Geburtswehen

Am späten Nachmittag, als der Zeiger der Sonnenuhr seinen längsten Schatten warf, begannen die Kühe heimwärts zu strömen, bis oben hin voll grünen Grases, wert des Wiederkäuens, die beiden vorbildlichen und vom Nichtstun erschöpften Freiwilligen an ihrer Seite.

Ehrlich gesagt, hatte Dulnikker noch nie einen so vollen Anteil an den Annehmlichkeiten des Lebens genossen. Das gesunde Vergnügen, in dem weichen grünen Gras auf dem Rücken zu liegen, freute ihn so, als hätte er eben an jenem Tag entdeckt, daß es eine Sonne am Himmel gab. Auf dem Heimweg winkte Dulnikker den Bauern zu, die ihren Boden mit breiten Hacken bearbeiteten, und als sie mit freundlichem Winken und aufmunternden Zurufen antworteten, zog der Staatsmann den Schluß, daß sein persönlicher Charme bei den Massen noch keineswegs verblichen war.

Am folgenden Tag kamen Majdud und Hajdud auf die Weide hinaus, mit glänzenden, stadtgemachten Schleudern bewaffnet. Sie frönten langen Schießübungen, indem sie Kiesel auf die Flanken der unschuldig weidenden Kühe abfeuerten. Dulnikker rief sie herbei und fragte sie vorwurfsvoll: »Warum schießt ihr auf unschuldige Kühe?«

»Wir haben Vögel probiert«, sagte Hajdud entschuldigend, »aber sie sind für Zielschießen zu klein.«

»Sicher, aber was würdet ihr sagen, wenn euch die Kühe so behandeln würden, wie ihr sie behandelt?«

»Nichts«, sagte Majdud - mit Seniorat. »Sollen sie auch mit Kieseln schießen.«

»Woher habt ihr diese gefährlichen Waffen, wenn ich fragen darf?«

»Wir haben sie bestellt.«

»Von wem?«

»Von wem glaubst du schon? Von der Tnuva! Wir waren eine Zeitlang Waisenkinder ...«

Stückchen um Stückchen entlockte Dulnikker den Zwillingen die Geschichte der glorreichen Straßensammlung, obwohl er während der ganzen Erzählung unzählige Male schwören mußte, daß er sie bei sich behalten würde, da die Zwillinge planten, das erfolgreiche Projekt zu wiederholen, ohne ein Drittel des Reingewinns irgendeiner blöden Tante geben zu müssen. Dulnikker hörte ihrer Geschichte zu und brach immer wieder in stürmisches Gelächter aus:

»Die arme Gula - ich hatte schon immer Angst, daß es soweit kommen würde .«

Später, als es den Kindern zu langweilig wurde, auf ein so massives Ziel zu schießen, nahm Dulnikker die hübschen Zwillinge auf den Schoß und erzählte ihnen stundenlang, was er in Äthiopien gesehen hatte, als er es jüngst besucht hatte, um Vorkehrungen für Fleischtransporte zu treffen. Als der Staatsmann die Erntetänze der Eingeborenen beschrieb, wackelte er mit den Hüften, klatschte rhythmisch in die Hände und begann sogar die Lieder der Feiernden zu summen. Die Kinder öffneten die Münder in ungezügelter Inbrunst, und ihre glänzenden Augen starrten den Staatsmann aus dem Meer der Sommersprossen in unverhüllter Ehrfurcht an.

»Onkel«, erklärte Majdud, »ich schwöre, ich habe nie gewußt, daß du so ein Ingenieur bist!«

Dulnikker hatte plötzlich ein seltsames Gefühl im Herzen, das ihm fast Tränen in die Augen trieb. Ein stilles Glück und das Empfinden höchsten Friedens wogte in ihm auf. >Der

Mann, der eine ganze Generation herangezogen hatte<, hielt zum erstenmal in seinem Leben ein Kind auf dem Schoß.

Eines Tages erlebte er eine große Überraschung. Der Infiltrator tauchte auf seinem Esel auf und übergab dem Effendi senior dessen Bestellung: drei Zeitungen, deren Seiten vergilbt vor Alter waren. Es waren amerikanische jiddische Blätter, die vor vielen Jahren veröffentlicht worden waren. Nichtsdestoweniger bezahlte Dulnikker sehr ansehnlich für sie, weil die hebräischen Buchstaben eine magische Wirkung auf ihn ausübten. Er übergab die archivreifen Blätter sofort der Obhut seines Ersten Sekretärs mit dem üblichen Befehl, freundlicherweise alles auszuschneiden, was sich direkt oder indirekt auf ihn bezog. Zev vermochte jedoch nur einen einzigen, kurzen Artikel zu finden, mit dem Titel >Forderung nach erhöhter Milchproduktion< und dem Untertitel: >Fachmann schlägt neues Melksystem vor<. Den überreichte er Dulnikker mit ernstem Ausdruck und sagte:

»Das betrifft Sie direkt, Dulnikker.«

Dulnikker nahm das Blatt in die Hand und studierte den Artikel gründlich.

»Danke dir sehr.« Er gab seinem Sekretär die Zeitung zurück. »Wirklich sehr interessant. Bitte leg es ab, Zev, mein Freund, weil wir vielleicht die Möglichkeit haben, das neue System in ein paar Jahren hier anzuwenden.«

Während Dulnikker und Zev in der Kunst des Kühehütens ermutigend schnell zu Fachleuten wurden, entwickelte sich das öffentliche Leben im Dorf selbst in nicht weniger befriedigendem Tempo. Bürgermeister de facto Hassidoff kam mit dem bäuerlichen Baumeister des Dorfes zu einem

Übereinkommen, der das Bürgermeisterbüro sofort auf einer zentral gelegenen Stelle zu bauen begann, wenige kurze Schritte vom Wirtshaus entfernt, in Richtung Lagerhaus. Der Lastwagen der Tnuva kam mit Zementsäcken beladen an, die im Hof des Barbiers abgeladen wurden.

Kaum waren die vier aufrecht stehenden Betonpfeiler ausgegossen worden, wurde die Fortsetzung der Bauarbeiten aus Geldmangel verschoben. Schon in diesem Frühstadium des Programms öffentlicher Bauten wurde es klar, daß die Einkünfte aus der Dreitürschranksteuer nicht für das ganze Bauprojekt, ja schlimmer noch, nicht einmal für einen kleinen Teil davon genügen würden. Angesichts des Vorhergehenden trat die Einstufungskommission zusammen und stimmte einhellig dagegen, >den zwölf Steuerzahlern keine zusätzliche einmalige Luxussteuer von sechs Pfund< aufzuerlegen.

Die neue Anweisung wurde durch Steueraufseher Ofer Kisch und Hauptmann Mischa - Satan im Schlepptau - mit geziemender Eile durchgeführt, und am selben Abend blieb Elifas am Tisch des Staatsmannes stehen und dankte ihm mit ein paar herzlichen Worten für die rasche Entwicklung des Dorfes.

»Nichts zu danken. Ich tue nur meine moralische Pflicht«, erwiderte der Staatsmann bescheiden, während Zevs leichtes Kichern seine Wut aufrührte. »Halten Sie sich ein Ziel vor Augen, Herr Hermanowitsch: Wahl in den neuen Rat!«

»Herr Ingenieur« - Elifas wurde kühner -, »ich wollte Sie eben fragen, was ich tun soll. Der Barbier hat seine Anhänger, weil er der Bürgermeister ist, der Schuhflicker hat seine Clique, der Schächter ist fromm, und der Schneider macht sich Freunde durch die Steuern. Was aber kann ich tun?«

»Ihr müßt die Wählerschaft für euch gewinnen.« Dulnikker legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber zuerst müssen Sie sich Ihre Stellung klar machen: Was ist Ihr öffentliches Ziel?« »In den neuen Rat gewählt werden.«

»Absolut unparteiisch!« spöttelte der Sekretär. Dulnikker war jedoch über solche Kleinigkeiten weit hinausgewachsen, und er widmete der Unterweisung des Wirts eine lange Zeit. Elifas Hermanowitsch konnte keinen angemessenen Ausdruck für seinen tiefempfundenen Dank finden.

»Herr Ingenieur«, er drückte dem Staatsmann die Hand, »wir werden eine Gans für Sie braten.«

»Danke, Genossen, aber ich muß euch bitten, mich bei meiner Diät zu lassen.«

»Das wird nichts ausmachen. Morgen schicke ich die Gans mit Malka auf die Weide hinaus.«

»Danke, aber ich will wirklich nicht lästig fallen .«

»Wieso denn, Herr Ingenieur? Ist es leichter, jede Nacht zu der strohgedeckten Hütte hinunterzuklettern? Nein, nein, Malka soll nur ruhig zu Ihnen auf die Weide hinauskommen.«

Dulnikker war wie vom Donner gerührt und brachte kein Wort heraus. Noch lange, nachdem der Wirt gegangen war, blieb er auf seinem Stuhl wie festgenagelt sitzen.

»Warum sind Sie so erstaunt, Dulnikker?« brach Zev schließlich das Schweigen und flüsterte spitz: »Die Leute beginnen eben politisch zu reifen.«

»Das ist keine Reife.« Dulnikker starrte glasig ins Leere. »Das ist Sodom und Gomorrha!«

Es stand jedoch außerhalb menschlicher Kräfte, die Richtung, in der die Dinge liefen, zu ändern. Am nächsten Tag merkte Dulnikker auf seinem Heimweg von der Weide, daß kein Mensch auf den Feldern draußen war. Der Staatsmann konnte das Rätsel nicht ergründen, bis sie ins Dorf zurückkamen, wo es sich allerdings schnell löste. Die Leute standen die ganze Straße entlang in kleinen Gruppen beisammen oder saßen in eifriger Beratung an den Wirtshaustischen. Es war leicht zu sehen, was die Gärung verursacht hatte, denn auf der weißen Wand des Lagerhauses stand mit roter Kreide in gigantischen Buchstaben geschrieben:

Der kahle Barbier unterschreibt die Steuer-Vorschreibungen!!!

Dulnikker studierte sorgfältig die krummen Buchstaben, deren mehr als einer auf dem Kopf standen, und sein Gesicht wurde heftig purpurrot. ohne sein Hirtenkostüm zu wechseln, stürmte der Staatsmann in die Werkstatt des Schuhflickers.

»Was hat Sie nur einen solchen Mist an die Wand schreiben lassen?« bearbeitete der Staatsmann Gurewitsch. Dieser stand jedoch in einer sicheren Stellung verschanzt, von der aus er ruhig erklärte:

»Ich hab’ es nicht geschrieben, der Papa hat’s getan.« Dulnikker drehte sich um und trat auf den bleichsüchtigen Alten zu. Dieser entwich samt seinem Schemel in seinen Zufluchtswinkel.

»unmöglich, Herr Ingenieur«, kreischte der ältere Gurewitsch, »ich kann keine einzige Stunde weniger arbeiten!«

»Ich bin nicht gekommen, um über Sie zu diskutieren«, explodierte der Staatsmann, »ich bin gekommen, um Ihren Erstgeborenen davon abzuhalten, sich mit seiner wahnsinnigen Herrschsucht zu ruinieren!«

»Entschuldigen Sie, Herr Ingenieur!« protestierte der Schuhflicker. »Sie haben uns gesagt, daß wir uns schriftlich und mündlich auf die Wahlen vorbereiten müssen. Was ist also schon falsch daran, wenn ich den Papa bitte, für mich auf die Wand zu schreiben, daß der Barbier die Steuervorschreibungen unterschreibt? Er unterschreibt sie doch, oder nicht?«

»Zugegeben. Er unterzeichnet sie. Aber warum haben Sie >der kahle Barbier< geschrieben?«

»Weil er wirklich kahl ist!« Der Schuhflicker war wütend. »Herr Ingenieur, Sie haben uns gesagt, daß wir mit ehrlichen, anständigen Mitteln kämpfen sollen. Schön, das akzeptiere ich. Aber verzeihen Sie schon, wenn ich frage: Kann ich denn nicht die nackte Wahrheit feststellen? Wenn Salman überhaupt Haare hätte, dann wäre das ein Argument für Sie - aber er hat nicht eine einzige Haarsträhne, Herr Ingenieur. Was wollen Sie also?«

»Ihr habt unrecht, Genossen«, murmelte Dulnikker etwas verwirrt. »Eines Tages werde ich euch erklären, warum.«

Der Staatsmann verließ die Werkstatt. Plötzlich fühlte er sich sehr müde und war nicht sicher, warum Gurewitsch unrecht hatte. In tragischem Ton bemerkte Dulnikker zu seinem Sekretär:

»Genossen! Im Kampf um die Gunst der Massen gibt es kein Halten!«

Seine Überlegung wurde schnell bestätigt durch die übergroße Schrift, die auf der zweiten Wand des Lagerhauses erschien:

Seit wann kann der lahme Schuster Schreiben?

Von der Zeit an redeten der Schuhflicker und der Barbier nicht mehr miteinander, außer in ihrer offiziellen Eigenschaft im Dorfrat und in dessen Ausschüssen. Der Barbier verkündete öffentlich, daß er und seine Anhänger eher in zerrissenen Schuhen herumgehen würden, als auch nur einen Fuß auf die Schwelle des Schuhflickers zu setzen. Gurewitsch tat einen nicht weniger drastischen Ausspruch und vermied die Umgebung des Barbierladens. Ja, er ließ sich sogar einen Bart wachsen und freundete sich mit dem Schächter an. Was

Ja’akov Sfaradi selbst betraf, forderte er angesichts des verweltlichten Charakters des Dorfes immer nachdrücklicher religiöse Observanz. So schrieb er zum Beispiel an alle Türpfosten: >Wie wär’s mit einer Mezuza?<, und am Ruhetag wanderte er von Tür zu Tür und bestürmte die Bauern, auch an Wochentagen nicht mehr zu rauchen. Kurz gesagt, Ja’akov Sfaradi verbarg vor der Öffentlichkeit nicht seinen Wunsch, in den Rat wiedergewählt zu werden. In diesem Geiste hetzte er die Bevölkerung leise gegen die ungläubigen Abgeordneten auf, indem er sie beschuldigte, sich in solchen Mengen mit geschmuggeltem Schweinefleisch vollzustopfen, daß keines für die anderen Dorfbewohner übrig blieb. Natürlich tat der Schächter das überall taktvoll und höflich, außer in den Häusern der >Dreitürniks<. Hier erlaubte er sich selbstverständlich einen lauteren, energischeren Ton, wenn er verlangte, daß sie den Glauben so fromm wie möglich einhielten.

Dulnikker folgte der überraschenden Aktivität mit gemischten Gefühlen. »Jeder Kampf ist an sich etwas Wunderbares«, bemerkte der Staatsmann zu seinem Sekretär, »trotzdem würde ich etwas weniger persönliche Streitereien und ein bißchen mehr Selbstlosigkeit im öffentlichen Dienst bevorzugen.«

»In dem Fall, Dulnikker«, meinte Zev, »ist endlich die Zeit für uns gekommen, die Dorfleute zu verlassen. Lassen Sie doch diese Idioten allein miteinander spielen. Ich schwöre, wir sind ihnen allmählich im Weg.«

»Mein Freund Zev!« protestierte Dulnikker, »wie kannst du nur so leichtherzig über so qualvolle Erscheinungen sprechen?«

»Schön.« Der Sekretär erblaßte. »Nennen wir es also: die Geburtswehen des Konsolidierungsprozesses.«

In jeder Woche ereigneten sich Dinge, die in der ganzen Geschichte Kimmelquells beispiellos waren. Der Barbier brach das ungeschriebene Gesetz des Dorfes:

Salman Hassidoff fuhr nach Tel Aviv.

Dieser revolutionären Handlung waren viele Diskussionen vorangegangen. Zunächst einmal fuhr der Barbier in seinem Kommunalgefährt zu einem Besuch zu Dulnikker, der in einiger Entfernung von seinem Sekretär im Gras ein Sonnenbad nahm. Hassidoff unterbrach es mit seiner verzweifelten Bitte.

»Herr Ingenieur, nur Sie können mir helfen!« jammerte der Barbier. »Die Wahlen nähern sich, und ich sehe, daß der lahme Schuhflicker alles besser macht, als ich es kann. Ich war ein Narr, die Steuervorschreibungen zu unterzeichnen, weil sie jetzt alle Angst haben, daß ich auch die übrigen besteuern werde. Daher dachte ich, vielleicht sollten wir die Steuer aufheben, bis die Dinge ausgebügelt sind?«

Dulnikker war böse, daß er mitten in seinen stillen Überlegungen über das Herumhüpfen der drolligen Kälber gestört wurde, dennoch empfand er gleichzeitig etwas Mitleid mit dem kleinen Mann, der meinte, die Welt würde zusammenstürzen, wenn er nicht zum Bürgermeister wiedergewählt würde.

»Es ist unethisch, eine Steuer aufzuheben, um die Wähler für sich zu gewinnen«, erwiderte er dem Barbier, ohne den Kopf aus den entspannenden Sonnenstrahlen zu heben. »Sie können sie höchstens ein bißchen beschneiden. Aber in diesem Fall, Genossen, gehört es sich, hinzugehen und die Dinge in großen propagandistischen Zügen zu klären.«

»Geht nicht, Herr Ingenieur«, blökte der Barbier. »Ich kann nicht allen hundertfünfzig Dorfbewohnern einzeln erklären, warum ich recht habe. Und ich könnte das alles nicht auf die Wände draufkriegen. Was also soll ich tun?«

Dulnikker erhob sich ein bißchen und tätschelte Hassidoffs Schulter in einer Anwandlung von plötzlicher Zuneigung.

»Herr Hassidoff«, rief er aus, »die ganze Zeit, in der ich unter euch lebe, habe ich noch nie eine so vernünftige Begründung gehört. Bravo!«

Der Barbier schielte vor Verblüffung.

»Nun ja«, murmelte er, stolz lächelnd, »manchmal kommt das bei mir vor.«

»Jetzt hört aufmerksam zu, Genossen.« Dulnikker enthüllte das Motiv, das ihn aufgerüttelt hatte. »Es ist vernünftig, daß Sie sich nicht hundertfünfzigmal wiederholen wollen. Sie brauchen es nur einmal zu sagen, in Anwesenheit von hundertfünfzig Leuten. Daher, meine Herren, müssen Sie lernen, Reden zu halten!«

»Nein, Herr Ingenieur, das kann ich wirklich nicht.«

»Es wird Ihnen sehr schön gelingen! Natürlich nicht ohne Unterricht, das ist nicht zu leugnen. Aber der Haken dabei, Genossen, liegt darin, daß euch in diesem Dorf ein entsprechender ort fehlt, wo man öffentliche Reden halten könnte.«

»Vielleicht auf der Straße?«

»Auf der Straße kann man die Menge nicht zusammenhalten. Was not tut, ist ein Kulturzentrum mit einem vernünftigen Fassungsraum, nach den Gesetzen der Akustik erbaut. Ehrlich gesagt, ist mir eine solche Halle gleich von Anfang an abgegangen.«

Der Provisorische Dorfrat nahm den Vorschlag eines >Kulturpalastes< (um die Wortprägung des Sekretärs zu benützen) bei der Gegenabstimmung durch einstimmige Enthaltung an und ging daran, für ihn ein großes Grundstück gegenüber dem Büro des Bürgermeisters bereitzustellen. Das zur Finanzierung des Projekts benötigte Geld? Der Rat suchte es von den zwölf >Dreitürniks< einzuheben, indem er jeden mit einer einmaligen Zwangssteuer von 30 Pfund belastete. Steueraufseher Kisch brachte jedoch seine Meinung vor, daß die Erhebung der neuen Steuerlast auf Schwierigkeiten stoßen würde.

»Seien wir objektiv, meine Herren!« meinte auch der Vorsitzende. »Warum müssen wir darauf bestehen, nur von jenen wenigen Bürgern Steuern einzuheben?«

»Sehr einfach, Herr Ingenieur.« Ofer Kisch klärte die Einstellung des gesamten Rats: »Diese Burschen kennen wir bereits, wir brauchen unseren Weg zu ihnen nicht zu suchen. Möglich, daß Satan sie ein-, zweimal gebissen hat. Aber das Wichtigste: Sie sind über das erste Stadium hinaus, wo sich der Steuerzahler aufführt, als ziehe man ihm die Haut ab. Diese Leute sind bereits an die Steuern gewöhnt, Herr Ingenieur, und ich habe keine Lust, mit neuen wieder von vorne anzufangen. Wozu soll ich?«

»Schön«, meinte Dulnikker, »aber sie werden im Lauf der Zeit wirtschaftlich schwach werden und verarmen.«

»Was meinen Sie damit?« protestierte Gurewitsch. »Sind sie Kinder? Keine Sorge, Herr Ingenieur, alles könnte bestens laufen, wenn es nicht die abnormalen Leute gäbe, die das Bürgermeisteramt versehen ...«

»Selber abnormal!« schrie Frau Hassidoff. Und ihr Gatte fügte genußreich hinzu: »Schwein!«

»Platzen sollste!«

Dulnikker schlug mit seinem Hammer wild auf den Präsidialtisch und verwarnte seinen Sekretär, daß >indiskretes Gelächter das Zeichen mangelnder Geistigkeit< sei. Das half ihm jedoch nicht, die Wut des beleidigten Barbiers zu besänftigen.

»Ich sage Ihnen auf der Stelle, warum sie nicht bereitwillig zahlen!« schimpfte der kleine Mann. »Weil sie Zemach Gurewitsch aufhetzt!« »Nu und?« explodierte der Schuhflicker. »Hetz sie also selber auf!«

»Nein«, erklärte der Barbier, »ich tu’ etwas anderes! Ich werde eine Gummistampiglie bestellen!«

Allmählich wurde die Sache den übrigen Räten klar. Salman Hassidoff behauptete, daß niemand gern zahle, wenn er für sein Geld keine anständige Quittung bekomme. Wenn man zum Beispiel die Tnuva bezahlte, brachte einem der Chauffeur immer eine Quittung, die oben und unten abgestempelt war, und sogar das Datum war draufgestempelt. Wenn der Rat eine offiziell gestempelte Quittung ausgeben könnte, dann würde sich die Haltung der Steuerzahler sofort vollkommen ändern. Das Argument des Barbiers klang sehr überzeugend.

»Das ist eine gute Idee«, begeisterte sich Elifas. »Was mich betrifft, könnt ihr dem Chauffeur sagen, er soll eine Gummistampiglie mit Blumen rundherum bestellen.«

»Ich verlasse mich in Angelegenheiten des Geschmacks nicht auf den Chauffeur«, fing der Barbier wieder zitternd an und rückte näher zu seiner Frau. »Ich glaube«, fügte er hinzu, »ich werde gezwungen sein, selbst zu fahren .«

Einen kurzen Augenblick hing tödliche Stille über dem Ratszimmer. Selbst die Katzen hörten wegen des plötzlichen Schweigens auf, zwischen den Beinen der Abgeordneten herumzustreifen, und starrten verwirrt zu den Leuten hinauf. Der Schuhflicker war der erste Rat, der reagierte. Schäumend vor Wut sprang er auf den Tisch und donnerte auf den erschrockenen Barbier hinunter:

»Zum Teufel! Du, Salman Hassidoff, wirst keine Dorfgelder zu Reisen benützen, das verspreche ich dir!«

»Ich fahre«, flüsterte der Barbier unsicher. »Ich werde fahren!«

»Das wirst du nicht!«

»Doch.«

»Nein!«

»Doch.«

Krach! Mit ohrenbetäubendem Lärm brach der Präsidialtisch unter den zunehmend kraftvollen Hammerschlägen des Vorsitzenden zusammen. Aus den Splittern erhob sich Dulnikker, das Gesicht rot wie eine Rübe, aber sein staub- und wuterfüllter Kehlkopf vermochte keinen einzigen klaren Laut hervorzubringen. Zev sah, daß nur schnelles Handeln seinen Herrn und Meister vor nicht wieder gutzumachendem Schaden bewahren konnte.

»Aber Herr Gurewitsch«, fragte er in das lange Schweigen hinein, »liegt denn so viel daran, wer die erste Reise unternimmt?«

Das Schweigen verdichtete sich. Zemach Gurewitsch kletterte vom Tisch herunter und grübelte eine Weile vor sich hin.

»Das ist etwas anderes«, sagte er schließlich. »Soll also Salman als erster fahren.«

Eines Morgens fuhr also der Barbier im Lastwagen der Tnuva ab, nachdem man eine Ladung Baumaterial in Hassidoffs Hof abgeladen hatte. Salman war der Gelegenheit entsprechend in einen tadellosen schwarzen Anzug gekleidet, und sein Gesicht strahlte vor Freude. Alle Dorfbewohner hatten sich versammelt, um ihn zu verabschieden, mit Ausnahme des Schuhflickers, dessen kleinliche Augen es nicht ertragen konnten, die Aufregung der Dorfbewohner über >die Fahrt des Barbiers de facto, um ihr Geld auf blöde Stempel zu verschwenden<, mitanzusehen. Der Schächter wünschte Hassidoff im Namen des Provisorischen Dorfrats eine erfolgreiche Reise und murmelte sogar einen geräuschvollen Segenswunsch, weil er, der Schächter, vom Vorsitzenden zum

Geschäftsführenden Bürgermeister ernannt worden war. Es stimmte, der Barbier würde nur vierundzwanzig Stunden fortbleiben: Er solle am nächsten Tag mit der Zementladung zurückkommen. Dennoch übergab er sicherheitshalber die Zügel der laufenden Geschäfte dem Schächter - einschließlich eines versiegelten Briefumschlags, den der Tnuva-Chauffeur für >Den Bürgermeister gebracht hatte. Der Barbier hatte ihn wegen seiner angeborenen Abneigung gegenüber versiegelten umschlägen nicht zu öffnen gewagt. Der große Lastwagen fuhr unter lauten Hochrufen der schreienden Volksmenge an, während der Barbier immer wieder den Kopf aus dem Fenster der Fahrerkabine hinausstreckte, um den allmählich fernerrückenden Feiernden zuzuwinken. Nach zwei Windungen der krummen Straße ließ Salman Hassidoff den Wagen anhalten und half seiner Frau aus ihrem Versteck hinter den dicken Planen der Ladefläche heraus und auf den Sitz neben sich im Fahrerhaus, damit sie es für den Rest ihrer langen Reise bequem hätte.

Der Barbier und Abgesandte kehrte am nächsten Tag nicht nach Kimmelquell zurück. Ebensowenig kehrte er am folgenden, noch am dritten Tag zurück. Dem Schächter gelang es jedoch durchaus, seine Pflichten als Geschäftsführender Bürgermeister getreulich zu erfüllen, und er verhinderte es, daß unerwünschte Aufregungen das Dorf in Hassidoffs Abwesenheit erschütterten, indem er die verzweifelten Bauern überredete, heimzugehen und zu versuchen, sich selbst zu rasieren. Es kann zu seinen Gunsten gesagt werden, daß Ja’akov Sfaradi seine vorübergehende Amtsgewalt zu keinem persönlichen Vorteil ausnützte und sich nicht in den alltäglichen Gang des Dorfes einmischte, mit Ausnahme der äußerst bescheidenen Angelegenheit, dreimal täglich elf Dorfbewohner in sein Haus zu beordern, um ein regelmäßiges

Quorum für die Gebete zu sichern, solange der Barbierladen geschlossen blieb.

Vier Tage nach seiner Abfahrt erschien der Lastwagen der Tnuva wieder im Dorf und parkte direkt neben Hassidoffs Hof. Die Passanten, die sich schnell ansammelten, waren Zeugen einer unvergeßlichen Szene, als die Frau des Barbiers aus der Fahrerkabine herauskletterte und ein goldgerahmtes Ölgemälde mit sich schleppte, das kunstvoll gemalt alle möglichen bunten Früchte und eine Violine und eine schön gebundene Bibel zeigte. Die kühneren unter den Neugierigen schlichen sich an das blendende Wunder heran und fragten den Barbier, was für ein Vermögen ihn das gekostet habe, aber Frau Hassidoff antwortete auf der Stelle, daß das ihre und ihres Mannes Privatangelegenheit sei.

Natürlich konnte jedoch eine Vollsitzung des Dorfrats diese >Affäre< in seiner Tagesordnung nicht übergehen und mußte daher auf Anweisung des Ingenieurs eine neue Kommission, untersuchungsausschuß genannt, einsetzen, die folgende Mitglieder umfaßte: Gurewitsch, Kisch, Sfaradi, Hassidoff und Hermanowitsch.

Der Ausschuß studierte die nicht näher aufgeschlüsselte Rechnung zwecks Deckung seiner Reisespesen, die der Barbier vorlegte, und fand sie äußerst kompliziert.

»Sag, Salman, ist in dieser Summe der Preis des Gemäldes enthalten?«

»Ja«, antwortete Hassidoff schlicht. Dieses Über-Bord-Werfen überkommener Maßstäbe der Ethik und des Anstandes veranlaßte die Abgeordneten, verständnislos in die Richtung des Vorsitzenden zu blinzeln. Der Herr Ingenieur zögerte selbst lange, bis er zu einer Schlußfolgerung kam:

»Es steht klar geschrieben: Du sollst einem Ochsen nicht das Maul verbinden, so er da drischt. Das Gemälde muß als Ausgabe betrachtet werden.«

Gurewitsch gab jedoch nicht nach und suchte den maulkorblosen Ochsen bei den Hörnern zu packen.

»Sei dem so!« kreischte er. »Aber was hat drei Tage gedauert?«

»Einen Gummistempel machen dauert so lange«, erklärte das Barbiermitglied des untersuchungsausschusses, aber seine Antwort befriedigte die meisten Kommissionsmitglieder nicht.

»Warum hast du deine Frau mitgenommen?«

»Ich mußte sie mitnehmen«, entschuldigte sich Hassidoff. »Es ist schwer für einen Mann, drei Tage allein zu leben.«

»Egal«, bemerkte Ofer Kisch, »zeig uns den Stempel.«

»Es gibt keinen Stempel«, antwortete der Bürgermeister de facto schmerzlich und fügte hinzu: »Ich hatte nur für einen Tag Geld mitgenommen, so daß ich nach drei Tagen nicht genug Geld in der Tasche für einen Stempel hatte.«

»Sehr fein!« Gurewitsch pfiff durch die Zähne. Er war weiß wie die Wand, und seine Nasenflügel bebten. »Morgen fahre ich einen Stempel kaufen!«

»Unnötig«, bemerkte der Barbier sanft, »auf meinem Weg nach Tel Aviv entdeckte ich, wie wir die Kosten eines Stempels sparen können. Wir ziehen einfach die Steuern der Steuerzahler von dem Geld ab, das ihnen die Tnuva für ihre Kümmelernte zahlen soll.«

Sein Vorschlag war für den Untersuchungsausschuß zu glänzend, als daß man imstande gewesen wäre, Hassidoffs vergebliche Reise zu mißbilligen. Daher schluckten die Ausschußmitglieder die bittere Pille und verziehen dem Barbier. Aber die Tatsache, daß Frau Hassidoff bei der ganzen Verhandlung mit einem violetten breitkrempigen Hut auf dem Kopf dasaß, über dem eine riesige, regenbogenfarbene Pfauenfeder flatterte - das war etwas, das keines der Mitglieder verwinden konnte.

An diesem Abend schmückten geheimnisvolle Hände die dritte Wand des Lagerhauses mit folgender Frage:

Womit kaufte der Barbier seiner Frau einen Truthahnhut?

Gleich am nächsten Tag trug die vierte Wand eine schicksalsschwangere Erwiderung:

Was liess den Bauch der Schuhflickerstochter

ANSCHWELLEN?

Die Verlängerung eines Wunders

Die Nachricht vom Zustand der Schuhflickerstochter breitete sich von den Kreisen um Hermann Spiegel aus. Das Mädchen klagte dem Tierarzt, daß es an gelegentlichen Schwindelanfällen litt. Daher untersuchte er sie sorgfältig und fand sie als das, was sie war. Als der Arzt Dwora mit freudigem Tremolo ihre gesegneten umstände mitteilte, brach sie in eine Tränenflut aus und bat ihn, keinem Menschen etwas zu sagen. Hermann Spiegel beruhigte das gefallene Mädchen und versicherte ihr, daß seine Berufsehre ihn verpflichtete, ihr Geheimnis auf alle Fälle zu wahren, und daß er nicht einmal den Bauern verriet, wenn ihre Kühe guter Hoffnung waren. und die Wahrheit ist, daß Hermann Spiegel keiner Menschenseele etwas von Dworas Zustand sagte, außer natürlich seiner Frau.

Dulnikker wurde über die jüngste Schlagzeile an der Wand auf eine einzigartige Weise unterrichtet.

Dank seiner Beschäftigung mit dem Vieh am Busen der Natur war der Schlaf des Staatsmannes seit neuestem unvergleichlich süß und leicht geworden - ein wunderbares Gefühl, dessen er in den dreißig Jahren seit seiner Ernennung zum Regionalsekretär der Partei beraubt gewesen war. Dulnikker bezog großes Vergnügen aus der erfreulichen Veränderung und begann die langen Nachmittagsschläfchen zu genießen. An jenem schwarzen Tag wurde der Versuch des Staatsmannes, sein Nickerchen zu machen, im Keim erstickt. Wie in einem Alptraum sah er plötzlich das Gesicht eines gräßlichen Gespenstes, das ihn an der Gurgel faßte und kräftig schüttelte, wobei es ununterbrochen kreischte: »Dulnikker! Dulnikker!«

Dulnikker schüttelte sich zitternd, und es gelang ihm, sich zu wecken. Aber das Gesicht des seltsamen Geschöpfes verschwand nicht, denn es zeigte sich unverzüglich, daß es das Gesicht seiner Rechten Hand war, die ihn unter lautem Geschrei auf dem Bett schaukelte. Tatsächlich identifizierte Dulnikker Zev nur an dessen Stimme, denn sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit grün und blau.

»Oh, mein Gott!« Dulnikker sprang aus dem Bett. »Was ist geschehen, mein Freund?«

Das sekretärähnliche Geschöpf brach auf dem Bett zusammen und klagte seinem Herrn und Meister unter ständigen Schmerzensschreien sein Leid. Auch Zev hatte ein Mittagsschläfchen gehalten, als plötzlich die Tür seines Zimmers im Haus des Schuhflickers aufsprang, eine übermenschliche Kraft ihn aus dem Bett zog und grausame Hiebe auf sein Gesicht niederhagelten, bis das Blut floß.

»Ganz fraglos ein Akt der Brutalität«, stellte der Staatsmann fest.

»Zuerst verstand ich gar nichts«, jammerte Zev. »>Ich will dir beibringen, Dorfmädchen zu verführen, du Schweinehunde, hörte ich durch die Hiebe hindurch, >jetzt werden wir ja sehen, ob du so ein Zuchthahn bleibst?««

Zu seiner großen Überraschung spürte Dulnikker, wie sich seine Lippen zu einem behaglichen Lächeln verzogen. Es gelang ihm jedoch schnell, seine schadenfrohen Gedanken zu unterdrücken.

»Mein Freund, das mußt du unbedingt dem Dorfpolizisten erzählen!«

»Ich hab’ ihm ja die ganze Zeit gesagt, er soll um Gottes willen aufhören, mich umzubringen, aber es war nutzlos.«

»Was?«

»Sie haben richtig gehört«, heulte der Sekretär und bearbeitete die Matratze mit beiden Füßen. »Die Idioten hätten es nie gewagt, sich so zu benehmen, wenn Sie sie nicht verdorben und ermutigt hätten, frech zu werden!«

»Eine Sekunde!« unterbrach ihn Dulnikker. »Zuallererst wollen wir einmal die Tatsache feststellen, daß die Schuhflickerstochter nicht von mir schwanger ist. Zweitens habe ich dich beizeiten gewarnt, mein Freund, dich vor unbedachten Abenteuern zu hüten, aber meine Worte waren ja bloß eine Stimme in der Wüste der Sünde.«

Nach Zevs Ausbruch fühlte sich Dulnikker nicht länger verpflichtet, höflich zu sein.

»In solchen Fällen« - er rieb sich die Nase mit dem Handrücken -, »in solchen Fällen kommt es häufig vor, daß der Mob den Verführer lyncht.«

Der Sekretär lehnte sich an die Wand zurück, und sein Gesicht zuckte vor Angst.

»Ja, mein Herr!« fuhr Dulnikker fort und ging auf und ab. »Wer immer unfähig ist, seine Neigung zu bezähmen, und ein Sklave seiner Lust wird, täte viel besser daran, seinen Ehrgeiz aufzugeben, dem Volk und der Partei zu dienen. Große Staatsmänner wie Julius Cäsar, alle Habsburger, Zvi Grinstein und andere stürzten einfach wegen ihrer unverantwortlichen sexuellen Schwäche von ihrer hohen Stellung. Das Volk, Genossen, das Volk weiß alles! Du bist gewogen und für zu leicht befunden worden, Zev, mein Freund.«

Der entnervte Sekretär erhob sich, die Finger noch immer in die Ohren gestopft, und brüllte:

»Genug! Genug, sag’ ich, Dulnikker! Ich bin in der schlimmsten Situation, und alles, was Sie tun, ist, mir einen Vortrag halten!«

Genau in diesem Augenblick brach zwischen den Bauern im Schankraum ein Wortgefecht aus - etwas heutzutage sehr

Übliches -, und ihre lauten Schreie drangen in Dulnikkers Zimmer. Zev schaute verwirrt wie ein gehetztes Tier um sich, das die Jäger einkreisen. Er stürzte auf den Balkon hinaus, kletterte über das Gitter und floh stöhnend und hinkend auf die Straße.

Am Abend wußte jedermann, daß der Krankenwärter verschwunden war.

Die Sache war mehr als undurchsichtig.

Der Wächter des Lagerhauses war der letzte gewesen, der den Krankenwärter gesehen hatte, als dieser in das Lagerhaus stürzte und schnell einen Laib Brot, eine Flasche Zitronensaft und eine >extrastarke< Taube kaufte. Der Wächter war sehr erschrocken über die Erscheinung des jungen Gespenstes und atmete erst leichter, nachdem Zev die Waren in seine gelbe Aktenmappe gestopft und auf torkelnden Beinen in die Wälder davongeeilt war. Nachher wurde das verzerrte Gesicht des Krankenwärters von niemandem mehr gesehen. Der Polizeichef eröffnete sofort eine untersuchung, um etwas Licht auf den ursprung der dem Vermißten zugefügten Verletzungen zu werfen, da er jedoch keinen anderen verläßlichen Zeugen für den Überfall als sich selbst fand, war Mischa gezwungen, die fruchtlose Suche aufzugeben.

Die Dorfbewohner diskutierten die Affäre in ihren üblichen kleinen streitlustigen Gruppen gründlich. Die meisten von ihnen behaupteten, die Flucht des Krankenwärters sei übereilt und völlig unnötig gewesen angesichts der Tatsache, daß der Zustand der Schuhflickerstochter nicht so unnatürlich war, wie er das zuerst schien. Diese Kollektivmeinung änderte sich jedoch mittags, als der Schächter eine Leiter gegen eine der vier einsamen Betonsäulen des Gemeindeamtes in spe lehnte, zur Spitze kletterte und gefühlvoll begann:

»Seht, wohin wir gekommen sind! Kimmelquell wurde prostituiert! Eure Eltern, Gott gebe ihnen die ewige Ruhe, fürchteten noch den Herrn und hielten die Gebote der Thora ein. Ihr aber hört nicht mehr auf die Rabbiner, sondern nur auf Leute, in deren Familien eine solche Schande eine tägliche Begebenheit ist. Gewohnheitssünder seid ihr alle! Es gibt nicht einen einzigen anständigen Menschen im ganzen Dorf!«

Die Leute sammelten sich um den Pfosten und hörten, Verwirrung in den Gesichtern, der unerwarteten Strafpredigt zu, bis sie allmählich die Absicht des Schächters zu ergründen begannen.

»Höre, Ja’akov«, schrie jemand hinauf, »willst du damit sagen, daß jeder Mann im Dorf einen Anteil an dem Baby hat?« Die rüden Angehörigen der Menge brachen in lärmendes Gelächter aus. Das aber spornte den Dorfpropheten nur an.

»Ihr werdet nicht mehr lange lachen, ihr Schurken!« brüllte Ja’akov Sfaradi. »Was glaubt ihr, wie lange der Allerheiligste eure Mißachtung seiner Gebote dulden wird? Ihr stellt keine Mezuzot in eure Einfahrten, am Sabbath raucht ihr wie die Schlote, aber in der Synagoge auftauchen, auch nur einmal in der Woche ...«

»Was meinst du damit, Ja’akov?« unterbrach ihn unten einer, »in was für einer Synagoge?«

»Es gibt eben keine!« donnerte der Schächter verächtlich. »Aber selbst wenn es eine Synagoge im Dorf gäbe, würdet ihr nicht kommen. Ich kenne euch! Eure Kinder werden Götzendiener, wie der Barbier und der Schuhflicker! Aber wartet nur, Sünder, wartet nur; ihr werdet für diese Liederlichkeit noch einen großen Preis bezahlen.«

Die Menge hörte in wachsender Verwirrung zu.

»Höre, Ja’akov«, fragte unten einer, »wann hast du dich das letzte Mal mit dem Allerheiligsten persönlich unterhalten?«

Der Schächter erschauerte, als hätte man ihm mit einer Peitsche ins Gesicht geschlagen. Er richtete den Blick nach oben, als wollte er sagen: >Hast du das gehört?< Dann richtete er sich auf und sagte mit messerscharfem Flüstern:

»Ihr werdet schon sehen, Sünder! Der Herr wird euch strafen. Es könnte sein, daß ihr morgen von sechs Uhr früh an keinen Tropfen Wasser haben werdet, um euren Durst zu löschen. Wer weiß? Die Wege des Allmächtigen sind geheimnisvoll. Weg von mir, Ungläubige, weg von mir, euer bloßer Anblick ekelt mich!«

Dann kletterte der Schächter die Leiter hinunter und kehrte ohne einen Blick auf die stockstill dastehenden Sünder heim. Die Bauern starrten die dürre, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt an und schüttelten den Kopf, denn keiner konnte sich Sfaradis seltsames Benehmen erklären, ohne anzunehmen, daß die Schwangerschaft der Schuhflickerstochter ihn verrückt gemacht hatte.

»Laßt euch von ihm nicht zum Narren halten«, warnte Elifas Hermanowitsch die Zunächststehenden. »Er will den Preis für eine Überwachung meiner Küche erhöhen. Ich kenne ihn schon.«

»Er spielt sich auf«, meinte der Steueraufseher zum örtlichen Polizeichef. »Er will in den Dorfrat wiedergewählt werden, das ist alles.«

Die Bauern grinsten und wechselten irdisch saftige Bemerkungen. Aber tief im Herzen witterten sie, daß die Schwingen von etwas geheimnisvollem immer näher an das Dorf heranschwebten.

Nach objektiver Überlegung, bar jedes gefühlsmäßigen Tenors, kam Dulnikker zu dem Schluß, daß er seinen Krankenwärter nur in einem rein technischen Sinn vermißte. Des Jünglings schädliche Einstellung zu seinem erhabenen Projekt, das dem Leben dieses >durch Selbstgefälligkeit zum Tode verurteilten Provinzdorfes< frisches Blut injiziert hatte - ja, jene zynische Haltung plus der sexuellen Verirrung hatte seit langem eine unsichtbare Trennwand zwischen ihm und seinem verhätschelten Sekretär errichtet. Jetzt grollte Dulnikker Zev wegen der herzlosen Worte, die er vor seiner Flucht via Balkon geäußert hatte, und blätterte in seinem Gedächtnis unter >Bestrafung, strengere< nach, beginnend mit Disziplinarmaßnahmen durch Parteikanäle und endend mit der Abwertung des schändlichen Günstlings zu seinem Zweiten Sekretär. Schließlich beschloß der Staatsmann, dem minderwertigen Kerl die Höchststrafe aufzuerlegen: Er würde ihn in seiner Autobiographie nicht erwähnen! Dieser Akt einer potentiellen Vergeltung hatte dem Herzen des Staatsmannes oft Frieden gebracht. Shimshon Groidiss und seine anderen niederträchtigen Rivalen hatten in der Partei unaufhörlich gegen ihn intrigiert, und Dulnikker hatte oft die Zeit für reif gehalten, mit seinen Memoiren zu beginnen, selbst wenn auch nur aus dem Grund, die Namen seiner schlimmsten Feinde wegzulassen, als hätten sie nie existiert.

Jetzt, da sein Krankenwärter in die Wälder verschwunden war, sah sich Dulnikker gezwungen, das Vieh allein zu hüten. Zuerst war der Staatsmann der zusätzlichen Last etwas müde, bald aber zeigte es sich, daß der Status quo vorherrschte; das heißt, die unschuldigen Kühe fuhren mit ihren eigenen Bräuchen so fort, als vermißten sie den jüngeren Hirten nicht. Der Staatsmann verbrachte seine Zeit weiter mit unaufhörlichem Sonnenbräunen, als hoffe er, seine frühere Vernachlässigung dieses Bereichs wettzumachen. Außerdem entdeckte er einen neuen Zeitvertreib und begann die wunderbare Insektenwelt zu studieren. Fasziniert pflegte er sich auf dem Bauch auszustrecken und den Atem anzuhalten, während er einem uralten Tausendfüßler nachkroch, einem Geschöpf, das er zum erstenmal im Leben erblickt hatte. Dulnikker war von den Reizen der Natur so gefesselt, daß er die Welt um sich völlig vergaß, bis Malkas Stimme ihn in die Wirklichkeit zurückbrachte. Hajdud und Majdud hatten ihre Mutter begleitet, aber sie schickte sie sofort zum Blumenpflücken weg.

»Wollen keine Blumen, Mama«, erwiderten die Zwillinge. »Wollen zuhören.«

»Worüber ich mit dem Herrn Ingenieur sprechen will, ist nichts für kleinere Kinder«, wies sie ihre Mutter zurecht. Als die kleinen Lümmel davonwanderten, versicherte Majdud mit Seniorat:

»Wahrscheinlich reden sie über den Bastard von der Schuhflickerstochter.«

Malka war erregt, als sie Dulnikker sein Mahl servierte.

»Herr Dulnikker«, sagte sie zu ihm, »bitte besuchen Sie das arme Mädchen!«

»Warum, wenn ich fragen darf?« protestierte Dulnikker, dessen Ärger über das Mädchen nach dessen Pech nur größer geworden war.

»Weil er schließlich Ihr Krankenwärter war. Ich weiß, Sie haben ein sehr gutes Herz, Herr Dulnikker, und daß Sie tief innen Dwora bemitleiden. Jetzt sagen Sie kein Wort, Herr Dulnikker. Ich weiß, es ist nicht fair, daß Sie immer alles selber machen müssen, aber stellen Sie sich einen Augenblick vor, was Sie fühlen würden, wenn Ihr davongelaufener Krankenwärter Sie schwanger zurückgelassen hätte.«

Nach dem Abendessen ging der Staatsmann zum Haus des Schuhflickers und traf Zemach Gurewitsch daheim an, der niedergeschlagen auf und ab ging.

»Herr Ingenieur«, sagte der Schuhflicker düster, »glauben Sie mir, ich hätte das schändliche Geschöpf umgebracht, wenn es nicht meine Tochter wäre. So also stehen die Dinge! Da zieht ein Mensch ein mutterloses Mädchen auf, und dann kommt irgendein fremder Hochstapler daher und verdreht ihr den Kopf mit irgendeiner barbierhaften Schurkerei. Gehen Sie zu ihr hinein, Herr Ingenieur, sie ist gerade todunglücklich.«

Dulnikker zupfte zerstreut seine Krawatte zurecht und betrat das Zimmer des Mädchens ohne Begeisterung. Dwora lag auf dem Bett, die rotgeweinten Augen an die Decke geheftet.

»Schauen Sie mich nicht an, Herr Ingenieur«, piepste das Mädchen. »Ich schäme mich so. Zev erzählte mir immer, daß nichts passieren kann.«

Dulnikker schaute Dwora lange an und spürte plötzlich ein Würgen in der Kehle. Das Mädchen war so klein und so blond! Ein großäugiges Kalb, von dem noch immer der Geruch der Muttermilch ausging. >Mischa hat diesem Schurken gegeben, was er verdient! < dachte Dulnikker sehr befriedigt und setzte sich auf den Bettrand.

»Du brauchst dich nicht zu grämen, mein Mädchen, es ist ja nichts passiert. Die Natur wird dir helfen, die Katastrophe zu überwinden.«

»Oh, dieser verrückte Mischa! Wer hat ihn schon gebeten, meinen armen Liebsten zu verprügeln?«

Die Worte des Mädchens rührten das Herz des Staatsmannes. Er legte seine warme Hand auf ihren fröstelnden, zitternden Arm.

»Kopf hoch, mein Fräulein«, sagte er langsam. »Glauben Sie einem Mann, der Sechsundsechzig Jahre lang Erfahrung gesammelt hat: Das Leben heilt alles. Suchen Sie Trost in der Natur. Nehmen Sie zum Beispiel den gewöhnlichen Tausendfüßler - wie er seinen weichen Körper mit einer so überaus großen Schnelligkeit aktiviert. Hast du schon einmal einen Tausendfüßler gesehen, Dwora?«

»Natürlich sehe ich sie.« Das Mädchen brach in Tränen aus. »Das ganze Haus wimmelt von ihnen. Wie kann man sie nur loswerden?«

»Nun, mein Mädchen, hoffen wir, daß dich die Vorsehung mit einem gesunden kleinen Jungen segnet. Übrigens, wie beabsichtigen Sie Ihren Sohn zu nennen, Madame?«

»Zev.«

»Es ist egal, wie Sie ihn nennen. Wichtig ist allein, daß Sie dem Kind eine moderne Erziehung geben, verbunden mit zionistischen Idealen. Ja, Fräulein Dwora, ich bin noch immer dem Schlagwort treu, über das sich gewisse, nach dem Westen schielende Kreise lustig machen: Pioniertum! Wer ein Kaufmann, ein Beamter, ein Literat werden möchte - viel Glück für ihn, aber sie werden diese Einöde nicht zum Blühen bringen, meine Damen. Das wird die von gewerkschaftlichen Überlieferungen so sehr erfüllte Jugend sein! Wie viele Jahre werden wir noch amerikanische Hilfe erhalten? Zwei? Fünf? Zehn? Und was dann? Nein, meine Herren, größer als das Bedürfnis der nationalen Sicherheit nach schwerer Artillerie ist das Bedürfnis nach Grenzsiedlungen!«

Dwora hatte schon lange zu wimmern aufgehört. Ein leichtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und ihr Daumen ruhte in ihrem Mund.

»Sie schläft ruhig wie ein kleines Kind«, murmelte Dulnikker etwas bewegt. »Wie müde das arme Mädchen war!«

Der Staatsmann zog Dwora die Decke bis zum Kinn, richtete mit väterlicher Sorgfalt die Kissen unter ihrem Kopf und sprach mit gesenkter Stimme weiter, um sie nicht zu wecken. Nach langer Zeit stand Dulnikker auf, drückte Dwora einen Kuß auf die Stirn, schneuzte sich gerührt und ging auf Fußspitzen aus dem Zimmer.

Am nächsten Morgen stand das Dorf kopf.

Die Bewohner liefen verwirrt herum und murmelten mit blutleeren Lippen lang vergessene Gebete. Die furchtbare Prophezeiung des Schächters hatte sich erfüllt. Früh am Morgen, als der Zeiger der Sonnenuhr sechs anzeigte, versiegten alle Wasserhähne in Kimmelquell und weigerten sich, weiterhin auch nur einen Tropfen Wasser zu spenden.

Wie zu erraten, hatte sich außer dem Schächter niemand die Mühe gemacht, einen Wasservorrat anzulegen. Dennoch war ihr körperliches Leiden nichts, verglichen mit der Last des alptraumhaften Gedankens, daß der Weltenschöpfer auf das Dorf wegen seiner vielen Sünden böse geworden war. Es gab viele, die es für ungerecht hielten, ein ganzes Dorf für eine ziemlich gewöhnliche Sünde zu strafen, die von einem ungestümen Jüngling begangen worden war, der noch nicht einmal ein echter Bürger des Dorfes, sondern nur ein Großstadtmensch auf Ferien war. Diese stummen Proteste hatten jedoch keinerlei Wirkung auf den grausamen Urteilsspruch: Das Wasser hatte zu fließen aufgehört.

Die Bauern hatten somit keine andere Wahl, als ihr Vertrauen auf den Schächter-Propheten zu setzen, der, wie es schien, sowohl der einzige die Sünde fürchtende Mensch im Dorf als auch der Vertraute des Herrn der Erde war. Der dürre Ja’akov Sfaradi, der noch vor wenigen Stunden in aller Öffentlichkeit ausgelacht worden war, wurde nun als ein moralischer Leuchtturm oder sogar als ein neuer Moses angesehen, von so äußerster Reinheit, daß er das Wasser in den Felsen zurückzubefehlen vermochte. Die Menschen strömten zu dem kleinen, etwas von der Straße abseits liegenden Haus des Schächters. Alle trugen Käppchen oder sonst irgendeine Kopfbedeckung und hielten schändlich verstaubte Gebetbücher in der Hand. Auch entsetzte Kinder nahmen an der öffentlichen Versammlung der Eltern teil, weil der Schächter seine Schule an diesem Tag des Gerichts geschlossen und die Schüler heimgeschickt hatte. Ja’akov Sfaradi, in seinen Gebetsschal gehüllt, stand in einer dunklen Ecke seines verwahrlosten Zimmers und betete unermüdlich den ganzen Tag lang, ohne auch nur eine Brotkrume in den Mund zu stecken. Er war so sehr in seine Bitten an den Herrn der Welt vertieft, daß er die Menge nicht bemerkte, die sich auf seiner Türstufe drängte, obwohl er häufig aus dem Haus trat, siebenmal seinen Schofar blies und wortlos wieder zum Beten zurückkehrte.

Bis Mittag hatte sich das ganze Dorf um die Höhle des geistlichen Hirten versammelt - mit Ausnahme des Schuhflickers und des Barbiers, deren Stolz es ihnen verbot zu kommen. Aber sie beteten daheim. Der einzige Sterbliche, der ruhig blieb und den das Wunder nicht kümmerte, war der Ingenieur, der zur gleichen Zeit ahnungslos in der Gesellschaft seiner geliebten Kühe in der angenehmen Herbstsonne lag. Abgesehen von dem getreuen Kuhhirten stand das ganze Dorf um den Schächter-Heiland versammelt.

»Wir haben Glück, daß er noch bei uns ist«, flüsterte Doktor Hermann Spiegel, der ein seidenes Käppchen trug, das er sich von seinen Nachbarn ausgeliehen hatte, und auf dem dreimal hintereinander mit Goldfaden gestickt >Good Boy< stand. »Ich hatte schon immer das Gefühl, daß Ja’akov Sfaradi eine besondere Persönlichkeit ist, daß irgendein mächtiges inneres Feuer in seinen Augen brennt.«

»Richtig«, stimmte Elifas Hermanowitsch dem Doktor zu. »Manchmal schlagen Feuerzungen aus seinen Augen ...«

»Pst! Pst!« brachten sie die Leute zum Schweigen. »Betet lieber! Es gibt noch immer kein Wasser!«

Als die Sterne in den Himmelshöhen erschienen und die ganze Welt in Dunkelheit gehüllt war, ging der Schächter zu seiner Gemeinde hinaus. Er stieß wieder in seinen Schofar und streckte die geäderten Arme aus:

»So seid ihr also gekommen«, erhob er seine Stimme in dem Schweigen, und sein dünner Körper streckte sich noch höher. »Ihr seid zu mir gekommen, um bei mir und beim Allerheiligsten sofortige Buße für alles zu erreichen, was ihr seit Jahren gesündigt habt. Aber ich lasse euch wissen, daß eure Heuchelei vergeblich ist. Euer Gebetemurmeln ist vergeblich, wenn ihr in euren Herzen die gleichen gottlosen Ungläubigen bleibt.«

»Meister«, sagten die Leute und verneigten sich, »also ehrlich, es ist uns ernst damit. Wir werden haufenweise beten.«

»Ihr und beten?« explodierte der Schächter. »Glaubt ihr Narren, der Meister des Weltalls braucht eure erbärmlichen Gebete? Nein, meine Freunde, wenn ihr einmal am Tag des Gerichts vor ihm steht, gebrochen, zerschmettert wie eine weggeworfene Schüssel, wird der Herr der Welt nur eine Frage an eure Seelen stellen: >Menschensohn, für wen hast du bei den Gemeindewahlen gestimmt?<«

Daraufhin kehrte der Schächter den verlorenen Seelen den Rücken und schritt in seinen Bau zurück. Die Bauern standen benommen und verwirrt da, weil sie unfähig waren, die Absicht der Predigt zu ergründen.

»Meister«, schrien sie verzweifelt Ja’akov Sfaradi nach, »verlaß uns nicht, verlaß uns nicht in dieser Stunde! Gib uns Wasser, Meister!«

Am Fenster erschien die Gestalt des Schächters, von dem zuckenden Licht zweier Sabbathkerzen erhellt. Ehrfürchtige Stille breitete sich aus.

»Also sprich Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger.« Der Schächter breitete seine Arme aus. »Der Unaussprechliche hat meine Bitte erfüllt. Morgen früh um sechs Uhr wird frisches, süßes Trinkwasser aus den Wasserhähnen fließen. Nun geht heim und betet weiter! Der Schächter hat gesprochen!«

Die Leute gingen heim und taten, wie ihnen der Schächter geboten hatte, die ganze Nacht lang. Bei Sonnenaufgang, als der Zeiger der Sonnenuhr seinen ersten Schatten warf, traten sie an ihre Wasserhähne und drehten sie mit zitternden Händen auf. Aber es kam kein Wasser. Nicht ein Tropfen.

Die Verlängerung des Wunders verursachte eine verständliche Verwirrung unter der örtlichen Bürgerschaft, aber der verwirrteste war der Wunderwirker selbst. Nach einer Nacht gesegnet gesunden Schlafs stand der Schächter früh auf, streckte sich kräftig, stürzte zum Wasserhahn - und entdeckte, was er entdeckte. In die Seele des geistigen Hirten fraß sich scharf eine verständliche Gereiztheit. Er eilte zu seiner Schreibtischlade, zog einen fast vergessenen Umschlag hervor und las den darin enthaltenen Brief nochmals aufmerksam durch:

>An den Ehrenw. Bürgermeister

Kimmelquell

Sehr geehrter Herr!

Infolge Reparaturarbeiten an der Pumpe sind wir gezwungen, den Wasserzufluß zu Ihrem Dorf am 13. ds. M. für vierundzwanzig Stunden zu unterbrechen, beginnend um sechs Uhr morgens.

Es ist ratsam, vorher einen Trinkwasservorrat anzulegen.

Mit kameradschaftlichen Grüßen Die Leitung Mekorot Wasserwerke G.m.b.H.<

Ja’akov Sfaradi las den Brief mehrmals durch, wurde aber deshalb keine Spur klüger aus ihm. Plötzlich schoß ihm ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Vielleicht waren irgendwelche Ungläubige, so wie der Barbier oder der Schuhflicker, in der Nacht hinausgegangen und hatten den

Haupthahn zugedreht, der sich in einiger Entfernung vom Dorf befand. Der Schächter legte den Brief in den Umschlag und den Umschlag in seine Lade zurück. Dann eilte er zu dem Haupthahn hinaus, aber zu seiner großen Enttäuschung entdeckte er, daß dieser wie gewöhnlich offenstand. Was also stimmte da nicht?

Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger hob in einem gräßlichen Verdacht langsam den Blick himmelwärts, aber sein nüchterner Verstand verwarf den Gedanken als unmöglich. Die Reparaturen dauerten bestimmt noch einen weiteren Tag; das war alles.

Als der Schächter heimkam, wurde er von einer verständlicherweise erbitterten Menge begrüßt, deren Mehrzahl in ihrem Protest davon absah, sich den Kopf zu bedecken.

»Was geht hier vor, Schächter?« beklagte sich der Mob. »Du hast gesagt, Gott habe zugestimmt. Wo also bleibt das Wasser?«

Ja’akov Sfaradi wurde wütend und trampelte die Kühnen augenblicklich nieder: »Fragt nicht mich nach Wasser, Sünder, fragt euch selbst!« schrie er sie an. »Der Allerheiligste kennt bestimmt die Gründe seiner Strafen. Er weiß sehr gut, daß ihr nur an der Oberfläche bereut habt, daß ihr euch gesagt habt, >das Wasser soll nur wieder aus dem Hahn fließen, und wir können den heuchlerischen Schächter vergessen und wieder zum Schweinefleisch zurückkehren<.«

»Ist schon gut«, beruhigten ihn die Leute. Sie waren sehr verdutzt, daß der Allerheiligste ihre Gedanken so gut kannte. »Was fangen wir jetzt an?«

Der Schächter erwog die Möglichkeiten, dann sagte er: »Also spricht Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger: Bringt alle eure Kochgeräte aus euren Häusern herbei, um sie wie in den Tagen eurer gottesfürchtigen Väter - Gott hab sie selig - zu reinigen.

Wie geschrieben steht: Ihr sollt allen Sauerteig aus euren Häusern entfernen.«

Die Leute tauschten verwunderte Blicke untereinander.

»Meister«, erwiderten sie staunend, »aber wir haben doch jetzt nicht Passover?«

»Ich weiß. Aber >Lebensgefahr zieht heilige Zeit herbei<. Gehet hin, Sünder, und bringt eure besudelten Töpfe her. Der Schächter hat gesprochen.«

Nolens volens kehrten sie heim, während Ja’akov Sfaradi unverzüglich einen Kessel voll Wasser(!) aus seinem Haus schleppte, unter ihm eine Handvoll Reisig ausbreitete, es mit Kerosin besprengte und ein großes Feuer anfachte.

Nach einer Weile schlängelte sich eine lange Reihe von Hausfrauen mit ihren beladenen Männern auf den Kessel zu, und Ja’akov Sfaradi reinigte ihre Geräte in dem brühheißen Kessel gegen einen bescheidenen, einmaligen Beitrag für den >Fonds zur baldigsten Erbauung einer Synagoge<. Der Schächter unterbrach seine Aufgabe nicht vor Sternenaufgang, außer um etwas Wasser zum Kochen zuzugießen oder gelegentlich seinen Schofar zu blasen. Natürlich gab es einige Murrende in der Menge, die meinten, daß das Wasser, das auf das Koschermachen verschwendet wurde, genügt hätte, den Durst des Dorfes erheblich zu verringern. Aber selbst sie wagten ihre Meinung nicht laut werden zu lassen, und sie redeten auch lieber nicht zuviel wegen der geschwollenen Zunge, die ihnen am ausgetrockneten Gaumen klebte. In der Reinigungsreihe vertrat Elifas Hermanowitsch die Hauptdorfräte mit gesenkten Augen. Der Schuster sandte seine schwangere Tochter zu der Bußversammlung, und der Barbier entsandte seine Frau in Begleitung ihres Sohnes. Denn sowohl Hassidoff wie Gurewitsch fürchteten die Ergebnisse einer Unterwerfung in der Öffentlichkeit. Ofer Kisch hatte keine Töpfe im Haus, weil er kein Haus hatte, schloß sich jedoch als

Zeichen des guten Willens der gewundenen Reihe an und schlängelte sich mit ihr langsam und geduldig zum Kessel.

Nachdem der Schächter spät nachts den letzten Topf gereinigt hatte, brach er vor Müdigkeit fast zusammen. Er sagte zu den Leuten:

»Morgen früh gibt es Wasser. Ihr sollt daheim beten und allen Sauerteig vernichten. Gehet dahin! Der Schächter hat gesprochen.«

Die Bauern verbrachten die Nacht an ihren Wasserhähnen, begleitet von dem heisernen Summen halbvergessener Psalmen, während sich ihre durstigen Frauen wachhielten und mit letzter Kraft allen Sauerteig aus ihren Heimen kehrten. Aber es war alles umsonst. Am Morgen erreichte der Schatten des Zeigers die Zahl 10, aber die Wasserhähne gaben nichts her. Der Grund dafür war wirklich nicht vorauszusehen gewesen. Erst nachdem man die große Pumpe auseinandergenommen hatte, wurde es den Leuten der Pumpstation klar, daß die Kolbenstange der Länge nach gesprungen war und zum Schweißen zu Grünwald & Sohn nach Haifa geschickt werden mußte.

Das verlängerte Wunder, das sich vor den Augen des Dorfes drei ganze Tage lang abspielte, rettete das Dorf vor einer äußerst ernsten inneren Krise. Die Sache hatte ungefähr eine Woche früher begonnen: Der Schuhflicker war auf die Weide gekommen, um eine dringende Angelegenheit mit dem Ingenieur zu besprechen. Eine solche Strecke zu Fuß war für den hinkenden Gurewitsch mehr als schwierig, aber seine flammende Wut trieb ihn vorwärts. Er überraschte Dulnikker beim Blumenpflücken, die er zu einem Kranz winden wollte.

»Herr Ingenieur, was geht denn schon wieder vor?«

Die Tatsachen des neuen Skandals wurden schnell klar. Nach dem Unternehmen Gummistempel hatte Gurewitsch den unwiderstehlichen Drang verspürt, das Schatzamt des Dorfes zu überprüfen, zu welchem Zweck er den Barbier besuchte und dessen Rechnungsbelege mit einem Vergrößerungsglas prüfte. Ganz unten auf der Ausgabenliste fand er dabei folgende bescheidene Eintragung:    Gehaltsvorschuß    für den

Kommunalwächter des Kommunalbüros - 45 örtliche Pfund.<

»Haben Sie das gehört, Herr Ingenieur? Einen Vorschuß!« Der Schuhflicker war wild. »Und wer, glauben Sie, ist der ehrenwerte Wächter? Salmans Schwager!«

»Keine Temperamentsausbrüche, wenn ich bitten darf!« Das Gesicht des Staatsmannes wurde rot wie die Mohnblumen in seiner Hand. »Versucht doch, meine Herren, die Angelegenheit mit Hassidoff persönlich zu regeln.«

»Dazu bin ich nicht bereit, Herr Ingenieur«, erwiderte Gurewitsch. »Salman tritt beim Raufen mit den Füßen.«

Dulnikker gab diese Gesellschaft von Schwächlingen vollkommen auf, die den ganzen Tag nichts taten, als kleinliche Intrigen auszuhecken. Am Abend berief er Hassidoff zu sich und ergoß den ganzen Zorn über ihn, der sich in den letzten Tagen in ihm aufgespeichert hatte.

»Was soll das heißen?« schrie er ihn an. »Von dem Gebäude, das Ihr Büro werden sollte, ist nichts zu sehen als die Betonpfeiler, die wie einsame Felsvorsprünge in der Wüste dastehen. Und inzwischen haben Sie sich beeilt, Herr Hassidoff, ohne Rücksicht auf die Forderungen des Schuhflickers, Ihren Schwager zum Wächter des Nichtvorhandenen zu ernennen!«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte der Barbier zornig. »Erst sagen Sie immer etwas, Herr Ingenieur, und dann ist es unmöglich zu erklären. Ich hasse Gurewitsch wie die Pest. Wohingegen mein Schwager eine Tochter bekommen hat und sehr nötig etwas zusätzliches Einkommen braucht. Warum also sollte ich mit dem Schuhflicker abrechnen?«

»Erstens, meine Herren, versuchen Sie sich prägnanter auszudrücken! Ich glaube, dazu brauchen Sie kein IngenieurDiplom! Zweitens versuchen Sie, an Ihre Sicherheit zu denken. Was würde geschehen, wenn Gott behüte der Schuhflicker zum Bürgermeister gewählt würde?«

»Er wird nicht gewählt«, versicherte ihm Frau Hassidoff, »dafür garantiere ich.«

»Nehmen wir um des Arguments willen an, daß er doch gewählt wird. Was wird seine erste Aufgabe sein, wenn er das Amt betritt? Ihren ehrenwerten Schwager hinauszuschmeißen und seine eigenen Verwandten einzusetzen! Aber wenn ihr jetzt auf seine Familie Rücksicht nehmt, dann wird er auf euren Schwager Rücksicht nehmen, egal, wie die Dinge ausgehen. Ein bißchen Verständnis, meine Herren! Sie können ja in der politischen Arena kämpfen, aber Sie brauchen nicht zu Raubtieren zu werden.«

Das Wasserwunder brachte die glückliche Lösung der Wächteraffäre mit sich. Dulnikker war auf der Weide draußen und verbrachte köstliche Stunden im Gespräch mit seinem Infiltrator. Bei Beginn ihres Gespräches erkundigte sich der Staatsmann in gebrochenem Englisch nach der ethischen Grundhaltung des Infiltrators und seiner Einstellung zu der Suezkanalkrise im allgemeinen und im besonderen. Da sich jedoch die Antworten des Arabers auf den immer wiederkehrenden Ausdruck »Ja, Effendi« beschränkten, wandte sich ihr Gespräch Dulnikkers Tätigkeiten und Lebenslauf zu, einschließlich vieler interessanter Einzelheiten aus der Periode seiner Jugend sowie einer Anekdote - um die neuen Grenzspannungen zu beleuchten - über einen gewissen Rabbi, dem gegenüber sich der Schächter beklagte, daß man ihm nicht erlaubt hatte, zu Rosh Hashanah Schofar zu blasen ...

Es war schwierig, die Pointe ins Englische zu übersetzen, aber der Araber kommentierte trotzdem zweimal mit »Allah akbar« und deutete an, daß er bereit sei, dem Effendi ewig zuzuhören, die Sorge um seine Familie jedoch seine baldigste Heimkehr verlange. Dulnikker kaufte eine Dose Neskaffee, um ihn zu weiteren Besuchen auf der Wiese zu ermutigen. Daraufhin trennten sich die Angehörigen der beiden feindlichen Nationen, und Dulnikker zog den befreienden Schluß, daß er nur etwas gegen die feudalistischen arabischen Gebieter, nicht jedoch gegen das Volk hatte.

Das plötzliche Auftauchen des Barbiers brachte den Staatsmann von seinem orientalischen Gipfel herunter. Salman Hassidoff hatte seinen Karren am Rande der Weide geparkt und bahnte sich seinen Weg durch die Kühe geradewegs zu Dulnikker. Der durstige Bürgermeister ließ sich neben dem Staatsmann ins Gras fallen und beschrieb das Wasserwunder in allen seinen Einzelheiten.

»Deshalb sagte meine Frau, daß wir jetzt von uns irgend etwas Gutes tun und unseren Feinden vergeben müßten und solche Sachen, sonst werden wir bis zur Regenperiode überhaupt kein Wasser mehr bekommen«, endete der Barbier leicht verwirrt, »daher bitte, Herr Ingenieur, sagen Sie dem Schuhflicker, daß für seine Familie ein kleiner Posten frei wäre, weil ich nicht einmal für ein ganzes Faß Wasser mit ihm reden würde.«

So geschah es, daß Zemach Gurewitschs Vetter mitten in der Trockenperiode zum Wächter des zu bohrenden Dorfbrunnens mit einem Gehalt von 25 örtlichen Pfund bestellt wurde. Aber der Bürgermeister setzte eine Probezeit fest: Falls der Brunnen nicht innerhalb von zehn Jahren gegraben würde, könnte der Chef des Dorfrats die Ernennung zurückziehen.

Der Schächter spähte hinter seinen Vorhängen auf die anwachsende Menge hinaus, die sich in unheilvollem Schweigen vor seinem Haus versammelte. Seine Scheu vor der Öffentlichkeit wuchs, obwohl nicht alle Bauern ihre Mistgabeln mitgebracht hatten. Einige Dutzend hatten nur ihre geballten Fäuste. In dieser Nacht, nach einem Tag, der vollkommen locker gewesen war, hatte auch der Schächter kein Auge zugetan, sondern war an seinen Wasserhahn geheftet dagesessen und hatte funkelnagelneue, eigenschöpferische Gebete zum Himmel emporgesandt, in denen er den Schöpfer zu überzeugen suchte, daß er, der Schächter, das Wunder einzig um seinetwillen bewirkt habe. So daß es für den Allerheiligsten richtig sei, endlich etwas wegen der verflixten Pumpenreparatur zu unternehmen.

Aber der Wasserhahn blieb grausam, rüde still. Der fröstelnde Ja’akov Sfaradi erkannte, daß ihn wahrscheinlich nur eine feste Haltung vor Schwierigkeiten bewahren konnte. Daher öffnete er die Tür und stellte sich in dem strahlenden Morgen dem Mob, die Arme über der Brust gekreuzt und mit einem tiefen Vorwurf in den Augen.

»Was wollt ihr von mir?« fragte er. Aber seine Stimme rutschte aus und kam von ihrem Kurs ab. »Ich bin bloß ein Schofar in der Hand des Herrn.«

Nein. Es war sicherlich kein Akt der Klugheit gewesen, in diesem Stadium der Ereignisse einen Schofar zu erwähnen. Die Männer verengten den Kreis um den Schächter, und die Mistgabeln in ihren Händen begannen über den bevorstehenden einseitigen Zusammenstoß hämisch erfreut zu funkeln.

»Hör zu schwätzen auf, Ja’akov«, murmelten die Bauern krächzend aus trockenen Kehlen. »Du hast im vorhinein gewußt, daß es kein Wasser geben würde! Und was schlimmer ist, sehr wahrscheinlich hast du einen Handel mit Gott abgeschlossen, um uns festzunageln!«

»Ihr werdet das Herz des Allerheiligsten nicht mit Drohungen erweichen, sondern nur mit vollständiger Reue«, rügte sie der Schächter. Laut fügte er hinzu: »Polizei! Polizei!«

Aber Mischa hatte wegen Durstes Urlaub von seinen Pflichten genommen und konnte nichts für den körperlichen Schutz des belagerten Dorfmitglieds tun. Ja’akov Sfaradi war ganz allein. Seine verschreckten Augen schossen herum und sahen nur große Gefahr, die - um der Sache auf den Grund zu gehen - nur auf die unerwartete Einberufung des jüngeren Grünwald in Haifa zu Reserveübungen zurückzuführen war.

»Jetzt geht jedermann heim« - der Schächter gürtete seine zitternden Lenden - »und faste bis morgen früh, als wäre Jom Kippur. Der Schächter hat gesprochen.«

Sowie der Schächter den Mund zutat, packten rohe Finger seinen Kragen, die entzauberten Angehörigen seiner Herde reichten ihn straßauf, straßab weiter und begleiteten seinen Durchzug mit Schlägen, Fußtritten und Stößen.

»Wartet nur, wartet nur, ihr Antisemiten!« kreischte Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger. »Wartet nur, ihr Sünder, ihr werdet schon sehen, was euch der Allerheiligste antun wird! Ihr werdet schon sehen!«

Aber es nützte nichts. Blinde Wut verdrängte, was an spärlichem frommen Gefühl sie hatten. Die Dorfbewohner ließen erst davon ab, den Schächter Spießruten laufen zu lassen, als sie selbst vor Schwäche fast zusammenbrachen. Dann gingen sie sehr langsam heim und wurden von ihren Frauen mit der erfrischenden Neuigkeit begrüßt: Aus den Wasserhähnen floß Wasser.

Von der Stadt aufs Land zurück

Kaum hatten sich die Leute einen Rausch mit Wasser angetrunken, als ihnen eine neue Überraschung vom Staatsmann angekündigt wurde, der verwirrt aus den Feldern herbeigerannt kam und Alarm schlug, daß am Eingang des Dorfes mitten auf der Straße eine Leiche liege. Einige neugierige, entsetzte Männer kehrten mit dem Staatsmann zu der Stelle zurück und entschieden erleichtert, daß die unbekannte Leiche noch lebte. Zwei stämmige Bauern hoben sie auf und trugen sie ins Dorf zum Haus des Tierarztes. Der Mann war ein ausgemergeltes Gerippe in schmutzigen Lumpen. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln, und seine glasigen, rotumränderten Augen quollen reglos hinter einer zerbrochenen Brille vor. Dulnikker erriet sofort, daß die kaum erkennbare Gestalt niemand anderer als sein persönlicher Sekretär war, und sein Verdacht wurde durch die gelbe Aktenmappe gestützt, die der Arme in seinen verkrampften Fingern hielt.

Die Schuhflickerstochter rannte zu der Erste-HilfeMannschaft hinaus und warf sich auf das menschliche Wrack, weinend vor großer Freude und vor Staunen, daß Zev freiwillig zu ihr zurückgekehrt war. Eben da begannen seine Augen einige Lebensfunken zu zeigen, und er sah in großer Furcht um sich. Dulnikker schlug seinem Sekretär herzlich auf die Knochen, die ihm aus dem Rücken vorstanden, und fragte ihn sanft: »So bist du also zurückgekehrt, mein Freund?«

Die Frage war sichtlich unnötig, zeitigte jedoch eine seltsame Reaktion. Zev begann am ganzen Leib zu zittern, starrte den

Staatsmann an, als sehe er Gespenster, und stopfte sich zwei hagere Finger in die Ohren:

»Aufhören! Um Gottes willen, aufhören!« heulten die Überreste des Ersten Sekretärs. »Ich kann es nicht mehr aushalten! Halten Sie den Mund, Dulnikker, halten Sie den Mund!« Sein Kreischen war so gräßlich und trommelfellzerreißend, daß die Männer Dulnikker flüsternd zuraunten, er möge still sein. Zev warf sich wild herum und fiel seinen Trägern fast aus den Händen. Er wurde erst ruhiger, als man ihn in seinem ehemaligen Zimmer beim Schuhflicker aufs Bett gelegt hatte, wo er durstig zwei Krüge Wasser hinuntergoß. Hermann Spiegel untersuchte ihn und versicherte, daß keine Lebensgefahr bestehe, da er nur einen Sonnenstich erlitten hatte, erschwert durch ungenügende Ernährung.

Was die Leiden des Sekretärs betraf, so wurden sie erst mit der Zeit bekannt.

Nachdem er vom Balkon gesprungen war, rannte er heim, stopfte das Nötigste in seine Aktenmappe und fegte wie ein Wirbelsturm zum Lagerhaus. Er erinnerte sich nicht, wie man zur Landstraße kam, hoffte jedoch, daß das Brot und der Saft ausreichen würden, bis er irgendwie auf den Tunnel in der Felswand stieß. Daher ging er auch nach Einbruch der Dunkelheit noch weiter und richtete sich nach den Sternen, um seinen Weg zu finden. Er wählte den Großen Bären, weil er sich aus seinen Pfadfinderzeiten erinnerte, daß dieses Sternbild immer am nördlichen Himmel erscheint. Der Sekretär bahnte sich seinen Weg durch das Unterholz in die entgegengesetzte Richtung zum Großen Bären, um südwärts zu gelangen.

Gegen Mitternacht beschloß Zev, einige Minuten zu rasten, und brach am Fuß eines Baumes zusammen. Als er aufwachte, war es 4 Uhr 30 nachmittags, und der junge Mann war entsetzt, als er entdeckte, daß der Große Bär spurlos verschwunden war. Unverzüglich öffnete er seine geräumige Aktenmappe, verschlang den Brotlaib und goß die Flasche Saft auf einen Zug hinunter. Aber sein Hunger ließ nicht nach. Er sah seine Aktenmappe durch und entdeckte die >extrastarke< Brieftaube, die er völlig vergessen hatte, in den Oberteil seines Pyjamas eingewickelt und halb erstickt. Mit Hilfe eines abgebrannten Streichholzes schrieb der Sekretär auf ein zerknittertes Stück Papier:

»Bin auf der Flucht zum Tunnel durch die Wälder. Sendet sofort Expedition. Kräfte lassen nach. Verhungere.«

Er unterzeichnete mit Dulnikkers Namen, so daß sich Schultheiß beeilen würde, den Lastwagen hinauszuschicken, und fügte zwecks erhöhter Glaubwürdigkeit hinzu: »Sendet auch Reporter.«

Der Sekretär band der Taube die Notiz mit einem Stück Faden aus seinem Rockaufschlag ans Bein. Dann warf er den Vogel in die Luft, aber der fiel schlapp ins Gras zurück. Zev glättete der Taube die Federn, redete ihr leise gut zu und warf sie immer wieder in die Luft, bis der fliegende Kurier Mut faßte und schwerfällig zu flattern begann. Genau in dem Augenblick aber schoß dem Sekretär eine praktische Idee durch den Kopf, und er begann dem Vogel nachzujagen. Endlich brachte er ihn herunter, röstete die >extrastarke< Taube auf einem offenen Feuer und aß sie mit erschreckendem Genuß einschließlich des Marks in den Knochen ganz auf.

Nach seiner Mahlzeit setzte der Jüngling, gesättigt und etwas erholt, seine Flucht fort. Er ging Hügel und Kämme hinauf und hinunter, überquerte ausgetrocknete Flußbetten und erklomm Felsblöcke. Bei Tageslicht schleppte er sich dahin, indem er sich nach seinem Orientierungssinn richtete, und nachts wieder anhand des Großen Bären. Am dritten Tag hörte er verrückte, wirre Geräusche und sah Nebel vor seinen Augen. Der Sekretär kroch jedoch weiter. Und am vierten Tag seiner Flucht näherte er sich endlich bewohntem Gebiet. Aber bevor er sich vergewissern konnte, wo er war - auf seinem Weg zu den weißen Häusern irgendeiner kleinen Siedlung -, brach er bewußtlos zusammen.

»Herr Ingenieur, Herr Ingenieur!« Dwora rannte zwischen den Kühen hindurch und kam atemlos auf ihn zu. Dulnikker stand hastig auf, um sie zu begrüßen.

»Ich komme!« rief er dem Mädchen zu. »Sag Zev, mein Mädchen, daß ich das Vieh heimtreibe und gleich bei ihm drüben bin.«

»Das ist es ja gerade, Herr Ingenieur«, sagte Dwora verwirrt, als sie sich neben ihm niedersetzte, »Sie dürfen ihn nicht besuchen .«

»Um Gottes willen! Hat er etwas Ansteckendes?«

»Nein. Körperlich ist er nicht so krank«, erwiderte das Mädchen. »Der Doktor sagt, es kommt alles von der Sonne, und daß es ihm bald besser gehen wird, aber vorderhand tobt er einfach, und manchmal fängt er ohne jeden Grund an, gellend zu schreien: >Hören Sie schon auf damit, Dulnikker! Halten Sie den Mund!<«

»Das habe ich ihn auch schreien gehört«, murmelte der Staatsmann verständnislos.

»Er will immer, daß Sie zu reden aufhören, Herr Ingenieur, obwohl Sie gar nicht aufhören könnten, etwas zu tun, weil Sie ja nicht einmal da sind, nur daß Zev eben glaubt, Sie seien da. Verstehen Sie?«

»Nein!«

»Seien Sie nicht böse auf mich, Herr Ingenieur, ich wiederhole nur, was ich gehört habe. Zev sitzt so gebrochen und verloren in seinem Bett, starrt mit seinen verglasten Augen direkt vor sich hin und wiederholt endlos . « Hier zog das Mädchen ein Stück Papier aus seiner Rocktasche und las zitternd: »>Die besten Wünsche für ein gutes und schönes Neues Jahr der Arbeit und des Schaffens, der Produktivität und Macht, der Vereinigung konstruktiver Kräfte, der Festigung der Wirtschaft, dem Aufblühen der Wüsten, der Überwindung der Geburtswehen, der Entwicklung unserer Bewegung, der Verherrlichung der Macht der Arbeit, der jüdischen Brüderlichkeit, Masseneinwanderung und Assimilierung und Absorbierung und Verwirklichung und Vision und Eroberung und des dauernden Friedens und der Wahrheit -< und einen rechten Strom ähnlicher Dinge, so daß ich sie nicht alle nieder schreiben konnte. Nachher beginnt er zu schreien: >Hören Sie auf damit, Dulnikker!< und beginnt zu weinen, und ein paar Minuten später fängt er wieder von vorn an.« Dulnikker schwieg entsetzt.

»So ist das, Herrn Ingenieur.« Dwora zuckte die Achseln und fuhr flehend fort: »Ich verstehe das nicht ganz, aber wenn es auch nur diese einzige Möglichkeit gibt, dann bitte ich Sie sehr, Herr Ingenieur, wirklich schon damit aufzuhören, Zev leidet so, daß es unerträglich ist, es mitanzusehen.«

»Was kann ich dagegen tun, Madame? Er spinnt!«

Der Tierarzt befahl, Zev in seinem dunklen Zimmer einzusperren und ihn nicht zu stören, wenn er den Herrn Ingenieur sprechen höre. So begannen sich nach einer Woche >die besten Wünsche für ein gutes und schönes Neues Jahr< langsam zu verflüchtigen. Die Bauern gewöhnten sich schnell daran, daß der Krankenwärter wieder im Dorf war, insbesondere, da andere Ereignisse auftauchten, die um ihre Aufmerksamkeit buhlten.

Die Dorfbewohner wurden sich zum Beispiel einer ungewöhnlichen Entwicklung bewußt. Das Tnuva-Geld wurde geheimnisvollerweise langsam aus dem Verkehr gezogen, und sie entdeckten, daß sie nur noch lokale Währung besaßen. Diese Entwicklung klärte sich auf, als Zemach Gurewitsch mit einer vollen Wagenladung Büroausrüstung aus Haifa zurückkehrte. Sie war der Liste entsprechend erstanden worden, die mit Rat und Hilfe des Ingenieurs zusammengestellt worden war. Das geschah in einer öffentlichen Sitzung des Provisorischen Dorfrats, die in Gegenwart der Kühe unter freiem Himmel abgehalten wurde. Der Schuhflicker brachte außerdem einen Besitz mit, der das nagende Verlangen der Bauern erregte und ihre Eifersüchteleien zu einem Höllenfeuer entfachte. Er lud ein glänzend poliertes Fahrrad vom Tnuva-Lastwagen ab und stellte es vor seine Schusterwerkstatt. In jenen Tagen fragten sich viele, wieso es sich ein einfacher Dorfschuster leisten konnte, diesen Drahtesel zu kaufen, aber das war bloßes Gerede, in das jeder kommt, der für das öffentliche Wohl arbeitet.

Der Karteikasten, der schwere Stahl safe und die zwei Schreibtische wurden auf den Sand zwischen die vier einsamen Pfeiler des Stadtamtes in spe gestellt, und um sie herum wurde die übrige teure Ausstattung verstreut. Die Dorfbewohner versammelten sich immer wieder um den Prunk, beschnupperten neugierig die seltsamen Stühle, die man heben und senken konnte, wenn man einen Knopf drehte, und besonders beeindruckt waren sie von den Gummikissen, die man zuerst mit dem Mund aufblasen mußte, bevor man sich draufsetzen konnte. Auf den Schreibtisch und in ihrem Laden hatte Frau Hassidoff große Briefordner sowie Schreibblöcke verschiedener Größe prachtvoll angeordnet, Bleistifte, deren eines Ende blau und deren anderes Ende rot schrieb, ein Lineal, ein Radiergummi(!), einen geflochtenen Papierkorb, ein Messer ohne Griff, ein Stück Schwamm(?), eine kleine Briefwaage(?), ein erstaunliches Instrument, mit dem man

Löcher stanzen konnte, und - endlich - einige Gummistempel und einen Löschblattroller(!), einen echten Bleistiftspitzer, eine Rechenmaschine mit Kugeln, eine Tischglocke und noch mehr.

Die Mitglieder des Provisorischen Dorfrats weideten ihre Augen höchst befriedigt an den Errungenschaften der Bürotechnologie. Nicht zu vergessen die schwindelerregenden Stühle und die angenehm klingende Glocke, die eine nie versiegende Quelle des Vergnügens für die Dorfräte war. Häufig setzten sie sich instinktiv hinter die Schreibtische und versuchten, eine entsprechende Miene aufzusetzen. Der einzige Gedanke, der ihr Vergnügen umwölkte, war die Frage: Was sollte man mit all den glänzenden Dingen anfangen? Gerade zu einer Zeit, da die Zahl der Arbeitslosen im Dorf anstieg, weil der größte Teil der Kümmelernte verfault war. Es war schwierig, festzustellen, ob das auf den späten Herbstregen oder die Vernachlässigung der Felder zurückging. Tatsache jedoch blieb, daß die Dorfbewohner noch nie eine so unbedeutende Menge Kümmel eingesammelt hatten wie in diesem Jahr.

Sowie Dulnikker von >der katastrophalen Situation der landwirtschaftlichen Produktivität< hörte, befahl er den Provisorischen Dorfrat zu einer Notstandssitzung zusammen. Das war wirklich unnötig, weil der Provisorische Dorfrat in letzter Zeit ohnehin in Hassidoffs neuem Stall immer wieder einberufen worden war, ohne daß der Vorsitzende verständigt wurde. Ungeduldig eröffnete Dulnikker die Notstandssitzung, obwohl der Zählappell enthüllte, daß der Schuhflicker noch nicht eingetroffen war. Gurewitsch hatte sich seit neuestem die Gewohnheit zugelegt, wegen seines Fahrrads zu spät zu Versammlungen zu kommen: Da er wegen seines lahmen

Fußes nicht schnell gehen konnte, fiel es ihm schwer, auch noch das Fahrzeug mitzuschleppen.

»Meine Herren!« begann der Staatsmann mit lauter Stimme. »Wie waren die Ergebnisse der diesjährigen Ernte?«

»Sehr armselig, Herr Ingenieur«, erwiderte der Barbier ohne eine Spur Scham. »Wir haben die Tnuva vielleicht mit einem Zehntel unseres üblichen Ertrags beliefert.«

»Großartig!« explodierte Dulnikker. »Einfach wunderbar! Herr Hassidoff, der Bürgermeister von Kimmelquell, informiert mich heiter und zufrieden, daß es ihm gelungen ist, die Produktivität des Dorfes in den ersten Monaten seiner Amtszeit zu ruinieren und sie auf ein Zehntel herabzusetzen! Ich habe mehr als einmal gegen Ihren Mangel an Reife Verwahrung eingelegt, meine Herren, aber das ist einfach zuviel!«

»Eine Sekunde, Ingenieur«, fiel der Barbier ein, »Sie werden schon verzeihen, aber wir haben es eilig. Es stimmt, daß die Ernte sehr mager war, aber andererseits ist das der Grund, warum der Kümmelpreis in unserem Land so hoch gestiegen ist, daß uns die Tnuva für ein Zehntel der üblichen Ernte fünfmal mehr bezahlt hat, als sie uns je bisher für unsere beste Ernte gegeben hat.«

Dulnikker war sprachlos.

»Geld ist nicht alles, Genossen«, stammelte er. »Worauf es ankommt, ist das Prinzip.«

»Entschuldigen Sie, Ingenieur«, protestierte Hassidoff. »Ich kann Ihnen nicht folgen. Was ist falsch daran, wenn man für weniger Arbeit mehr verdient?«

Dulnikkers Gesicht lief rot an, und seine Stirnadern quollen vor und zitterten. Diese Lümmel hatten noch nie in einem so unverschämten Ton mit ihm zu sprechen gewagt! Der Staatsmann hatte schon seit einiger Zeit eine geheime Abneigung gegen den unbegabten kleinen Barbier zu spüren begonnen, der um keinen Deut besser war als die übrigen Dorfbewohner, der jedoch, sowie er zufällig Chef der Gemeindeverwaltung geworden war, sich von Geburt an vom Schicksal für die Stellung bestimmt hielt. Dulnikker bemerkte mit Ekel, daß sich der Barbier mit wütender Hartnäckigkeit an seinen Titel und sein Fahrzeug klammerte, als fürchte er, daß sein Rücktritt das Dorf in Bankrott stürzen würde. Überdies hatte Hassidoff von dem Tag an, als ein ambitionierter junger Mann aus dem Dorf zu seinem Sekretär ernannt worden war, neue Gewohnheiten entwickelt. Erstens verlangte er, daß sein Sekretär ihm wie ein Schleppenträger überallhin folge und auf jeden Ton lausche, den er, der Bürgermeister de facto, äußere. Und noch mehr, die Leute sahen öfter als einmal seinen Adjutanten neben seinem Karren einherlaufen und entsprechend Hassidoffs neuem Brauch, >alles schriftlich< Befehle niederschreiben. In seinem Verlangen, die Berge Papier und den Rest der modernen Ausstattung seines Büros zu benützen, stellte der Bürgermeister fast allen mündlichen Kontakt mit der Öffentlichkeit ein. Wenn seine Kunden neugierig wurden und sich erkundigten, wann der Tnuva-Lastwagen das nächstemal käme, schwieg der Barbier plötzlich eisern und antwortete dann mit Verschwörermiene: »Sie bekommen die Antwort schriftlich.« Und sein Sekretär notierte unverzüglich den Namen des Antragstellers, dem er -innerhalb von zwei Tagen - mit einem der zwölf >Dreitürniks< ein Blatt Papier übersandte, auf dem stand: >Am Mittwoch<. Diese Mitteilung war vom Sekretär unterzeichnet und gestempelt, der dann auf dem persönlichen Karteiblatt des Dorfbewohners vermerkte, daß letzterer schriftlich verständigt worden war.

»Und diesen abnormalen Bürokraten habe ich zum Bürgermeister gemacht!« stöhnte Dulnikker leise mitten in der Notstandssitzung. Eben als er sich bereit machte, mit dem machtlüsternen Hassidoff zu streiten, betrat einer der Gemeindeboten die Ratskammer und überreichte dem Barbier einen Zettel.

»Meine Herren!« Hassidoff sprang auf. »Gurewitsch ersucht, daß wir sofort zu ihm kommen. Es ist anscheinend eine wichtige Angelegenheit, da er mir einen Brief schickt.«

Seit wann konnte der Schuhflicker schreiben? Der Staatsmann nahm dem Barbier den Zettel aus der Hand und sah eine primitive Zeichnung - ein Gekritzel in Form eines großen Schuhs, auf den kleine menschliche Figuren zuliefen, und drei große Ausrufungszeichen.

Vor dem Haus des Schuhflickers hatte sich eine Menschenmenge versammelt und drängte sich an den Fenstern, um zu sehen, was drinnen vorging, aber nach den Gesichtern zu schließen, fiel es anscheinend allen schwer zu glauben, was sie sahen. Die Karawane der Dorfräte bahnte sich ihren Weg durch die Neugierigen, sie warfen einen Blick nach innen, und auch sie erstarrten verblüfft.

Was hatten sie gesehen? Mitten im Zimmer stand die kleine Dwora in einem weißen Kleid, neben sich den Krankenwärter in seinem üblichen Aufzug. Zev war etwas dicker geworden, und seine blauen Flecken waren größtenteils verschwunden. Vor den jungen Leuten stand Ja’akov Sfaradi, der etwas aus einem Gebetbuch las. Das Bild wäre unvollständig, ließe man den Schuhflicker aus: Er hatte sich neben der Tür aufgepflanzt, unter seinem Arm ragte der Lauf eines Jagdgewehrs hervor und war unverrückt auf den Krankenwärter gerichtet.

Nachdem sich die Dorfräte an der ungewöhnlichen Szene satt gesehen hatten, gingen sie um das Haus herum und rüttelten an der Tür, aber sie war versperrt. Ofer Kisch, der Neugierigste im Dorfrat, klopfte ungeduldig, und wenige Sekunden später wurde sie von Gurewitsch geöffnet.

»Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich Sie nicht persönlich zur Hochzeit eingeladen habe, aber es war unmöglich, die Zeremonie gerade in diesem Augenblick zu verlassen«, entschuldigte er sich, ohne die Augen von Zev zu wenden. »Der Krankenwärter hat sich endlich entschlossen, meine Tochter zu heiraten.«

Die Dorfräte drückten sich in das Zimmer und reihten sich an der Wand entlang auf. Trotz ihrer Einfachheit ging die Zeremonie sehr langsam vonstatten. Auf die Frage des Schächters, ob sie den Burschen Zev heiraten wolle, erwiderte Dwora mit einem klaren, überzeugenden »Ja«. Als jedoch die Frage dem Bräutigam gestellt wurde, hüllte er sich in ein sehr bedeutungsvolles Schweigen und senkte die Augen in hoffnungsloser Halsstarrigkeit, bis ein metallisches Klicken, das die Lösung des Sicherheitsschlosses anzeigte, ihn eindringlich an seine Pflicht erinnerte.

»Schön«, flüsterte der Sekretär und unterzeichnete das Dokument, das der Schächter ihm vorhielt, während sein Gesicht von der schicksalhaften Tat in Schweiß ausbrach. Bei der Unterzeichnung des Ehekontrakts applaudierte der Tierarzt stürmisch, während Gurewitsch senior, gelbsüchtig wie immer, sehr schwach »Masel tow« ausrief und seine Enkelin und ihren Gatten küßte. Gurewitsch junior sperrte das Sicherheitsschloß und versteckte das Gewehr hinter dem dreitürigen Kleiderschrank. Dann hinkte er zu seinem jungen Schwiegersohn, drückte ihm einen schmatzenden Kuß auf die Stirn, umarmte ihn mit seinen kräftigen Armen und verkündete so laut, daß selbst die Zuschauer draußen günstig beeindruckt waren:

»Wer immer Zemach Gurewitschs Tochter heiratete, heiratete keine Bettlerin! Ich werde meinem Schwiegersohn drei Dunam fruchtbaren Kümmelbodens überschreiben, sowie die Gemeindeverwaltung ihr Grundbuchamt eröffnet.« Nach der

Verlautbarung des Schuhflickers, die fraglos ein Beweis seiner Gutherzigkeit war, beeilten sich alle Anwesenden, ihm zu dem freudigen Familienereignis zu gratulieren. Selbst der Barbier drückte ihm die Hand - ein Ereignis, das eine gesellschaftliche Sensation bedeutete.

Die kleine Dowra erblickte Dulnikker, drängte sich zu ihm durch und hängte sich an seinen Hals.

»Ich bin so glücklich, Herr Ingenieur!« jubelte die junge Frau. »Zuerst wollte Zev nichts vom Heiraten hören, aber heute versicherte ihm der Papa, daß er ihn wie einen Hund niederknallt, und da stimmte er zu. Ich habe doch immer gewußt, daß er mich liebt.«

Der Staatsmann streichelte ihr blondes Haar in väterlicher Zuneigung, während er unentwegt ein Auge auf seinen Sekretär hielt, der sich die allgemeine gute Laune zunutze machte und ins Nebenzimmer floh. Dulnikker folgte ihm auf dem Fuß und öffnete die Tür, bevor Zev sie versperren konnte. Einen kurzen Augenblick standen Staatsmann und Sekretär schweigend Aug in Aug, dann ließ Zev die Türklinke los, fiel mit dem Gesicht aufs Bett und begann mit seinen Füßen wild draufloszutrommeln.

Der Staatsmann legte ihm die Hand auf die bebenden Schultern.

»Fein«, sagte er, »fein.«

Zev schüttelte die Hand des Staatsmannes ab, stand auf und starrte seinen Herrn mißgünstig an:

»Glauben Sie, Dulnikker, daß ich mir diesen Zirkus gefallen lasse?«

»Ja, warum nicht? Der bäuerliche Lebensstil ist viel gesünder, Zev. Der landwirtschaftliche Sektor ist nicht von der übrigen Nation zu trennen, in der sich, wie bei einem Tausendfüßler, alle Teile gleichzeitig und harmonisch fortbewegen müssen. In den letzten Jahren haben sich viele Städter in entfernteren Siedlungen ansässig gemacht.«

»Dann machen Sie sich hier ansässig, Dulnikker!« zischte der Sekretär durch die Zähne. »Ich bin nicht bereit, mein Leben in diesem Spucknapf zu verbringen! Oh ...«, der schwergeprüfte Jüngling brach wieder auf seinem Bett zusammen, »warum sind wir je hierhergekommen?«

»Warum fragst du das mich?« wütete der Staatsmann. »War ich es, der hierher kommen wollte?«

»Wer denn?« schrie der Sekretär. »Ich vielleicht?«

»Sicher, Zev, mein Junge! Geh nur und leugne, daß du mir unzählige Male gesagt hast, daß ein Mensch von Zeit zu Zeit zur Natur zurückkehren müsse!«

Der Sekretär kam auf ihn zu und zischte ihm ins Gesicht: »Lügen Sie nicht, Dulnikker!«

Der Staatsmann war verblüfft. Amitz Dulnikker - und lügen? Es hätte doch erst vor einem Augenblick gewesen sein können, daß sein Sekretär Wort für Wort gesagt hatte: »Es wird eine vollständige, heilsame Ruhe für Sie in diesem abgelegenen Dorf sein, ohne Presse, ohne Lärm.«

»Zev«, flüsterte Dulnikker traurig, bis in die Tiefen seiner Seele verwundet, »nimm zurück, was du gesagt hast!«

Der Sekretär hielt sein verzerrtes Gesicht, fast Nase an Nase, dicht vor Dulnikkers Gesicht, und wieder flüsterte er voller Wut:

»Schluß damit, Dulnikker. Sind Sie schon so senil, daß Sie glauben, ich brauche Ihre Unterweisung und Ihren Rat? Es ist genau umgekehrt! Wer schreibt Ihre rühmenswerten Reden? Wer quetscht - en gros - Ihre Leitartikel aus sich heraus? Wer sind Sie wirklich? Wieviel wissen Sie? Haben Sie denn überhaupt einen Beruf? Dulnikker lenkt siebzig Unternehmen, Dulnikker ist da und Dulnikker ist dort, Dulnikker stürzt, Dulnikker rennt und telefoniert und bemerkt und läßt fallen und erhebt und nimmt an jedem Tag an einem Dutzend Versammlungen teil, er ist der letzte Schiedsrichter - ohne daß er das geringste bißchen von dem Geschäft versteht, das er sich einbildet! Es ist wirklich komisch, wie die Dinge stehen! Zehntausende Narren studieren jahrelang ihren Beruf und üben ihn dann ihr ganzes Leben lang aus, nur damit am Ende der ehrenwerte Politiker daherkommt und alles Lob erntet - weil er eines kann, was man ihnen, all diesen armen Fachleuten, an ihren Universitäten und Berufsschulen nicht beigebracht hat: Er weiß, wie man über das redet, was sie, die anderen, tun! Ja, das ist es, worin Sie, Dulnikker, ein Fachmann sind! Reden, reden, reden wie eine Langspielplatte, Stunde um Stunde, wie ein Wasserhahn, der sich an seinem eigenen Tröpfeln besoffen hat! Dulnikker kämpft bis zum letzten Blutstropfen, ohne zu wissen, wie ein Gewehr ausschaut! Dulnikker schickt Tausende aus, um Wüsten zum Blühen zu bringen, während er selbst nicht einmal eine Topfpflanze je gegossen hat! Staatsmann! Amitz Dulnikker ein Staatsmann! Sie können ja nicht einmal normal reden. Ihre Zunge ist von Phrasen überwuchert, die Sie nicht einmal richtig anwenden können. Aber das hält Dulnikker natürlich nicht davon zurück, lächerliche Literaturpreise zu bekommen oder alle möglichen Kunstausstellungen zu eröffnen, und alles ist großartig, bis er sich zum Essen niedersetzt: Dann rennt jeder um sein liebes Leben. Sagen Sie mir, Dulnikker, bilden Sie sich wirklich ein, daß Sie normal sind? Haben Sie je bemerkt, daß Sie jeden Menschen im Plural anreden, weil Sie nicht mehr wissen, wie man mit Einzelmenschen redet, sondern nur, wie man Massen anspricht? Haben Sie eine Ahnung, wie oft Sie diesen idiotischen Witz erzählt haben, dessen Pointe ich nie verstanden habe? Jeder lacht Sie hinter Ihrem Rücken aus, Dulnikker, aber Sie, besoffen von Ihrer eigenen Größe, sind unfähig, die Heiterkeit zu merken, die Sie überall begleitet.

Lassen Sie mich Ihnen sagen, warum Sie mich >entdeckt< haben: Ich habe damals in unserer Zweigstelle eine Wette abgeschlossen, daß ich Sie mit den lächerlichsten Komplimenten begrüßen kann, und Sie - vor Stolz zerschmelzen. Ich kann mich bis zum heutigen Tage an diese absurden Titel erinnern: >der Baumeister, der Former, der Avantgardist, das leuchtende Beispiel seiner Generation!< Ich würde noch jetzt in Gelächter ausbrechen, Dulnikker, wenn es nicht so traurig wäre. >Der Verwirklichen der Eroberer!< Und was sonst noch! Sie haben nur eines erobert, Dulnikker: Ihren Platz in der Partei, und selbst dort blockieren Sie den Weg für Männer, die jünger und begabter sind als Sie. Dulnikker kann man nicht beiseite schieben. Dulnikker sitzt noch immer auf demselben Sessel, auf den er durch Zufall vor dreißig Jahren gefallen ist, als wäre er mit Eisenbeton an ihn angeklebt ...«

Der Sekretär spie die Worte heraus, als wären sie seit Jahren in ihm eingesperrt gewesen und plötzlich ausgebrochen. Sein Gesicht war blaßgrün, und sein ganzer Körper lehnte gekrümmt an der Wand. Er atmete und krächzte mit einem pfeifenden Stöhnen.

»Wann werden Sie endlich selbst sehen, Dulnikker, wie Sie wirklich sind? Wann werden Sie endlich die Tatsache erkennen, daß Ihre Zeit vorbei ist und nie wiederkehrt? Daß Sie heute nicht mehr als eine übergroße Seifenblase sind, aufgeblasen bis zum Platzen? Warten Sie darauf, bis Sie wirklich platzen?«

Damit brach der Sekretär auf dem Bett zusammen und warf sich in einem Lachkrampf quer darüber, der sich in leises Weinen verwandelte. Der Staatsmann hatte sich den tobenden Ausbruch mit düsterer Miene angehört, gemischt aus Entsetzen und Übelkeit. Aus irgendeinem Grund wurde sein Gesicht nicht rot, auch seine Stirnadern quollen nicht vor. Sein Gesicht schien eher eingesunken und unermeßlich alt zu sein. Er trat einen Schritt an das Bett heran und klammerte sich an dessen Gitter, um nicht hinzufallen.

»Zugegeben, daß ich heute eine zu stark aufgeblasene Seifenblase bin«, sagte er leise zitternd, »zugegeben, daß ich heute nicht mehr gebraucht werde, irgendein alter Narr, dessen Rücken dazu da ist, daß man hinter ihm lacht. Aber zu sagen, daß ich nie etwas Aufbauendes geleistet hätte? Daß ich nur schwätze? Wer hat dieses Land aufgebaut, wenn nicht die Dulnikkers?« Die Stimme des Staatsmannes brach, und Tränen stiegen ihm in die Augen. »Warum hast denn du, mein junger, praktischer Freund, warum hast du diesem Taugenichts von Altem so glatt geschmeichelt, daß du ihn vollständig getäuscht hast? Warum hast du seine Gunst gesucht? Nur um dich in der Partei hochzuarbeiten? Dann bist du, mein begabter, nützlicher Freund, schlimmer als so ein Träumer wie ich: Du hast einfach einen schwachen Charakter, weil du genau gewußt hast, daß du eine Komödie aufführst, Du, mein Freund Zev, wirst in einigen Jahren genauso sein wie der schmarotzende Mitläufer, den du mir eben beschrieben hast, mit dem winzigen Unterschied, daß er - dieser verrückte Amitz Dulnikker - seine Tage als ein armer Mann beenden wird, dessen Hände rein sind, während du, mein klardenkender Freund, ein niedriger, korrupter Heuchler sein wirst.«

Der Sekretär richtete sich auf seinem Bett auf, und seine Glieder begannen schrecklich zu zucken.

»Dulnikker, hören Sie auf!« kreischte er. »Halten Sie um Gottes willen den Mund! H-a-l-t!«

Dulnikker verließ das Zimmer und bahnte sich still seinen Weg durch die Hochzeitsgäste. Im Vorbeigehen bemerkte er zu Hermann Spiegel:    »Mein    lieber Tierarzt, mein

Krankenwärter bedarf zusätzlicher Aufmerksamkeit.«