und nach ›cameriere … baronesse …, dogni grado‹ meine Begeisterung ins Unermessliche stieg. Im November besuchte ich eine Aufführung des ›Tristan‹ in der Staatsoper ›Unter den Linden‹. Es war einfach traumhaft, mir kamen nicht nur bei Isoldes Liebestod die Tränen! – Chöre liebe ich ebenfalls sehr; vor allem die Jünglinge und Knaben im ›Parzival‹ oder Verdis ›Flieg Gedanke getragen von Sehnsucht‹. Leider sind beide etwas kurz geraten. Sie könnten ruhig fünfzehn Minuten dauern.

 

Zu Ihren Fragen: BMI bedeutet Body-Mass-Index, gibt einen Wert für Unter- und Übergewicht an und setzt sich aus den Werten für Körpergröße und Gewicht zusammen (Definition: Normalgewicht = Körperoberfläche zum Quadrat und umgekehrt proportional zum Appetit! Ist nun alles klar?). Norm liegt zwischen 20 und 25.

 

Nur eine einzige Ehefrau war die Mutter meiner Kinder. Scheidung vor nunmehr 13 Jahren.

Ich zähle mich auch eher zu den »hommes des lettres«, sodass ich gern lese und keine Probleme habe, lang und länger und immer langweiliger zu schreiben.

Sie haben laut Google ja ein sehr zielgerichtetes Berufsleben geführt. Das kann ich von mir nicht sagen, aber bevor ich nun geschwätzig werde, denn diese Antwort ist lang genug, wünsche ich Ihnen einen schönen Abend und eine gute Nacht.

Ihr Maximilian

 

PS: Ich bin auch Raucher, möchte dies aber gern im Frühling wieder aufgeben. Hunde habe ich sehr gern, wenn sie gut erzogen, keine Bonsaiausgaben von Pinschern und keine hässlichen Kampfhunde sind.

Da alle Menschen meinen, sie seien gütig und hätten Humor, muss ich dies nicht auch noch von mir behaupten. Mein Naturell ist eher von Gelassenheit geprägt. Außerdem reicht es, wenn beim ›Zeigen von Berlin‹ zumindest einer gütig und humorvoll ist.

 

 

14. März – 21:27 Uhr

Lieber Maximilian,

zu Ihrer Beruhigung: Mein Hund ist mindestens zwanzigmal so groß wie eine ›Bonsaiausgabe von Pinschern‹. Er ist so intelligent, dass er eigentlich einen Magistertitel tragen müsste – in Menschenkenntnis, um nur eine Fachrichtung zu nennen.

Gut erzogen? Sie wissen es selbst: Ein intelligentes Wesen lässt sich nicht gerne erziehen. Aber – er folgt mir zu 90 Prozent.

Sie schreiben »Sie haben laut Google ja ein sehr zielgerichtetes Berufsleben geführt« – heißt das, dass Sie meine Homepage gefunden haben?

Wenn Ihr Berufsweg nicht zielgerichtet war, wie war er denn dann?

Herzliche Grüße

Eva-Maria

 

 

14. März – 21:42 Uhr

Liebe Eva-Maria,

Zu nachtschlafender Zeit stellen Sie mir noch Fragen!

Da ich bisher erst ein Auge zugemacht habe, will ich mit dem anderen nun meine Berufskarriere beschreiben. Sie war nicht zielgerichtet, aber abwechslungsreich, richtig schön wirr und spannend.

Geschichte durfte ich nicht studieren, und so wandte ich mich, wie mein Vater, der Medizin zu. Als mir dann dämmerte, ich würde eventuell im steifen Bremen landen und müsste die Praxis meines Vaters übernehmen, studierte ich Architektur und ging nebenher meinem hemmungslosen Vermehrungsdrang nach.

Als ältester, aber kinderreichster (3) Student der TH Braunschweig begann ich meine kleinbürgerliche Erwerbskarriere als Assistenzarzt an der MHH Hannover. Das war auch nicht das Gelbe vom Ei, denn als junger und engagierter Arzt arbeitet man sehr häufig an Wochenenden und auch nachts – und die Patienten sterben früher oder später trotzdem.

Der Architekturberuf ist dagegen viel erfüllender, denn wenn man die Statik des Hauses richtig berechnet hat, kann man sein Werk noch seinen Urenkeln zeigen.

Ich verließ die MHH, wurde aber nicht Architekt, sondern wechselte in die Geschäftsführung der Ärztekammer Niedersachsen. Nach fünfjähriger Tätigkeit stellte ich mit 44 Jahren fest, dass ich mein unerfülltes Berufsleben nicht im tristen öffentlichen Dienst beenden wollte. So wechselte ich 1990, schon fast hochbetagt, nach Berlin, um mittels Treuhand das Wirtschaftsleben in den Neuen Bundesländern noch mehr zu verwirren.

Irgendwann wurde ich mutig, überschätzte mich noch mehr, meinte, etwas erfinden zu müssen und wurde selbstständiger Unternehmer.

Erfindung: Ein fressbarer Eimer. – Im Ernst!

Das Trockenfutter für Rindviecher wird in Plastikeimern angeliefert. So sammeln sich bei Mastbetrieben in kürzester Zeit Tausende von Eimern an, die wieder abtransportiert und mühsam entsorgt werden müssen. Meine Eimer konnten die Kühe eben auffressen.

In der TV-Sendung des MDR ›Einfach genial‹ wurden 1997 meine Eimer vorgestellt, und man sah nur glückliche Kühe. Mit meinem Unternehmen scheiterte ich grandios, weil ich mich zu sehr auf weitere Erfindungen und nicht aufs Verkaufen derselben konzentrierte.

Jetzt mache ich nur noch, wozu ich Lust habe, oder worin ich einen wirklichen Sinn sehe, was für mich (fast immer) das Gleiche ist. Schlau bin ich allerdings aus allem, was ich bisher tat, nicht geworden und ›bin so klug als wie zuvor‹.

Meinen Kindern aber habe ich fest versprochen: ›Wenn ich groß und erwachsen bin, dann weiß ich, was ich will!‹

So, dies war mein curriculum vitae.

 

Zu Ihrer anderen Frage: Ganz klein, unscheinbar und verängstigt möchte ich, comme il faut, gestehen, dass ich bei meiner viel zu kurz geratenen studentischen Karriere (Neigungsfächer Philosophie/Theologie fehlen und Begabungsfach Physik ebenso; wie schon gesagt: Mein Kindersegen zwang mich zu einer abrupten Verkürzung meiner wissenschaftlichen Neugier) eigentlich nur eins gelernt habe: In fremder Leute Homepages rumwühlen!

Ich war tief beeindruckt, denn ich fand über Google mindestens 300 Seiten über Sie! Preise, Ehrungen und Kritiken! Mir wurde ganz flau im Magen, und ich wurde unsicher, ob ich mich mit meiner gescheiterten Eimerkarriere noch bei Ihnen melden darf. Dennoch, ich bleibe mutig und erwarte mit unbändiger Neugier Ihre Antwort!

 

Wollen Sie mich – nach diesen Geständnissen – nun beim Erwachsenwerden begleiten?

Liebe Grüße

Ihr Maximilian

 

PS: 1: Ich habe das dumpfe Gefühl, diese Mail ist etwas zu lang geraten. In Zukunft werde ich mich also bremsen. Ohnehin habe ich eigentlich nichts mehr zu sagen.

 

PS: 2: Was bewog Ihre Eltern denn, Sie Eva-Maria zu nennen? Konnten sie sich zwischen der unbefleckten Eva und der verführerischen Maria (oder war es anders herum?) nicht entscheiden?

 

 

14. März – 23:18 Uhr

Lieber Maximilian!

Madonna mia! Sie sind aber ein mutiges Geschöpf! Arzt, Architekt und Erfinder! Da erstarre ich ja in Ehrfurcht. Chapeau!

Fressbare Eimer! Ein ganzes Service hätten Sie erfinden sollen, damit die Frauen kein Geschirr mehr spülen müssen!

 

Dachte ich mir’s doch! Sie haben bei Google rumgeschnüffelt! So wissen Sie schon eine ganze Menge von mir. Den Fotos müssen Sie einige Jahre zuschlagen, was ich Ihnen als Arzt ja nicht zu sagen brauche, da Sie die Gesetze des Verfalls genauer studiert haben.

 

Also der Reihe nach. (Ich bin nebenbei sehr ordentlich, meine Bücher und CDs stehen im ABC nebeneinander!) Ich kann nicht sagen, dass ich Tschechisch spreche, nur eben etwas, wie ich schrieb. So zwei- oder dreihundert Wörter. Prag ist meine Lieblingsstadt, ich besuche sie schon seit Jahrzehnten, zum ersten Mal 1963.

Ja, zielgerichtet bin ich wohl, das stimmt. Aber nicht nur auf ein Ziel hin, sondern es gab und gibt mehrere, sonst wäre ich ganz monomanisch, und das würde mir nicht gefallen. Momentan übe ich mich im Schreiben und hoffe, dass ich mein Buch bis Ende dieses Jahres abgeschlossen haben werde.

Ich bin Schütze (das wird in Ihnen – als Naturwissenschaftler – ein müdes Lächeln hervorrufen), und die tragen ja immer Pfeil und Bogen mit sich herum und verlieren ihr Ziel nie aus den Augen.

Was sind Sie für ein Sternzeichen?

Die Kombination Ihrer vielfältigen Interessen beeindruckt mich. Ich bin eine Null in Naturwissenschaften, hatte in der Schule in Mathe und Physik meistens eine Fünf, sodass ich mehrmals sitzen blieb. Noch heute senken sich sofort tiefe Nebelschleier über mein Gehirn, wenn freundliche Menschen versuchen, mir tiefere Einblicke in diese Wissenschaften zu vermitteln.

 

Da lese ich einfach tausendmal lieber Dostojewski, Rilke, Jutta Heinrich, Hrabal, Heine, Lasker-Schüler, Bachmann, Celan, Shakespeare, Schiller, Friederike Kempner und Wolfram Fleischhauer. Eine bunte Gesellschaft, ich gebe es zu!

Ich glaube gar nicht, dass Sie ein Erwachsensein anstreben, kann Ihnen auch nicht ernsthaft dazu raten. Was meine Begleitung dabei betrifft, so werde ich erst etwas dazu sagen, wenn ich Sie leibhaftig erlebt habe. Deshalb schlage ich vor, dass wir einen Kaffee oder Wein zusammen trinken sollten.

Herzliche Grüße

Eva-Maria

 

PS: Zu meinen Vornamen: Sie vermuten in Ihrer, doch recht männlich geprägten Fantasie viel mehr, als dahintersteckt. Meine Eltern konnten sich einfach nicht einigen. Mein Vater plädierte für Eva, meine Mutter bestand auf Maria. So einfach kam dieses Ergebnis zustande!

 

 

15. März – 10:45 Uhr

Liebe Eva-Maria,

von Kopf bis Fuß männlich sozialisiert, muss ich den guten Geschmack Ihres Vaters loben!

So spät am Abend versenden Sie noch Mails! Ich revanchiere mich mit einem doppelten Chapeau! Sie sind also nicht nur ordentlich, sondern auch fleißig. Ich bin dafür unordentlich und verbringe die Hälfte meiner Zeit damit, Dinge zu suchen, die ich verlegt habe.

Ihre Pragbegeisterung teile ich, doch Rom und Petersburg liebe ich genauso. Ich hielt Anfang Januar 1991 in Petersburg mal einen Vortrag. Es war unbeschreiblich kalt. Ich bin nachts spazieren gegangen, während kein Mensch auf der Straße zu sehen war. Nur ab und zu hasteten einige Ureinwohner die Hausblöcke entlang, um sich in der nächsten Teeküche aufzuwärmen. Die Gaslaternen boten nur fahles Licht, das vom angegrauten Schnee reflektiert wurde. Gelegentlich fuhr eine hell erleuchtete, klapprige Straßenbahn vorbei. Autos sah man keine, denn die waren wohl alle eingefroren. Sie kennen doch Raskolnikoff? Die beschriebene, fast irreale Atmosphäre erinnerte mich immer wieder an Dostojewski. – Im Sommer, wenn es nie dunkel wird, ist Petersburg aber auch ein Traum. Da ein Freund als Arzt im Kirow-Theater beschäftigt war und mich als ausländischen Praktikanten vorstellte, verbrachte ich dort wunderbare Tage.

 

Dass Sie nach meinem Sternzeichen fragen, erstaunt mich. Alle, die mich kennen, sagen, ich sei das typischste, lebende Exemplar desselben. Na, dämmert es langsam?

Ich fühle mich nicht als Naturwissenschaftler. Hier fliegt mir alles zu, aber mein Interesse gilt mehr der Kultur, Kunst, Psychologie und Religion, vor allem aber der Geschichte. In diesen Bereichen fliegt mir dagegen leider gar nichts zu! Man sagt doch, Musik und Mathematik hätten so viel gemeinsam. Wieso haben Sie sich dann in der Schule so gequält?

 

Leibhaftig wollen Sie mich also sehen! Der Leibhaftige freut sich sehr über dieses Angebot der Eva. Darf ich Sie in Zukunft so nennen? – Einen Wein ziehe ich allerdings jedem Kaffee vor. Wir könnten auch einen Spaziergang im Schlosspark machen, dann verbinden Sie gleich das Angenehme mit dem Nützlichen! Angenehm ist doch das Bummeln mit Ihrem Hund, und nützlich könnte die Eva-luation der Kenntnisse des selbsternannten Berlin-Führers sein.

Liebe Grüße

Ihr Maximilian

 

 

16. März – 09:11 Uhr

Liebe Eva,

am ersten Tage wurde ich gleich mit mehreren netten Mails verwöhnt, und am nächsten Tage höre ich nichts von Ihnen!

Wenn ich Sie beleidigt oder verletzt haben sollte, möchte ich mich entschuldigen. Nichts lag mir ferner als dies. Sollten Sie gestern keine Zeit gehabt haben, dann hoffe ich, dass sich der Arbeitsstress bald wieder legt, und Sie wieder Muße zum Schreiben haben. Wenn ein anderer Bewerber dagegen Ihr Herz mehr erwärmt haben sollte, dann wünsche ich Ihnen alles Gute.

Ihr Maximilian

 

 

16. März – 12:31 Uhr

Lieber Maximilian,

da bin ich wieder.

Meine Kollegin und Freundin, die Pianistin Natalia Petrakoff gastiert am 29. März in der Berliner Philharmonie und hat gestern um 10.30 ihre Pressekonferenz – zu der leider niemand kam – in meiner Wohnung durchgeführt. Ein harter Schlag für sie. Den ganzen Tag war ich mit ihr unterwegs, um den Kartenvorverkauf zu organisieren und zu plakatieren. Berlin ist ja sooo groß, sodass wir am Abend erschöpft unsere Aufregung in einem edlen Wein versenken mussten!

Ein/e freie/r Künstler/in hat es wirklich schwer. Sie lebt in Wien, wir haben viele Konzerte zusammen gegeben (vierhändig oder an zwei Klavieren), sie ist großartig: unangepasst, wild und diszipliniert zugleich. Deshalb verstehen wir uns so gut. Sie hat Glück, dass ich jetzt in Berlin wohne und ihr wenigstens ein wenig helfen kann. Zusammen mit meinen hiesigen Freunden haben wir bereits 40 Karten verkauft, aber was ist das in der Philharmonie!

So kam ich auch gestern nicht zum Mailen. Seit Januar war ich nur mit Umzug, Möbelrücken, Anmelden, Ordnen, Bilder aufhängen, Lampen kaufen usw. beschäftigt, hatte bis vor zehn Tagen keinen Telefonanschluss und kein Internet, da die Telekom so diffus organisiert ist. So musste ich stunden- und tagelang mit deren Mitarbeitern in Erfurt, Stuttgart, Jena, Dresden, Würzburg usw. telefonieren und mich dann weiterleiten lassen, was stets im Nichts endete.

 

Es ist nicht einfach, nach drei oder vier Mails das Sternzeichen des Gegenübers herauszufinden. Sie könnten ein Zwilling sein. Wenn nicht, lassen Sie mich bitte nicht weiterraten! Ich bin aber keine gläubige Astrologin, sondern nur ein wenig neugierig.

Wollen wir morgen spazieren gehen? Könnten Sie um 15 Uhr? Am Montag könnte ich auch um die gleiche Zeit. Sie dürfen wählen! – Ja, Sie dürfen mich gerne Eva nennen!

Liebe Grüße EVA

 

 

16. März – 16:09 Uhr

Liebe Eva,

mir ist ein Stein vom Herzen gefallen! Ich befürchtete schon, dass ich mit meiner schnodderigen Art vielleicht etwas Falsches sagte.

Es tut mir leid, dass die Pressekonferenz nicht angenommen wurde. Ich kenne dieses Gefühl etwas, da ich bei der Ärztekammer Niedersachsen Pressesprecher war. Ich saß häufig mit meinem Präsidenten verloren und vor allem frustriert herum, weil kein Schreiberling wissen wollte, was man dem unbedarften Volk an Bedeutendem mitzuteilen bereit war. Aber wenn es um einen ärztlichen Behandlungsfehler oder einen Abrechnungsbetrug ging, war die Journallie zahlreich vertreten und lauschte äußerst aufmerksam.

In dem übersättigten Berlin Aufmerksamkeit zu finden, speziell im Kunst- und Kulturbereich, ist nun mal sehr schwer, und Ihren Ärger mit der Telekom kann ich nachvollziehen. Immer wechselnden Leuten muss man alles neu erklären und anschließend bewegt sich nichts.

Der Wunsch einer Dame ist mir Befehl, sofern es nicht das Aufheben von Handschuhen betrifft! Sonnabend 15 Uhr passt mir sehr gut. Da ich Ihr nettes Bild aus Wikipedia (ganz Maestra am Flügel) kenne, muss ich Ihnen wohl fairerweise eine Ansicht von mir senden, damit Sie noch ausreichend Zeit haben, um sich erstens von dem Schreck zu erholen, und zweitens, um noch rechtzeitig absagen zu können. Wenn nicht, werde ich mir die Zähne putzen, die Fingernägel sauber machen und gekämmt pünktlich erscheinen!

Liebe Grüße

Ihr Maximilian

 

 

16. März – 16:37 Uhr

Caro Dottore,

und wo sollen wir uns treffen? In einem Café? Sie kennen sicher ein nettes.

Gruß

Eva

 

 

16. März – 19:12 Uhr

Liebe Eva,

Ihr Mut, mich trotz des zugesandten Fotos tatsächlich sehen zu wollen, begeistert mich, und ich bin prompt zum Friseur gegangen. Der fragte mich, ob ich mein Haar lang und offen trage, oder ob er lieber überm Ohr zwei Schnecken flechten sollte. Ich sagte: »Kurz! Ich stelle mich morgen bei einer Maestra vor.« Er war überrascht: »Wat’n bei’n Meester? Na, da wünsch ik dia viel Jlück! Is et n’Mala oda n’Klempna?« Nach dem Schnitt meinte er teilnahmsvoll: »Jutet Jelingen!« So trete ich mit den besten Wünschen eines Berliner Figaros morgen an! Zum Sternzeichen ist nichts zu sagen, denn Sie haben es gleich richtig erraten.

Heute Mittag wollten Sie mit mir spazieren gehen. Nun ins Café. Wenn ich mich verabrede, treffe ich mich meist am Stuttgarter Platz, ›Stutti‹ genannt, im Café Dollinger. Der ›Stutti‹ ist in Berlin sehr beliebt, vor allem, wenn die Sonne scheint, weil man draußen sitzen kann und das Publikum angenehm, nicht mondän, aber auch nicht abgerissen ist.

Die angrenzende Leonardstraße ist – insbesondere nachts – mit den alten Gaslaternen und den extrem breiten Bürgersteigen eine der stimmungsvollsten Berliner Straßen. Wenn man Wessis erzählt, die Bürgersteige seien dort breiter als die Straße, löst man immer Erstaunen aus. Der Hausflur vom ›Stutti‹ Nr.20 ist einer der pompösesten Berlins, zartester Jugendstil wechselt mit schwülstigstem Wilhelminischem Dekor (Barock und Renaissance). Also: Dollinger oder im Schlosspark spazieren gehen? Sie haben nun die Qual der Wahl!

Liebe Grüße

Maximilian

 

 

16. März – 20:52 Uhr

Lieber Maximilian,

ich könnte mir vor unserem Treffen eigentlich auch noch Dauerwellen legen lassen. Dann hätte meine Frisur endlich die Form, die sie bräuchte.

Also ich schlage vor, wir gehen erst etwas spazieren, wenn es nicht zu kalt ist (sonst gehen wir eben gleich ins Café), und treffen uns am Denkmal gegenüber vom Schloss Charlottenburg, es liegt im Mittelstreifen am Ende der Schlossstraße. Leider weiß ich nicht, wer da steht, sonst würde ich sagen können: »Um 15 Uhr beim Alten Fritz«, aber ich weiß eben nicht, ob er es ist, und Sie stehen dann vielleicht wartend unter einem anderen Denkmal. Das soll nicht sein. Ich werde auch Claudio mitbringen. Einverstanden?

Eva

16. März – 21:38 Uhr

Liebe Eva,

da ich gerade mal wieder am IN hänge (meiner ebay-Manie nachgehe) folgt ganz schnell meine Antwort.

Als alter Charlottenburger bin ich ganz verwirrt darüber, dass gegenüber dem Schloss ein Denkmal stehen soll. Habe ich noch nie gesehen! Ich kenne nur ein Denkmal in der Gegend: nämlich im Schlosshof das Reiterdenkmal des GROßEN KURFÜRSTEN, Friedrich Wilhelm des I. (von Schlüter). Dieser Kurfürst war mit Prinzessin Elisabeth-Charlotte von der Pfalz verheiratet, und diese nette Dame war zugleich Namensgeberin des Berliner Stadtteils, in dem ich wohne. Ich schlage vor, wir nehmen dieses Denkmal.

Nein, nein, keine Dauerwellen, die dauern erstens sehr lange und kosten zweitens viel. Eine Locke à la M. M., die verführerisch in die Stirn fällt, reicht, ist nicht so teuer und kann auch mit einem antiken Brenneisen auf dem Weg vom Badezimmer zum Boudoir hergestellt werden.

Ihr zunehmend ungeduldiger, zugleich neugieriger

Maximilian

 

 

16. März – 22:03 Uhr

Okay. Komme zum Reiterdenkmal.

Ihre witzigen, charmanten Mails bringen mich immer zum Lachen. Das ist schön. Bis morgen.

Eva

 

 

17. März – 10:05 Uhr

Liebe Eva,

ich verstehe nicht, was so lächerlich an meinen wohlgesetzten Worten sein soll? Ich hatte keineswegs vor, Sie zum Lachen zu bringen. Irgendwie werde ich wohl missverstanden, denn meine Lage war noch nie so ernst. Vorm Abschlussball der Tanzstunde litt ich an weniger Angstschweiß als heute!

Na ja, vielleicht ist meine Befürchtung unbegründet, und es regnet nachher. Der Wetterbericht meldet allerdings, dass um 15 Uhr zumindest am Reiterdenkmal die Sonne scheinen würde, nicht nur meteorologisch. Der Puls steigt und der Blutdruck sinkt! Mon Dieu! Warum kann es nicht andersherum sein?

Ihr Maximilian

 

 

17. März – 11:30 Uhr

Caro Dottore,

Sie dürfen das Leben nicht so ernst nehmen! Wie heißt es im Brahms-Requiem? ›Ach, wie so gar nichts sind doch alle Menschen, die doch so sicher leben. Sie geh’n dahin wie ein Schemen und machen ihre vergebliche Unruhe. Sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird.‹

Niederschmetternd, aber nicht ganz falsch.

 

Ich wollte Sie noch etwas vorwarnen: Wenn ich jemanden auf der Straße anspreche oder umgekehrt, rast Claudio wie ein Pfeil auf die Person zu, springt umher und bellt entsetzlich! Das ist eine Mischung aus Bodyguard und Begrüßung, denn er wedelt dabei mit dem Schwanz. Also nicht erschrecken. Ich werde ihn diesmal extra an die Leine nehmen. Er beißt natürlich nicht, aber dieses Verhalten kann ich ihm nicht austreiben, und deshalb gehe ich nächste Woche mit ihm in eine Hundeschule. Solange wir nicht miteinander reden, bellt er auch nicht. Vielleicht ziehen Sie das vor?

Gruß

Eva

17. März – 12:31 Uhr

Aber liebe Eva –

dieser Brahmstext ist mir nicht geläufig! Haben Sie den nicht etwas verhunzt? Die ersten drei Worte stimmen zwar, aber es heißt doch korrekt: ›Ach, wie so trügerisch, sind …‹ Wie kann Ihnen, einer studierten Musikwissenschaftlerin, denn so ein Fauxpas unterlaufen?

Zu meiner Beerdigung hatte ich mir bisher die Musik von Miles Davis aus dem Film ›L’ascenseur pour l’échafaud‹ gewünscht. Na ja, vielleicht sollte man den seligen Johannes auch ein bisschen aufspielen lassen.

Wegen des Bellens, ohnehin nur ein Zeichen von Eifersucht, mache ich mir keine Sorgen. Ich belle einfach zurück!

›Wenn ich jemanden auf der Straße anspreche oder umgekehrt …‹ (Der arme Claudio muss, fürchte ich, sehr oft bellen und ist abends wohl immer heiser?)

Liebe, der ernsten Situation angemessene Grüße

Ihr Maximilian

 

 

17. März – 12:45 Uhr

Verhundst?

1. hat Claudio keinen so großen Einfluss auf mein Gedächtnis und

2. kennen Sie wohl die Psalmen nicht. Vielleicht sollte ich nachher doch schwarz tragen.

Eva

 

 

17. März – 19:33 Uhr

Liebste Regina,

vorhin habe ich den Baron getroffen! Ich hatte die letzten Reste meiner Schönheit poliert, war aber trotzdem ganz schön nervös und natürlich gespannt, wer da auf mich zukommen wird. Ich sah ihn schon von Weitem: Da stand er!

Ein Denkmal neben dem Denkmal. Die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, Standbein, Spielbein, korrekter Haarschnitt, Brille. Herren-Popelinemantel, alles in sich stimmig, und ich dachte: Neeee, das kann er nicht sein, viel zu konservativ für mich! Er überreichte mir eine rote Rose mit Handkuss!!!

Das Gespräch war freundlich, sehr höflich, seine Kommentare wie erwartet witzig, aber er wirkte trotzdem ein bisschen wie yesterday auf mich, eben wie ein Gentleman alter Schule, und ich fühlte sein inneres Gerüst an Festgefügtheiten.

Und dann später beim Italiener – wir saßen uns gegenüber – sah er mich mit seinen wachen, blitzenden Augen so frech und herausfordernd an, dass ich zu meinem eigenen Ärgernis ganz verunsichert wurde. Ich spürte, dass ich manchmal sogar rot wurde! Mist! Und das in meinem Alter!

Bin gespannt, wie es weitergeht.

Kuss, Deine Eva

 

 

17. März – 20:01 Uhr

Geliebte Eva,

na, das klingt doch nicht schlecht! Bin auch sehr gespannt, wie es weitergehen wird! Danke für das Foto. Ich finde, dass er sehr sympathisch, sehr lebhaft aussieht.

Kuss, Deine Regina

 

 

18. März – 14:12 Uhr

Liebe Eva,

am Tag nach unserer anregenden tour d’amour im Schlosspark liege ich mit Schnupfen im Bett! Auf dem Rückweg kam ich in den Regen, und wenn ich mit nassen Haaren rumlaufe, fange ich mir immer eine Erkältung ein. Wenn ich in Ihrer Gegenwart nicht so verwirrt gewesen wäre, hätte ich den Schirm beim Italiener auch nicht vergessen, hätte mir keine nassen Haare geholt und jetzt keine Schniefnase! Also, Sie tragen die Schuld für mein momentanes Leid. Und niemand pflegt mich jetzt liebevoll!

Sollten Sie am Restaurant vorbeikommen, dann bitte ich Sie, den Regenschirm abzuholen. Ich werde mir jetzt einen Tee machen, mir einen heißen Wickel um den Hals legen und im Bett weiterschwitzen. Morgen ist sicher wieder alles vorbei.

Dass Sie nicht kochen können, hat mich tief getroffen. Aber trotzdem: Guten Appetit bei der nächsten Fertig-Suppe!

Liebe Grüße

Ihr Maximilian

 

PS: Es hat mich sehr angenehm berührt, dass Sie immer rot wurden, wenn ich Ihnen in die Augen sah! Sie wirkten dann wie ein ganz junges Mädchen! Sehr, sehr liebenswert!

 

 

18. März – 23:26 Uhr

Lieber Maximilian,

ich hoffe, es geht Ihnen schon wieder besser. Morgen gehe ich mal beim Italiener vorbei. Welche Farbe hat ihr Schirm? Es wird dort sicher viele liegengebliebene geben.

Übrigens werde ich nie rot! Gestern nur ein bisschen rosa und das nur deshalb, weil Sie ein Teufelchen sind!

Bei unserem Spaziergang vergaß ich zu fragen, warum Sie in Ihrem ersten Brief nicht Ihre Telefonnummer angegeben haben, alle anderen Bewerber – ich erhielt 21 Zuschriften – hatten sie notiert.

Ich sitze an einem Referat über J. S. Bach, das am Dienstag fertig sein muss. Zwar soll es nur 20 Minuten dauern, aber die müssen ja gut werden! Ein kurzes Referat über ein so langes Leben halten zu müssen, ist fast eine Zumutung. Jedenfalls für mich.

Übrigens: Bach konnte auch nicht kochen.

Gute Besserung und liebe Grüße

Eva

 

 

19. März – 17:29 Uhr

Liebe Eva

wieso sollen beim Italiener viele Schirme liegen geblieben sein? Gehen Sie denn mit allen Bewerbern, die auf das Inserat antworteten, und denen Sie den Kopf verdrehen, immer zum gleichen Italiener?

Während ich mich mit technischen Fragen eines Forschungs- und Entwicklungsprojektes beschäftigen muss, können Sie sich mit geistreicheren Themen auseinandersetzen. Da sieht man, wie ungerecht die Welt ist.

20 Minuten für Bach? Das reicht ja gerade für: Wo geboren, Kinder aufzählen und wo gestorben! Wann und in welchem vornehmen Etablissement werden Sie denn den Vortrag halten? Sollte auch über die ›Kunst der Fuge‹ etwas dabei sein, würde mich das Thema schon interessieren.

Der Schirm war blau mit irgendwelchen klein karierten Motiven, ich glaube Sony stand drauf. Holzgriff war zumindest bei der Übergabe noch vorhanden.

Mir geht es schon deutlich besser. Es ist schon erstaunlich: Ich will uralt werden und so’n bisschen Regen wirft mich gleich aus der Bahn.

Wo liegt genau Ihr Häuschen am Meer? Ich wollte mir die Stelle mal auf der Landkarte ansehen. Warum haben Sie kein Häuschen in Brandenburg oder Mecklenburg? Das wäre doch deutlich praktischer und auch leicht am Wochenende zu erreichen! Alle Ihre Freunde würden Sie dort gern zu Konzertabenden besuchen!

 

Liebe Grüße auch an Claudio, der ein süßes Kerlchen ist. (Ich denke, er würde sehr gern apportieren lernen, zumindest wenn’s um rote Rosen für’s Frauchen geht!)

Ihr Maximilian

 

PS: 1: Schon jetzt über Ihre Lebenserinnerungen zu schreiben, scheint mir ein bisschen zu früh. Über mich kann ja dann noch gar nichts drinstehen!

 

PS: 2: Zum Telefon: Ich bin immer sehr kurz angebunden und rede fast geschäftsmäßig, wenn ich den Anrufer nicht kenne. Ich weiß, dass ich mir beim Erstkontakt am Telefon gleich alle Chancen bei der holden Weiblichkeit verderbe. Ich muss tief in die Augen blicken, um Charme entwickeln zu können. Deswegen gab ich die Nummer nicht an.

 

 

19. März – 21:33 Uhr

Lieber Maximilian,

da ich ja nicht wie Sie steinalt werden, sondern lieber in quicklebendigem Zustand aus diesem Leben scheiden möchte, denke ich, dass die Zeit, Autobiografisches zu schreiben, gerade richtig ist. Außerdem macht mir diese Arbeit große Freude. ›Über mich kann dann ja noch gar nichts drin stehen!‹, schreiben Sie. Es kann durchaus sein, dass Sie darin vorkommen werden, denn ich bin erst bei 1978, dafür aber schon auf Seite 140. Kürzen kann man ja später immer noch, und der Lektor wird wahrscheinlich auch so mancherlei streichen.

 

Ich habe ein Häuschen auf der Insel Ischia, die ich wegen ihrer heißen Quellen ausgewählt habe. Das Klima ist ganz wunderbar, es geht mir immer sehr gut dort. – Da ich weder Brandenburg noch Mecklenburg je bereist habe, hatte ich auch keine Sehnsucht nach einem Häuschen in diesen Gegenden. Überhaupt ist mir alles Nördliche fremd.

Ich war auch einmal in St. Petersburg, 1998, fand die Stadt traumhaft, lernte sympathische Kollegen kennen, war oft im Marienski-Theater, aber eines Tages fiel ich, mich noch an der Häuserwand festhaltend, in Ohnmacht, da es 21 Grad unter Null waren. Ich wachte auf einem Stuhl in einem kleinen Fotogeschäft auf, wohin mich freundliche Menschen getragen hatten. Es war der erste Ohnmachtsanfall meines Lebens.

Ich glaube, der Norden ist nichts für mich.

Herzliche Grüße!

Ihre südliche Eva

 

 

19. März – 23:06 Uhr

Liebe Eva,

vielen Dank für Ihre ausführliche Darstellung des (bisher) ungeliebten Nordens. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich heute nicht ausführlicher antworten kann, vor allem, dass ich Ihnen den Text für Ihre Lebenserinnerungen für die Zeit ab 18.3. nicht als – für jeden Lektor sakrosankten – Entwurf vorformuliere!

Wann gehen Sie denn immer mit Ihrem Claudio Gassi? Wenn Sie wollen, könnte ich ja mitkommen, es sei denn, sie erwarten auch von mir, dass ich an jedem zweiten Bäumchen Duftmarken absetze.

Ihr Maximilian

 

 

20. März – 11:14 Uhr

Lieber Maximilian,

für die Duftmarken werde ich sorgen! Mit Addict, meinem Lieblingsparfum.

Eva

 

 

20. März – 20:12 Uhr

Liebe Eva,

letzte Woche hatte ich so richtig viel Zeit und war nicht ausgelastet. Der Häufigkeit und dem Umfang meiner Mails konnten Sie ja mein ›Dolce farniente‹ entnehmen. Leider, aber auch zum Glück, habe ich nun viel mehr zu tun, denn ich muss gelegentlich auch Geld verdienen. Ich habe jetzt mal einen aberwitzigen und sehr mutigen Vorschlag. Wollen wir nicht das Risiko eingehen und unsere Telefonnummern austauschen? Meine lautet: 030-47 11 08 15 oder mobil: 0171-4174 345.

Im Kern finde ich die Erfindung des Telefons keinen Gewinn. Es ist ein unerträglicher Eingriff in die Privat- und Intimsphäre, denn es klingelt immer, wenn man gerade nicht gestört werden will.

Liebe Grüße

Ihr Maximilian

 

PS: Übrigens: Suchen Sie nur einen Berlinführer oder auch noch einen Koch?

21. März – 01:01 Uhr

Lieber Maximilian,

jetzt bin ich endlich fertig und auch zufrieden mit dem, was ich über Bach verfasst habe.

Ja, wir können gerne telefonieren, auch wenn ich eigentlich lieber schreibe. Das kommt daher, dass ich meine Konzerte jahrelang meist alleine organisiert habe. Zwar stand mir mein getreuer Ehemann Milan stets zur Seite, später hatte ich einen Assistenten oder eine Sekretärin, aber nicht immer, und im Kopf musste ich sowieso alles haben – für den Notfall. Organisation ist Telefonieren ohne Ende. Das hat mich geschädigt. Aber trotzdem ist das Telefon ein nützliches Gerät. Hier meine Nummern: 030-36540051 und mobil 0173-40 99 479.

 

Das Piano-Festival, das ich im vergangenen Jahr in Stuttgart veranstaltet habe, zeigte mir, dass ich solcher Tätigkeit müde bin, auch wenn mir das Festival selbst wieder Freude bereitete, neue Begegnungen schuf und ein Erfolg war.

Ich bin sehr froh, dass ich nach Berlin gezogen bin. Diese Stadt ist so lebendig und vielseitig! Außerdem: Drei Opernhäuser!! Die vielen Theater! Das ist einfach fantastisch.

Den Vortrag über Bach halte ich übrigens bei mir zu Hause, wo ich im Kreise meiner Freunde seinen Geburtstag feiere. Am Klavier: Iveta Apkalna. Sie sind herzlich eingeladen, wenn Sie nichts Bedeutenderes vorhaben. Es beginnt um 20 Uhr.

Buona notte e dorma bene

Cordialmente

Eva

 

22. März – 17:23 Uhr

Liebe Eva,

kurz zwischen zwei Geschäftsterminen. Vielen Dank für Ihre Einladung. Ich habe noch nie in meinem Leben etwas Bedeutendes gemacht oder vorgehabt. Ich komme also sehr gern – und bin sehr neugierig!

Ihr Maximilian

 

 

23. März – 8:45 Uhr

Liebe Eva,

nochmals vielen Dank für den sehr unterhaltsamen Abend. Sie haben nicht nur eine sehr schöne Wohnung, in der man Geist und Seele anregende Musiksalons veranstalten kann, sondern auch eine tolle Wanddekoration. Die wunderschönen Bilder und die Plakate Ihrer unzähligen Auftritte! Auf eine klanglose Mülltonne wie mich wirkt das schon sehr beeindruckend.

Wieso hatten aber alle Damen, mit Ausnahme der Pianistin Hosen an? Und kein Mann war gut, geschweige denn elegant gekleidet. Ich war zwar auch nicht elegant, hatte mir aber wenigstens einen sehr schönen Schlips umgebunden – ich bin Krawattenfetischist!

Ich fühlte mich schon etwas fremd in der Umgebung, aber Ihre Freunde haben sich sehr nett um mich gekümmert und mich in die Unterhaltung einbeziehen wollen. Es war wohl gut, dass ich relativ früh ging, so konnten die Künstler ungestört von Schlipsträgern die sicher noch sehr lange Nacht genießen.

Wollen wir nicht wieder einen Spaziergang machen? Ich würde mich sehr freuen, Sie mal ohne Anhang wiederzusehen.

Liebe Grüße

Ihr Maximilian

 

23. März – 13:40 Uhr

Lieber Maximilian,

die Damen hatten Hosen an, weil es Ihnen so gefiel!

Bevor es ans Aufräumen und Saubermachen geht: Ja, die Nacht war sehr lange, und alle Gäste waren in blendender Stimmung. Die Neugier meiner Freunde hat mich amüsiert: Alle wollten wissen, wer Sie sind!

Heute habe ich keine Zeit mehr, aber morgen würde ich gern mit Ihnen spazieren gehen. Wieder 15 Uhr?

Ganz liebe Grüße

Eva

 

 

24. März – 18:25 Uhr

Liebste Regina,

heute waren wir wieder im Schlosspark und Maximilian erzählte mir begeistert von seinem Chor. Als ich nachfragte, ob er Tenor oder Bass sänge, brach er in Lachen aus. Er sprach von seinem Corps, einer schlagenden Studentenverbindung!

Da schlagen sich Männer im Zweikampf freiwillig die Köpfe blutig, um sich ihre männliche Tapferkeit zu beweisen und sind nach Verheilung der Wunden, die sie Schmisse nennen, stolz auf ihre Stammeszeichen. Und das im 21. Jahrhundert! Hilfe, Regina! Ein schlagender Bruder! Und das mir!

Ich war fassungslos und dachte: Na, das war’s dann wohl. Aber er hat eine so positive, liebenswerte Ausstrahlung, die mir nach der Trauer um Vladimirs Tod sehr, sehr gut tut. Und er lacht einfach zu süß! Überhaupt haben wir die ganze Zeit über viel gelacht! Und trotz konservativem Adelskram und Schlägerclub habe ich mich, Du wirst es kaum glauben, in ihn verliebt! Wie werde ich nun vor meinen 68er-Freunden dastehen?

Regina, es ist unglaublich! An wen bin ich da geraten? Warum passiert mir so etwas?

Ich hoffe, Du lebst nach dieser Nachricht noch und antwortest mir schnell.

Deine Eva

 

 

24. März – 19:44 Uhr

Geliebte Eva,

wie immer bist Du von der schnellen Truppe! Typisch Eva. Wenn Du Dich wirklich verliebt hast, dann denke nicht groß nach, sondern freue Dich an diesem Gefühl! Das ist doch toll, und Du musst sowieso erst seinen Charakter kennen lernen. Lass Dir Zeit und hab keine Bedenken wegen Formalien. Denke vielmehr an unseren Lieblingsspruch: Nobody is perfect. Ich wünsche Dir alles Glück der Welt!

Nur Mut und Umarmung von

Deiner Regina

 

 

24. März – 21:42 Uhr

Liebe Eva,

unser Spaziergang – ich bin seit Jahren nicht mehr so lange an der frischen Luft gewesen – hat mein Herz erwärmt. Ich hege die mutige Hoffnung, vice versa war es wohl auch nicht anders.

Aber Dein Entsetzen über meine ›männliche Sozialisation‹ in einer schlagenden Verbindung ist unbegründet. Zwischen den einzelnen Verbindungsschlägern – sehr lustig finde ich Deine Wortschöpfung! – gibt es Riesenunterschiede. Selbst wenn Du es jetzt noch nicht glauben solltest: Auch wir sind Individuen wie Deine Künstler!

Deine Erzählungen über meine Mitwettbewerber haben mich beeindruckt. 21 Zuschriften! Das ist schon toll. Du hattest ja richtig Auswahl! Davon können viele Damen nur träumen! Aber der Text Deiner Anzeige war auch anders, eben besonders lebendig.

Mit dem üblichen Anzeigen-bla-bla wie ›bedeutend jünger aussehend, parkettsicher‹ und sonstigem Gedöns holt doch eine Frau keinen Mann mehr hinter dem Ofen hervor! Am oberflächlichsten in den Anzeigen ist immer die Aufforderung ›BmB‹ (Bitte mit Bild). Das finde ich infantil und präpubertär. In unserem Alter sind doch Esprit, Bildung, Herzlichkeit und Aufrichtigkeit Basis der Zuneigung oder Liebe.

 

Dass die Männer Dir schon beim ersten Gespräch zwei-/eindeutige Andeutungen machten, erstaunt mich einerseits, andererseits kann ich sie verstehen. Beim ersten Telefongespräch oder Treffen aber bereits mit Anzüglichkeiten vorzupreschen, ist natürlich stillos und zeigt wenig Einfühlungsvermögen.

Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass gerade ältere Damen – vielleicht aus Torschlusspanik oder aus spät erwachter sexueller Lust (keine Angst mehr vor Schwangerschaft) von Gesprächen mit pornografischem Inhalt sehr ›angetörnt‹ werden können.

Jedenfalls bin ich glücklich, aber auch stolz, dass ich 20 Kameraden aus dem Feld geschlagen habe – na ja, zumindest vorläufig!

Liebevolle Grüße

Dein Maximilian

 

PS: Ich weiß: Rot wirst Du ja nicht, aber ganz dunkel-tief-rosa und das mehrfach! Dies ist meine Lieblingsfarbe!

 

 

28. März – 20:21 Uhr

Caro Cavaliere,

heute wurde mein PC endlich repariert und ich kann wieder mailen! – Es war schön mit Dir im Schlosspark. Morgen ist Natalias Konzert und nach und nach treffen nun die Musiker zum Proben bei mir ein.

Pornografische Witzchen, sexuelle Anspielungen kenne ich seit meiner Jugend vorwiegend von ›älteren Herren‹. Ich weiß auch, dass sie Stammtische erheitern. Nichts für mich. Und was Deine Erfahrung mit älteren Damen betrifft: Wie viel ältere Damen kennst Du denn, die von Gesprächen mit pornografischem Inhalt ›sehr angetörnt‹ werden? Berichte mir doch mal von Deinen Erfahrungen!

Von den 20 Herren hatte ich fünf ausgesucht und mit ihnen telefoniert. Ein Opernsänger (66), ein Filmregisseur (67), ein Bankdirektor (58), ein Theologe (61) und ein Ingenieur (62). Ich gebe Dir mal das Gespräch mit dem Filmregisseur wieder:

Ich: »Sie haben auf meine Anzeige geantwortet, und ich möchte mich bedanken und ein wenig mit Ihnen plaudern.«

Er: »Ja, das freut mich aber! Neu in Berlin, nicht wahr? Und wie gefällt es Ihnen?«

»Sehr. Ich liebe Berlin, bin ganz beeindruckt von der Lebendigkeit und Buntheit und dem kulturellen Angebot dieser Stadt. Drei Opernhäuser! Die vielen Straßencafés …«

»Ich zeige Ihnen gerne mehr. Wissen Sie, ich freute mich sehr darüber, dass Sie Pianistin sind. Deshalb habe ich Ihnen eigentlich auch geschrieben. Ich liebe Musik, aber stellen Sie sich vor, ich habe einen Enkel, der Kleine ist erst fünf, und ich muss ihm immer eine CD einlegen, und dann sagt er zu mir: »Aber Opa, nur Bach.« Ist das nicht außergewöhnlich?

Und dann setzt er sich auf die oberste Treppenstufe und hört zu, hält die Kopfhörer ganz fest, als hätte er Angst, man könne sie ihm wegnehmen. Das ist doch ungewöhnlich. Nicht wahr?«

Ehrlich gesagt war ich nicht wirklich an der Außergewöhnlichkeit dieses Enkels interessiert, wollte ja etwas von ihm hören, aber aus Höflichkeit antwortete ich:

»Ja, das ist schon nicht alltäglich. Lernt er denn schon ein Instrument?«

»Nein, noch nicht. Wo wohnen Sie denn in Berlin?«

»In Charlottenburg.«

»Ja, das ist ja fantastisch! Wir wohnen am Richard-Wagner-Platz, ein Katzensprung zu Ihnen! Sagen Sie mir doch, meine Liebe, unterrichten Sie denn auch?«

»Nur in seltenen Fällen.«

»Würden Sie denn meinen Enkel unterrichten wollen, ich meine … in Zukunft? Wissen Sie, ich hatte als Knabe auch Klavierunterricht. Meine Lehrerin war … äh … ich wollte immer mal einen Film über sie drehen … äh … ja, sie bot Fülle, war Fülle, wenn ich so sagen darf. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Also Fülle. Eine Frau muss Fülle haben. Sie muss durch und durch Frau in der Fülle sein. Das meine ich. Meine Klavierlehrerin trug braune Angorapullover, und da zeichneten sich die Rundungen so weich und wunderbar ab. Können Sie sich das vorstellen? Ich meine, sehen Sie diesen Film vor sich ablaufen?«

»Trug sie Röcke oder Hosen?«

»Schwingende Röcke, sie hatte wohl zu starke Beine für Hosen. Sagen Sie, meine Liebe, die Rundungen, von denen ich sprach, sind sehr wichtig für mich. Sie wiegen ja nur 60 kg, wie Sie schrieben. Ist da denn etwas da … äh … ich meine zum Festhalten, wenn ich so sagen darf, zum Liebhaben, zum Drücken, wenn Sie mich verstehen?

»Was meinen Sie denn genau?«

»Sehen Sie, die Fülle einer Loren oder Eckberg, die meine ich. Mit einer schlanken, sagen wir dünnen Frau kann ich nichts anfangen. Das kommt für mich nicht infrage. Ich brauche etwas zum Anfassen. Da würde ich auch gerne mal einen Film drüber machen. Dünne Frauen sind ja meistens auch so streng. Wie stark ist denn Ihre Oberweite?«

»Ich weiß es nicht, ich habe sie das letzte Mal gemessen, als ich 15 war.«

»Aber dann sagen Sie mir doch wenigstens: Ist da Fülle?«

»Ja«, antwortete ich, »Fülle und Reife«, und legte auf.

Der Opernsänger zählte gnadenlos die 50 Partien auf, die er in 45 Jahren gesungen hatte und fragte mit keinem Wort nach meiner künstlerischen Laufbahn. Außerdem wollte er eine ›Frau an seiner Seite‹ in Herdecke, wo er schon seit 38 Jahren lebt. Ich solle zu ihm ziehen, etwas anderes hätte für ihn gar keinen Sinn. Madonna mia!

Der Bankdirektor sprach klar und langsam, fand meine tiefe Stimme ›hocherotisch‹ und atmete schwer.

Der Ingenieur hatte eine Hundehaarallergie, und ich habe doch meinen Claudio!

Der Theologe hielt lang ausschwingende Reden über die ›Ohnmacht des Menschen‹ und nicht endende Vorträge über ›Die Faszination der Hingabe und Auslieferung des Individuums an den Augenblick, das NU‹.

 

So, mein lieber Herr Erfinder, Sie sehen, die, die Sie aus dem Feld geschlagen haben, waren keine Bedrohung für Sie. Aber … ach ja … Ich werde sicher mal einen Film darüber machen!

Liebe Grüße

Eva

 

 

28. März – 22:36 Uhr

Mia cara Maestrissima,

ich litt schon an Entzugserscheinungen. Vier Tage ohne Mails! Nein, es war schlimmer als Entzug, es waren Qualen, wie Tantalus sie verspürt haben musste! So habe ich mich gefreut, ein Brieflein vorzufinden.

Ja, ich muss zugeben: Meine Rivalen haben es mir leichtgemacht, und ich freue mich darüber, dass sie so langweilig waren.

Den Spaziergang, mehr noch die Unterhaltung mit Dir, habe ich auch sehr genossen! Claudio hat einen ausgesprochen lieben Charakter, aber wie es mit seinem Frauchen ist, weiß ich noch nicht!

Deine Beschreibung über das zerrüttete Verhältnis mit Deinem Vater hat mich tief berührt. Vergiss die Streitereien! Bevor Du in den Orkus gehst (wobei ich Dir aber als Cerberus folgen werde, auf Schritt und Tritt und ohne zu bellen, weil ich Euridike nicht verängstigen und mich mit Persephone gut stellen will) solltest Du Dich unbedingt wieder mit ihm versöhnen.

Gute Nacht, schlaf gut und träume von mir.

Dein Teufel Max

 

PS: Ich gehe jetzt ins Bett, träume von Dir und wüsste dabei schon, in welcher Form wir beide uns nicht langweilen würden!

29. März – 00:07 Uhr

Lieber Maximilian,

Dein Brief ist hinreißend. Mich hat Deine Anteilnahme an den Problemen mit meinem Vater auch berührt. Auf Deine Begleitung im Orkus freue ich mich schon jetzt, da ich nicht gerne alleine in der Unterwelt flanieren möchte.

Ich habe mich über Deinen Anruf gefreut. Ich glaube, Natalia wird morgen ein eindrucksvolles Konzert geben. Solltest Du mitkommen wollen, ich habe eine Freikarte für Dich. Aber ich möchte Dich nicht überreden, was ich hiermit tue.

Ein Teufelchen bist Du in der Tat, mit diesen so klugen, lebendigen und wachen Augen. Schau Dir mal das Bild an, das Sybille von uns an meinem Salonabend gemacht hat. Hier sehen wir uns prüfend in die Augen. Das ist wichtig und gut so.

 

Ich freue mich immer riesig, wenn ich einem aufrichtigen und klugen Menschen begegne. Sei also umarmt und verliebe Dich in mich! Denn ohne dies – nur dass man schöne oder nette Stunden teilt, oder so ähnlich hattest Du Dich ausgedrückt – würde mir aller Zauber fehlen. Ich warte sehnsuchtsvoll auf Deine Antwort.

Eva

 

 

29. März – 00:17 Uhr

Meine liebe Eva,

auf diesem Bild sehe ich ja so aus, als würde ich mir Gedanken machen, wie ich einer notorischen Immobilienspekulantin am besten die Steuern mindern könnte. Dabei habe ich doch ganz andere Dinge mit Dir im Sinn!

Ich wünsch mir die Freikarte doch für Dich und nicht fürs Konzert, na dafür auch! Ich bin neugierig, ob ich heute Nacht wohl noch kommen darf? Ich wäre jetzt sehr gern bei Dir!

Maximilian

 

 

29. März – 00:29 Uhr

Madonna mia! Lieber Maximilian!

Ich weiß nicht genau, wie ich antworten soll. Ungewöhnlich für mich, ich folge nämlich immer der Stimme meines Herzens.

Was Dich betrifft, so weiß ich nicht, ob Du ein witziger, selbstbewusster Eroberer bist, oder mir Deine Liebe schenken willst. Sollten wir uns nicht erst noch etwas besser kennenlernen?

Umarmung

Eva

 

 

29. März – 00:37 Uhr

Meine liebe Eva – oder doch eine Maria?

Ich weiß doch selbst nicht was ich bin, wo ich bin, und wie ich bin, seit ich Dich kennen gelernt habe. Ich weiß nur, dass ich in Deinen Armen liegen möchte, und wer ich bin, musst Du herausfinden! Also: Ich werde in fünf Minuten bei Dir sein.

Dein Maximilian

 

 

29. März – 06:18 Uhr

Guten Morgen, mia carissima!

Ich hoffe, Du hast gut ausgeschlafen. Ich habe mich still und heimlich davongeschlichen und wollte Dich nicht wecken! Ich kann nicht gut im Hellen schlafen. Mit ein paar schönen dunklen Gardinen und deutlich kühlerer Raumtemperatur würde ich spielend bis zum Frühstück bleiben!

Unter der Decke kann’s mir, wie Du gemerkt hast, aber nicht heiß genug sein, auch wenn Du mit Deiner Bemerkung »Was war das denn, Dottore?« mir unmissverständlich mitgeteilt hast, dass Du nicht ganz mit mir zufrieden warst, Dir eine erfüllendere Begegnung gewünscht hättest. Wenn Du mich dennoch zum Konzert mitnehmen willst, ruf mich doch bitte an.

Küsschen, überallhin!

Dein Teufelchen

 

 

29. März – 12:22 Uhr

Guten Morgen, liebes Teufelchen,

oh, oh, oh, mein Kopf! Es könnte mir besser gehen, aber der Wein hat anders entschieden.

Wie geht es Dir? Habe ich das richtig verstanden: Du hast keine Heizung? Auch nicht im kalten Berliner Winter? Das kann doch nicht wahr sein!

Mach’ Dir keine zu großen Sorgen wegen gestern Nacht. Es wird neue und andere Nächte geben! Natürlich freue ich mich, wenn Du heute Abend ins Konzert kommst. Ich muss schon um 19 Uhr da sein.

Sei umarmt, caro mio

Eva

 

 

29. März – 14:25 Uhr

Geliebte Satansbraut,

um 18.30 Uhr wird sich Dein konservativer Formalist heute in der Philharmonie einfinden und wie immer Schlips und Kragen tragen. Ich habe zwar auch ein so abgeschabtes Jöppchen wie Dein Philosophieprofessor Heinrich, aber das trage ich nur, wenn ich anstreiche oder bastle.

Dass Du mich immer noch sehen willst, finde ich, nach meinem leider so ungestümen Verhalten, sehr, sehr liebenswert. Ich schiebe alles auf meine lange Askese, meine Aufregung und Freude.

Ich umarme Dich liebevoll

Dein Dottore

 

 

30. März – 01:56 Uhr

Meine liebe Eva,

ich habe den Abend in der Philharmonie sehr genossen. Eure vielen kritischen Anmerkungen zu den Interpretationen bei der anschließenden Feier waren für einen Laien wie mich hilfreich, da sie mir einen kleinen Eindruck von dem vermittelten, was Musik im Idealfall sein könnte. Dein Freundeskreis ist schillernd und mir nicht unsympathisch.

In meiner Hosentasche fand ich ein schönes Feuerzeug, das mir nicht gehört. Du musst also in meiner Hosentasche gewesen sein, ohne dass ich Dussel es bemerkt habe! Wie konnte mir so etwas nur passieren! Ich möchte Dich am Samstag bekochen – na ja, nicht nur das! Schlaf gut, träume nicht von falschen Noten und verpatzten Einsätzen!

Dein Teufelchen

 

 

30. März – 03:44 Uhr

Caro Dottore,

Du bist ein so liebenswertes Geschöpf, dass ich immer über Deine Worte schmunzeln muss und mich innerlich erwärme. Da ich meistens friere, ist das geradezu ideal für mich. Ich fühle mich auch darin wohl, über so vieles mit Dir lachen zu können, eben auch über mich, über uns.

Du hast mein Feuerzeug! Das mit der Madonna? Hilfe, es muss zu mir zurück! Eigentlich hüte ich es wie meinen Augapfel, denn es ist ein Geschenk meines verstorbenen Geliebten Vladimir.

Am Samstag kochst Du also etwas! Ich freue mich darauf. Ich suche mir etwas aus und maile Dir morgen meine Wahl. Und danach lieben wir uns, und dann – das wünsche ich mir – wirst Du mir viel zugewandter sein.

Schlaf gut, Amore

Deine Eva

 

 

30. März – 12:07 Uhr

Lieber Max,

ich schicke Dir mal unser Partnerschaftshoroskop. Man kann nämlich einfach im PC bei ›astrodienst‹ nachsehen, ob man zusammenpasst oder nicht: So einfach kann das Leben sein!

Du kannst auch die Daten Deiner Kinder eingeben und auch die Deiner verflossenen ›Damen‹. Deine eBay-Manie wird jetzt Konkurrenz bekommen.

Eva

 

Partnerschaftshoroskop für Maximilian und Eva

Sie beide wollen eine gleichberechtigte Partnerschaft gründen. Sie werden alles miteinander teilen, und sich gegenseitig unterstützen. Es ist eine hervorragende Position für eine feste Partnerschaft. In Ihrer Beziehung geht es um hohe geistige Aktivität, wo verbale Kommunikation wichtig ist. Sie beide sollten sich davor hüten, Ihre Emotionen zu analysieren, anstatt sich ›aus dem Bauch heraus‹ mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie beide haben ständig neue Ideen und lieben es, Erfahrungen zu sammeln. Da Uranus in Konjunktion mit der Sonne liegt, reden Sie gerne miteinander und haben ständig neue Ideen.

Mond im zweiten Haus

deutet darauf hin, dass diese Beziehung die Bedürfnisse aufdecken wird, die sie beide nach emotionaler und materieller Sicherheit haben. Im Falle einer beruflichen Verbindung wird diese Konjunktion materiellen Erfolg mit sich bringen.

Sonne Konjunktion Merkur

In Ihrer Beziehung ist verbale Kommunikation wichtig. Die gefühlsbetonten Gespräche kommen eher zu kurz.

Mond Konjunktion Neptun

In erster Linie müssen Sie beide daran arbeiten, die wahre Natur Ihrer Beziehung zu verstehen. Aufgrund der idealistischen Natur von Neptun könnte jedoch ein Problem auftauchen. Da Neptun platonische Beziehungen fördert, haben Sie beide zu Recht das Gefühl, dass diese Beziehung Sie stärkt und das Leben leichter macht.

Ihre Beziehung wird von Liebe, Zuneigung und Wärme geprägt. Sie beide lieben und akzeptieren sich so, wie Sie sind, und erwarten für Ihre Liebe keine Gegenleistung.

 

 

30. März – 13:09 Uhr

Carissima,

Du verwirrst mich, denn Du holst Dir ein Partnerschaftshoroskop aus dem IN, obwohl wir uns erst viermal gesehen haben! Wie darf, muss oder soll ich dies denn verstehen?

Morgen geht für Einkäufe für unser Diner, den Transport von 2.500 Büchern (ich habe bei e-bay für 87,65 € in Köpenick den gesamten Bestand eines Antiquariats aufgekauft!!!), kochen und, und, und … drauf.

Also vom Horoskop habe ich nichts verstanden: Wenn nun Uranus (der alte Lustmolch) die Sonne konjugiert (heißt das bei Euch Künstlern jetzt vornehm so?), hat man in meinen Kreisen das einfach auf Deutsch ›Möschen streicheln‹ genannt. Darf ich denn nun weiter Deine Brüste berühren oder nicht? Und wie hält es denn der alte Bock mit den Nippelchen? Wir sollen uns, wie die Sonne, wenn sie’s mit Merkur treibt, ›aus dem Bauch heraus‹ auseinandersetzen. Schwachsinn! Erst muss das Curryhuhn in den Bauch rein! Wieso dann wieder aus dem Bauch heraus? Hast Du bei EMMA vielleicht den neuesten Schlankheitstipp gelesen? Mond und Neptun mögen ja Schwächen und Fehler haben! Aber wieso ich auch noch?

Dann war der Mond noch im zweiten Haus! War es das auf Ischia? Was hatte er denn da zu suchen? Evachen, Evachen: Mir schwant Übles! Sei wenigstens einmal ehrlich: Hast Du’s mit dem denn auch getrieben?

 

Neptun will also meine Sexualität vergeistigen! So weit kommt das noch. Dass Claudio im Schlafzimmer ist, geht ja noch, aber der alte voyeuristische Dreizack will mir nur was aufschwatzen, weil er selber das Nümmerchen mit Dir machen will. Der Bock soll doch selbst auf die Inserate im Tagesspiegel antworten, anstatt nur abstauben zu wollen.

Wie gesagt, ich bin ganz durcheinander und weiß nicht mehr, was ich denken, sagen oder tun soll. Evachen, was machst Du denn aus mir? Vor einer Woche war ich noch ganz normal und jetzt das. Jetzt wird aber wieder gearbeitet!

Auf immer und ewig

Dein stockkonservativer Schlipsträger

 

 

30. März – 15:44 Uhr

Liebes Teufelchen,

»Wie gesagt, ich bin ganz durcheinander und weiß nicht mehr, was ich denken, sagen oder tun soll. Evachen, was machst Du denn aus mir?« – Mach Dir bitte keine Sorgen, denn ich weiß das in etwa schon, und könnte es Dir ins Ohr flüstern. Schließlich bin ich Pianistin, besitze Gestaltungskraft und Taktgefühl.

Dennoch finde ich Deine Scherze wie Deine Sprache im letzten Mail ziemlich banal. Warum kommentierst Du das Horoskop so oberflächlich? Witzchen sind nett, aber nicht immer und schon gar nicht dann, wenn man versucht, sich kennenzulernen und den anderen zu verstehen.

Kuss Eva

 

 

30. März – 20:05 Uhr

Liebste Eva,

Du hast mich enorm beruhigt. Ich freue mich, dass ich nunmehr nicht mehr alles selber machen muss, und mein bester Freund in Zukunft mit Kraft gestaltet und im Takt geführt wird. Meine Finger hacken heute nur auf der Tastatur des PC herum. Dabei könnten diese doch einer viel sinnvolleren und erregenderen Tätigkeit nachgehen! Auch von mir einen Kuss. Du weißt schon, wohin!

Habe ich die Form eigentlich schon überschritten oder noch nicht?

Dein Teufelchen

 

 

30. März – 21:04 Uhr

Meine liebe Eva,

Deinen Brief – welch schöne Überraschung in meinem Briefkasten – habe ich mehrmals gelesen. Ich bin nun ein bisschen beschämt über die Mails, die ich Dir schrieb.

Meine Sätze sind noch von zu viel Spott und Ironie geprägt, viel weniger vom Gefühl als Deine! Bitte nimm es mir nicht übel und vor allem nicht tragisch. Glücklicherweise hast Du ja viel Verständnis für die Unarten der Zwillinge!

Ich brauche doch noch etwas Zeit, um ähnlich wie Du, Gefühle ausdrücken zu können. Ich bin lernfähig, und wenn Du etwas Geduld aufbringst, dann wird aus mir noch ein ganz brauchbarer, Dich liebender und verehrender Partner.

Wenn Dir etwas zu viel wird oder auf die Nerven geht, dann sag es bitte. Aber im Moment überlagert meine Begeisterung, Dich kennengelernt zu haben, und zugleich das – unerhoffte, unerwartete – Gewusel, das meine Hose mit neuem Leben erfüllt, noch romantischere, von tiefem Gefühl und Vertrauen gezeichnete Briefe. (Hat du dat fastanden?)

Ich schließe Dich in meine Arme, lasse Dich nicht mehr los und drücke Dich ganz fest.

Dein Formalist

 

 

30. März – 21:15 Uhr

Lieber Max,

Du fragst mich, ob Du die Form schon überschritten hast oder noch nicht. Also jedenfalls bist Du nahe dran. Bist Du eigentlich Verbalerotiker?

Eva

 

 

30. März – 21:31 Uhr

Evachen, was für eine Frage!

Ich musste mir mal vor Jahren mit einer Dame einen Porno ansehen. Anstatt erregt und ungestüm zu werden, schlief ich zum Entsetzen der Dame ein. Ich werde eben nicht von viel Fleisch und den Kopulationen anderer erregt. Ein weibliches Wesen hinter einer Burka wirkt auf mich wesentlich erotischer. Das reale, vollständige Bild ist Diktatur, es tötet die Fantasie. Schemenhafte Konturen regen meine Fantasie und meinen Geist an. Zur Frage betreffend den Verbalerotiker: Ja, ich bin’s von Kopf bis Fuß!

Kuss, Kuss, Kuss!

Dein Verbal (ob Erotiker wird sich noch herausstellen)

 

 

30. März – 21:39 Uhr

Mein Lieber,

›Nippelchen‹! ›Nümmerchen‹! Süffisantes Altherrengesäusel! Ich finde Verbalerotiker neurotisch und abstoßend.

Eva

 

 

30. März – 22:46 Uhr

Wow!

Was soll ich denn auf die Frage: ›Bist Du eigentlich ein Verbalerotiker‹ antworten? Etwa: Nein, um Gottes willen, so was bin ich doch nicht! Oder langatmig erklären: Aus diesen oder jenen Gründen bin ich es nicht? Oder einfach sagen: Ja, wenn’s der Erkenntnisfindung dient und in die halb geöffnete Schublade passt, dann bin ich eben auch das.

Meine liebe Eva: Stell nicht Fragen, die man nicht beantworten kann. Find’s einfach selber raus. Wegjagen kannst Du mich doch immer und zu jeder Zeit! Ich klebe nicht. Also mache Deine Schubladen zu, und schaff Dir einen schönen, neuen Sekretär an (mein Wunsch wäre: Empire, Mahagoni mit feuervergoldeten Bronzeappliken). Dessen Fächer kannst Du mit neuen Inhalten füllen.

Ich denke, wir blasen das vietnamesische Curryhuhn für morgen Abend ab. Ich bin sehr, sehr traurig.

Dein Max

PS: Hast Du Dich mit Adler, Jung und Freud und deren Erkenntnissen zur Neurosenlehre oder Erotik beschäftigt?

 

 

30. März – 23:31 Uhr

Lieber Max,

Du hättest mir direkt, und nicht scherzhaft ausweichend antworten können. In Wirklichkeit drückst Du Dich einfach um eine ehrliche Antwort. Schade.

Mit Adler, Jung und Freud und deren Erkenntnissen zur Neurosenlehre habe ich mich noch nicht beschäftigt. Meinst Du, ich sollte das tun?

 

Wenn Du mir auf meine Fragen keine differenzierten, sondern meist ironische, humorige Antworten gibst, dann nimmst Du sie – und damit mich – nicht ernst. Meine Frage signalisiert Interesse an Dir und den Wunsch, Dich besser zu erkennen, und da man am Anfang sowieso unsicher ist, tragen Deine hingeworfenen, oft etwas trivialen Scherze (pardon!) nicht unbedingt zu wachsendem Vertrauen bei. Ich bin sehr direkt, das weiß ich, und das mögen nicht alle Menschen. Du kannst mich alles fragen, und ich werde mich immer bemühen, Dich dann nicht mit scherzhaften Antworten in der Luft hängen zu lassen. Und beleidigt wie Du, werde ich auch nicht sein.

Ich kann nicht sagen, dass ich keine Schubladen hätte, aber Du kannst mir glauben, dass es sehr wenige sind.

Ich bin auch traurig. Schade.

Eva

 

 

31. März – 00:29 Uhr

Liebe Eva,

ich bin doch Zwilling! Der genießt es eben, wenn man ihm ein Stichwort für eine geist- oder weniger geistreiche Antwort bietet!

Nein, Adler, Jung und Freud musst Du nicht lesen! Um Gottes willen, nein! Dann hörst Du auf, Dich mit Musik zu beschäftigen, Dich mit Freunden zu treffen, mich (vielleicht irgendwann) als wirklichen Partner für dick und dünn zu sehen und die Welt genussvoll, entspannt zu genießen!

›Wenn Du mir auf meine Fragen keine differenzierten, sondern ironische, humorige Antworten gibst, dann nimmst Du sie – und damit mich nicht ernst.‹

Tut mir leid, wenn Du das so siehst. So eine direkte, klare dudengemäße Frage oder Antwort ist für mich einfach zu heavy! Gefühl und Intuition sind selbst für mich Zwilling bessere Ratgeber als durchformulierte Antworten.

 

›Ich bin sehr direkt, das weiß ich, und das mögen nicht alle Menschen.‹ Direktheit, vor allem Offenheit ist etwas sehr Schönes, wenn eine elegante, nicht verletzende Formulierung gewählt wird. Anders als Elsa von Brabant werde ich Dich nie befragen, woher Du kommst und wes Geistes Kind Du bist. Entweder erzählst Du mir alles freiwillig, was ich hören möchte, oder ich kriege es – auch zwischen den Zeilen lesend – selber raus.

 

›Ich kann nicht sagen, dass ich keine Schubladen hätte, aber Du kannst mir glauben, dass es sehr wenige sind.‹ Empiresekretäre haben meistens nur zehn Schubladen. Damit können wir doch leben?

›Ich bin auch traurig. Schade.‹ Wir könnten nun alle Missverständnisse der letzten drei Stunden vergessen! Dann würde ich überlegen, ob Du mehr der Zitronengras- oder Ingwertyp bist. Wie auch immer, Kokosmilch müssen beide Typen ertragen.

Evachen! Ich möchte so gern morgen zu Dir kommen und Dich in die Arme nehmen!

Dein etwas verunsicherter, neuro-formalistisch-ero-konservativer

Max

 

 

31. März – 00:48 Uhr

Caro Gemello,

ich habe nicht alles verstanden, was Du mir sagen wolltest, und habe das Gefühl, dass das nicht unbedingt an mir liegt. Aber das ist nicht so schlimm. Wichtiger ist mir, dass Du mich morgen wieder in die Arme schließen willst. Und Kokosmilch liebe ich! Ich denke, ich bin der Zitronengrastyp. Wann kommst Du morgen?

Kuss Eva

 

 

31.März – 10:04 Uhr

Liebes Evachen,

Zwillinge sollen ja häufig dunkel und verschwommen denken oder schreiben. Das weiß ich seit gestern. Ich denke, ich werde den ganzen Krempel (Töpfe, Teller, Servietten und Siebe) schon mit dem LKW, den ich für den Abtransport der Bücher mieten werde, vorbeibringen. Wenn meine Planung realistisch ist, müsste ich dann zwischen 16 und 17 Uhr vorbeikommen. Danach gebe ich das Auto ab und komme dann zu Dir. Ich bin neugierig, ob ich nach dem Schleppen von 80 Bücherkisten noch gehen oder stehen kann. Ich freue mich auf Dich!

Dein Verbal (Du weißt schon wer!)

 

 

31. März – 13:25 Uhr

Caro Cavaliere,

also Teller, Servietten und ein Sieb habe ich. Sie sollen nicht immer so übertreiben, Amore!

Nach unserem »Versöhnungsmail« bekam ich eine Grippe, Schnupfen, Kopfweh etc. Hoffentlich stecke ich Dich nicht an, obwohl das eigentlich gerecht wäre, denn Du bist an allem schuld!

Madonna, 80 Kisten mit Büchern schleppen! Pass auf Dich auf und bitte jage nicht durch die Gegend. Wir können auch gerne um Mitternacht dinieren, das macht gar nichts.

Liebe Grüße

Eva

 

 

1. April – 18:39 Uhr

Carissima,

normalerweise bin ich gerissen, heute aber hin- und hergerissen. Einerseits ist – nach dieser wunderbaren Nacht – mein Kopf leer und mir fällt nichts Witziges, Geistreiches ein. Andererseits bin ich ganz tief im Herzen übervoll und seeehr glücklich! Nicht ekstatisch, sondern, ich weiß auch nicht so genau, wie ich es ausdrücken soll. Ich bin eben doch kein ›Homme de lettres‹.

Ich weiß im Moment nur, dass ich Dir immer sehr nahe sein und Dir auch in der Form eine Stütze sein möchte, wie Du sie von einigen Deiner, mit viel Liebe und Empathie beschriebenen Lebensbegleitern erfahren hast. Aber ein ganz klein bisschen Sex sollte auch dabei sein. Und wenn Du mich mal fragen solltest: ›Caro Cavaliere, können Sie bitte etwas öfter kommen und über Nacht bleiben‹, dann würde ich mich sehr freuen.

Du merkst, dass Dein Einfaltspinsel um Fassung und auch damit ringt, wie er seine Gefühle verarbeiten und ausdrücken soll. Wenn ich einmal groß und erwachsen bin, werde ich die richtigen Worte finden!

Dein Verbindungsschläger

 

 

1. April – 19:43 Uhr

Carissimo Cavaliere, Du liebes Wesen.

Komme gerade aus dem Schlosspark zurück, wurde erwischt, weil Claudio ohne Leine lief, 25 zum 2. Mal innerhalb von 14 Tagen!!! Jetzt liegt er unterm Sofa und schämt sich.

 

Es war wunderschön mit Dir in der Küche wie in Deinen Armen, und ich denke darüber nach, was zwei so unterschiedliche Menschen so schnell in eine so gelöste Nähe bringt. Dabei entdecke ich aber auch Gemeinsamkeiten und freue mich darüber. Jedenfalls bist Du kein Formalist und auch nicht konventionell. Heute liebe ich meinen stockkonservativen Schirmträger!

Mein Liebling, wir wissen noch so wenig voneinander. Hier mal etwas aus meiner Autobiografie (Kindheit):

 

Seit meinem zweiten Lebensjahr war Singen meine Lieblingsbeschäftigung. Wo immer ich mich befand, ich sang. Meine Mutter hörte mich bereits von Weitem nach Hause kommen, und auf meinem Schulweg, der durch die Wilhelmstraße führte, kamen oft die Geschäftsleute, wenn sie mich singen hörten, aus ihren Läden heraus und riefen: »Ach, da kommt wieder unsere Sängerin.« Singen war meine ursprüngliche Äußerungsform, und das liebte ganz besonders meine Großmutter, die selbst eine wunderschöne Altstimme besaß.

Sie sang am liebsten Operettenarien, und ihr »Schenkt man sich Rosen in Tirol« oder »Höre ich Zigeunergeigen« konnte ich nicht oft genug hören. Ich sang auch später in der Schule, ja, sogar während des Unterrichts. Immer dann, wenn mich die Schulstunde langweilte, summte ich vor mich hin, und es dauerte nicht lange, dann sang ich mein Lied selbstvergessen, laut und deutlich. Meist wurde ich wegen dieses Vergehens in die Ecke geschickt und benötigte dort meine ganze Konzentration, um die Langeweile nicht wieder mit einem neuen schönen Lied zu vertreiben.

Meine Großmutter litt sehr darunter, dass sie als Kriegswitwe nun ein armseliges Dasein führen musste. Ihr Mann war kurz nach seiner Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg an seinen Verletzungen gestorben. Ohne Ehemann gab es kein gesellschaftliches Leben mehr und nun, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren Hunger und Überlebenskunst die ständigen Begleiter. Sie liebte meinen Bruder und mich, doch mir als Nesthäkchen und Sängerin galt ihre ganz besondere Zuwendung.

Wir lebten mehr als einfach, aber Oma achtete darauf, dass wir alle Regeln der ›Etikette‹ erlernten, damit wir im späteren Leben uns überall gesittet und wohlerzogen bewegen konnten. Sie achtete auf eine gewählte Sprache und auf Höflichkeit. Unvergessen sind ihre Anweisungen zu den Tischmanieren, auf die sie allergrößten Wert legte.

Ab meinem siebten Lebensjahr unterrichtete mich Großmutter einmal im Monat, wenn sie ›zur Tafel‹ bat. Sie schmückte den ausgezogenen Esszimmertisch mit einem Tafeltuch und deckte nach allen Regeln der Kunst ein. Rechts von den Tellern lagen die kristallenen Besteckbänkchen, drei verschiedene Gläser waren mindestens aufgestellt, und vor dem leeren Porzellan begann nun das, was ich das ›Geisteressen‹ nannte.

Großmutter: »Als Vorspeise haben wir heute Champignons à la Crème. Welchen Wein offerieren wir dazu, Kind?« Oder: »Der erste Gang ist eine Fenchelsuppe, garniert mit saurer Sahne. Der zweite Gang gespickter Rehrücken, pommes soufflées mit Rotkraut und kleinen geschälten Apfelstückchen. Und was trinken wir hierzu? Selbstverständlich einen Bordeaux. Zu Wild wird immer Rotwein gereicht.«

Wir hoben elegant die Gläser und nickten uns vor dem ersten Leerschluck freundlich zu. Ich musste gerade sitzen, mir mit der Serviette den Mund abtupfen, die imaginären Tischnachbarn anlächeln und die Zubereitung der Speisen loben. Das gefiel mir sehr, und es störte mich nicht im Geringsten, dass alle Teller leer waren. Alle Speisennamen waren mir damals nichts weiter als besonders klangvolle Worte. Süße, fremde Phonetik!

Welche Überraschung war es, als ich zum ersten Mal wirklich Kroketten sah und aß! Sie krachten viel weniger, als ich dachte! Wie verblüfft war ich über die ›Forelle blau‹ und den marinierten Lachs! Noch heute begegnen mir Speisen, die ich nur vom Namen her durch meine Großmutter kenne. Dann nehme ich mein Weinglas und proste ihr ganz wohlerzogen zu.

Apropos Essen: Meine Mutter erzählte, dass mir Großmutter in den Nachkriegsjahren jeden Bissen zusteckte und behauptete, gar keinen Hunger zu haben. Während ich wohlgenährt und dick auf ihrem Arm saß, wog sie noch 45 Kilo.

 

Also, lieber Cavaliere, hier wird vollkommen klar, warum ich nicht kochen lernte. Die Realität hatte nie die gleiche Wirkung wie die bunten Blumen der Fantasie. Aber das wird ja jetzt mit Dir ganz anders.

Ich umarme Dich!

Eva

 

 

1. April – 21:41 Uhr

Evachen,

Du verwöhnst mich nicht nur im Bett, sondern schon mit der Anrede! Ich fühle mich nicht als liebes Wesen. Ich freue mich aber natürlich, wenn ich es für Dich bin.

Die Beschreibung Deiner Großmutter ist nicht nur sehr liebevoll, sondern auch amüsant und unterhaltend. Wenn Deine gesamte Autobiografie diese Empathie zu Menschen atmen sollte, wird sie Dir sicher aus der Hand gerissen.

Ich denke im Moment sehr über unseren Raucherentwöhnungstrip in Mecklenburg nach. Was hältst Du von 10 -14 Tagen Ende April bis Anfang Mai? Wir mieten uns eine Ferienwohnung oder ein Häuschen in idyllischer Lage. Ich bekoche Dich täglich, erziehe Claudio in einer Form, dass selbst Deine Großmutter ihn zu Tisch bitten würde, und mache Dir den Hof. Du revanchierst Dich, indem Du mich nachsichtig und verständnisvoll in die göttliche Musik einführst und nach dem Essen die vielen Teller und Töpfe saubermachst.

Immer wenn wir ein Japp auf Nikotin haben, gehen wir ins Bett! In der jappfreien Zeit sehen wir uns Klöster, Kirchen und die schöne Landschaft an oder machen Spaziergänge im Wald, Rad- oder kleine Rudertouren. Was denkst Du über meinen Vorschlag? Wir dürfen uns mit unserer Nikotinsucht nicht zerstören! Wir könnten bei guter Gesundheit und Vitalität nicht nur für uns selbst Lebensqualität gewinnen, sondern auch vielen Menschen Freude bereiten und Hilfe bieten. Haben wir bei den Anlagen, die uns in die Wiege gelegt wurden, nicht auch die Pflicht, an andere zu denken? Evachen, ich liebe Dich!

Dein Carissimo

 

SO: NACH ALL DIESEN BESSERWISSERISCHEN BEMERKUNGEN MACHE ICH MICH NUN ZUM NÄCHSTEN ZIGARETTENAUTOMATEN AUF DEN WEG!

 

 

2. April – 01:50 Uhr

Amore,

ich fände es besser, wenn Du mit dem Lieben noch etwas warten würdest, denn was passiert, wenn wir uns nach drei Tagen im tiefen Mecklenburger Wald nicht mehr vertragen? Ich bin immer etwas skeptisch in Liebesangelegenheiten! Dafür kann ich – laut meiner Sternenkonstellation – aber nichts. Dann kommt auch noch die Erfahrung dazu, dass zu viel Nähe mit einem Menschen, den man noch nicht lange kennt, leicht zu Entfernung führen kann. Und das möchte ich ganz und gar nicht.

Da Du mir gesagt hast, dass Du noch nie eine Frau so geliebt hast wie mich, frage ich mich, was da jetzt anders ist. Hast Du immer eine Mauer um Dich gebaut? Oder hattest Du Angst vor Verlust der Kontrolle? Oder wolltest Du immer der Stärkere und Klügere, der Überlegenere sein? So wie bei Deiner Frau? – Oder ließ Dich weibliche Hingabe, vielleicht Weiblichkeit überhaupt kalt in Deinem Männerclub? Du wirkst oft so kühl, so sachlich, so wenig über Deine Gefühle reflektierend. Wenn Du aus Deinem Leben, von Deiner Ehe erzählst, klingt das so emotionslos, distanziert, obwohl Du ja immer mit Achtung über Deine Exfrau berichtest. Warum fällt es Dir nur so schwer, frei über Deine Gefühle zu reden?

 

Du bist sehr männlich sozialisiert, ich bin durch viele Jahre der Frauenbewegung klüger (wer weiß?), den Männern gegenüber kritischer und auf jeden Fall autonomer und selbstsicherer geworden. Du wirkst manchmal auf mich wie ein Patriarch – ich aber war und bin noch immer eine Rebellin und habe genug von der Männergesellschaft. Ach, Max, hoffentlich geht das gut mit uns! Um ehrlich zu sein: Ich wünsche es mir. Wie aber soll das klappen?

Ich fühle neben Deiner Klugheit auch Dein fürsorgliches Wesen, also nicht nur Deinen Geist etc., Kochen ist die weibliche Seite in Dir, auch wenn Du das anders sehen solltest. Ich spüre auch, dass Du sehr stark bist, fühle Deinen Willen, Mut und Deine Entschlusskraft … Ja, da sind sie schon wieder, die ›männlichen Eigenschaften‹. Obwohl – das ist ja alles nur Klischee und Schublade. – Also vergessen wir es wieder.

 

Ich habe mich auch in Dich verliebt. Aber ich weiß, dass unsere Interessen, unsere Lebensgestaltung, Wahrnehmung von Welt und Kunst weit voneinander entfernt liegen. Aber vielleicht gelingt es uns, doch zusammenzufinden. Was wir beide an Interessen nicht teilen können, können wir bei anderen Menschen, mit Freunden und Kollegen finden. Allerdings muss ich sagen, dass in meinen vorherigen Beziehungen die Interessen immer übereinstimmten, sodass mir die von mir soeben entworfene Theorie eigentlich neu und fremd ist. Aber ich habe das Gefühl, dass Du ein wunderbarer Liebhaber werden könntest. Und habe Sehnsucht nach Dir. Wenn ich mich verliebe, taucht immer Skepsis in mir auf. Schrecklich! Ob das noch von meiner ersten großen Liebe bzw. Enttäuschung durch Markus herkommt? Ich weiß es nicht. Ist es ein Defekt oder eine Stärke? Oder meine Rettung? Vielleicht versteht man sich selbst ein ganzes Leben lang nicht.

 

»Ich weiß im Moment nur, dass ich Dir immer sehr nahe sein und Dir auch eine Stütze sein möchte.« Das möchte ich auch Dir sein.

Die allerzärtlichsten Küsse hinter Dein rechtes Ohr.

Deine Eva

 

 

2. April – 10:43 Uhr

Du Nachteule,

lass uns nicht lang und breit über Liebe diskutieren. Anders als im Griechischen können in unserer Sprache Gefühle leider nicht differenziert formuliert werden, da wir weder zwischen agape, eros, phili oder stoika begrifflich unterscheiden.

Zumindest habe ich das jetzige Gefühl noch nie erlebt, es ist auch nicht mit der testosteronlastigen Emphase der Jugend- und Studentenzeit vergleichbar. Mit mir kann man kaum streiten. Es gibt aber einen Punkt, bei dem ich ungemütlich und wohl auch unerträglich werde. Ich will es nicht abstrakt erklären, sondern an einem Beispiel.

Verachen, meine frühere Freundin hatte mal von ihren Abtreibungen gesprochen. Ihre 68er Sprüche wie: ›Mein Bauch gehört mir‹ und ›Man muss sich doch selbst verwirklichen‹ haben mich abgestoßen! Ich habe mich ereifert, nicht weil ich im Embryo schon göttliches Leben sehe, sondern weil Verachen zwar menschen- und tierlieb, auch fürsorglich, aber dennoch nur eine Konsumentin ist, die sich von einem Kind nicht einschränken lassen will. Kleidung, Reisen, Haus, Garten und Sex sind eben wichtiger. So wie der typische 68er: Audi A 4 bis A 6 (BMW und Mercedes sind zu bürgerlich), Haus in der Toskana, promisk und Steuerhinterziehung, da man den Staat verachtet. Ich weiß, ich vereinfache.

 

Warum war ich gestern nicht verärgert, als Du von Deiner Abtreibung sprachst? Weil Du Verantwortung übernimmst und anderen etwas gibst, durch Deine berufliche Tätigkeit im Großen und durch Deine liebevolle Fürsorglichkeit im Kleinen. Kein Mensch kann allen Anforderungen zugleich gerecht werden. Kinder kriegen und aufziehen, berufliche Erfüllung und Erfolg finden, liebenswerte, aber gescheiterte Künstler unterstützen und ihnen bis zum Tode zur Seite stehen etc. Genauso wie eine Mutter Verantwortung übernimmt und einen Teil ihres Lebens und ihrer Kraft den Kindern schenkt, also eine soziale Aufgabe erfüllt, genauso ist Dein Leben und Denken (auch) von Güte und Verantwortung für andere getragen.

 

Wenn nicht die absolute Mehrheit einer Gesellschaft Verantwortung übernimmt und von Mitgefühl (auch gegenüber ehemaligen Bettgenossen/-genossinnen) bestimmt ist, ist ein Gemeinwesen krank, kalt, egoistisch und dem Untergang geweiht.

Mein liebes Evachen: Ich weiß nicht, ob ich intelligent und gütig bin. Auch nicht, ob ich verantwortungsvoll (sowieso nicht immer, aber mehrheitlich würde mir schon reichen) gelebt habe. Aber ich weiß, dass ich gütig sein möchte und dann, wenn ich gefordert werde, auch für andere da sein will. Ich habe ein wunderschönes, erfülltes Leben geführt und möchte auch gern andere daran teilhaben lassen.

Dies war mein Wort zum Sonntag! Du weißt nun etwas genauer, was mich leitet, prägt und Bedeutung für mich hat.

Dein alter Verbindungschläger

 

PS: Verantwortung hin oder her: Ein guter Liebhaber wäre ich sehr gern! Es macht mir so wahnsinnig viel Spaß, mit Dir im Bett zu kuscheln. Zu unseren Unterschieden: Ich denke, dass genau die das Feuer zwischen uns entflammt haben.

 

 

2. April – 13:59 Uhr

Lieber Max,

»Lass uns nicht lang und breit über Liebe diskutieren« schreibst Du, obwohl Du doch merken konntest, dass das gestern Nacht ein großes Bedürfnis von mir war. Du lehntest das ab, ich hatte es zu akzeptieren – basta. Dabei ist das das wichtigste Thema überhaupt!

Mein Kopf brummt, die Nase läuft usw., deshalb werde ich Dir zu Deiner letzten Mail erst antworten, wenn ich wieder besser drauf bin. Bis dahin schicke ich Dir einen Teil meiner Aufzeichnungen, die mit Verantwortung und Abtreibung zu tun haben:

 

Markus, meine große Jugendliebe, lernte ich mit 18 Jahren kennen. Bei mir war es der berühmte ›Coup de foudre‹, und von dieser Liebe konnte mich in den folgenden vier Jahren nichts abhalten, obwohl sie mir viel Schmerz und Trauer zufügte.

Wir waren uns beide die ersten Geliebten. Während mir diese Schönheit etwas Einziges, nur uns Gehörendes, ja fast Heiliges war, war Markus der Meinung, dass ein Mann nicht nur eine Erfahrung haben könne. Bereits nach einem Jahr begann er seine ›Erfahrungen‹ zu erweitern, und ich litt schrecklich darunter.

Ich wollte mich nach jedem Betrug trennen, doch dann kämpfte er wieder neu um mich und schwur Treue, denn er wollte mich keinesfalls verlieren.

Er liebte meine Buntheit und mein spontanes Wesen, meinte aber stets, genau deshalb sei ich keine Frau zum Heiraten. Ich aber wollte für immer bei ihm bleiben, alles mit ihm teilen, seine Karriere unterstützen und alles dafür tun, dass er ein angesehener Philosophieprofessor werden würde, denn das war sein Ziel. Die bürgerlichen Lebensvorstellungen hatten mich damals noch fest im Griff.

Ebenso ihn. So ausgeprägt sein gesellschaftskritisches Denken war, so konservativ war dennoch seine Vorstellung von der Frau, die eine zum Heiraten war. Später wurde er ein radikaler Achtundsechziger.

Was ist Zeit?

Wenn ich heute in Heidelberg durch die Hauptstraße gehe und zum Fenster im ersten Stock dieses Altbaus hinaufsehe, liege ich gleichzeitig in Markus’ Armen, lese ihm meine neuen Gedichte vor, berichte ihm von meiner letzten Klavierstunde, erkläre ihm den Quintenzirkel, folge seinen Ausführungen über Heideggers ›Sein und Zeit‹ und genieße die vertraute Enge dieses unglaublich kleinen Zimmers. Ich sehe seine wunderschönen Hände, seinen trotzigen Mund, seinen begierdevollen, jungen Körper und gebe mich seinen Liebkosungen hin.

 

Dann ist da Blut. – Ich liege auf seinem Bett, krümme mich vor Schmerzen. Er verspricht mir, dass – falls ich noch einmal schwanger werden würde – er mich dann bestimmt heiraten werde, aber jetzt ginge das einfach nicht. Wir müssten erst unser Studium beenden und Geld verdienen. Damals gab es die Pille noch nicht und Abtreibung wurde mit Gefängnis bestraft.

Ein gütiger Freund, ein alter polnischer Arzt, der in einer Klinik bei den Amerikanern arbeitete und, wie wir, gerne Gast im ›Filmcafé‹ war, half mir und vielen anderen jungen Frauen in dieser verzweifelten Lage mit Spritzen, die das gerade befruchtete Ei zur Ausscheidung führten.

Ein uneheliches Kind war auch damals noch eine Schande. Nicht nur für Markus’ Familie, auch mein Vater hatte mir oft zu verstehen gegeben: Mit einem unehelichen Kind kommst Du mir nicht nach Hause! Und ich wollte kein Kind von einem Mann, der mein Kind nicht akzeptierte. Deshalb hatte ich mich zu der Abtreibung entschlossen.

Die Moral der frühen Sechziger war doppelbödig, klein und verlogen. Abtreibung war verboten, aber sie fand täglich statt, was weithin bekannt war. Alle meine Kommilitoninnen hatten eine Adresse für den sogenannten Notfall.

Auch wenn ich damals noch nicht die Kraft hatte, mich von Markus zu trennen, nach diesem Bruch in unserer Beziehung wollte ich vor allem eines: Meine Selbstständigkeit wiedergewinnen. Und von nun ab verminderte sich die Macht, die er bis dahin über mich gehabt hatte.

 

Mein Lieber, keine Frau treibt aus Leichtfertigkeit ab. Diese Entscheidung ist immer ein schwerer Schritt und meist eine Reaktion auf unverantwortliches Verhalten vonseiten der Männer.

Umarmung

Deine Eva

2. April – 14:51 Uhr

Mein liebes Evachen,

die Schilderung Deiner Heidelberger Zeit hat mich sehr ergriffen. Es ist zwar schon so lange her, aber ich litt bei jedem Satz mit. Wir Männer sind uns eben nicht bewusst, welche Verantwortung wir übernehmen müssen, wenn wir eine Liebesbeziehung eingehen. Ich habe als Student auch ›rumgemacht‹, aber als meine Freundin schwanger war, habe ich sie geheiratet. Abtreiben war und ist für mich undenkbar.

Ich kann meine Gefühle für Dich noch nicht richtig einordnen und schon gar nicht in Worte fassen. Wenn Du aber darüber sprechen und schreiben willst, dann gern. Ich bin da etwas hilflos. Von wegen stark und selbstbewusst! Auch wenn ich Dir oft so unterkühlt vorkomme, ich bin es nicht.

Vor ein paar Jahren, bei der Hochzeit meiner ältesten Tochter, war ich mal so richtig glücklich, weil meine anderen drei Kinder mehrere, sehr witzige Sketche aufführten. Die Gäste bogen sich vor Lachen. Ich war stolz auf die Kinder, vor allem aber glücklich, weil die Jüngeren alles taten, um ihrer Schwester ein schönes, unvergessliches Fest zu bereiten. Diese Harmonie und Liebe unter den Kindern hat mich überwältigt. Aber trotz dieser großen Freude, war ich äußerlich ganz still und ruhig. Also: Keine Gefühle zu zeigen oder nur sehr dezent, heißt nicht, keine zu haben!

 

Ich hoffe, Du hast mit meinem Sermon über Abtreibung verstanden, dass ich nicht über junge Mädchen in fast hoffnungsloser Lage sprach, sondern nur meinen Kommentar über die lust-, sex- und konsumbesessenen 68er abgab. Dieser Schuh passt Dir nicht, also ziehe ihn Dir bitte auch nicht an.

 

Ich träume dauernd von Mecklenburg! Unsinn! Natürlich von Dir und von unserer gemeinsamen Zeit dort. Aber ich habe einen Denkfehler gemacht, als ich sagte, immer wenn wir einen Nikotinjapp haben, gehen wir ins Bett. Und was ist, wenn wir unsere Sucht überwunden haben? Irgendwas habe ich falsch gedacht. Weißt Du denn die Lösung? Küsschen überallhin. Wenn Du eine Freundin von Spargel bist, könnte ich Dir heute Abend ein kleines Essen bereiten, damit Du nicht ganz vom Fleische fällst.

Deine alte Schublade

 

 

2. April – 16:28 Uhr

Lieber Max,

ich glaube, es wäre gar nicht so schlecht, wenn ich etwas vom Fleische fiele. So fünf Kilo könnten es durchaus sein.

Wann also wirst Du kommen?

Mein Bruder war auch allergisch gegen die 68er. Blankes Entsetzen, als Fischer und Schröder an die Macht kamen! Ich glaube, sein Weltbild erlitt einen Riesenschock. Einige Deiner Sätze könnten auch aus seinem Munde stammen. 68er-Sprüche sind ihm ein großes Reizmittel. ›Mein Bauch gehört mir‹ oder ›Man muss sich selbst verwirklichen‹ zitiert er mit Abscheu in Zusammenhang damit, dass Verantwortung für Gemeinschaft höher stehe. Das aber sind für mich nur Sprüche! Die edlen Ansprüche, die so vielen unserer Politiker so leicht von den Lippen fließen kann ich kaum ertragen, zumal sie sich mit der, von Dir zitierten Steuerhinterziehung bestens auskennen. Oder liest Du keine Zeitung? Jede Revolution kreiert Parolen. Das müsstest Du, in Geschichte so bewandert, besser wissen als ich. Sonst ist der Mehrzahl der Menschen ja nicht klar, worum es geht! Mir ist wichtig, welches Anliegen hinter diesen Parolen steht.

Die 68er waren mutig und wild, leidenschaftlich, entlarvend, ehrlich und zukunftsweisend. Dass sie fast alle heute so leben, wie sie es damals verurteilten, ist vielleicht zu verstehen, da fast alle Menschen ab einem gewissen Alter von Sicherheitsdenken geprägt sind und Angst vor Freiheit und vorm Altwerden haben. Der Mensch an sich ist eben schwach. Die betriebsbedienende Masse scheut sowohl Aufklärung wie Veränderung. Das ist schrecklich traurig und wunderbare Menschen sind an dieser Starre gescheitert. (Galilei, Giordano Bruno, Jeanne d’Arc, die ganzen Heiligen, Trotzki und Tolstoi, Rosa Luxemburg u. v. a.). Das Rebellentum ist nun 40 Jahre her, und die heutige Gegenbewegung, das ganze Angepasstsein und die Konsumgläubigkeit mit Sprüchen wie ›Geiz ist geil‹, die stets beschworene ›Lebensqualität‹ oder der Anspruch auf ›guten Service‹ sind mir zuwider. Ebenso das neue, so innig vorgetragene Sicherheitsdenken und die Jagd nach dem ›schnellen Geld‹.

 

Eigentlich bin ich gar keine 68erin, sondern eher eine Anarchistin. Dennoch bin ich von dieser Zeit geprägt. Mein Ex-Mann und Heinrich hatten damals sehr großen Einfluss auf mich. Grenzen akzeptiere ich nur dann, wenn ich einen Sinn in ihnen sehe. Nicht per se, nicht weil man das eben so tut. Auch bin ich keine Freundin von Ideologien. Von gar keiner. Auch die Religionen mit ihren Richtlinien, Dogmen, Zeigefingern können mich nicht unkritisch machen, schließlich wurde ich acht Jahre in einer Klosterschule unterrichtet. Ich hinterfrage alles und glaube niemandem. Lieber überzeuge ich mich selbst. Das geht sogar so weit, dass ich Dir natürlich nicht glaubte, dass Mecklenburg nördlich von Berlin liegt. Ich musste das sofort nach unserem Telefonat im Atlas überprüfen! (Um mal wieder ein Scherzlein zu machen!)

 

Zu Deiner Frage: »Was ist, wenn wir unsere Nikotinsucht überwunden haben?« Das ist ja das Schreckliche. Es ist wie bei den trockenen Alkoholikern. Ob Dich das irgendwie beruhigen kann?

Sei umarmt

Deine Eva

 

 

2. April – 17:27 Uhr

Mein liebes Evachen,

wie schon oft wurde ich missverstanden. – Die 68er Zeit, die geistige Entwicklung und vieles, was bewegt wurde, bewerte ich absolut positiv.

Deine Kritik an Politikern teile ich nicht. Es ist kein angenehmer, sondern ein sehr harter Job! Erst viele Jahre Klinkenputzen, dann bei Erfolg 18 Stunden Präsenz, kein Privatleben, jedes Wort auf die Goldwaage legen, damit es einem nicht im Munde umgedreht wird, sich mit Wichtigtuern auf Lokal- und Kreisebene gut stellen etc.

Jede Einsicht und Erkenntnis, die sie haben (Politiker sind nicht blöder als wir, wohl eher andersherum), wird von Lobbyisten verwässert. Ich habe an Beratungen zum Arzneimittelgesetz teilgenommen. Ich weiß also, wie aus einem guten Konzept der Politiker langsam Mist wurde, weil die Pharmaindustrie gegen den Gesetzesentwurf der Regierung war und auf allen Ebenen Druck machte. Dies ist in einer Demokratie leider bei fast allen Gesetzen so.

Die Führungselite der frühen 68er habe ich teilweise bewundert, und mancher theoretische Hintergrund wurde auch von mir geteilt: Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, das Aufbrechen der verknöcherten Strukturen in den Hochschulen und der Justiz, die Forderung nach Gleichberechtigung der Frauen u. a. m. sind alles positive Entwicklungen.

Mit Deinem Bruder habe ich da nichts gemein!

Was mir damals zuwider war, war der dogmatische Ansatz, die intolerante Rhetorik unter den Studenten. Wer wie ich an den nächtelangen Sit-ins und anderen Versammlungen teilnahm, der weiß, wovon ich rede und hat erlebt, wie Andersdenkende niedergeschrien, moralisch fertiggemacht wurden. In den Unis herrschte schlimmster Meinungsterror!

Heute gehen mir die Alt-68er auf den Geist. Es ist ein Trauerspiel, wohin die – ursprünglich idealistische – Bewegung abdriftete. Was ist aus den damaligen Vorkämpfern geworden? Entweder sie sind rechts außen, hinterziehen Steuern oder schließen von der Kleidung auf die Geisteshaltung.

Auch heute wird noch von Freud, Adorno und der Frankfurter Schule geredet. Schon Lorenz, immerhin ein Zeitgenosse, passte nicht ins Weltbild der 68er. Und alle neueren Erkenntnisse zur Genetik, Anthropologie, Soziobiologie und zum Determinismus gehen doch – im günstigsten Fall – ins eine Ohr rein und beim anderen raus. Aber vielleicht ist das immer so. Jugendliche Revolutionäre bilden, wenn sie alt sind, die neue Schicht der Ewig-Gestrigen.

 

Wenn Leute, die immer konservativ oder reaktionär waren oder diejenigen, für die die bürgerliche Erwerbsgesellschaft immer das höchste Gut war, Steuern hinterziehen oder sich Villen anschaffen, dann bin ich nicht enttäuscht, weil es von diesen nicht anders zu erwarten war. Wenn aber ›Idealisten‹ plötzlich auch ihr Fähnchen nach dem Wind ausrichten und kleinbürgerliche Handlungs- und Denkmuster übernehmen, dann enttäuscht mich das sehr. Zumindest dann, wenn sie keine kritische Distanz zu ihren ehemaligen Forderungen einnehmen, und wenn deren späterer Lebensweg weder durch Liebe (agape) zu anderen, noch Güte oder durch ein soziales Gewissen gekennzeichnet ist.

Jeder Mensch kann sich irren, vor allem junge Menschen, die noch wenig wissen und keine Lebenserfahrung haben. Man kann dazulernen und erkennen, dass manches, was man in seinem jugendlichen Überschwang gesagt und gemacht hat, wohl falsch war. Aber man muss zugeben, dass man sich irrte.

Es wäre noch vieles zu sagen. Aber bitte, bitte meine liebe, mutige, wilde, ehrliche und leidenschaftliche Eva, pack mich nicht in die nächste Schublade.

 

Ich liebe Dich! Ist 19.30 Uhr in Ordnung?

Dein reaktionärer Männerbündler

 

 

2. April – 18:38 Uhr

Caro Barone mio,

mich hat irgendein Virus erwischt, d. h. Du triffst keine leidenschaftliche, wilde, wenn auch immer noch mutige und ehrliche Eva an.

 

Die armen Politiker! »Erniedrigendes Klinkenputzen, 18 Stunden Präsenz, kein Privatleben, jedes Wort auf die Goldwaage legen, sich mit Wichtigtuern auf Lokal- und Kreisebene gut stellen etc.«

Wenn sie so intelligent sind, warum tun sie das dann? Warum wollen sie zwanghaft immer höher in der Hierarchie aufsteigen, immer weniger Privatleben haben? Es zwingt sie doch keiner, sich auf Kreisebene gut zu stellen, Phrasen zu dreschen und Bürger mit bewusst verlogenen Wahlversprechen für die Erhaltung ihrer 18 Stunden Präsenz zu gewinnen?

 

Und wie ist es denn hier mit dem Idealismus? Nach den Anfangsjahren, in denen vielleicht bei einigen Idealismus der Motor für die Berufswahl war, bedienen sie sich an ihren Privilegien, hängen ihr Fähnchen nach dem Wind, ihr oft korruptes Handeln muss man wohl nicht hinterfragen? Sieh mal nach Italien: Politik für die eigene Tasche!

›Alle neueren Erkenntnisse zur Genetik, Anthropologie, Soziobiologie und zum Determinismus gehen doch – im günstigsten Fall – ins eine Ohr rein und beim anderen raus.‹

Das ist nun völlig falsch! Die sich heute so progressiv darstellen, besorgt und bedeutungsvoll von der Bedrohung durch den Klimawandel sprechen, sind Trittbrettfahrer, die viel zu spät auf einen längst fahrenden Zug aufgesprungen sind! Es waren die Grünen, die Umwelt-, Friedens-, Menschenrechts-, Dritte-Weltprobleme und die Frauenbewegung Mitte der 70er wieder neu bewusst machten, und in dieser Partei fand man die engagierten Kämpfer aus der 68erbewegung wieder. Die Anti-Atomkraft-Bewegung kam von den Alt-68ern, nicht von den etablierten Parteien, denn nirgends, auch nicht innerhalb der SPD, konnten die Atomkraftgegner nennenswerten Einfluss gewinnen, obwohl der Bau von Atomkraftwerken von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt wurde. Erinnerst Du nicht Brokdorf?

 

›Politik verdirbt den Charakter‹, sagt der Volksmund, nicht die Politiker. Die zitieren das natürlich nicht.

»Wir wollten Bonn verändern, aber Bonn hat uns verändert«, sagte eine ehrliche Petra Kelly. Chapeau! Sie sprach somit auch von sich, von der Erfahrung ihrer Veränderung, die sie beklagte. Sie schloss sich nicht aus. Sie wusste und benannte, dass Macht und Privilegien selbst hochidealistisch engagierte Politiker beeinflussen und verführen.

Deine PDS-Wählerin

 

 

3. April – 11:23 Uhr

Caro Barone mio,

wenn Du heute gegen 17 Uhr vorbeikommen kannst, wirst Du meinen sehr besonderen Freund Heinrich kennenlernen. Ich habe Dir ja schon viel von dieser langen Freundschaft erzählt. Er hat mit meinem Ex-Mann Milan hier in Berlin studiert, beide waren 68er und große Sport- und Musikfreunde. Sie wohnten in einer WG in Kreuzberg zusammen, in der sich eine Etage höher auch Harald Juhnke vorübergehend einquartiert hatte. Natürlich ist Heinrich schon ganz neugierig auf Dich. Wen hat sich Eva da geangelt? Einen Baron? Das allein ist schon verwerflich! Schön wäre es trotzdem, wenn Du was Kleines für uns kochen würdest.

Baci

Deine Eva

 

 

3. April – 14:54 Uhr

Ja mein Herz und Gnädigste -

ich eile. Natürlich freue ich mich, nun diesen oft beschworenen Heinrich etwas besser kennenlernen zu können, und ein Ei werde ich schon noch besorgen können.

Il tuo Barone

 

3. April – 20:41 Uhr

Divinissima Maestra,

Wow!!!

Sag mal, was war denn vorhin mit Deinem Freund los? Wie kann denn ein deutscher Professor mit Pensionsanspruch so primitiv werden und so unbeherrscht ausrasten? Von frustrierten Taxifahrern in Berliner Eckkneipen ist man ja einiges gewohnt, aber von einem Philosophieprofessor? Und alles nur, weil er meine Frage zur Wirkung der Antibabypille auf das Absinken der Geburtenrate falsch beantwortet hat. Es ist doch keine Schande, wenn man sich mit diesen Zusammenhängen nicht beschäftigt hat.

Ich glaube, er war schon vorher geladen. Adlig, schlagender Verbindungsstudent – und dann noch Liebhaber seiner alten Freundin! Dass Dich seine Ausfälle so aufgeregt haben, war liebenswert, aber eigentlich nicht nötig. Ich habe das gar nicht so tragisch gesehen und konnte auch bei dem Unfug nicht laut werden.

Witzig finde ich nur, dass ich meine Alt-68er-Schublade wieder zumachen konnte, denn Heinrich entsprach ihrem Inhalt in vollem Umfang. Vielleicht war meine Polemik von vorgestern doch gar nicht so unbegründet! Jedenfalls hoffe ich, dass Deine anderen Freunde mehr Stil haben.

 

Trotz unserer heißen Nächte und aufregenden Gespräche finde ich langsam wieder in den Lebensrhythmus eines kleinbürgerlichen, zölibatär lebenden Corpsstudenten zurück und war heute Vormittag recht produktiv.

Ich freue mich auf unser Liebesnest in Mecklenburg.

Ich habe eigentlich keine Lust, alleine zu unserem Großfamilientag zu fahren. Ein Wochenende ohne Dich und Deine Gaia ist sicher schlimmer, als fünf Jahre nicht rauchen. Aber warum kommst Du nicht einfach mit? Wenn Du mich so zügig in Deine Mischpoke einführst, solltest Du auch meine dekadente und morbide Familie kennenlernen. Du hast schon Schlimmeres erlebt! Also, was halten Sie davon, Madame adorée?

Mein Leben hat sich so geändert! Alles im Kopf dreht sich nur noch um meine Maestra. Dass mir altem Blaubart noch so etwas passieren kann! Verrückt.

Dein verliebter Koch, der nicht mal mehr Kartoffeln hinkriegt und den Rest anbrennen lässt.

Merken Sie sich: Entweder lassen Sie mich in Zukunft in der Küche allein werkeln, oder Sie müssen nach jedem Besuch zwei neue Töpfe kaufen.

 

 

3. April – 21:54 Uhr

Amore,

schade, dass ich Dich gerade nicht umarmen kann!

Also, Du konntest doch etwas arbeiten? Das freut mich, denn sonst hätte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich Dich vom rechtschaffenen Weg abbringen könnte!

 

Der Abend mit Heinrich liegt mir schwer im Magen! Ich bin fassungslos über sein verletzendes Verhalten – nicht nur Dir, sondern damit ja auch mir gegenüber.

Ich habe nach dem Tod von Vladimir, mit dem ich 17 Jahre meines Lebens teilte, jeden Tag geweint. Ein Jahr lang. Es war auch nicht leicht für mich, alleine in Berlin neu anzufangen. Mit Dir fing ich wieder an zu lachen, und das weiß Heinrich.

Statt sich mit mir zu freuen, dass ich nach der langen Trauerzeit einen neuen Freund gefunden habe, der mich erfreut und umsorgt, zeigt er seine Ablehnung und Missachtung – natürlich nicht zuletzt auch deswegen, weil Du aus dem ihm verhassten Adel kommst. Das Irre dabei ist, dass er selbst mit einer Adligen verheiratet ist!

Na ja, ich habe ihm heute folgendes geschrieben:

›Heinrich, Du kannst nicht mit jedem Deiner Gesprächspartner wie mit Deinen Studenten umgehen. – »Alles Quatsch, was Du redest« – x-mal von Dir wiederholt – das sind verletzende Worte, die den Anderen klein und Dich groß machen sollen. Hast Du das nötig?

Maximilian ist Arzt und Architekt, ist Bioökologe und Geschichte ist sein Hobby. Wenn Du meinst, etwas genauer und besser zu wissen als er, ist das kein Grund für lautstarke Beleidigungen. Lehrerhaft muss es wirklich nicht sein. Und: Maximilian kann genau so wenig dafür, dass er adlig ist, wie Du, dass Dein Bruder den Freimaurern beigetreten ist.‹

Mal sehen, was er antwortet!

 

Heute habe ich endlich und völlig alleine das Homebanking hingekriegt und meine Schulden bezahlt. Ist ja total einfach. Aber das weiß man erst, wenn man es ausprobiert. Es gibt noch andere Bereiche, in denen man das feststellen kann.

Wie wirst Du mich denn in Deinem Familienkreis vorstellen? Als PDS-Wählerin? Oder als Deine neue Domina? Das muss ich vorher unbedingt wissen.

Ich lebe augenblicklich auch nicht normal, d. h. ich habe gar keine Disziplin, falle am Tag in Tiefschlaf und denke an Dich … natürlich immer mit Freude, auch wenn Du meine Kochtöpfe ruinierst.

Ich umarme Dich

Deine Eva

 

3. April – 22:28 Uhr

Liebste Eva,

ruinierte Töpfe kränken mich mehr in meiner Ehre als alle beruflichen Flops. Wenn das mein viel zu früh verstorbener Freund Francois wüsste!

Von ihm habe ich Kochen, ja eigentlich viel mehr gelernt. Er äußerte sich immer, wenn er in Deutschland abends mit Leberwurst und Bierschinken abgefüttert wurde, sehr erstaunt über die deutschen Essgewohnheiten.

Für ihn war Essen hohe Kultur, und er sprach oft davon, dass man bei einem Lebensalter von 80 Jahren ca. zehn Jahre mit Essen verbringen würde. Wichtig sei für die Lebensqualität eben nicht ein herrlich zubereitetes Hochzeitsessen oder ein raffinierter Leichenschmaus, also einmalige Fressereien, sondern die tagtägliche Verfeinerung jedes einzelnen Gerichts.

Du kannst Dir sicher vorstellen, wie er Currywürste und Hamburger kommentierte! Manchmal sagte er mir »Ich kann und werde die Deutschen nie verstehen. Einzigartige Dichter, Philosophen, Komponisten. Im Theater, in der Musik, besonders bei den Orchestern wird auf höchste Qualität geachtet. Bei Maschinen, Autos, überall ist ›Made in Germany‹ ein hochgeachteter Begriff. Im Fußball hingegen fehlt jeder Esprit, jede Eleganz, nur der Erfolg zählt. Und am schlimmsten ist das Essen. Da geht es mit Kartoffelsalat und Würstchen wohl nur ums Überleben. Wie man bei solch einem Fraß ein Volk von Übergewichtigen hinkriegt, ist mir unverständlich«.

 

Es ist fast absurd: Aber ein Franzose führte mich in ›unsere‹ Musik ein. Nur durch ihn bin ich ein begeisterter Wagnerianer geworden. In den 60ern wurde man doch gleich in eine Schublade gepackt, wenn man sagte, man würde die Wagnersche Musik lieben, wobei am lautesten die waren, die ›Tristan‹ nicht von ›Parzival‹ unterscheiden konnten.

Francois promovierte, hoch alkoholabhängig und mit einer total zerstörten Leber im Alter von 48 Jahren über die wechselseitigen Einflüsse zwischen Nietzsche und Freud! Er las beide im Originaltext und fragte mich manchmal, was Freud in diesem oder jenem Absatz aussagen wollte. Das war mir immer schrecklich peinlich, denn häufig musste ich zugeben, dass ich es ihm nicht erklären konnte. Zu hoch für mich!!

Am Tag nach seinem Rigorosum starb er! Die Arbeit wurde mit ›summa cum laude‹ ausgezeichnet. Sein Tod hat mich tief getroffen, denn ich habe ihm sehr viel zu verdanken. Als Francois und ich uns mit 18 kennenlernten, waren wir sofort ein Herz und eine Seele. Mein Lebensweg wäre ohne ihn sicher geradliniger verlaufen. Francois war so vielseitig! In mehreren Sportarten außergewöhnlich. Ein genauso besessener Schach- und Bridgespieler wie ich. Er sagte immer: Die Entscheidung für einen Beruf ist eine Entscheidung gegen viele andere, aufregende Berufe. Ich glaube, mein unruhiger, wirrer Lebensweg ist auch maßgeblich Folge unserer vielen hitzigen und anregenden Diskussionen.

Stell Dir mal vor, Markus hätte Dich geheiratet, und Du hättest erst einen und dann immer mehr Markusse bekommen. Du hättest Kochen gelernt, Kinder erzogen und täglich Betten gemacht. Keine Karriere als Pianistin, keine Frauenbewegung. Wie manchmal der Zufall oder ein Mensch das ganze Leben verändern kann!

Mit keinem Deutschen habe ich mich so gut verstanden, habe ich eine so tiefe Freundschaft erlebt wie mit ihm. – Nur auf einem Gebiet hatten wir unterschiedlichen Geschmack. Bei Mädchen. Ich fand immer die attraktiv, die ihn nicht anzogen, und andersherum. So gab es beim Anbaggern der holden Weiblichkeit keine Rivalität und keinen Streit. Welch ein Glück!

So, und nun verstehst Du hoffentlich, warum ich täglich – auch für mich allein – koche und keinen Fertig- oder Büchsenfraß anrühre.

Dieses Mal war die Mail wohl etwas sehr lang. Aber bei der Erinnerung an Francois geht mir vieles durch den Kopf und durch das Herz.

Dein Barone

 

PS: Hat Heinrich schon geantwortet?

 

 

3. April – 23:21 Uhr

Cavaliere,

schade, dass ich Francois nicht kennenlernen konnte! Mir scheint da eine Parallele zu bestehen: Heinrich hat auch mich sehr geprägt, so wie Dich Francois.

Hier die Antwort von Heinrich:

 

›Liebe Eva,

zu dem Abend mit Deinem Baron: welcher ernsthafte Historiker wird Wikipedia als Beweisquelle zitieren und zusätzlich längst überholte, in Frage gestellte Thesen vertreten! Außerdem muss ich sagen, dass mir die ganze Art der Diskussionsführung Deines neuen Freundes große Zurückhaltung abverlangte. Wie bereits gesagt:

Der Trend zu weniger Kindern begann schon Jahrzehnte vor der Einführung der Pille! Er war bedingt durch die aufkeimenden materiellen Bedürfnisse, durch die neuen Regelungen der Rentenversicherung, also durch gesellschaftliche Wandlungen. Na, Maximilian hat dafür sehr gut gekocht, das Lammfilet war echt großartig. Und das ist schließlich auch viel wert. Dennoch: er sollte sich gründlicher über die Ursachen des sog. „Pillenknicks“ informieren!

Heinrich‹

 

Ach Amore, ich glaube, wir lassen das jetzt alles auf sich beruhen.

Übrigens: Wenn wir die Umgebung Berlins erkunden wollen, können wir Sybilles Auto haben oder auch den Riesenkombi vom Professore.

Kuss Eva

 

 

3. April – 23:35 Uhr

Mein liebes Evalein,

Riesenkombi ist gut. Aber warum müssen wir dann noch die Zeit vertrödeln und in der Gegend herumfahren?

Heinrichs Bemerkungen verstehe ich nicht. Ich habe mehrfach von den Folgen des Geburtenrückgangs der letzten 10 Jahre gesprochen. Diese betrafen ganz Europa (nun, vielleicht nicht Pusemuckel). Hat er ein schlechtes Gedächtnis, dass er sich nicht mehr an das erinnert, was vor wenigen Stunden gesagt wurde, beeinflusst ihn sein Weltbild über Adelige so stark, dass er nicht entspannt zuhören kann?

Um mich mache Dir keine Sorgen! Ich habe ja Dich und auch großen Spaß an geistiger Auseinandersetzung, weil ich dieses Ringen als amüsantes, anregendes Spiel betrachte, selbst wenn Heinrich regelmäßig ausflippen sollte. Dennoch würde ich es vorziehen, ein harmonisches, freundschaftliches Verhältnis zu ihm aufzubauen, da er Dein bester Freund ist.

Wir reden und schreiben jetzt nicht mehr über ihn. Aber eine Bitte habe ich: Sollte er noch mal ausfallend werden, dann lass mich die Sache allein ausfechten. Ich fühle mich in diesem Moment mit Deiner Protektion nicht wohl. Es wirkt so, als könne ich nicht für mich allein sorgen.

 

Ich freute mich, als Du mir am Telefon so begeistert ins Ohr jubeltest, dass Du Dich jetzt doch mit der Idee einen Bauernhof in Brandenburg zu erwerben, so intensiv beschäftigst! Aber was suchst Du? Ein Liebesnest?

Du sprichst mir aus dem Herzen, und es wäre wunderschön! Aber, bei allen Angeboten, die kleine Grundstücke ausweisen, hast Du einen Deiner kleinkarierten PDS-Parteifreunde gleich nebenan. Ich weiß, ganz tief im Herzen wünschst Du Dir solche Nachbarn! Aber die tolerieren nicht das Bellen von Claudio oder den wunderschönen Klang Deines Flügels, denn sonst würden sie ja nicht Deine Partei wählen!

Das letzte Angebot, das Du mir geschickt hast, war ein Mittelhaus! Rechts lebt noch der ehemalige Brigadeleiter für das motorisierte Personal der LPG und links der abgebrochene Parteihochschulaspirantenanwärtergehilfe. So is et in Brandenburch!

Aber: Ich komme auch mit einem Haus ohne Seeblick, mit PDS-Nachbarn und Grundfläche von vier qm (Doppelbett) klar (na ja, Kochecke sollte schon sein), solange Du dich, liebste Eva, in dem Doppelbett wohl fühlst (Kochecke brauchst Du nicht zu betreten!). Wenn ich in Ruhe über alles nachdenke: Eine fünf qm Datscha (ohne alles) würde genau dem entsprechen, was ich mir als Altersruhesitz mit Dir erträume.

 

Mon Dieu: Warum bist Du nicht hier? Eva, Du bist ein Traum! Schau doch mal etwas genauer in mein Horoskop. Da steht doch bestimmt: Traum nach 64 Jahren und 274 Tagen erfüllt! Die Sterne lügen doch nicht! Jetzt gehe ich mit Gedanken an Dich und unsere wunderbare Zukunft ins Bett.

Dein Max

 

PS: Gestern sahst Du glatt 20 Jahre jünger aus, und Deine Augen haben noch schöner gestrahlt. In Zukunft lässt Du Fotografen nur noch in meiner Anwesenheit zu.

Ich liebe Dich!

4. April – 00:53 Uhr

Geliebter,

Ja, lassen wir das mit Heinrich. Abgesehen von den Aggressionen gegen Dich, bin ich enttäuscht von seinem Verhalten mir gegenüber. Seit ich in Berlin wohne, das sind immerhin schon vier Monate, fragte er noch kein einziges Mal, ob er mir in irgendetwas behilflich sein könne. Er kommt nur vorbei, um einen Wein mit mir zu trinken und von seiner Geliebten zu sprechen. Ich dachte, Freunde helfen sich. Er kennt alles in Berlin, lebt seit Jahrzehnten hier, hat ein Auto … Wenn ich Sybille nicht hätte, wäre ich in der Anfangszeit hier ganz schön hilflos gewesen. Ob unsere Freundschaft so bleiben wird, wie sie war, als wir noch in zwei verschiedenen Städten lebten? Es wird sich zeigen.

 

Gibt es eigentlich jemanden, dem Du schon von mir erzählt hast? Ich habe ja bereits halb Berlin von Dir berichtet, wie Du weißt.

Deine Eva

 

 

4. April – 01:09 Uhr

Bisher noch niemanden. Aber praktisch veranlagt, wie ich nun mal bin, gebe ich zum Wochenende mal eine Anzeige auf, damit ganz Berlin von uns weiß! Frage beantwortet?

Eva mia, Du raubst mir nicht nur den Schlaf! Was ist nur mit meinem Bauch los? Früher war er nur für die Verdauung und den langsam wachsenden Fettansatz zuständig. Schmetterlinge fühlen sich anders an.

Das sind sicher Mig-21! Ich lege mich jetzt ins Bett! Warum nur allein?

Dein cameriere

4. April – 01:18 Uhr

Amore,

wenn Du Dich noch einmal beschwerst, dass ich Dir den Schlaf raube, dann verspreche ich Dir, dass Du bis zu Deinem Familientreffen ein geregeltes Leben führen darfst.

Bonne nuit

Eva

 

 

4. April – 09:01 Uhr

Meine Liebste,

ich lasse mir lieber in einem unregelmäßigen Leben den Schlaf rauben als das Leben bei geregeltem Schlaf. Wie geht es Dir? Ist die Grippe nun weg?

Eigentlich war es kein Kompliment, dass Du direkt nach unserem Kennenlernen krank wurdest! Verliebte und alle anderen Verrückten werden doch nicht krank! Dein im Kopf verwirrter, vielleicht auch befreiter

Cavaliere

 

 

4. April – 12:46 Uhr

Ich bin von einem Cavaliere infiziert, das ist mir klar. Glücklicherweise ist er durchaus in der Lage, diesen In- und Affekt zu heilen, sodass ich noch Glück im Unglück habe.

Die Grippe ist hartnäckig – aber ich auch.

Ich freue mich sehr auf Dich.

Deine Eva

 

 

4. April – 12:57 Uhr

Geliebte,

mir ging gerade durch den Kopf, dass Du beim Familientreffen, bei dem auch immer ein gemeinsamer Gottesdienst stattfindet die Orgel spielen könntest! Was sagst Du dazu?

Ich habe nun die Tage vom 22.4. bis zum 5.5. für unseren Nikotinentzugskurs in Mecklenburg gebucht! Ich freue mich schon so drauf! Ein Fünfseelen-Weiler: Kleesten! Ein kleines Häuschen mit Seeblick wird unser Liebesnest sein! Es wird dort jetzt täglich grüner, einige Blumen blühen schon, die Vöglein zwitschern und weit und breit kein Zigarettenautomat!

Ich werde Dich über den See rudern und auch sonst auf Händen tragen! Bis heute Abend! Spätestens nach Mecklenburg wirst Du nie wieder krank! Eva, Eva, Eva, was ist das für ein Leben mit Dir! Küsschen überallhin.

Dein Max

 

 

4. April – 13:56 Uhr

Mein Animus,

Hilfe! Dein Vorschlag, Orgel bei Deinem Familientag zu spielen, verschreckt mich! Das versetzt mich ja in meine Mädchenjahre, meine Klosterzeit!

Du hast sicher meine PDS-Zugehörigkeit bei Deiner Anmeldung verschwiegen! Bitte nachholen, falls ich mich auf der Orgel verspielen sollte, dann verstehen die Gläubigen sofort, warum.

Verschnupfte Küsse von

Deiner Geliebten

 

 

 

4. April – 15:33 Uhr

Meine anissima,

»Das versetzt mich ja in meine Mädchenjahre!«

Genau so habe ich Dich vorgestern Abend gesehen, als Du derart süß gelacht und einen roten Kopf bekommen hast. Ich habe beschlossen (nur dies eine Mal treffe ich eine Entscheidung, ohne Dich zu fragen), dass wir nunmehr immer jünger werden!

Dein Geliebter

 

PS: Ich bin ja so unwissend. Ist das alles schon Rausch???

Schreibe doch für die Andacht einfach die Becherhymne in h-moll um. Das merkt keiner und alle werden glücklich der Zukunft zugewandt sein! Ein bisschen Pep und Zukunftsglaube muss doch in meine alte Familie wieder rein. Da ist so ein Altkader mit revolutionärer Erfahrung wie Du genau die Richtige.

 

 

4. April – 15:49 Uhr

Cavaliere mio,

seit den letzten Tagen frage ich mich in der Tat, ob Du nicht doch mehr ein Gefühls- als Verstandesmensch bist. Na ja, Schublade schnell wieder zu. Und komm heute Nacht zu mir!

Eva

 

 

5. April – 16:24 Uhr

Nach unsrer unendlichen Nacht um 9 Uhr 30 ins Bett! Wahnsinn!!! Ich huste etwas und alles tut weh! Irgendwer hat mich gebissen oder getreten.

Jetzt lege ich mich erstmal auf die andere Seite und schlafe weiter.

Dein Cavaliere

 

 

5. April – 16:42 Uhr

Animus,

selbst schuld! Warum kannst Du auch kein Ende finden!!! Teufelchen in der Tat!

Auch ich bin eine Leiche und darf einfach nicht so viel Wein trinken. Wir müssen unbedingt zu einem vernünftigen Leben zurückkehren, sollten wir jemals eins gehabt haben.

Wie soll das denn in Kleesten werden? Wie sollen wir uns da erholen? Wenn ich täglich Vino trinke, muss ich ja anschließend zur Kur!

Mein Liebling, Du bist trotzdem wunderbar. Deine Rosen auch. Sie erfreuen mein Herz.

Con amore

Deine Eva

 

PS: Willst Du wirklich so ein Lotterleben mit mir führen? Was soll aus unseren Projekten werden? Für Dein Alter bist Du viel zu potent. Ich dachte, ein Arzt würde auf meine Gesundheit achten!

 

 

5. April – 17:12 Uhr

Eva! Mit Dir möchte ich dieses Leben führen! Wenn’s dabei ein bisschen lottert, auch gut. Aua, aua überall!

In Kleesten finden wir schon den richtigen Wechsel zwischen na ja, Du weißt schon und Erholung. Nennen wir’s doch einfach ›aktiver Erholungsurlaub, mit Schwerpunkt Bewegungstherapie‹. Wir sollten ein Patent drauf anmelden. So manches Fitnesscenter wird bereit sein, unsere experimentell erworbenen Kenntnisse zu verwerten.

Seit ich Dich kenne, habe ich über ein Kilo abgenommen. Ich denke, nach Kleesten werde ich das Idealgewicht haben! Du aber auch! Ich liebe Dich und gehe in Gedanken an eine wunderbare Frau wieder ins Bett.

Dein Max

 

 

5. April – 18:31 Uhr

Meine Liebste,

ein Mann ist nur dann potent, wenn ihn die Frau anregt. Ich habe mich nie als übermäßig potent eingeschätzt, war es wohl auch nie. Aber unser Stil, erst an den anderen zu denken, dann erst an die eigene Ekstase, dann ein Päuschen machen, lachen und sich wieder unterhalten, ist genau das, was ich genieße, und was ich gerne die nächsten 40.000 Jahre weiter erleben möchte.

Während ich dies schreibe und an Dich denke, wird es wieder munter in der Hose. Mein – noch namenloser – bester Freund ist schon ein liebenswertes Kerlchen! Lässt mich eben nicht im Stich, wenn er sich nach Deiner Gaia sehnt. So einfach kann das Leben sein! Ich brauche keinen theoretischen Überbau und keine Chemie für die Freuden, die ich mit Dir habe.

Ich bin spätestens um 23 Uhr im Bett, damit ich wieder in einen normalen Rhythmus hineinfinde. Drei Tage muss ich noch sehr konzentriert und fleißig sein. Erzähl mir bitte, wie das Konzert heute war. Morgen bin ich wieder der Alte und in vollem Saft.

Eine Nacht ohne Dich ist eine Verschwendung! Morgen koche ich einen großen Paprika-Gulaschtopf, portioniere einen Teil und bringe Dir was, damit Du wieder zu Kräften kommst.

Schlafe gut und träume etwas von mir, so wie ich von Dir.

Dein Cavaliere

5. April – 20:19 Uhr

Amore,

Du wirfst alles ein bisschen durcheinander, denn heute, Gründonnerstag, ist kein Konzert. Morgen, Karfreitag, gehe ich in die H-Moll-Messe ohne Dich, Du musst ja arbeiten.

Übermorgen, Karsamstag, beginnt um 16.00 Uhr Sybilles Geburtstagsfest. Von dort aus gehen alle Gäste in den PianoSalon Christophori im Prenzlberg, Konzert 20.30 Uhr.

Oster-Sonntag bin ich im Französischen Dom. Monika spielt das frühe Mendelssohn-Violinkonzert. Hier erwarte ich unbedingt Deine Anwesenheit, weil wir nach dem Konzert zusammensitzen werden, und sie schon ganz neugierig auf Dich ist. Ostermontag sind wir bei Lili zum Essen eingeladen. Das ist zunächst mal alles.

Ich hoffe, dass Sie mir, verehrter Baron, noch geistig folgen können. Meine linke Schulter tut weh, ich kann sie kaum bewegen. Das warst DU!!!

Habe trotzdem eine Stunde mit dem Professore musiziert.

Salut Eva

 

 

5. April – 20:32 Uhr

Ich vergaß gestern, mir ein Foto von Dir auszusuchen und mitzunehmen. Bisher hielt ich es für kleinbürgerlich, Bilder von der Angebeteten bei sich zu tragen. Geliebte gehören ins Herz, Kinder, Eltern und Vorfahren an die Wand. Nun ist mir alles egal, Hauptsache Du hängst über dem Bildschirm, und ich kann Dir tausendmal am Tag in die Augen schauen.

Beim letzten Besuch hast Du mir die Sinne so vernebelt, dass ich einfach den Griff in die Fotokiste vergaß. Ich bitte Dich inständig, lasse mir beim nächsten Besuch nur zehn Minuten einen klaren Kopf, damit ich mir ein Bild von Dir aussuchen kann.

 

Mein Evachen: Ich denke nur an Dich und Deine Gaia und habe Probleme, mich meinen eigenen Aufgaben und Verpflichtungen zu widmen.

Du bist mein Traum! Im Bett und auch außerhalb! Küsschen!

Dein Cavaliere

 

 

5. April – 21:05 Uhr

Liebster,

jetzt vergiss alles, auch mich und arbeite! Dein bester Freund soll Dich in Ruhe lassen und Du ihn.

Ti amo, Eva

 

 

5. April – 22:10 Uhr

Jawoll Gnädigste:

Meinen besten Freund werde ich nicht mehr anrühren und nur noch der liebevollen, fürsorglichen Pflege meiner angebeteten Eva überlassen.

Dafür streichle ich Dich in Gedanken. Du raubst mir das letzte bisschen Verstand! Womit habe ich das verdient?

Dein Cavaliere

 

 

5. April – 22:22 Uhr

Deine Gnädigste bin ich nicht. Überhaupt will ich auch keinen Mann mit geraubtem Verstand.

Deine geschwächte Freundin

5. April – 22:39 Uhr

Mein liebes Evachen,

was bist Du denn, wenn nicht meine Gnädigste? Und mein Verstand wäre ja ganz normal, wenn Du mich nicht verführen, in Dein Bett einladen und mir meine Ratio nicht mit verwirrendem Benehmen rauben würdest! Ich war doch früher, bevor Du in mein Leben tratst, ein liebenswertes und höchst geachtetes Mitglied der Gesellschaft. Und nun das!

Ach, meine Eva, warum bist Du nicht bei mir? Ich will überall und immer da sein, wo Du bist! Versprichst Du mir, mich am Samstagabend wegzujagen, was immer ich auch verspreche und welche Avancen ich auch mache?

Ich muss eine wichtige Arbeit beenden.

Dein Max

 

 

5. April – 23:01 Uhr

Geliebter!

Nein !!! – Wie könnte ich das?

 

 

5. April – 23:06 Uhr

Pfui! Du verantwortungslose, gaiabezogene Kulturnudel!

Asche über Dein Haupt! – Wir haben doch Kleesten vor uns!

Dort können wir alles ausleben, so viel wir nur wollen.

 

 

5. April – 23:14 Uhr

Man hört Deinen Herrenclub doch immer wieder heraus! ›Gaiabezogene Kulturnudel‹! Du bist wirklich geschmacklos. Deine primitive Schreibart ist abstoßend! Ich bin echt sauer!!!!!!!

Eva

 

 

6. April – 11:19 Uhr

Mein Liebling,

wieso reagierst Du immer so empfindlich und hart, wenn ich erotisch geladene Ausdrücke verwende, wo es doch nur beim Gedanken an Dich sofort in meiner Hose wuselt?

Ich verliebe mich erstmals in eine Frau auf gleicher Augenhöhe und mit gleichem Selbstbewusstsein. Und ich bin sogar noch in der Lage, diese Frau im Bett glücklich zu machen. Zum ersten Mal stelle ich fest, dass es (mir!) sehr viel Spaß macht, die Partnerin zum Orgasmus zu bringen und nicht nur an meine Triebbefriedigung zu denken (früher habe ich doch nur die ›Black & Decker-Geschichte‹ abgezogen). Schließlich bin ich bei dieser Frau so potent wie nie zuvor! Und vieles mehr!

Es ist doch klar, dass ich unbeschreiblich begeistert bin. Also ist es auch nachvollziehbar, wenn ich über diese neue, ungewohnte, nicht erwartete, fast schicksalhaft über mich hineinbrechende Situation dauernd rede!

 

Also, rege Dich nicht auf, sondern schneide morgen die Rosen an, damit sie dich noch lange an mich erinnern. Lass uns morgen nur einen kleinen Spaziergang im Schlosspark machen.

Ich würde Dir so gern für morgen Abend zusagen, aber ich werde bis dahin nicht fertig. Es wird dann ein sehr langer Abend und sicher auch eine schöne Nacht, aber der nächste Tag ist hin. Ab Montagnachmittag bin ich doch frei.

Wir haben noch alle Zeit der Welt!

Dein Cavaliere

6. April – 13:52 Uhr

Mon amour,

ich war wirklich verletzt. Ich mag diese Sprache nicht. Aber Schwamm drüber. Ich hoffe für die Zukunft auf Deinen besseren Geschmack!

Mach jetzt Deine Arbeit fertig, ich besuche die Konzerte mit meinen Freunden. Ich bin nicht possessiv, sondern eine echte Schützin mit Freiheitstrieb. Meine Einladung sollte keinen Druck auf Dich ausüben!

In meinem Leben stand die Arbeit (nicht im Sinn von Verbissenheit, sondern unter dem Prinzip Lust) immer an erster Stelle. Momentan habe ich keine Arbeit, und so kann ich Dir so viel Zeit widmen, wie ich will. Das wird sicher auch einmal anders sein.

Deine Rosen haben frisches Wasser, ich habe sie ein Stückchen abgeschnitten und den blütenfördernden Extrakt hineingegeben. Sie funkeln und leuchten und entsprechen somit meiner inneren Verfassung. Sei jetzt fleißig und schreibe Deinen Text!

Ich würde Dich auch gern streicheln, glücklicherweise weißt Du aber überhaupt nicht, wo.

Deine Eva

 

 

6. April – 17:14 Uhr

Jawoll, meine Do (re) mi na fa so,

ich werde tun, was Du mir geraten hast! Habe ich doch bisher immer gemacht! Dennoch, sag mir doch bitte, wo Du mich streicheln willst. Ich bin so neugierig und unruhig, und wenn ich nicht weiß, wo, dann kann ich nicht mehr weiterarbeiten. Es zählt ohnehin nur das, was sich im Bett abspielt.

 

Und da bist Du göttlich! Kapitel drei habe ich bald durch!

Dein Geliebter

 

 

6. April – 18:36 Uhr

Mein Gott!!!!

Kannst Du denn Deinen besten Freund nicht einmal für einen Moment vergessen? Das nervt allmählich!

»Es zählt ohnehin nur das, was sich im Bett abspielt«!!! Was soll das denn heißen?

Da hast Du meine Anzeige aber sehr missverstanden! Denkst Du letztlich wirklich so? Du sollst Dich doch auf Deine wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichung konzentrieren. Wenn wir uns am Sonntag wiedersehen, verrate ich Dir, wo ich Dich streicheln werde.

Und jetzt weiter mit Kapitel vier!!!

Eva

 

 

6. April – 21:04 Uhr

Carissima,

bis Sonntag halte ich nicht durch! Vorher bin ich geplatzt oder gegen die Wand gerannt oder habe alles abgeschnitten. Willst Du diese Risiken wirklich eingehen?

Ich habe nichts missverstanden. Ursprünglich suchtest Du nur einen Berlinführer. Deswegen habe ich, hilfsbereit und gütig, wie ich nun mal bin, meine umfassenden Dienste bei der Stadterkundung angeboten. Als anständiger Bürger stehe ich zu diesem Angebot auch heute noch.

Wenn Du aber, meine Liebe, einen gutwilligen, hilfsbereiten, hochbetagten, von konservativen Ehrbegriffen geleiteten Herrn einfach so verführst, dann kann ich die im Inserat geforderten Ansprüche nicht erfüllen.

Was möchtest Du nun? Berlin kennenlernen oder das erleben, was in jeder anderen mediokren Provinzstadt auch möglich ist? Wenn ich meine unmaßgebliche Meinung äußern darf: Das Letztere ziehe ich vor.

Meine liebste Animod, wie viele Mails sind denn schon hin- und hergegangen? Ich frage mich gerade, wie konnten denn die Menschen vor Einführung des Internets überhaupt existieren?

 

 

6. April – 21:18 Uhr

›Meine Do (re) mi na fa so‹!!! Max, Du bist ein Teufel.

Ich liebe Dich

 

 

6. April – 21:22 Uhr

Geliebte,

mein großes Kompliment! Keine andere Frau hätte das kleine Sprachspiel verstanden. Wenn überhaupt, wäre ich belehrt worden, dass ich die Tonleiter nicht richtig wiedergab. Wie lange hast Du dazu gebraucht? Du bist eben ein pfiffiges Mädchen!

Du hast mich mal gefragt, ob ich stolz wegen meiner Herkunft sei. Nein, denn dafür kann ich nichts. Auf meinen universitären und sonstigen Schnickschnack bin ich auch nicht stolz, denn mit etwas mehr Fleiß und mehr Konzentration hätte ich wesentlich mehr wissen können als jetzt.

Aber ich bin darüber stolz, dass Du mich liebst.

Immer wenn ich heute eine Pause machte, zog ich mir den Smoking an und stelzte wie ein Gockel den Ku-Damm rauf und runter, so stolz war ich. Ich hätte gern jedem von Dir erzählt, aber die Leute schienen nur an ihren eigenen Sachen interessiert zu sein.

Dein Gockel

 

 

6. April – 21:45 Uhr

Mein lieber Schatz, mit was für Frauen hast Du Dich denn umgeben? Und vergiss nicht, dass Du mein Berufsgebiet leicht gestreift hast.

 

 

6. April – 22:06 Uhr

Geliebte Eva,

ich habe seit Tagen kein Buch mehr gelesen. Aber Du hast mich in eine aufregende Welt entführt! Mach ruhig weiter so! Rückblickend sage ich, ich habe mich mit den richtigen Frauen umgeben. Denn hätte ich damals die Richtige gefunden, hätte ich mich Dir nicht als Berlinführer angedient. Wichtig im Leben eines Mannes ist nur, dass er irgendwann mal die Richtige findet. Du kennst doch die alte Bauernweisheit: ›Wer zuletzt lacht, lacht am besten‹.

Max

 

 

6. April – 22:23 Uhr

Mein süßer Cavaliere,

ich habe das ganze vergangene Jahr nicht so viel gelacht wie in den letzten Wochen mit Dir und über Dich und beim Lesen Deiner Mails! Du bist wirklich ein Glück für mich.

Ich habe auch kein Buch gelesen. Ich brauche ja immer einen ganzen Tag, um mich von dem vielen Wein und Deinen vielen Umarmungen zu erholen. D. h. baden, schlafen, noch ein bisschen davon träumen, wie süß Du bist, eine Fertigsuppe zu mir nehmen, Rosen pflegen, im Horoskop herumstochern, wieder ein bisschen schlafen usw.

 

Meinst Du, dass ich so ein Leben jemals angestrebt habe?

Der Professore hat mir ein Buch geschenkt, da ich mich über die preußischen Könige informieren wollte. ›Preußens Könige privat – Berliner Hofgeschichten‹. Nun liegt es da. Meinst Du vielleicht, dass mich so etwas noch interessiert? Nein, wirklich nicht, weniger als Nullkommanull. So weit ist es jetzt mit mir gekommen. Meine geistigen Interessen erlahmen total.

Deine Geliebte

 

 

6. April – 22:46 Uhr

Mon chevalier,

bis Sonntag kommt mir schrecklich lange vor. Aber ich darf Dir meine Sehnsucht ja nicht wirklich mitteilen, weil Du Dich konzentrieren musst auf ein so schrecklich ernstes Sujet. Statt irgendwelche Mails zu beantworten, könntest Du vor meinem Fenster ein Minnelied zwitschern. Ich würde Dich ganz bestimmt erhören. Versprochen. Ebenso verspreche ich Dir, Dich Punkt Mitternacht wieder zu entlassen.

Deine Eva

 

 

6. April – 22:59 Uhr

Geliebte Nachtigall,

mit meiner verräucherten Stimme kann ich nicht zwitschern. Du würdest annehmen, ein Kolkrabe würde an BSE leiden. Außerdem gehören zum Entlassen immer zwei. Mir würde schon was einfallen, was Dein weibliches, mütterliches Herz anspricht und mir noch die Anwesenheit einige Minuten nach Mitternacht ermöglicht. Habe ich diese Mitternachtshürde erst mal überstanden, dann werde ich auch länger bleiben. Mein Herz, Du bist ein – besonders aber mein – Traum. Eigentlich darf es so etwas wie Dich nicht geben. Die gesamte Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftsordnung würde aus dem Ruder laufen, wenn alle Frauen so wären! Kein Mann würde mehr arbeiten und sich für den Fortbestand der Menschheit motivieren lassen.

Ich freue mich ungeduldig und unendlich auf unser nächstes Wiedersehen. Aber Du machst es mir mit Deinen Mails auch leicht, die Zeit zu überstehen!

Anders als Du Nachteule, werde ich bald ins Bett gehen. Ich weiß, dass wir irgendwann nicht mehr getrennt sein werden, und das Warten auf das nächste Wiedersehen ein Ende hat. Vielleicht im Fünf-qm-Haus mit PDS-Nachbarn?

Ich liebe Dich.

Max