Das Ergebnis der Sitzung des Provisorischen Dorfrates wurde den Einwohnern von Kimmelquell nur verschwommen bekannt. Die Repräsentanten der kommunalen Elemente erinnerten sich an nichts von der Sitzung über den Zeitpunkt hinaus, als sich der Ingenieur erhob, seine Uhr vor sich auf den Tisch legte und zu sprechen begann. Was nachher geschah, war in den Köpfen der Teilnehmer ein völlig unbeschriebenes Blatt.
An jenem Nachmittag kam der Lastwagen der Tnuva -diesmal unaufgefordert -, und der Chauffeur brachte so überraschende Nachrichten, daß sie den bürgermeisterlichen Wettkampf überschatteten. Der Chauffeur sagte nicht mehr und nicht weniger, als daß Gula, die Gattin des Staatsmannes, am folgenden Tag an der Spitze einer Delegation von Würdenträgern ins Dorf kommen würde, um Amitz Dulnikker und seinen Sekretär heimzuholen. Er, der Chauffeur, war persönlich vom Manager Schultheiß entsandt worden, um sie sowohl von dem Ereignis in Kenntnis zu setzen, als auch den Wagen der Würdenträger an der Kreuzung vor dem Höhlentunnel zu treffen, damit sie sich nicht verirrten.
»Mein Herr«, sagte der Chauffeur zu Dulnikker, dessen Gesicht von einem riesigen Tuch fast versteckt wurde, »Sie werden mit einem Schwups heimfahren. Ich wäre nicht überrascht, wenn man eine Siegesparade für Sie abhielte ...«
»Eh?« Dulnikker wurde neugierig. »Was ist los?«
Der Chauffeur war verblüfft.
»Herr Dulnikker! Wollen Sie sagen, daß Sie wirklich nicht wissen, was sich tut?«
Nach dem, wie es der Tnuva-Chauffeur erzählte, beschwor der Staatsmann ein äußerst interessantes Bild von sich herauf. Es schien, daß sich knapp nach Dulnikkers Verschwinden an jenem Morgen seltsame Geschichten über seine Abdankung zu verbreiten begannen, und in mehreren von ihnen wurde auch angedeutet, daß eine Unterschlagung mit im Spiel sei. Nachdem jedoch Manager Schultheiß enthüllt hatte, was geschehen war, wuchs die Bewunderung der Öffentlichkeit ins Grenzenlose. Das Image des Staatsmannes, der auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn auf seine Stellung verzichtet hatte, damit die rückständigen Bewohner eines winzigen, unwichtigen Dorfes aus seiner Anwesenheit Nutzen ziehen konnten, hatte die Öffentlichkeit im Sturm gewonnen. Selbst die scharfzüngigen Zeitungen der Opposition mußten zugeben, daß der Erfahrungsschatz des Staatsmannes ihn dazu geführt hatte, sich über den Alltagskram zu erheben und wie ein Stern am Firmament auf die Zwerge hinunterzublicken.
Dulnikkers Parteiorgan quetschte die letzte Möglichkeit aus dem Ereignis und krönte die glorreiche Begebenheit in ihren Glossen und Leitartikeln mit einer eigenen Wortschöpfung: >Dulnikkerismus<. Dieses lehrreiche persönliche Beispiel hatte auch auf die Hierarchie selbst eine wohltätige Wirkung. Einige Regierungsfunktionäre reichten ihre Rücktrittsgesuche ein, übersiedelten in irgendeinen Außenposten und entsagten im echten Geist des Dulnikkerismus den Bequemlichkeiten und der Ehre, an die sie gewöhnt waren.
»Einen Augenblick, Genossen!« unterbrach Dulnikker den Chauffeur und fragte gierig: »Haben Sie vielleicht einige Zeitungen, die meine Leistungen beschreiben?«
Der Chauffeur entschuldigte sich, daß er keine einzige Zeitung mitgebracht hatte, aber er hatte gedacht, daß Herr Dulnikker nichts mehr daran lag, wie die Zeitungen über ihn schwätzten, weil er hoch über solchen Sachen stand, wie ein
Stern. Den Anforderungen des Augenblicks entsprechend, versuchte Dulnikker, die Miene eines allwissenden chinesischen Weisen aufzusetzen; es gelang ihm jedoch nicht, weil er tief in seiner Seele den >taktlosen Idioten< verfluchte. Außerdem vermochte ihn selbst die Neuigkeit seiner bevorstehenden Rettung durchaus nicht aufzuheitern. Tatsächlich hatte er sich gerade in den letzten, von Handlung erfüllten Tagen bei den Dorfleuten behaglich zu fühlen begonnen. Außerdem quälte ihn ein Problem sehr: Wie konnte eine so dumme Kreatur wie eine Taube von so weit her die richtige Adresse finden?
Zev andererseits war eitel Glück und Sonnenschein.
»Juchhe!« heulte der Sekretär vor Freude. »Schön, ich gehe sofort heim, packen!«
»Höre, mein Freund!« sagte Dulnikker verärgert. »Wie oft mußt du noch packen? Wo brennt’s?«
»Entschuldigen Sie, Dulnikker«, sagte der Sekretär verwundert, »Sie selbst haben mich dazu angespornt, die Taube abzuschicken, damit wir so schnell wie möglich aus diesem stinkenden Loch entfliehen können!«
»Ich habe dich angespornt?« Der Staatsmann kochte vor Wut. »Ich habe diesen Ort ein >stinkendes Loch< genannt? Zev, mein Freund, ich bin Gott sei Dank mit einem bemerkenswerten Gedächtnis gesegnet! Du warst es, der mich dazu überredete, meinen angenehmen Aufenthalt in diesem stillen, friedlichen Dorf abzubrechen. Ich habe nur einen einzigen Fehler gemacht: auf dich zu hören .«
»Lieber Herr Ingenieur«, jammerte die kleine Blonde, »bitte nehmen Sie mir Zev nicht weg! Er ist jetzt oben im Haus und packt .«
Der Ingenieur wand sich und vermied den tränenfeuchten Blick Dworas. »Was kann ich tun, mein Kind?« fragte er schließlich. »Er ist mein Krankenwärter.«
»Aber ich liebe ihn so!«
Wieder verdroß der Staatsmann das allzu naive Mädchen. Warum war sie wegen dieses zynischen Rüpels so verzweifelt?
»Liebe junge Dame« - er stellte sich vor Dwora auf, »glauben Sie mir, Zevs Charakter paßt ganz und gar nicht zu Ihrer Persönlichkeit. Es wäre am besten, mein Mädchen, wenn Sie ihn so schnell wie möglich vergessen.«
»Ich kann ihn nicht vergessen, Herr Ingenieur. Er ist so klug und schön.«
»Schön!«
»Ja. Sehr. Er trägt Brillen.«
»Jetzt hören Sie, meine Freundin!« tobte der Staatsmann. »Wie können Sie sich vorstellen - ein Mädchen, deren Wurzeln im landwirtschaftlichen Sektor liegen -, daß Sie fähig wären, die Bedürfnisse eines absolut städtischen intellektuellen Typs zu befriedigen?«
»Aber ich liebe ihn so!«
»Das ist nicht der richtige Weg, Genossin! Dieses Problem kann nicht auf einer individuellen Basis gelöst werden, mit Hilfe flüchtiger emotionaler Kanäle, sondern nur mittels einer staatlichen Regelung, die den Frauen gesetzesmäßig gleiche Rechte garantieren wird.«
»Das verstehe ich nicht.« Dwora brach in bittere Tränen aus, die eine Stelle in Dulnikkers Herz berührten, denn er war aus irgendeinem Grund unfähig, weinenden Frauen zu widerstehen. Der verwirrte Staatsmann trat auf das Mädchen zu und tätschelte ihr das strohgelbe Haar. »Schon gut, junge Dame, schon gut.« Der Staatsmann räusperte sich. »Gehen Sie heim, mein Mädchen, und versuchen Sie, Zev zu überzeugen.
Was mich betrifft, so bin ich bereit, noch ein paar Tage länger zu bleiben, oder sogar noch länger ...«
Die Hoffnungen, die Dulnikker auf Dworas Einfluß über seinen Ersten Sekretär gesetzt hatte, verschwanden wie ein Wachtraum. Am frühen Nachmittag erschien Zev im Wirtshaus und begann, die Sachen des Staatsmannes zu packen. Dulnikker saß ihm die ganze Zeit in bedeutungsvollem Schweigen versunken gegenüber.
»Fertig, Dulnikker!« verkündete der Sekretär, nachdem er den Koffer geschlossen hatte. Und fügte in samtweichem Ton hinzu: »Ihren Bademantel habe ich draußen gelassen .«
Dulnikkers Wut war grenzenlos. Genügte es nicht, daß dieser verächtliche Rüpel die Reinheit der dörflichen Familie befleckte? Sollte er es auch wagen, gegen das warme, menschliche Verhältnis zwischen Malka und ihm zu intrigieren? Der Staatsmann empfand eine wachsende Zuneigung zu der gutherzigen Frau, besonders seit es bei einem ihrer Treffen klar geworden war, daß Malka den grünen Pullover für ihn strickte. Sie hatte Dulnikkers Maße bei Mondlicht genommen, und die sanfte Berührung ihrer Finger ließ seinen Brustkasten von einem derartigen Herzklopfen durchwogen, daß er sie an sich gezogen und kräftiger denn je die Fäden seiner Lebensgeschichte entwirrt hatte .
Als Dulnikker nun die Andeutung seines jungen Packers gehört hatte, fühlte er einen mächtigen Drang in sich, seinem Privatsekretär einen Hieb auf die Nase zu versetzen.
»Höre, Freund«, sagte er leise, »rufe doch netterweise den Provisorischen Rat für heute abend zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen.«
»Dulnikker, um Himmels willen!« Der Sekretär erblaßte. »Wir verschwinden doch morgen von hier!«
»Ich weiß«, erwiderte der Staatsmann und rieb seine Nasenflügel kurz mit dem Handrücken, »deshalb sagte ich ja, heute abend.«
Diesmal trat der Dorfrat unter sehr bescheidenen Umständen zusammen, die Atmosphäre war jedoch unermeßlich gelöster als bei der letzten Sitzung. Von den Höhen des Podiums herab informierte Dulnikker die Teilnehmer über zwei wichtige Angelegenheiten: daß er gezwungen war, sie infolge der angespannten internationalen Lage am folgenden Tag zu verlassen, und daß sie, die Delegierten, ihm verzeihen müßten, wenn er infolge Zeitmangels und seiner labilen Gesundheit keine Eröffnungsansprache halten könne. Die beiden Punkte >wurden von den Ratsmitgliedern aufmerksam aufgenommen<
- um das Protokoll zu zitieren. Mit anderen Worten, vor Beginn der Sitzung hatte Dulnikker Zev aufmerksam gemacht, daß er das Protokoll so führen solle, als schriebe er das Protokoll der Knesset, und falls er das nicht täte, würde er -Dulnikker - sich nichts dabei denken, >die drastischen Disziplinarmaßnahmen< durch Parteikanäle zu treffen, sobald sie heimkämen. Möge also das Protokoll den Trend der Diskussion spiegeln, wie es von dem Krankenwärter persönlich niedergeschrieben wurde:
Vorsitzender: Da wir nunmehr die Machtbefugnis des Bürgermeisters definiert und die Art und Weise umrissen haben, in der er gewählt werden soll, können wir zur Klärung der Einzelheiten fortschreiten. Irgendwelche Fragen?
Ofer Kisch, Mitglied des Provisorischen Rats: Ich wollte schon lange fragen - wozu brauchen wir einen Bürgermeister?
Vorsitzender: Was meint ihr damit, Genossen?
Ofer Kisch, Mitglied des Provisorischen Rats: Nur das. Warum einen Bürgermeister? Was gibt’s für ihn zu tun? (Schweigen)
Sekretär: Entschuldigung, meine Herren. Sie werden doch sicherlich jemanden brauchen, der sich darum kümmert, das Gehalt des Bürgermeisters einzusammeln, stimmt’s?
Vorsitzender: Du glaubst, daß du witzig bist, mein Freund, aber du hast eine interessante Frage aufgeworfen. Eine der Pflichten des Bürgermeisters wird es sein, die Einhebung von Steuern zu planen und zu überwachen. Denn die gegenwärtige Laxheit auf diesem Gebiet kann nämlich nicht so weitergehen! Jeder Bürger des Dorfes muß nach Maßgabe seiner Mittel zum Budget beitragen. (Schweigen) Irgendwelche Fragen?
Ofer Kisch, Mitglied des Provisorischen Rats: Wozu brauchen wir ein Budget?
Vorsitzender: Stellen Sie nicht so viele Fragen, ja? (Hammerschlag) Ich bitte um Ruhe. (Ruhe) Oj, oj, liebe Genossen! Habt ihr noch nie gehört, wie ein bestimmtes Dorf etwas aus seinem Budget erbaut hat?
Elifas Hermanowitsch, Mitglied des Provisorischen RATS: Welches Dorf?
Vorsitzender: Wir sprechen natürlich von Kimmelquell!
Elifas Hermanowitsch, Mitglied des Provisorischen RATS: Wie kann Kimmelquell etwas bauen: Menschen bauen Häuser, aber Kimmelquell? Das ist doch nur ein Name!
Sekretär: Ein Kommunalname!
Vorsitzender: (Hammerschlag) Ich bitte, nicht zu
unterbrechen, meine Herren!
Sekretär: Ja, Euer Ehren.
Ja’akov Sfaradi, Mitglied des Provisorischen Rats: Ich verstehe schon, was der Herr Ingenieur meint. Ich glaube auch, es ist an der Zeit, daß wir in Kimmelquell aus den Beiträgen der Bürger eine Synagoge bauen.
Salman Hassidoff, Bürgermeister de facto, Mitglied des Provisorischen Rats: Völlig überflüssig. Du kannst weiter in meinem Barbierladen beten.
Elifas Hermanowitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: Einen zweiten Fanatiker findest du hier ohnehin nicht.
Ja’akov Sfaradi, Mitglied des Provisorischen Rats: Atheist!
Vorsitzender: (Hammerschlag) Ratsmitglied
Hermanowitsch! Ich bitte Sie, sich eines höflicheren Tones zu befleißigen.
Frau Hassidoff, Krankenschwester des Salman Hassidoff, Bürgermeister de facto, Mitglied des Provisorischen Rats: Ich schlage vor, daß wir ein Büro für den Bürgermeister bauen. Salman findet es sehr schwierig, sich in unserem winzigen Barbierladen um Dorfangelegenheiten zu kümmern.
Zemach Gurewitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: (brüllend) Ich sage euch, wir werden mit dem Budget einen Brunnen bauen!
Vorsitzender: Nu, endlich rührt sich was, ä bissel Leben!
Diese Bemerkung wurde später auf Befehl des Vorsitzenden
aus dem Protokoll gestrichen.
Salman Hassidoff, Bürgermeister de facto, Mitglied des Provisorischen Rats: Dieser Brunnen ist widerlich.
Vorsitzender: (Hammerschlag) Ratsmitglied Hassidoff!
Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, daß meiner Meinung nach das Bohren eines Brunnens im Rahmen eines Arbeitsbeschaffungsprogramms die Beseitigung der Arbeitslosigkeit im Dorf möglich machen könnte.
Zemach Gurewitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: Stimmt!
Vorsitzender: Wie hoch ist die Zahl der Arbeitslosen im Dorf?
Elifas Hermanowitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: Es gibt keinen. (Langes Schweigen).
Sekretär: Vielleicht könnte man den Gegenstand aufgreifen. Wie können wir Arbeitslosigkeit im Dorf schaffen?
Vorsitzender: (Hammerschlag) Ruhe bitte! (Ruhe) Ich habe die angenehme Pflicht, Ihnen die Angelegenheit des Projektes zur Abstimmung vorzulegen. Wer für die Errichtung eines Büros für den Bürgermeister ist, möge bitte die Hand heben (Herr Hassidoff stimmt dafür.) Und nun: Wer für das Bohren eines Brunnens ist, wird die Hand erheben. Erheben Sie bitte nur eine Hand! (Herr Gurewitsch stimmt dafür.) Was heißt das, meine Herren? Jeder Delegierte muß irgendeinen Standpunkt einnehmen! Ich verlange eine zweite Abstimmung! (Die Ergebnisse bleiben dieselben.) Meine Herren, soll das eine Provokation sein?
Sekretär: Euer Ehren, Herr Ingenieur, gestatten Sie, daß ich ausnahmsweise um die Erlaubnis ersuche, mit einer Gegenabstimmung vorzugehen! (Er erhält die Erlaubnis.) Meine Herren, wer gegen den Brunnen ist, hebt die Hand. (Herr Hassidoff, Herr Sfaradi und Herr Kisch heben die Hand.) Jetzt hebt die Hand, wer gegen ein Büro für den Bürgermeister ist. (Herr Gurewitsch, Herr Hermanowitsch und Herr Kisch heben die Hand.) Euer Ehren, Herr Ingenieur, zugunsten der beiden Projekte steht die Abstimmung drei zu drei.
Vorsitzender: Mir scheint, das Ratsmitglied Kisch hat zweimal abgestimmt!
Ofer Kisch, Mitglied des Provisorischen Rats: Natürlich, ich möchte mit allen gut stehen!
Vorsitzender: Meine Herren, wir sprechen von den Interessen des Dorfes!
Ofer Kisch, Mitglied des Provisorischen Rats: Es ist im Interesse des Dorfes, wenn wir alle Freunde sind.
Vorsitzender: (Hammerschlag) Machen wir eine kurze Pause.
Auf Ersuchen des Vorsitzenden servierte Malka den Delegierten Tee und Kuchen. Die Atmosphäre im Saal war dank der faszinierenden Debatte herzlich.
»Das Bürgermeisterbüro wird sehr billig sein«, erklärte Frau Hassidoff den Ratsmitgliedern während des Essens. »Vier Pfosten, und zwischen ihnen Wände aus unbehauenem Stein, genau wie ein gewöhnliches kleines Haus. Ein Raum für Salman und einer als Wartezimmer. Und vielleicht noch ein Raum für die Leute, die Salman nicht warten lassen will .«
Dulnikker staunte über die verwaltungstechnische Reife der Frau Hassidoff, aber sie bewies, daß ihre Talente sogar noch weiter gingen. Sie zog das >Zünglein an der Waage< in eine der dunkleren Ecken des Saales und sagte charmant zu ihm: »Salman hat schwarze Hosen, die gewendet und gebügelt werden müssen, weil die Sitzfläche derzeit für einen Bürgermeister de facto zuviel glänzt. Wir zahlen, was immer es kostet .«
»Sicher, Frau Hassidoff.« Der Schneider verbeugte sich. »Ich werde für den Herrn Bürgermeister glänzende Arbeit leisten.«
Am Ende der kurzen Pause brachte Dulnikker die Frage des öffentlichen Projekts wieder zur Gegenabstimmung. Diesmal hoben sich nur zwei Hände gegen die Erbauung eines Bürgermeisteramtes.
Zemach Gurewitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: ofer, du Gauner, vor der Pause hast du dagegen gestimmt!
Ofer Kisch, Mitglied des Provisorischen Rats: Ich stimme ab, wie ich will. Du kannst ja auch Arbeit an deinen Hosen bestellen!
Diese Bemerkung wurde wegen mangelnder Klarheit auf
Anweisung des Vorsitzenden aus dem Protokoll gestrichen.
Vorsitzender: Der Dorfrat hat zugunsten eines Büros für den Bürgermeister entschieden. (Laute Bravorufe aus den Bänken der Frau Hassidoff.) Somit müssen wir nur noch die Steuerangelegenheit entscheiden. (Stille) Muß ich wirklich immer alles selber machen, meine Herren? Bitte, Genossen, versucht selbst, die Kriterien zu entscheiden, die ihr bei der Einhebung von Steuern bei der Bewohnerschaft anwenden wollt. (Stille) Vielleicht die Größe ihrer Parzellen?
Salman Hassidoff, Bürgermeister de facto, Mitglied des Provisorischen Rats: Nix gut, Herr Ingenieur, mir gehört ein prachtvolles Stück Boden. Ich schlage vor, wir berechnen die Steuer nach der Zahl der Räume in einem Haus.
Zemach Gurewitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: Pfui, Salman!
Vorsitzender: Bitte, werden wir nicht persönlich!
Ja’akov Sfaradi, Mitglied des Provisorischen Rats: Vielleicht erheben wir die Steuern nach der Anzahl der Kinder?
Elifas Hermanowitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: Und diese Kreatur überwacht meine Küche!
Vorsitzender: (Hammerschlag) Meine Herren! Meine
Herren! Ich muß ausdrücklich gegen diesen egozentrischen Ton protestieren. Ich möchte als Basis für eine Luxussteuer den Umfang der Einkäufe von der Tnuva vorschlagen. (Die Majorität der Räte stimmt gegen seinen Vorschlag.) Vielleicht die Anzahl der Kühe? (Die Majorität der Räte
stimmt gegen seinen Vorschlag.) Couch? Kaffeetischchen? Lüster?
Salman Hassidoff, Mitglied des Provisorischen Rats: Haben wir.
Sekretär: Euer Ehren, Herr Ingenieur! Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, daß Mangel an Zeit und der gesunde Menschenverstand eine völlig andere Einstellung verlangen.
Vorsitzender: Na schön.
Sekretär: Meine Herren, was hat keiner von Ihnen?
Elifas Hermanowitsch, Mitglied des Provisorischen Rats: Ich erinnere mich, daß wir einmal diskutierten, daß alle von uns Schränke haben, die zu klein sind. (Der Dorfrat nimmt einstimmig seinen Vorschlag an.)
Beschlüsse des Provisorischen Dorfrats bei seiner heutigen zweiten Sitzung: Zum Zweck der Erbauung eines Büros für den Bürgermeister wird eine einmalige Luxussteuer von drei Tnuva-Pfund von jedem Einwohner erhoben, dem ein dreitüriger Kleiderschrank gehört. ofer Kisch, Mitglied des Provisorischen Rats, wurde beauftragt, ein Verzeichnis der Steuerpflichtigen anzulegen.
Im Namen des Provisorischen Dorfrats von Kimmelquell: Elifas Hermanowitsch Salman Hassidoff
ofer Kisch Ja’akov Sfaradi
Am Morgen jenes großen Tages wollte niemand auf die Felder hinausgehen, jedermann saß im Dorf herum und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Abordnung aus der Stadt. Der Staatsmann selbst machte wenig Vorbereitungen für die Ankunft seiner Wohltäter. Die einzige Mühe, die er sich nahm, betraf seine Kleidung, das heißt, er vergewisserte sich, daß sein Anzug so schmutzig und zerknittert wie möglich war, weil mit den Abgeordneten ein Bildreporter kommen sollte, soweit man dem Tnuva-Chauffeur glauben konnte. Im letzten Augenblick wurde Dulnikker die Bedeutung klar, die er persönlich in verhältnismäßig kurzer Zeit bei den Dorfbewohnern erlangt hatte, als der Barbier in das Wirtshaus gestürmt kam und, fast auf den Knien, vor dem Staatsmann herausplatzte:
»Lassen Sie uns nicht im Stich, Herr Ingenieur. Wenn Sie nicht mehr bei uns sind, wird alles auf dem Kopf stehen, und Gurewitsch wird mich erledigen. Glauben Sie denn, Herr Ingenieur, daß ich eine Ahnung habe, was ein Bürgermeister de facto zu tun hat?«
Dulnikkers schwarzes Auto fuhr vormittags vor dem Wirtshaus neben der Sonnenuhr vor, und heraus kletterten sieben sehr müde Menschen. Das Septett verwandelte sich sofort in einen Magnet für die starrenden Blicke der örtlichen Menge, die sich in einer Zangenbewegung um die Ankömmlinge schloß.
Aus dem Zwang der Gewohnheit heraus wartete Dulnikker hinter der Wirtshaustür, um die erwartungsvolle Spannung zu erhöhen, und schlüpfte dann in Begleitung seines Sekretärs hinaus. Die beiden wichtigen Parteifunktionäre und Professor Tannenbaum, die zur Abordnung gehörten, brachen sofort in Applaus aus, der sich in der Menge der Zuschauer verbreitete. Ein Bildreporter stolzierte unter ihnen äußerst lange herum und verewigte die historische Szene für die Nachwelt und die Nachrichtenblätter. Zwei nach erstklassigem Material ausgehungerte Reporter zogen ihre Notizblöcke heraus und hefteten ihre ungeduldigen Blicke auf Amitz Dulnikkers Lippen.
Gula Dulnikker ging ruhig auf ihren Gatten zu, pflanzte den Schatten eines Kusses auf seine Wangen und bemerkte apathisch:
»Dulnikker, du bist schon wieder nicht rasiert.«
»Weiß ich«, erwiderte der Staatsmann und beschloß hiermit die familiäre Seite der Zeremonie. Dann hob Gula ihre Hand Zevs Nase zu einem Kuß entgegen und entzog sie gleichzeitig seinem Griff, so, wie es einer Parteiaktivistin zukommt. Hierauf betrat sie das Wirtshaus erschreckend munter und bestellte bei der Wirtin ein frühes Mittagessen. Malka war über die plumpe Erscheinung ihres korpulenten Gastes höchst erfreut.
Draußen trat einer der Würdenträger aus der Besuchergruppe hervor, blieb in respektvoller Entfernung vor Dulnikker stehen und schrie ihn an: »Wir sind heute hierher gekommen, in das Dorf Kimmelquell, um Ihnen, Amitz Dulnikker, die Grüße der Nation zu überbringen, die Grüße der Regierung, die Grüße der Institution, die Grüße der Fonds und die Grüße der Partei. Wir sind heute hergekommen, Amitz Dulnikker; wir sind hergekommen in der Hoffnung, daß Sie sich im Dorf Kimmelquell erholt haben, daß Sie sich erholt haben und Ihre Kräfte wieder der Nation zur Verfügung stellen können, zur Verfügung der Regierung, der Institution, der Fonds und der Partei. Wir sind heute hergekommen, Amitz Dulnikker ...«
Der Sprecher der Abordnung hatte seine Rede kaum in das Windelstadium bekommen, als Dulnikker Kindesmord beging. In seinem ganzen Leben hatte der Staatsmann noch nie bereitwillig die Idioten geduldet, »die ihre endlosen Phrasen tausendundeinmal wiederholen wie zurückgebliebene Papageien«. Obendrein waren die beiden >Würdenträger< Anhänger Shimshon Groidiss’, und gleich von ihrem politischen Debüt an war das Verhältnis des Staatsmannes zu ihnen von gegenseitiger Verabscheuung gekennzeichnet gewesen. Dulnikker war mehr als nur leicht verärgert, daß ausgerechnet diese beiden zu seiner Begrüßung entsandt worden waren.
»Danke, liebe Genossen«, unterbrach er den Sprecher herzlich. »Ich schätze die Beredsamkeit eurer Begrüßung, glaube jedoch, daß ihr von eurer äußerst ermüdenden Reise erschöpft sein müßt und eines nahrhaften Mahls und eines gesunden Mittagsschläfchens mehr bedürft als langer, langweiliger Reden. Dennoch - bevor ich meine Worte in wenigen Augenblicken damit beende, daß ich eure Hände in die meinen nehme und euch mit >Willkommen, Genossen< begrüße, möchte ich euch nur mit einem Minimum an Worten
- im Telegrammstil - über die Entwicklung dieses Dorfes während meines Aufenthaltes erzählen ...«
Der Staatsmann hatte aufrichtig vorgehabt, der Abordnung vorzuführen, wie es tatsächlich möglich ist, eine Feierlichkeit mit einigen wenigen treffenden Bemerkungen zu konzentrieren und zu beenden. Inzwischen verfing er sich jedoch in einer Erörterung der Entwicklung der Handelsmarine, aus der es ihm nicht gelang, sich herauszuwinden, bis er eine Telegrammrechnung im Wert von 7500 Dollar für eine halbe Million Wörter zustande gebracht hatte. Inzwischen fiel ein Reporter, der im Gegensatz zu Dulnikker nicht an die Hitze gewöhnt war, in Ohnmacht und maß den Boden Kimmelquells vom Scheitel bis zur Sohle aus.
Die Dorfbewohner hatten sich schon lange von der Abordnung getrennt. Einige der Höflichen jedoch, wie die Mitglieder des Provisorischen Dorfrats, gingen heim, aßen zu Mittag und kehrten dann zu Dulnikker zurück, der noch immer in voller Lautstärke seine Telegrammrede hielt. Schließlich wurde diese Handvoll Getreuer reich belohnt, als Dulnikker, nachdem der Professor den schwächlich gebauten Reporter dem Leben wiedergegeben hatte, die Creme des Dorfes seinen Gästen systematisch vorstellte:
»Erlauben Sie, meine Herren: Professor Tannenbaum - Herr Salman Hassidoff, Tonsurkünstler, Bürgermeister de facto. Erlauben Sie, meine Herren: Professor Tannenbaum - Herr Elifas Hermanowitsch, Berufsgastgeber, einer der ursprünglichen Siedler. Erlauben Sie, meine Herren: Professor Tannenbaum - Herr Zemach Gurewitsch, Fachmann der Schuhmacherkunst, eine dynamische Persönlichkeit ...« Und so weiter, bis der Fotograf das alles mit der Bitte an Dulnikker unterbrach, sich, bevor es dunkel würde, für eine Einzelaufnahme zu stellen.
Das Ersuchen des Fotografen wurde ohne Schwierigkeit bewilligt. Dulnikker stand zwischen zwei Kühen mit traurigen Augen, die aus den Reihen der heimkehrenden Herde ausgewählt worden waren. Zusätzlich packte Dulnikker >ein süßes, lächelndes kleines Mädchen, des Pinsels eines Van Gogh würdig<, und schwang es trotz der Tränen der Kleinen hoch in die Luft. Danach ersuchte der Staatsmann den Bildreporter, >eine Aufnahme jenseits der Dorfgrenzen, im Herzen der Felder< zu machen, bei der er, Dulnikker, wie in seiner Jugend die Griffe eines Pfluges halten würde. Es stellte sich jedoch heraus, daß Kümmelfelder nicht gepflügt werden.
Das Ritual des Fotografierens bewirkte große Aufregung unter den Bürgern, die ehrfurchtsvoll vor der Linse standen. Andererseits kam es fast zu Blutvergießen, als der Fotograf ersuchte, Dulnikker solle mit dem Dorfchef posieren. Herr und Frau Hassidoff stürzten sofort heran und stellten sich rechts neben den Ingenieur. Genau im selben Augenblick teilte jedoch Zemach Gurewitschs stattliche Figur die mit knisternder Spannung geladene Luft und landete genau vor dem Staatsmann, während dem Mund des Schuhflickers immer wieder die Erklärung entströmte, daß das Dorf zwar im Augenblick einen Bürgermeister habe, dieser jedoch nur de facto sei, was - sagte er - >aus Mitleid< bedeute. Dulnikker verlor seine Haltung nicht und rettete die brenzlige Situation, indem er sich bei beiden Gegnern einhängte. Während der Staatsmann sie kraft seiner Persönlichkeit auseinanderhielt und in die Kamera lächelte, stöhnte er innerlich und dachte: >Ich schwöre, die zwei hätten sich an der Gurgel, wenn ich nicht zufällig in dieses Dorf gekommen wäre!<
Nach dem >Unternehmen Foto< kehrte Dulnikker ins Wirtshaus zurück. Sein Magen war dank des erzwungenen Fastens während eines halben Tages von den saugenden Flammen des Hungers etwas zusammengeschrumpft. Dulnikker war sehr böse, daß die Delegation ihm nicht wenigstens ein einziges >gelbes< Nachmittagsblatt mitgebracht hatte. Nicht nur, daß er aus Mangel an einer Zeitung dazu verdammt war, in Unwissenheit über die Entwicklungen zu verharren, die während seiner Abwesenheit im In- und Ausland stattgefunden hatten, sondern seine Gattin vergrößerte seinen Ärger noch, indem sie sich zu ihrem zweiten Mittagessen an seinen Tisch setzte. Während Gula aß, leitete sie einen Frontalangriff ein und verständigte Dulnikker, daß sie unmöglich vor dem folgenden Tag abfahren konnten, weil sie nicht bereit war, an einem einzigen Tag eine zweite Fahrt durch den Schreckenstunnel zu unternehmen. Die unseligen Delegationsmitglieder waren somit gezwungen, sich aufzuteilen und eine Unterkunft in den Häusern der verschiedenen Bauern zu suchen. Und wozu das alles? Weil Dulnikker zufällig auf den Kopf gefallen war und beschlossen hatte, daß er sich nirgendwo anders erholen könne als in dem vernachlässigtsten Winkel des Staates. Denn der dickköpfige Dulnikker hört ja nie auf seine Frau, geht einfach rücksichtslos auf und davon und muß dann beschämt SOS-Rufe aussenden, damit sie ihn aus der Patsche hole .
Immerhin kam der Staatsmann mit dem Leben davon und legte sich in seiner Bude nieder, während Gula, vereinsamt, den Zwillingen als Gegenstand einer eingehenden Betrachtung diente.
»Dicke Tante, bist du dem verrückten Ingenieur sein Mädchen?« fragte schließlich einer von ihnen.
»Nein«, erwiderte Gula, »betrüblicherweise bin ich Herrn Dulnikkers Ehefrau.«
»Bist du seine Ehefrau de facto oder nur einfach so?«
Gula, plötzlich neugierig geworden, hob die Augenbrauen. Vor ihrer Ehe mit Dulnikker war sie Kindergärtnerin gewesen, daher wußte sie, daß ein Kind immer die Wahrheit wiederholt, wie es sie von den Erwachsenen hört.
»Wer seid ihr, Kinder?«
»Wir sind die kommunalen Zwillinge«, sagten die kleinen Lümmel kichernd. Majdud wurde jedoch ernst. »Stimmt gar nicht«, verbesserte er, »ich habe das Seniorat, weil ich ein paar Minuten früher geboren bin.«
»Wo habt ihr diese Ausdrücke gelernt?«
»Vom Ingenieur und seinem mageren Krankenwärter.«
Gula zog die pausbäckigen Kinder an ihren mächtigen Busen.
»Hört zu, Kinder«, sagte sie mit einem herzlichen Lächeln, »möchtet ihr mir gern erzählen, was der onkel Ingenieur die ganze Zeit hier getan hat?«
»Nein«, erwiderte Majdud. »Nur für Schokolade mit Nüssen drin.«
Gula war eine verständnisvolle, praktische Frau, die den Wert kleiner Geschenke in sozialen Beziehungen kannte. Daher steckte sie unverzüglich die Hand in die Handtasche, die ihr ständig an einem Riemen von der Schulter hing, und fischte ein Päckchen Süßigkeiten heraus. Sie reichte ihnen einige als Vorschuß, die im Nu in den Mündern der Zwillinge verschwanden.
»Und jetzt, Kinder, erzählt mir hübsch, was der Onkel Ingenieur hier alles gemacht hat.«
»Wirst du’s niemandem sagen?«
»Nein.«
»Der verrückte Ingenieur hat einen Mordsspaß«, flüsterte Majdud - mit Seniorat - als erster. »In der Nacht klettert er auf Leitern herum und fängt Tauben. Der Papa hat ihn geprügelt, und darum macht er es jetzt so, daß die Schuhflicker mit den Barbieren raufen, weil jeder sich selber einen Wagen kaufen will.«
Mit flatterndem Herzen nahm Gula Dulnikker die Schreckensnachrichten auf. Es war wahr, sie liebte Dulnikker gar nicht; aber immerhin hatte sie ihn mehr als dreißig Jahre lang verabscheut.
»Aber Kinder«, flüsterte Gula, »wieso >Ingenieur<?«
»Weil er allen erzählt, daß er ein Ingenieur ist. Er hat auch eine große rote Fahne, die er jede Nacht auf seinem Balkon heraushängt.«
Die Frau drückte ihnen den Rest des Päckchens in die Hand und murmelte leise:
»Gott im Himmel, ich habe doch immer gefürchtet, daß es einmal so weit kommen würde .«
Das Klopfen an seiner Tür weckte Dulnikker aus seinem Nickerchen, und er stand auf, um Professor Tannenbaum zu begrüßen, der ihn untersuchen kam. Der Professor horchte eine Weile seine Herzschläge ab und zog den Schluß, daß das leichte Leben und Dulnikkers völlige Enthaltsamkeit von Aufregungen ihr Werk getan hatten und Dulnikkers Gesundheit sich soweit gebessert hatte, daß er ihm erlauben konnte, mit den Reportern, die unten auf ihn warteten, zehn Minuten zu sprechen. Dulnikker hüpfte behende die Treppe hinunter und eröffnete sofort die Pressekonferenz, die in Anwesenheit der Würdenträger und einer großen neugierigen Menge örtlich ansässiger in den Räumen des Provisorischen Dorfrats stattfand. Die Reporter erhielten zwar nur 300 Wörter, aber sie waren eine richtige Bombe, ein Reißer, der hohes Lob und eine Gehaltserhöhung einzubringen versprach:
Wir Sprachen mit Amitz Dulnikker - Lage ernst, aber
NICHT HOFFNUNGSLOS - SICHERHEIT ÜBER ALLES - »MAN BLÄST NICHT, WENN ES KALT IST« - ES KOMMT ZU KEINER
Inflation -
Von unserem Korrespondenten in Kimmelquell Während wir in diesem winzigen Dorf in ober-Galiläa Amitz Dulnikker gegenübersitzen, wissen wir nicht, was uns mehr überrascht: Dulnikkers anregendes Gemüt, seine
Herzenswärme den Dorfbewohnern gegenüber (siehe Bericht und Fotos im Innern des Blattes); oder das Wunder, daß es trotz seiner völligen Isolierung und einer höchst primitiven Lebensweise dem >Wegbereiter< Dulnikker gelang, mit den jüngsten Entwicklungen im In- und Ausland dank einem erstaunlichen politischen Fingerspitzengefühl auf dem laufenden zu bleiben.
Frage: Herr Dulnikker, was ist Ihre Meinung über die neue Koalitionskrise?
Antwort: Die Lage ist ernst, aber in keiner Weise als hoffnungslos zu betrachten. Alle an einer Beendigung der Krise interessierten Parteien müssen sich bewußt sein, daß nur gegenseitiges Verständnis eine dauernde Regelung sichern kann.
Frage: Und wenn die Krise trotzdem länger andauern sollte? Antwort: Diese Brücke überqueren wir, wenn wir zu ihr kommen.
Frage: Selbst angesichts aller wahrscheinlichen
Auswirkungen der Änderung in der Außenpolitik? Antwort: Bis zu einem gewissen Grad. (Allgemeines überraschtes Aufhorchen)
Frage: Herr Dulnikker! Stehen wir vor einer neuen Inflationswelle?
Antwort: Mit Ihrer Erlaubnis, meine Herren, werde ich diese Frage mit einer Anekdote beantworten. Eines Tages kam der Schächter tränenüberströmt zum Rebbe. >Rebbe, Rebbe, warum läßt man mich nicht am Rosh Hashanah den Schofar blasen?< Und was antwortete der Rebbe, meine Herren? >Ich habe gehört - hm -, daß du nicht in der Mikwe untergetaucht bist.< Der Schächter begann sich zu entschuldigen: >Rebbe, das Wasser war kalt, oj, war das kalt, Rebbe!< Und der Rebbe erwiderte: >Oif Kalts blust men nischt!< (Langanhaltendes herzliches Gelächter.) Frage: Verstehen wir Sie richtig, Herr Dulnikker, daß Sie die Inflation nicht für eine Bedrohung halten?
Antwort: Ich glaube, ich habe mich verständlich gemacht.
Frage: Dürfen wir Ihre Schlußfolgerungen veröffentlichen? Antwort: Gewiß.
Die Pressekonferenz war noch in vollem Gang, als Frau Dulnikker, fast zu Tode gelangweilt, den Wirt aus dem Ratszimmer schleppte und ihn fragte, wie sie mit dem Ortsrat der werktätigen Frauen in Kontakt kommen könne. Elifas machte »hmhm« und »ä-ä« und erwiderte schließlich, daß die Ratsangelegenheiten im Dorf derzeit nicht allzu klar seien. Da Gula nicht nachließ, rief Elifas seine Frau für sie heraus und stürzte verwirrt zu der Pressekonferenz zurück. Nach einer Weile öffnete sich wieder die Tür, und diesmal wurde Frau Hassidoff gebeten, herauszukommen.
»Genossinnen«, wandte sich Gula Dulnikker an die beiden von der Ehre geschmeichelten Frauen, »möchtet ihr nicht gern im Dorf ein kleines Sozialprojekt unternehmen?«
Frau Hassidoff und Malka tauschten einen Blick voller Minderwertigkeitsgefühle.
»Jetzt gleich?«
»Natürlich jetzt gleich«, donnerte die geschäftige Aktivistin. »Ich hoffe, ich fahre morgen früh weg ...«
Es sei der Ordnung halber angemerkt, daß Gula vom Augenblick ihrer Ankunft im Dorf an einen unwiderstehlichen Drang empfunden hatte, etwas zu organisieren. Sie konnte nicht zulassen, einen ganzen Tag müßig zu verbringen, und hier winkte jungfräulicher Boden.
»In Tel Aviv steht ein ganz modernes Waisenhaus unter unserer obhut«, unterrichtete sie die zwei Frauen. »In seinem Rahmen haben wir es mit zweihundertvier schmerzlich beraubten, einsamen Waisenkindern aus sämtlichen jüdischen Gemeinden zu tun, ohne irgendeine Hilfe oder Unterstützung von der Regierung.« »Gott! Zweihundertvier Waisenkinder!« Malka war erschüttert. »Und nur der Herr Ingenieur und Frau Dulnikker?«
»Ich heiße Gula«, erklärte die Aktivistin, »und nicht ich mit Dulnikker leiten das Projekt, sondern unsere Sozialabteilung.«
»Selbst so ist das sehr nett, Frau Dulnikker.«
»Ich heiße Gula«, bemerkte die geschäftige Frau und begann ihnen alles über die kleinen Unschuldigen zu erzählen, die so sehr von den großmütigen Einwohnern von Kimmelquell abhingen. Sie zog ein dickes Quittungsbuch aus ihrer Tasche, auf dem in Blau ein Foto glücklicher Kinder gedruckt war, die Münder vollgestopft mit Butterbrot, und auf dem in klaren Blockbuchstaben stand: >Danke sehr, Liga der werktätigen Frauen, für die Rettung der jüdischen Waisenkinder G.m.b.H.< Gula übergab das Quittungsbuch in die Obhut der Frau Hassidoff und erklärte den freiwilligen Helferinnen, wie sie von Haus zu Haus zu gehen hatten und wie sie einen Betrag gegen Quittung in der Höhe von einem Israeli-Pfund erbitten sollten.
»Wenn es uns gelingt, die Leiden dieser unglücklichen Waisenkinder auch nur ein wenig zu lindern, wird unser Projekt der Mühe wert gewesen sein«, beendete Gula ihre Rede und fügte hinzu: »Und jetzt viel Glück, Genossinnen .«
Die beiden Frauen starrten verblüfft die gutherzige Frau und ihr buntes Quittungsbuch an, wagten jedoch nicht, ihr offen zu widersprechen.
»Höre, Malka«, brummte Frau Hassidoff auf der Straße, »das ist nichts als ordinäre Bettelei!«
Malka zuckte schweigend die Achseln und klopfte leise an der Tür des Tierarzthauses, das am Rand des Dorfes lag.
»Reden wirst du«, platzte Frau Hassidoff heraus.
»Nein, du wirst reden«, sagte Malka beharrlich.
Die Tür öffnete sich einen schmalen Spalt, durch den Hermann Spiegels verschlafene und zornige Stimme drang.
»Wenn ihr der Kuh nicht soviel Wasser gegeben hättet, würde sie nicht soviel muhn!« keifte er durch den Spalt. Er versuchte sich wieder einzuschließen, aber Frau Hassidoff steckte gerade rechtzeitig die Schuhspitze zwischen Tür und Schwelle.
»Herr Spiegel, jetzt sind wir wegen etwas ganz anderem da. Wir sammeln Geld für arme Waisenkinder.«
»Was?« Er machte die Tür weit auf. »Wer ist gestorben?«
»Das wissen wir nicht, Herr Spiegel. Das weiß nur die Frau vom Ingenieur. Aber wenn Sie jetzt für die zweihundertvier Waisenkinder ein einziges Pfund spenden, gebe ich Ihnen ein kleines Bild, so wie das hier, und Ihr Name wird auch in die Kontobücher eingeschrieben. Das alles steht wirklich dafür, Herr Spiegel, weil es die Leiden der Waisenkinder lindert, deren Eltern nicht genug Geld haben, um sie in die Schule zu schicken. Natürlich, wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie nicht, wir sind auch nicht sehr gern hergekommen, aber wir wollten Frau Dulnikker nicht beleidigen, nachdem sie nun schon einmal diese kleinen Bilder hat drucken lassen. Ich weiß sehr gut, daß der Herr Spiegel nie genug Geld hat, weil ihn die Bauern nicht bezahlen, wenn sie sollten. Ich glaube, auch mein Mann schuldet dem verehrten Doktor etwas, aber Sie müssen auch Salman verstehen: Die Ernte war letztes Jahr so gut, daß die Tnuva einen sehr niedrigen Preis für den Kümmel bezahlte. Es sieht danach aus, daß wir auch heuer wieder leider genauso eine große Ernte haben werden. Deshalb sagte Salman erst gestern zu mir: >Wir werden den Gürtel enger schnallen müssen, Weib, wir müssen mit allen unnötigen Ausgaben aufhören.< Daher sage ich Ihnen, Herr Spiegel, daß ich selbst keinen roten Heller für Waisenkinder hergeben würde, die nicht meine eigenen sind. Wenn die Frau vom Ingenieur ihnen gar so sehr helfen will, dann soll sie selber für sie arbeiten gehen, dick genug ist sie dazu! Was glaubt sie eigentlich? Ein ganzes Pfund verlangen? Und was kommt als nächstes? Es macht mich wirklich bös! Entschuldigen Sie, Herr Spiegel, daß wir gestört haben. Empfehlungen an Ihre Gnädige.«
Die Abordnung besuchte neun weitere Häuser. Aber das Paar hatte kein Glück, und es kehrte in das Wirtshaus zurück.
»Sie geben nichts«, klagte Genossin Hassidoff. »Keiner will ein Bild kaufen. Die Leute sind sehr hartherzig, Frau Dulnikker .«
»Ich heiße Gula«, erwiderte die Genossin enttäuscht. Aber der absolute Fehlschlag diente nur dazu, sie anzuspornen, ihr Projekt in einer anderen Dimension zu erneuern, und ohne zu zögern wandte sie sich an die Zwillinge, damit sie das Versagen ihrer Mutter sühnen konnten.
Gula eröffnete das Spiel mit einem volkstümlichen Schachzug: »Sagt mir, Majdudl und Hajdudl, seid ihr mit Papa und Mama zufrieden?«
»Je nachdem.«
»Jetzt stellt euch einen Augenblick vor, daß es viele Kinder gibt, die keinen Papa und keine Mama haben. Wollt ihr, daß auch sie glücklich sind?«
»Nein«, erwiderte Majdud mit Seniorat. »Warum sollen sie glücklich sein?«
Schließlich war Gula Dulnikker eine Frau mit klarem Kopf. Wortlos ging sie zum Wagen hinaus, weckte den Chauffeur, der am Lenkrad ein Nickerchen machte, und zog mit seiner Hilfe acht Sammelbüchsen aus dem Kofferraum. Sie wählte zwei unzerbeulte aus der Masse, die ihr durch den ganzen Staat wie soundso viele treue Lieblingstiere folgte, und kehrte mit den zwei zu den Zwillingen zurück.
»Kommt, Kinder«, sagte sie zu ihnen, »sekkieren wir die Großen ordentlich. Spielen wir >Geldsammeln<; es ist ein Riesenspaß ...«
Also sprach Gula und grub ein zweites Quittungsbuch aus den Tiefen ihrer Handtasche. Es war kleiner, auf Straßensammlungen abgestimmt. Sie übergab der Jugend alles Werkzeug des Gewerbes.
Diesmal brachte Gula Dulnikker nicht erst lange Anweisungen zu geben, denn die Zwillinge - trotz ihrer absoluten Isolierung von allen übrigen Jugendlichen des Landes - waren mit einer natürlichen Neigung aller Kinder der Nation gesegnet: Geld bei ausweichenden Passanten zu sammeln. Majdud und Hajdud verließen das Wirtshaus gegen Abend, und es gelang ihnen in kurzer Zeit, die unschuldigen Dörfler zu terrorisieren. Sie versteckten sich in einiger Entfernung voneinander hinter den Linden und fielen einer nach dem anderen in getrennten Angriffen plötzlich über die betrunkenen Bauern her. Blitzschnell hielt einer der beiden ihnen die Quittungen mit dem Singsang unter die Nase: »Der Papa is’ tot! Der Papa is’ tot! Onkel, gib wenigstens zehn Heller für die armen Waisenkinder!«
Die Dörfler ergründeten den Zweck des Projektes nicht ganz und versuchten, den zähen Fratz abzuschütteln. Aber der kleine Sturmtruppler hatte inzwischen schon die Hand in die Tasche seines opfers gesteckt und ihn seines meisten Kleingeldes beraubt. Nach der bedingungslosen Kapitulation, zu der ihn die rauhe Wirklichkeit gezwungen hatte, erntete jeder Spender die warmen Worte des Lümmels:
»Du bist prima, Onkel. Danke im Namen der Ingenieurin, die auch ein großes, dickes, altes Waisenkind ist.«
Das jedoch war noch nicht das Ende des qualvollen Alptraums des verwirrten Spenders. Einige ermutigende Schritte vorwärts, und derselbe Lümmel stürzte aus der
Dunkelheit und klapperte mit seiner Büchse zweimal so laut vor der langen Nase des Opfers.
»Kind!« donnerte der geduldige Bauer. »Gerade vor einer Minute habe ich dir schon zehn Heller gegeben!«
»Das hast du dem Majdud gegeben«, pflegte dann der kleine Sammler liebenswürdig zu erwidern. »Ich bin Hajdud.«
Spät abends kehrten die Zwillinge zu ihrem Stützpunkt zurück, müde von ihrem langen Kampf, aber glühend vor Begeisterung über das ungeheure Abenteuer, das sie der gutherzigen dicken Tante verdankten. Mit gerechtem Stolz übergaben sie Gula zwei vollgestopfte Sammelbüchsen.
»Frau Ingenieur«, erklärten sie, »da ist ein Vermögen für dich drin, zum Waisenkindermachen .«
Nachdem die Büchsen geöffnet waren, wurde es allerdings klar, daß der Großteil der Münzen längst aus dem Verkehr gezogen war. Das schreckte jedoch die entschlossene und praktische Aktivistin nicht davon ab, als Zeichen ihrer Anerkennung den dankbaren Zwillingen eine zusätzliche Zuckerstange zu schenken. Gulas Überraschung über die Menge der Beute, die sie gemacht hatten, hätte sich verdoppelt oder vielleicht vervierfacht, hätte sie vermuten können, daß Majdud und Hajdud gelungen war, die zwei Büchsen zweimal zu leeren, indem sie sie umkehrten und sachte schüttelten.
Am selben Abend traf eine Bekanntgabe des Staatsmannes die Abordnung wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Sie saßen um einen wohlbeladenen Tisch und feierten Amitz Dulnikkers Rückkehr ins öffentliche Leben mit einem Privatbankett, als der Ehrengast aufstand und mit dem Weinglas in der Hand zu sprechen begann. Diesmal hatten alle Anwesenden seinen Worten aufmerksam zugehört, als es langsam klar wurde, daß er sich entschlossen hatte, seinen
Aufenthalt in Kimmelquell auf unbestimmte Zeit zu verlängern.
Dulnikker erklärte seinen Entschluß, in seiner unnachahmlichen Art, indem er von der Tatsache ausging, daß er in diesem entscheidenden Stadium die einzige Brücke zwischen den Dorfparteien war und daß seine vorzeitige Abreise angesichts der vergifteten politischen Atmosphäre alle Dämme zum Bersten bringen könnte.
»Ich werde dieses Dorf erst verlassen«, schloß der Staatsmann, »wenn ich meine Mission hier voll und ganz erfüllt habe!«
Malka, die hinter der Küchentür stand, hörte Dulnikkers Ankündigung mit großer Genugtuung zu, obwohl sie seinen schicksalhaften Entschluß seit ihrem jüngsten Stelldichein in der Nacht zuvor schon kannte. In völligem Gegensatz zu Malkas Glück wurde die Banketthalle zu einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Alle Teilnehmer sprangen auf und versuchten ihr Äußerstes, den halsstarrigen Staatsmann zu einem Sinneswandel zu bewegen. Sie bombardierten ihn stundenlang mit Vernunftgründen und gefühlsmäßigen Argumenten, sprachen von nationalen Verpflichtungen, von der Verantwortung den Generationen gegenüber, von Unverantwortlichkeit. Dulnikker jedoch blieb fest wie ein Fels im Meer und wehrte alle ihre Bemühungen damit ab, daß er über den Alltagskram hinausgewachsen sei und nun ihre kleinliche Hetzjagd von hoch oben her betrachte.
Um Mitternacht zerstreuten sich die Gäste, enttäuscht und gebrochenen Herzens. Dulnikker aber war frisch und froh wie eh und je, als er seinem Privatsekretär, sich vergnügt die Nase reibend, einen kurzen, höflichen Befehl gab:
»Zev, mein Freund«, sagte er, »bitte packe gütigst unsere Koffer aus!« obwohl der Sekretär vor Wut fast hochging, erwiderte er: »Wie Sie wünschen, Dulnikker.« Er kehrte nicht heim, weil ihm Frau Dulnikker am Schluß des Banketts Zeichen gegeben hatte, daß sie ihn zu sprechen wünsche.
»Zev«, fragte Gula den Sekretär, als sie allein waren, »hast du nichts Seltsames an Dulnikker bemerkt?«
Die Frau zog vor ihrer Stirn kleine Kreise in der Luft, um ihre Vermutung deutlich zu machen, und der vife junge Mann erkannte sofort die große Gelegenheit, die sich ihm förmlich aufdrängte.
»Gula Dulnikker«, erwiderte er mit einer Stimme voller Traurigkeit und Kummer, »ich wollte nichts sagen, aber jetzt sehe ich mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß die Geisteskräfte des Herrn Ingenieurs in diesem Dorf sehr gelitten haben.«
»Glaubst du, das ist was Neues?« Ein Zittern durchlief Gulas Wirbelsäule. »Wir wissen beide, daß er schon immer senil war.«
»Ich wollte, es wäre nur Senilität«, stöhnte der Sekretär. »Ich fürchte, wir haben es mit dem psychopathischen Beispiel einer fixen Idee zu tun, bei dem sich der Ingenieur für unentbehrlich für die Dörfler hält .«
»Auch du nennst ihn Ingenieur?« unterbrach ihn Gula hysterisch. »Er ist kein Ingenieur!«
»Ich weiß, ich weiß«, beruhigte sie Zev, »es kommt nur daher, daß ich so daran gewöhnt bin, ihn so zu nennen. Praktisch gesprochen, Gula Dulnikker, ich sehe keine andere Möglichkeit, als ihn unverzüglich heimzubringen.«
»Nein«, sagte Gula, »wir müssen uns zuerst mit Professor Tannenbaum beraten. Nur er kann entscheiden.«
»Schön, ich setze mich sofort mit ihm in Verbindung. Ich werde darauf sehen, daß der Professor sich ein Bild davon machen kann - in all seiner Schrecklichkeit.«
Der Eifer des Privatsekretärs erreichte seinen Zweck. Professor Tannenbaum besuchte Frau Dulnikker am nächsten Morgen schon sehr früh. Der Leibarzt der Parteihierarchie war noch immer von den Schrecken des vergangenen Abends benommen und verwirrt: »Ich ersuche Sie, Frau Dulnikker, die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge rekonstruieren zu dürfen«, flüsterte der Professor. »Also. Vor Mitternacht holte mich der Sekretär auf dem Weg zu meiner zeitweiligen Unterkunft ein und schilderte mir das entsetzliche Bild. Der Sekretär schlug vor, daß ich mich mit eigenen Augen von den jüngsten Entwicklungen überzeuge, und ich stimmte um einer genauen Diagnose willen zu. Also. Statt zu meiner zeitweiligen Unterkunft zu gehen, ging ich in das Schlafzimmer des Sekretärs, weil es dem Wirtshaus gegenüberliegt und sein Fenster in die gleiche Richtung geht, so daß man über die Baumkronen hinweg deutlich auf den Balkon von Herrn Dulnikkers Zimmer sehen kann. Um ungefähr zwölf Uhr sechsunddreißig bemerkten wir von unserer Stellung aus, daß sich jemand in der Umgebung von Herrn Dulnikkers Zimmer bewegte, und wenige Minuten später trat Herr Dulnikker im Pyjama auf den Balkon hinaus und dehnte sich im Mondlicht ...«
Professor Tannenbaum schwieg geheimnisvoll.
»Frau Dulnikker!« fuhr er nach einer kleinen Weile fort, »ich habe allen Grund zu glauben, daß die erschreckende Enthüllung, die ich sogleich machen werde, unerwünschte Wirkungen auf Ihre weibliche Seele haben wird, daher bitte ich Sie: befreien Sie mich von der Pflicht, genau zu sein.«
»Nein, nein, Professor Tannenbaum«, protestierte Gula, »ich muß alles erfahren!«
»Wie Sie wünschen, Madame, aber ausschließlich auf Ihre Verantwortung. Also. Herr Dulnikker band seinen roten Bademantel an das Balkongitter und begann an ihm hinunterzuklettern. Als er das Ende seines Bademantels erreichte, zog er unter seinem Arm einen großen Regenschirm hervor, mit dem als Fallschirm er sich in den Garten hinunterließ.«
»Mein Gott im Himmel!« stöhnte die Frau. »Ist Dulnikker Schlafwandler?«
»Das liegt nicht außerhalb der Möglichkeit.«
»Was geschah dann?«
»Eine Stunde und zwanzig Minuten lang sahen wir Herrn Dulnikker nicht, da die übermäßige Vegetation seine ohnehin unklare Gestalt vor unserer Sicht verbarg. Jedoch um zwei Uhr morgens tauchte er unerwartet auf dem Balkon vor seinem Zimmer wieder auf, knüpfte seinen Bademantel vom Balkongitter, und nach einem weiteren Sichdehnen wie dem ersteren verschwand er hinter der Tür.«
Eine kurze Stille bezeichnete das Ende von Professor Tannenbaums Bericht.
»Mein lieber Professor«, bat Gula den Leibarzt der Parteihierarchie, »retten Sie meinen Gatten! Wir würden das allergrößte opfer bringen, wenn er nur wieder gesund werden könnte! Was kann man für ihn tun?«
»In Amerika hat man solche geistigen Verwirrungen erfolgreich mit Elektroschock behandelt. Gibt es irgendeinen Weg, Herrn Dulnikker für eine Propagandatour auf eine lange Reise in die USA zu schicken?«
»Über solche Fragen müssen wir uns mit Zev beraten«, sagte Gula vorsichtig. Beide stürzten zum Haus des Schuhflickers und trafen den Sekretär angezogen und fertig an, als hätte er sie schon erwartet.
»Ich habe eine andere Idee«, erklärte er, »vielleicht können wir ihn auf zwei Monate in die Schweiz schicken?«
»Schön«, meinte die Frau, »aber wer wird sich dort um ihn kümmern?«
»Gula Dulnikker«, informierte sie der Sekretär, »Sie wissen, daß Sie sich in einer solchen Situation auf mich verlassen können!«
»Schön, aber wie bekommen wir ihn ohne Skandal aus diesem verdammten Dorf?«
»Es bleibt nur eine Wahl«, meinte Zev, »wir müssen Dulnikker vor ein fait accompli stellen. Ich werde heimlich seine wichtigsten Sachen packen und den großen Koffer in den Kofferraum des Wagens stellen. Dann werden wir Dulnikker unter dem Vorwand einer Rundfahrt durch die Umgebung in den Wagen bringen und geradewegs zur Überlandstraße fahren. Dulnikker wird unser heiliges Komplott erst entdecken, wenn er weit genug auf seinem Heimweg ist, und dann wird er bestimmt sein Schicksal hinnehmen.«
Alles lief planmäßig. Professor Tannenbaum erklärte den beiden Würdenträgern die Realitäten der Situation. Ohne die geringste Überraschung über seine Enthüllung versicherten sie ihm, sie würden den Kranken zwischen sich setzen und seine Aufmerksamkeit fesseln, bis die Gefahrenzone verlassen war. Während des Frühstücks stahl sich der Sekretär in die Kammer seines Herrn und Meisters, wo er mit geübter Dienstfertigkeit die wichtigsten Effekten in den großen Koffer packte. Er ließ ihn in den Garten hinunter fallen und versteckte ihn dann im Kofferraum des Wagens, der mit der Pünktlichkeit eines militärischen Manövers vor den Eingang des Hauses glitt. Zev beschloß, ihre Rechnung bei Elifas Hermanowitsch nicht zu bezahlen, um nicht Malkas Mißtrauen zu wecken. Er plante, alles Fällige, erst nachdem alles vorüber war, durch Schultheiß zu begleichen. Das, so meinte er, machte ihren Fluchtplan frei von Hindernissen. Dulnikker selbst half ihnen unwissentlich, indem er ihre Einladung, eine Tour durch die ländliche Umgebung zu machen, annahm, denn er sah darin ein ermutigendes Zeichen einer Änderung in der Einstellung seiner
Besucher zu seinem Entschluß, im Dorf zu bleiben. Die Gruppe ging sofort nach dem Frühstück zum Wagen hinaus, aber auf der Straße begab sich etwas, das ihre Abreise verzögerte.
»Unser Geld zurück, bitte«, begrüßte etwa ein Dutzend Bauern Gula. Sie hatten sich um den Wagen versammelt und streckten ihr die Quittungen hin, welche ihnen die Zwillinge aufgedrängt hatten. »Wir wollten diese Zettel verwenden, um den Tnuva-Chauffeur für unsere Waren zu bezahlen, aber er will sie nicht annehmen.«
»Aber Genossen«, argumentierte Gula, »ihr habt Geld für Waisenkinder gespendet!«
»Das haben wir dem Chauffeur auch gesagt, aber er hat sich trotzdem geweigert, die Zettel als Geld anzunehmen. Vielleicht reden Sie mit ihm, gnädige Frau!«
Gula wollte die Entführung nicht durch einen weiteren Zeitverlust gefährden, daher begann sie die zerknitterten Zettel zurückzukaufen. Aus irgendeinem Grund kostete sie diese Aktivität insgesamt neun Pfund und 58 Agorot. Die Zwillinge, die diesem Umtausch mit erstaunlichem Gleichmut zusahen, benutzten das kurze Zwischenspiel, um ihren eigenen Beitrag zu der Verwirrung zu leisten. Sie zogen den Ingenieur beiseite und flüsterten ihm ins Ohr:
»Ihr Krankenwärter hat Ihren Koffer in den Wagen gesteckt. Dann hat uns Ihre Frau Ingenieur gebeten, es Ihnen nicht zu erzählen, und wir sagen auch nichts. Das wär’s.«
In diesem Augenblick saß die Gruppe im Wagen, bereit, Hals über Kopf und auf und davon zu fahren. Dulnikker stürzte zum Kofferraum, hob schnell den Deckel und erblickte mit seinen eigenen Augen seinen größten Koffer in majestätischer Ruhe daliegen. Blitzartig traf der Gestank des Komplotts die Nasenflügel seines Geistes. Er sprang zur Wagentür, riß sie auf und brüllte: »Was soll das?«
»Alles wird völlig in Ordnung kommen, Herr Dulnikker«, sagte Professor Tannenbaum, während er das Jackett des Staatsmannes packte und ihn hineinzerrte. Dulnikker begann mit dem Leibarzt der Parteihierarchie zu ringen, aber Gula schaltete sich ein und stieß ihren Gatten mit unwiderstehlicher Kraft auf seinen Sitz zwischen den zwei zu Stein erstarrten Würdenträgern. Gleichzeitig versuchte sie den Staatsmann zu beruhigen:
»Du darfst dich nicht aufregen, Dulnikker ... das Land braucht dich ... du bekommst alle Leitern und Regenschirme, die du willst, Dulnikker . es ist alles nur zu deinem eigenen Wohl .«
Die Reporter beobachteten atemlos diese Alptraumszene. Sie waren so erstaunt, daß der Bildreporter sogar vergaß, die Dulnikker-Entführung für die Nachwelt festzuhalten, was er sich nie verzieh. Zev saß die ganze Zeit drinnen, sein Gesicht ein Bild des >nichts-Ungewöhnliches-bemerkend<. Gula war die erste, die sich erholte, und rief dem Chauffeur zu: »Los!«
Genau in dem Augenblick riß Dulnikker den Mund auf und brüllte wild: »Hilfe! Entführer! Hilfe!«
Die Dörfler, die sich um den Wagen versammelt hatten, reagierten mit bemerkenswerter Wachsamkeit, rissen die geschlossene Wagentür auf und versuchten, ihren geliebten Ingenieur aus dem Wagen zu zerren. Die Schreie der Bürgerschaft »Sie entführen den Ingenieur!« wurden lauter, und kräftige Verstärkungstruppen ergossen sich von allen Seiten auf den Schauplatz. Diesmal waren sogar der Schuhflicker und der Barbier einig in ihren Anstrengungen, ihren Meister und Lehrer aus den Händen der Eindringlinge zu retten. Endlich zogen sie ihn gemeinsam durch die Tür, zusammen mit dem Teil Professor Tannenbaums, der um die Beine des Staatsmannes gewickelt war. Der Leibarzt der Parteihierarchie ließ Dulnikker schließlich los, als das Fenster neben dem Chauffeur durch einen Stein zerschmissen wurde. So kam es, daß das entfliehende Fahrzeug den Gegenstand seiner Flucht in den Händen seiner örtlichen Verehrer hinterließ.
Der schwarze Wagen raste rücksichtslos über die Steine der Landstraße dahin, aber jetzt beachtete keiner der Leute drinnen sein Rütteln; sie beschworen alle einstimmig den Chauffeur, so schnell wie möglich zu fahren.
»Schnell, schnell!« schrie die zitternde Gula. »Sie verfolgen uns wahrscheinlich zu Pferd!«
Nachdem es klar wurde, daß die Wachsamen nicht über dem nächsten Kamm erscheinen würden, beruhigte sich die Aktivistin etwas und versicherte voller Zorn:
»Dulnikker ist wirklich irre!«
Die Würdenträger nickten zustimmend, während sie gleichzeitig die Freude über Dulnikkers Unglück überwältigte, denn sie hatten das Plappermaul immer gehaßt. Ihre Genugtuung war jedoch geringfügig, verglichen mit der guten Laune der Reporter. Denn sie hatten eben entdeckt, daß sie keinen frischen Artikel schreiben mußten. Sie brauchten nur die Schlagzeile über den 300 Wörtern zu ändern, die sie alle fertig hatten, und sie würden ihre Redaktionen mit einem sensationellen internationalen Reißer beschenken, mit der Balkenüberschrift: Neuester Beweis für Amitz Dulnikkers
Irrsinn!
Gula befahl eine kurze Rast und wandte sich mit der lebenswichtigsten aller Fragen an den Professor:
»Was jetzt?«
»So wie ich es sehe, Frau Dulnikker, leidet Ihr Gatte an einer neurasthenisch-psycholokalen Affinität zu dem Dorf Kimmelquell. Ich glaube daher, es wäre unklug, ihn aus dem
Dorf zu reißen, solange er sich in seinem gegenwärtigen Zustand befindet. Überdies«, wandte sich der Leibarzt der Parteihierarchie an die Reporter, »würde ich vorschlagen, daß über das Thema so lange nichts veröffentlicht wird, bis er geheilt ist!«
»Klar«, murmelten die Presseleute mit saurem Gesicht. »Wirklich, das ist ganz selbstverständlich .«
Die erste Pause seit dem Beginn der Kette schrecklicher Ereignisse hatte eine mächtige psychologische Wirkung auf Gula! »Der arme Dulnikker« - ihre Tränen flossen vor Erleichterung -, »ich bin überzeugt, er ist von allen diesen seinen langen Reden wahnsinnig geworden ... und jetzt wird er in diesem rückständigen Dorf mit diesen Barbaren so allein wie ein Hund sein . Selbst die Dinge, die er am meisten braucht, haben wir mitgenommen . Wer wird sich dort um ihn kümmern? Wer, um Gottes willen?«
Gulas Blick fiel auf das Gesicht des Sekretärs - und er erschauerte.
Ungefähr drei Stunden, nachdem der Wagen der Sicht entschwunden war und in einer Staubwolke südwärts fuhr, bemerkten einige scharfäugige Kimmelqueller eine große, dünne Gestalt, die sich nordwärts den Abhang hinaufbewegte, der zum Dorf führte. In der heißen Sonne waren sie bald imstande auszumachen, daß sie drei Koffer und eine gelbe Aktentasche schleppte. Das war der Grund, warum ein blondes, unermeßlich glückliches Mädchen voll wiedererwachender Freude zum Lagerhaus hinausging, um den Neuankömmling zu begrüßen.
»Ich wußte, daß du zu mir zurückkehren würdest.« Dwora umarmte den verschwitzten jungen Gepäckträger. »Jetzt wirst du auf immer hierbleiben. Stimmt’s?«
»Anscheinend«, hauchte Zev kurz und bündig. Er setzte sich auf eines der Gepäckstücke und starrte in den blauen Himmel hinauf, als verlange er, daß dieser ihm die Grausamkeit der Natur erkläre.
Der Rückkehr des Sekretärs war eine stürmische Debatte im Wagen vorangegangen. Gula hatte ungestüm verlangt, daß Zev aussteige und im Geist seiner bekannten Ergebenheit zu Dulnikkers Dorf zurückkehre. Der Sekretär hatte dem entgegnet, daß es einen Monat her sei, seit er zum letztenmal Zivilisation gesehen habe, und daß ihn seine zweite Verbannung ans Ende der Welt wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben würde. Letzteres Argument hatte jedoch aus offenkundigen Gründen keinerlei Wirkung auf die aktivistische Schwester Genossin. Außerdem waren die beiden ungeduldigen Würdenträger der armen Frau zu Hilfe gekommen, deren Situation sich nicht sehr von der einer Witwe unterschied. Sie hatten Zev energisch erklärt, daß er die Wahl habe: entweder den Wagen oder die Partei zu verlassen. Zev hatte - es sei angemerkt: ohne zu zögern - erstere Alternative gewählt. Alles, was er von der Gruppe erbeten hatte, war nur, daß sie ihn einen Teil des Weges zurückfahren wollten. Aber selbst das war ihm von Gula hartherzig verwehrt worden, die nach wie vor eine wilde Schar rachsüchtiger Berittener fürchtete. Somit war der Sekretär zu einer Pilgerfahrt nach Kimmelquell mit einem Rücken voll Gepäck verurteilt, während er unaufhörlich eine widerliche Gesellschaft verfluchte, die von einem aufstrebenden jungen Politiker verlangte, einen solchen Tort auf sich zu nehmen.
Dulnikker begrüßte Zev persönlich, obwohl er noch immer durch die Ereignisse des Morgens außer sich war. Trotzdem versuchte er, einen so kühlen Ton wie möglich anzuschlagen, als er ihn ansprach.
»Hör zu, mein Freund Zev, ich weiß nicht, wie tief du in diesen kindischen, dummen Streich verwickelt warst, der alles, was ich hier erreicht habe, zunichte machen sollte. Jedenfalls warst du in stillschweigendem Einverständnis mit den Verschwörern.«
»Dulnikker«, sagte Zev, »ich weiß, daß auch ich von einer oberflächlichen Perspektive aus gesehen etwas Schuld zu haben scheine, aber glauben Sie mir, ich handelte nur im Interesse des Staates und der Gesamtheit.«
»In dem Fall, meine Herren, haben Sie sich verrechnet.« Dulnikker war böse. »Weil es weder der Staat noch die Gesamtheit war, die dich vom absoluten Nullpunkt dazu erhob, Amitz Dulnikkers Sekretär zu sein! Ich, und nur ich, habe das getan, in einem meiner schwachen Augenblicke. Nichtsdestoweniger beabsichtige ich im Augenblick nicht, eine Disziplinarmaßnahme zu treffen. Ich muß Sie jedoch, meine
Herren, darauf hinweisen, daß nur redliche, anständige Ausdauer bei der Wiederherstellung unseres Dorfes Ihr taktloses Benehmen möglicherweise einigermaßen sühnen kann.«
»Ich verstehe, Dulnikker«, antwortete der Sekretär und kehrte seinen Blick abermals himmelwärts. Wie zu erraten ist, dauerte es auch diesmal lange, bis eine Antwort kam.
Der peinliche Zwischenfall verzögerte die Entwicklung von Kimmelquell nur um einige flüchtige Stunden. Der Staub in den Wagenspuren hatte sich noch kaum gesetzt, als neue Einladungen zu den Mitgliedern des Provisorischen Dorfrats unterwegs waren, die sie zu einer offiziellen Sitzung einberiefen, deren Zweck - in des wiedergekehrten Sekretärs einzigartigem Stil verfaßten Tagesordnung - >die Errichtung einer örtlichen Verwaltung< war, >deren Funktion es sein wird, ein ständiges Einkommen zu sichern, um die Existenz der Örtlichen Verwaltung zu garantieren<.
Die Sitzung wurde wie gewöhnlich bei dem flackernden Licht von zehn Laternen in der Ratskammer abgehalten. Dulnikker, auf die Höhen des Podiums zurückgekehrt, führte einen neuen Vorgang ein und hielt einen Zählappell, um zu sehen, ob alle Mitglieder anwesend waren. Es stellte sich heraus, daß niemand fehlte. Angesichts dessen erteilte der Vorsitzende das Wort Ofer Kisch, der, wie erinnerlich, beauftragt worden war, eine Liste von Steuerzahlern aufzustellen. Der kleine Schneider erhob sich feierlich und las folgende offizielle Einzelheiten aus einem Notizbuch vor:
»Um die Anzahl von Bürgern festzustellen, die dreitürige Kleiderschränke besitzen, besuchte ich im Lauf von vier Tagen persönlich: Häuser - 65; Räume - 206; Familien - 75 .« »Langsam, ofer, langsam«, polterte Zemach Gurewitsch, »du mißt keinen Anzug an! Sag uns einfach, wie viele dreitürige Kleiderschränke du gefunden hast?«
»Ich? Keinen.«
»Keinen?«
»Keinen.«
»Sie sehen, Herr Ingenieur«, wandte sich Elifas höchst erbittert an den Vorsitzenden. »Jetzt gehen Sie einmal hier herum, Steuern einzuheben! Das ist ein höchst halsstarriges Volk.«
»Ich ersuche um Ruhe, meine Herren!« Der zornige Vorsitzende schlug mit seinem Hammer auf den Tisch. »Wer hat euch denn beigebracht, wenn ich fragen darf, daß der Vertreter des Städtischen Steueramtes persönlich hingehen und nachsehen soll, was die Dorfbewohner tun? Ich erinnere mich sehr gut, daß Herr Kisch nur gebeten wurde, eine Liste der Einzustufenden zusammenzustellen.«
»Eine Liste der was?«
»>Einzustufender< bedeutet einen Steuerzahler«, erklärte Dulnikker ungeduldig. »Man mißt den finanziellen Stand eines Einzustufenden nicht mit dem Zollstock, Genossen, man schätzt ihn ein!«
Die Abgeordneten schrumpften in sich zusammen, rührten in ihrem Tee herum und tätschelten den Katzen mit den Stiefelspitzen die Rücken.
Zev rettete die Schlacht und die Debatte. »Der Herr Ingenieur will sagen, daß es nicht wichtig ist, wer wirklich einen dreitürigen Kleiderschrank besitzt, sondern nur, wer einen solchen Schrank besitzen könnte.«
Der Schächter Ja’akov Sfaradi war der erste, dem der Sinn der Sache aufging. »Ich verstehe«, verkündete er. »Das ist ein viel gerechteres System. Wir werden uns nicht um den Schrank kümmern, der wirklich ein unwichtiges Symbol ist .«
»Halt!« Der Barbier begann die Sache zu erfassen. »Vor allem müssen wir klären, was >wir werden uns kümmern< bedeutet. Wer wird sich kümmern?«
»Der gesunde Menschenverstand diktiert«, meinte der Schneider, »daß der Mann, der dazu ernannt ist, die Einzustufenden, oder wie sie heißen, zusammenzustellen, auch die Steuerzahler auswählt.«
»Richtig«, stimmte ihm Dulnikker zu und schlug auch die Ernennung einer Einstufungskommission vor, die dem unerfahrenen Steueraufseher bei seinen Pflichten helfen sollte. Der Provisorische Dorfrat identifizierte sich mit dem Vorschlag und ernannte sich selbst zu Mitgliedern der Kommission. Aber sowie die Kommission eine Liste der Dorfbewohner aufzustellen begann, wurde es völlig klar, daß die im Dorf herrschende »katastrophale Gleichheit« dem Unternehmen entgegenstand.
»Der eine hat mehr Boden, der andere mehr Vieh«, versicherte der Schuhflicker. »Sie könnten alle oder keiner einen dreitürigen Kleiderschrank besitzen.«
Die Entdeckung deprimierte die Abgeordneten allgemein. Schließlich rettete Zev die Ehre der Einstufungskommission: »Es gibt nur einen Weg, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Wir müssen losen.«
Die Idee befriedigte die Kommission, und ihre Mitglieder machten sich sofort daran, sie in die Praxis umzusetzen. Der Schneider schrieb schnell die Namen der Bauern von seiner Liste auf Zettel ab, die im Hut des Wirts durcheinandergeworfen wurden. Die Kommission beschloß, zwölf Steuerzahler auszulosen, zur Erinnerung an die zwölf Söhne Jakobs, und bot dem Vorsitzenden die Ehre an, zwölf Zettel aus dem Hut zu ziehen. Der Vorsitzende lehnte mit der Begründung ab, daß er eine absolut unabhängige organisation zu erziehen wünsche. Daher wurde die Aufgabe Elifas Hermanowitsch zugewiesen, dem ja ohnehin der Hut gehörte.
Die Lotterie ging jedoch nicht ohne einige Verwirrung bringende Pannen vonstatten. Es schien zunächst, daß es Elifas Hermanowitsch gelang, elf richtige Namen aus seinem Hut zu ziehen, und diese wurden unverzüglich vom Steueraufseher notiert. Schließlich aber zog der Wirt einen langen Namen heraus, worauf er erbleichte.
»Das« - er schielte - »bin ich .«
Die gesamte Einstufungskommission war verwirrt. Alle schauten zu Dulnikker, aber anscheinend hatte auch er keine klare Meinung zu diesem Problem. Endlich machte Malka dem unerfreulichen Schweigen ein Ende:
»Unsinn!« sagte sie zu ihrem Mann. »Schmeiß ihn zurück!« Elifas grinste erbarmungswürdig, gab den Zettel zu den übrigen und mischte sie gründlich. Er zog wieder, und diesmal kreischte er auf, als hätte er einen Leprakranken berührt:
»Was ist das? Wieder ich!«
Aber sein Augenblick der Schwäche ging vorbei. Das Gesicht des Wirts wurde grün vor Wut, und er schmiß den beleidigenden Zettel mit einigen Ausdrücken des Abscheus auf den Grund des Hutes.
»Aus meinem eigenen Hut!« knurrte er. »Das ist wirklich ein Witz! Genausogut hätte ich irgendeinen anderen Namen ziehen können!«
Das dritte Mal zog Elifas einen Namen, der nicht der seine war, eine Leistung, die das Herz aller Teilnehmer einschließlich des Vorsitzenden erleichterte. Der erstaunlich flinke Krankenwärter hatte inzwischen die offizielle Benachrichtigung geschrieben, die zum Programm gehörte.
>Sehr geehrter Herr<, lautete sie. >Die Einstufungskommission des Provisorischen Dorfrats unter Vorsitz des Herrn Ingenieurs hat nach eingehender Prüfung Ihres finanziellen Standes entschieden, daß Ihr Einkommen genügt, um einen dreitürigen Kleiderschrank, mit Spiegel, aus Kastanienholz, zu erstehen. Schränke dieser Art wurden von der Einstufungskommission als Luxusgüter klassifiziert, und Sie werden daher ersucht, dem Steueraufseher, ofer Kisch, eine einmalige städtische Luxussteuer von drei (3) Tnuva-Pfund für den Bau eines Bürgermeisteramtes zu bezahlen sowie 20 Agoroth zur Deckung der Eintreibungskosten. Im Weigerungsfalle sieht sich die Kommission gezwungen, den vorerwähnten Schrank zu beschlagnahmen, um Ihre Verpflichtungen zu decken.
In vorzüglicher Hochachtung Salman Hassidoff Bürgermeister de facto.<
Die erste Notstandssitzung des Provisorischen Dorfrats wurde am frühen Nachmittag des folgenden Tages abgehalten. Sie wurde aufgrund des mündlichen Ersuchens des Steueraufsehers Kisch einberufen. Die Abgeordneten waren etwas gereizt durch die häufige Belästigung, die ihre hohe Stellung mit sich brachte, aber ein Blick auf den Schneider genügte, um sie zu besänftigen. Ofer Kisch konnte kein Glied rühren, ohne vor Schmerz zu weinen. Die frischen Verletzungen an seinem Körper waren durch die Risse seiner Hose deutlich sichtbar, und der blaue Fleck unter seinem linken Auge zeigte an, was für ein Glück er hatte, das Auge noch zu besitzen. Der leidende Steueraufseher konnte sich nicht beherrschen und nahm das Wort, ohne daß es ihm erteilt wurde:
»Was habt ihr mir angetan?« jammerte der kleine Schneider. »Man hat mich fast umgebracht! Ich bin nicht einmal soweit gekommen, den Brief zu erklären, und schon wurde ich angegriffen! >Wer braucht hier einen Dorfrat?< schrien sie wie die Irren, >Was für einen Schrank?<, und hetzten die Hunde auf mich.«
Dulnikker schlug mit dem Hammer auf den Tisch.
»Genossen!« rief er. »Das ist Gesetzlosigkeit!« Seine etwas feierliche Stimmung teilte sich den Abgeordneten mit.
»Was ist eigentlich los?« platzte Frau Hassidoff heraus. »Haben sie uns gewählt oder nicht?«
»Das ist’s ja«, bemerkte der Bürgermeister de facto mit offenkundigem Groll, »Vorteile aus dem Dorfrat beziehen -fein; aber etwas hergeben - o nein!«
»Nu ja, so ist das einmal«, versicherte der Schächter plötzlich.
»Also lösen wir den ganzen Dorfrat auf, ja, Herr Ingenieur?«
Der vernichtende, wütende, verabscheuende, herabsetzende Blick des Vorsitzenden genügte, um die leichtherzigen Worte in Ja’akov Sfaradis Kehle zu ersticken.
»Zurückziehen?« donnerte Dulnikker. »Nachgeben?«
»Ja, aber - was dann?«
»Eine Polizeitruppe.«
»Sag mir, Mischa, mein Freund«, sagte Dulnikker zu dem mächtigen Burschen, als dieser spät am selben Abend schwer auf seine Bettstatt sank, »bist du mit der Schuhflickerstochter irgendwie weitergekommen?«
»Teufel, nein!« brummte Mischa. »Dwora ist so verliebt in ihre bebrillte Vogelscheuche, daß wir kaum miteinander reden. Ehrlich, ich halte mich von ihr zurück, Herr Ingenieur, weil ich Angst habe, ich könnte eines Tages diesem Angsthasen den Schädel einschlagen ...«
»Pfui über dich, Mischa«, warf Dulnikker ein. »Habe ich dich nicht schon längst darauf hingewiesen, daß du die Schranken, die dich von Dwora trennen, nur dadurch niederbrechen kannst, daß du dir einen achtbaren öffentlichen Posten erwirbst?«
»Gibt es irgendeinen achtbareren als den des Kuhhirten, der das Eigentum des Dorfes hütet?«
»Doch, Mischa. Den Hüter des Gesetzes zum Beispiel.«
»Wer ist das?«
»Der Polizist!«
»Was für eine Polizei?«
»Machen Sie keine Witze, meine Herren! Haben Sie nicht gehört, daß der Provisorische Dorfrat Himmel und Hölle nach einem Polizisten absucht? Eigentlich - warum nicht? Du bist ein kräftiger junger Bursche, Mischa, du kannst lesen und schreiben, so gut man das erwarten darf, und dein Hund ist einer der größten im Dorf .«
»Halt, Herr Ingenieur. Ich mag grüne Weiden und Tiere lieber als die Menschen. Ich bin als Polizist ungeeignet.«
»Mischa, mein Freund, wer spricht von einem Polizisten? Ich will dich zum Chef der Kimmelqueller Polizeitruppe ernennen!«
Der höchst wichtigen Verkündigung des Ingenieurs folgte langes Schweigen.
»Dann wäre ich ein offizier . Sie meinen .«
»Genau, was du gehört hast, Freundchen. Im Rang eines Hauptmannes.«
»Und keiner über mir?«
»Entschieden nein. Außerdem wirst du in zwei weiteren Monaten imstande sein, es bis zum Oberst zu bringen.«
»Nun, ja, dann geht das also in Ordnung«, willigte Mischa ein, »weil ich nicht ganz von unten her anfangen wollte.«
Vor der Eröffnungszeremonie hielt der Ingenieur persönlich für den Chef der Kimmelqueller Polizei einen Schnellkursus über das >Verhalten erstrangiger Polizeihauptleutec.
»Ein Polizeihauptmann weiß alles, sieht alles, hört alles!«
Das war der Eröffnungssatz des ersten Vortrages des Staatsmannes, und der Kuhhirte nickte zustimmend.
»Sollte irgend etwas, Gott behüte, in Verletzung des Gesetzes geschehen, erscheint der Polizeibeamte auf dem Schauplatz des Verbrechens oder besser, er erscheint schon, bevor das Verbrechen begangen werden kann. Nachher verhört er die Zeugen und unterbreitet der Vollsitzung des Dorfrats einen eingehenden schriftlichen Bericht. Jedoch« - Dulnikker hob den Zeigefinger - »ein Zeuge ist ungültig!«
»Bitte sehr, wer ist der ungültige Zeuge?«
»Ich meine die Zahl >einer<«, erklärte er mit dem Glorienschein der Geduld, die er in vielen Sitzungen mit den Kimmelquellern entwickelt hatte. »Ein Zeuge allein ist kein Zeuge, obwohl du ihn trotzdem ins Kreuzverhör nehmen mußt.«
»Da verlassen Sie sich darauf, Herr Ingenieur.« Der Kuhhirte wies stolz seine gigantischen Hände vor.
»Ohne Emotion, Genossen, ohne Emotion!« Dulnikker hob die Stimme. »Ihr dürft dem Verdächtigen kein Haar krümmen! Ihr müßt alles schriftlich niederlegen, in Form von Frage und Antwort, etwa so: Ich: Wie heißen Sie? Verdächtiger:
Soundso ...«
»Das ist kein Name!«
»Um Himmels willen, das ist doch nur angenommen, Genossen! Ich: Wo sind Sie geboren, Herr? Verdächtiger: In Rosinesco. Ich: Wie alt sind Sie? Et cetera. Folgst du mir, mein Freund?«
»Ich verstehe«, erwiderte Mischa. »Ende letzten Jahres war ich achtundzwanzig.«
Nach dreieinhalb Stunden Schwerstarbeit überwand ein eiserner Wille den Mangel an Begriffsvermögen des Hauptmanns. Endlich sah es aus, als hätte Mischa die Grundbegriffe kapiert.
»Und noch eines«, endete der Staatsmann völlig heiser. »Ich werde keinen Polizeibeamten dulden, der in der Politik herumpfuscht! Die Polizeitruppe muß die eiserne Faust des rechtmäßig eingesetzten Dorfrats sein. Folgst du mir? Wenn Ihnen, meine Herren, befohlen wird, Ihren Bruder zu verhaften, dann werden Sie ihn verhaften.«
»Ich habe keinen Bruder. Nur zwei Schwestern.«
»Das ist alles nur angenommen«, flüsterte Dulnikker mit tränenerstickter Stimme. »Ich versuche dir zu erklären, daß du Befehle ausführen mußt, ohne viel zu denken. Sollte dir befohlen werden, dich aufzuhängen .«
»Warum denn?« protestierte Mischa und stand schockiert auf. »Ich habe nichts Unrechtes getan! Entschuldigen Sie, Herr Ingenieur, aber ich mag kein Polizeibeamter sein, wenn ich mich aufhängen muß!«
»Nein!« schrie Dulnikker und stampfte vor Wut auf. »Man wird es nicht von dir verlangen!«
»Warum haben Sie dann gesagt, daß Sie es würden?«
»Ich habe nur Spaß gemacht! Vergeßt es, Genossen, vergeßt, was ich gesagt habe!«
»Alles?«
»Alles!«
Wie es so gern im täglichen Leben zugeht - obwohl der Polizeichef von Kimmelquell seine theoretischen Prüfungen nicht bestanden hatte, machte er sich im aktiven Dienst vortrefflich. Mischa begann den verwundeten Steueraufseher, ofer Kisch, zu den Behausungen der zwölf Auserwählten zu begleiten, und seine bedeutungsvolle Anwesenheit hatte die Wirkung einer kalten Dusche auf die besuchten Parteien.
Praktisch war keine Gewalt vonnöten. Allgemein gesprochen lächelte der Hauptmann breit, während seine überdimensionale Hand geistesabwesend das Fell Satans - seines gigantischen Schäferhundes - streichelte.
Ihrer beider Auftauchen allein veranlaßte die Bauern, ihre Mißhandlung des Schneiders einzustellen und ihren Kummer in eine einzige Frage zu verdichten:
»Warum gerade wir?«
»Ich weiß wirklich nicht«, pflegte der Polizist in solchen Fällen zu antworten. »Ich bin bloß eine eiserne Faust, die tut, was ihr befohlen wird. Sonst hängen sie mich mir-nichts-dir-nichts!«
Die Wolke, welche die Angelegenheit verhüllte, verdichtete sich, als die zwölf Steuerzahler Unterstützung bei dem glücklichen Rest der Dorfbewohner suchten. Diese meinten, daß der Dorfrat sicher genügend Grund habe, die Steuer gerade jenen Leuten aufzuerlegen, denen sie auferlegt war, denn die Räte waren ernstzunehmende Leute, und wenn es so war, wie sich alles auswirkte, dann sollte man nicht viel klagen: Man mußte einfach den Gürtel ein bißchen enger schnallen - und zahlen! Somit konzentrierte sich die Wut des Dutzends und sammelte sich um die Teufelsgestalt Salman Hassidoffs, des Bürgermeisters de facto, dessen Unterschrift die schändliche Verständigung zierte.
Die >Dreitürniks<, die sich von der steuerfreien Majorität etwas exkommuniziert vorkamen, fanden einen kargen Trost in ihren heimlichen Gesprächen mit Zemach Gurewitsch. Der Schuhflicker sagte dem unglücklichen Dutzend offen, daß ihnen seiner Meinung nach dieser Kerl, der Hassidoff, unrecht tue, und wenn er, Gurewitsch, zum Bürgermeister gewählt würde, er sofort die Steuerlast durch eine gerechtere Regelung auf die Schultern von zwölf anderen Bauern überwälzen würde. Aber das, sagte er, verlange natürlich, daß er, der
Schuhflicker, in den kommenden Wahlen zum Bürgermeister gewählt werde, denn was nützten schon guter Wille und menschliches Verständnis, wenn sie nicht durch Handeln gestützt würden?
Am Ende verwandelte sich jedoch die Steuer dank Umständen, an die niemand gedacht hätte, fast in einen großen Verlust. Die ersten Anzeichen der Krise waren die scharfen Proteste, die immer stärker aus den Dorfställen hervordrangen und die nach einigen Tagen an einem heiseren Chor langgedehnter Muhs wurden, in den alle gefangenen Kühe einstimmten. Der Polizeichef von Kimmelquell informierte den Rat kurz und bündig, daß er so lange nicht als Gemeindehirt dienen würde, solange er die offizielle Uniform trage. Um die Verwirrung noch zu vergrößern, waren die übrigen Dorfbewohner von dem Gedanken, den Hirtenstab zu ergreifen, nicht begeistert und behaupteten, jetzt hätten die Ratsmitglieder ihre Suppe und könnten sie auslöffeln.
Schließlich berief Amitz Dulnikker eine außerordentliche Sitzung des Provisorischen Dorfrats ein und murmelte, daß er anscheinend immer alles selber machen müsse. Alle Abgeordneten erschienen. Als sie eintraten, flüsterte Salman Hassidoff seiner ihm ehelich angetrauten Krankenschwester eine Bemerkung zu, die den Grundton der ganzen Sitzung vorwegnahm:
»Oj! Und nochmals oj!« Der Barbier wies auf die fleckenlose, frisch gewendete Hose des Schuhflickers. »Heute abend gibt’s keine Majorität!«
Und so geschah’s. Zemach Gurewitsch bat als erster ums Wort und schlug eine einstweilige Regelung vor, derzufolge der Bürgermeister den zwölf Steuerzahlern de facto einen persönlichen Brief schicken und ihnen auftragen solle, sich als kommunale Kuhhirten abzuwechseln. Salman Hassidoff war instinktiv gegen den Vorschlag und schlug vor, daß die
Ratsmitglieder in der Reihenfolge ihres Ranges Kuhhirten werden sollten. An diesem Abend wurden sechs Gegenabstimmungen abgehalten; alle waren stimmengleich, weil das >Zünglein an der Waage< konsequent gegen beide Fraktionen in frisch gebügelten Hosen stimmte.
Knapp vor Mitternacht brachte der Krankenwärter seine Meinung zum Ausdruck, daß lieber die letzte Kuh tot umfallen solle, als die Ratsmitglieder aus Schlafmangel. Dieses zynische Aparte war es, was schließlich zur Lösung des Problems führte.
»Meine Herren!« verkündete Dulnikker von seiner Höhe herab, »ich verhülle mein Gesicht aus Scham über Sie! Es sieht so aus, daß ich persönlich gezwungen sein werde, mit meinem Krankenwärter zusammen die leidenden Kühe auf die Weide zu führen.«
Wenn der Staatsmann tief im Herzen erwartete, daß sein Tadel das schlafende Gewissen der Räte wecken würde, dann irrte er, denn seine freiwillige Meldung ließ Wogen der Bewunderung in den Seelen der Abgeordneten aufwallen. Malka begann sofort zu klatschen, und der Großteil des Dorfrats schloß sich freudig an. Selbst den heuchlerischen Schächter freute es, sich zu erkundigen, ob denn der ehrenwerte Ingenieur auch im Kühehüten Erfahrung habe? Er erhielt eine spitze, wenn auch etwas zweideutige Erwiderung vom Sekretär. Zev bemerkte zwischen zwei Gähnen, daß für einen Mann der Öffentlichkeit von Herrn Dulnikkers Rang das Hüten von Vieh nichts Neues sei.
So endete die von Pech verfolgte Sitzung dennoch glücklich, und der Krankenwärter, der sich für einen Großstädter hielt, fühlte sich leicht entwürdigt.
»Hören Sie, Dulnikker«, sagte der Sekretär zu seinem Herrn und Meister, nachdem diesem die Abgeordneten >Masel tow< gewünscht und den Raum verlassen hatten, »wenn Sie um jeden Preis zurück zur Natur wollen, ist das Ihre Angelegenheit, aber warum müssen Sie mich mitschleppen?«
»Warum?« wiederholte Dulnikker jovial. »Ich werde euch gleich erklären, warum, Genossen! Was mich betrifft, so glaube ich fest an den Einfluß des persönlichen Beispiels auf die Massen. Was dich betrifft, mein Freund Zev, so wirst du bei Sonnenaufgang mit mir auf die Weide ziehen, weil du mein vertrauenswürdiger Krankenwärter bist, der bereit ist, für mich durchs Feuer zu gehen. oder hast du dir vorgestellt, mein Freund Zev, daß ich im Alter von siebenundfünfzig Jahren anfange, stumme Tiere herumzujagen?«
Der Sekretär senkte den Blutdruck des Staatsmannes, indem er sich sofort ergab. Das neue erfreuliche Alter seines Herrn und Meisters schrieb er der erfrischenden Anwesenheit Malkas zu. Tatsächlich hatte die Häufigkeit der Begegnungen in der strohgedeckten Hütte nach dem niederträchtigen Entführungsversuch zugenommen, und das Erregende war für die beiden Nachtschwärmer keinen Augenblick geringer geworden. Nachdem der grüne Pullover vollendet war, begann Malka, Handschuhe und Pulswärmer aus demselben grünen Wollknäuel zu stricken, während Dulnikker in großen Sprüngen in die Vergangenheit zurückeilte und nur bei den wichtigsten Ereignissen seiner Biographie innehielt.
Malka, sanft an Dulnikker gelehnt, wurde wohlig durchrieselt von den wunderbaren Erzählungen von Diplomaten, Flugzeugen, Appellen, Visionen, Banketten, Schwachköpfen, Krisen, Zvi Grinstein, Projekten, Schiffen, der Geschichte von einem Schächter, dem nicht erlaubt worden war, Schofar zu blasen, von Huliganen und Wahlen, Bankkrediten, Shimshon Groidiss’ Komplotten, Prestige, Entwicklung und mehr desgleichen. Eines Nachts, endlich, endlich, öffnete die Frau den Mund und sprach zu ihrem Ritter in einem Ton, der unbändiges Staunen verriet:
»Herr Dulnikker, niemand hier ahnt ja, wer Sie sind! Sie sind ein so großer Mann, daß ich wünschte, Majdud und Hajdud würden wie Sie werden. Manchmal flehe ich den Himmel an: Was für eine gute Tat habe ich vollbracht, daß Sie irrtümlich mein Zimmer betraten? Warum liebt mich der Himmel so sehr?«
»Das werden wir kaum herausfinden«, meinte Dulnikker, »deshalb verschwenden wir keine Zeit damit, darüber nachzudenken. Ich muß Sie bitten, Madame, mich nicht jeden Augenblick zu unterbrechen ...«
Als der Herr Ingenieur und sein persönlicher Krankenwärter früh an jenem Morgen das Vieh hinausführten, stand die Einwohnerschaft offenen Mundes an den Toren des Dorfes. Die beiden freiwilligen Kuhhirten trugen geborgte Kleidung, die ihnen eine äußerst originelle Erscheinung verlieh. Besonders ins Auge fallend waren dank der kurzen Hosen ihre marmorweißen Beine. Dulnikker hatte sich ein buntes Tuch um den Hals geschlungen, und beide trugen Knotenstöcke aus Mischas Sammlung. Die Hirtenstäbe gerieten ihnen immer wieder zwischen die Füße, wenn sie laufen mußten, und laufen mußten sie, weil die ungeduldigen Kühe schnurstracks zur Wiese stürmten, während Dulnikker mit erstickter Stimme heulte: »Hoiss! Rennt nicht! Hoiss! Halt!«
Kein Wunder, daß die beiden zusammenbrachen, als sie die Herde endlich eingeholt hatten. Sie streckten sich auf dem grasigen Abhang des kleinen Hügels aus und spürten mit geschlossenen Augen die rote Sonne durch die Lider, als sie sanft jede Zelle ihres Körpers überflutete.
»Siehst du, Zev«, erklärte der Staatsmann nach langem Schweigen, »wir sind erschreckend außer Form. Kannst du erraten, mein Freund, was uns das zu tun verpflichtet?«
»Sicher.« Zev beschattete seine Augen vor der Sonne. »Wir müssen heimfahren.«
»Da haben wir die neue Generation!« Dulnikker kochte vor Wut. »Typisch - sie will nur eines: Bequemlichkeit, sonst nichts! Glaubst du wirklich, ich amüsiere mich in diesem Dorf?«
»Ja, Dulnikker. Für Sie ist es großartig.«
»Na und? Stört dich das vielleicht? In dem Fall, schwöre ich, bleibe ich mit dir hier bis zu dem Tag, an dem ich - oder du stirbst!«
Das beendete ihre fruchtlose Debatte, und beide schläfrigen Männer ergaben sich dem Kuß der Mutter Sonne. Sie lagen regungslos in dem frischgrünen Gras, und der Staatsmann war nur selten gezwungen, seinen Krankenwärter loszuschicken, um eine streunende Kuh zurückzujagen - weil ja der Schäferhund, dessen Aufgabe das natürlicherweise war, im Augenblick im Dienst der kommunalen Steuerabteilung stand.
Dulnikker erwachte, weil ihn jemand leicht an der Schulter rüttelte. Er öffnete schläfrig benommen ein Auge, riß jedoch sofort auch das andere auf und öffnete den Mund zu einem heiseren Aufschrei. Ein ältlicher Araber, in einen ländlichen Kumbas und einen Kafija gekleidet, beugte sich über den erschrockenen Staatsmann und flüsterte etwas durch seinen struppigen Schnurrbart. Dulnikker, ehemaliger Partei sprecher im Unterausschuß für Minderheitenprobleme, versuchte sich schnell aus den Armen seines Angreifers zu befreien und zu fliehen, mit dem einzigen Erfolg, daß er auf dem Gras ausrutschte und flach auf den Rücken fiel. Zev, den das Aufkreischen des Staatsmannes geweckt hatte, langte nach seinem Knotenstock, aber der Araber war schneller. Er griff in seine Ledertasche und zog eine kleine Blechbüchse heraus.
»Kafaj, Amerika«, sagte er mit einem herzlichen Grinsen. »Amerika, Kafaj.«
Die beiden Kuhhirten waren sprachlos. Nachdem der Araber noch mehrmals »Kafaj, Amerika« wiederholt hatte, flüsterte Dulnikker seinem Sekretär zu: »Wus sugt er?«
»Warum reden Sie jiddisch, Dulnikker?« fragte der Sekretär leise. Und der Staatsmann flüsterte zurück: »Damit er mich nicht versteht.« An diesem Punkt ging Dulnikker jedoch die Geduld aus, und er schrie Zev an: »Warum, mein Freund, mußt du dir in einer solchen Zeit philologische Überlegungen leisten? Geh zu ihm hinüber und finde heraus, was er will! Du hast in der Schule Arabisch gehabt!«
Der Sekretär erhob sich und ging zu dem Araber, der mit
orientalischem Gleichmut auf das Ende der internen Debatte
wartete. Zev durchforschte sein Gedächtnis und grub mühsam einen arabischen Satz von unzweifelhafter literarischer Qualität aus. Aber der Araber schüttelte den Kopf und
schnalzte traurig mit der Zunge, um dem Kuhhirten anzudeuten, daß er kein Wort verstanden hatte.
»Wäre es möglich, Zev, daß er nicht Arabisch kann?« überlegte Dulnikker. Dann fragte er den Araber aus einer Gewohnheit, die ihm dank seinen Besuchen von
Einwandererlagern zur zweiten Natur geworden war:
»Murvy pan po polsku? Guvriti pa russki?«
»Ness kafaj«, erwiderte dieser und hielt den Staatsmann die Büchse unter die Nase. »Ness kafaj.«
Dulnikker nahm die Büchse und bewegte den Kopf in der stummen Frage: »Wieviel?«
Der Araber wies auf eine der Kühe. Das machte Dulnikker böse.
»Der Kerl ist verrückt«, versicherte der Staatsmann. »Er will eine ganze Kuh für seine Büchse!«
Da jedoch nahm ihre Beziehung eine entscheidende Wendung. Der Araber begann auf französisch zu murmeln, eine Sprache, die er und Zev mehr oder weniger gemeinsam kannten.
»Er bietet hundert Büchsen Neskaffee für eine Kuh«, übersetzte der Sekretär und fügte hinzu, »das ist wirklich billig, Dulnikker.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, fuhr ihn der Staatsmann an. »Sag ihm, mein Freund, daß die Kühe nicht unser persönliches Eigentum sind. Außerdem darf ich wegen meines hohen Blutdrucks keinen Kaffee trinken. Überhaupt, wer ist dieser Kerl? Er kommt mir nicht bekannt vor.«
»He«, fragte Zev, »woher kommst du?«
»Aus dem Libanon.«
Diese erschreckende Eröffnung verursachte im Lager der Kuhhirten einige Verwirrung. Dulnikker zog seinen Sekretär beiseite und flüsterte ihm sehr aufgeregt zu:
»Ich wußte von Anfang an, daß er ein Infiltrator ist, weil kein israelischer Araber den Weg hier heraus finden könnte. Wir dürfen keinen Handel mit ihm treiben, Genossen!«
Der Infiltrator stand in einnehmender Schlichtheit da, voll ruhiger Erwartung, den großen Kopf leicht zur Seite gewendet, und streckte von Zeit zu Zeit den beiden sich beratenden Kuhhirten die Büchse entgegen. Die Sonne leuchtete mit dem Glanz der Brüderlichkeit, die Kühe käuten unschuldig das Gras wieder, und hie und da flatterte ein bunter Schmetterling vorbei.
»Setz dich«, befahl Dulnikker dem Infiltrator, denn er konnte es nie leiden, Leute müßig herumstehen zu lassen. Er setzte sein Gespräch mit seinem Sekretär fort.
»Ich will keine Komplikationen! Dieser Kerl muß trotzdem als Feind betrachtet werden!«
»Schön«, sagte Zev nachgiebig. »In dem Fall bringen wir ihn also um.«
»Das ist die Aufgabe unserer Sicherheitstruppen und der Grenzpolizei«, versicherte Dulnikker. »Frag ihn, was ihn hergeführt hat.«
Der Araber begann es mit einer endlosen Tirade zu erklären, und der Staatsmann erfuhr von Zev, daß er - der Araber -Kimmelquells Hauptlieferant war und in regelmäßigem Kontakt mit dem ehemaligen Kuhhirten stand. Wenn ihm die Effendis nicht glaubten, könnten sie den ehemaligen Kuhhirten über ihn ausfragen, und auch er würde ihnen sagen, daß er -der Araber - Juden gern hatte und auch bereit sei, sie zu vernünftigen Preisen mit allen anderen, im jüdischen Staat schwer erhältlichen Artikeln zu versorgen.
Dies verletzte den Stolz des Staatsmannes ernstlich.
»Sag ihm«, schrie er Zev an, »daß wir seine erbärmliche Ware nicht brauchen! Im Gegenteil, wenn wir die Blockade über ihn verhängen, hilft uns das, schnellstens unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen!«
»Ja«, sagte der Sekretär gehorsam und übersetzte dem Schmuggler: »Wieviel willst du für eine Büchse?«
»Ein Pfund siebzig. Aber nur Tnuva-Geld. Das ist reiner amerikanischer Neskaffee, Effendi.«
Die Geheimverhandlungen zwischen dem Araber und dem Dolmetscher führten jedoch zu keinem Resultat, weil Dulnikker seinen Sekretär sehr aufmerksam überwachte. Er warnte ihn, nicht mit dem Araber zu schwätzen, nicht zu viele Sätze zu verwenden, in denen >Neskaffee< allzuhäufig vorkam, sondern dem Infiltrator zu befehlen, zu verschwinden, bevor er >die Treppe hinuntergeschmissen wird<.
»Ein Pfund sechzig«, murmelte der Araber und trat beim Anblick von Dulnikkers störrischem Gesicht einige Schritte zurück. Aber anscheinend rührte der Weltschmerz in seiner Stimme das Herz des Staatsmannes.
»Frage ihn, Zev«, befahl er plötzlich, »ob es ihm möglich wäre, mir die israelische Presse zu verschaffen?«
»Zeitungen?«
»Genau wie ihr gehört habt, Genossen. Meinst du, ich soll vielleicht warten, bis sie vom Himmel fallen?«
Der Araber war etwas überrascht, als ihm die Frage übersetzt wurde, und erklärte leise, daß in dreißig ununterbrochenen Jahren seiner Schmugglertätigkeit so etwas zum erstenmal bei ihm bestellt werde. Seine Kaufmannsseele gewann jedoch die Oberhand, und er bat um die Namen der Zeitungen, an denen der Effendi interessiert war. Nachdem Dulnikker eine Weile nachgedacht hatte, nannte er das Morgenblatt seiner Partei sowie ein >gelbes< Abendblatt und betonte, daß er keinen Heller für eine mehr als einen Monat alte Zeitung bezahlen würde.
»Sag ihm bitte, daß ich keinen Vorschuß zahle«, schloß Dulnikker. »Ich habe bittere Erfahrungen mit unbekannten Hausierern.«
Der Araber verließ die seltsamen Effendis mit einer Sturzflut von Segenswünschen für eine erfolgreiche Genesung. Er kehrte zu seinem Esel zurück, setzte sich sehr aufrecht auf ihn und ritt davon. Während der Araber nordwärts den Wäldern des Libanon zustrebte, schrie ihm Zev in Übersetzung seines Chefs nach, daß die Freitagsblätter besonders wichtig seien. Es ist fraglich, ob der Infiltrator diese letzte Aufklärung noch hörte.
Nachdem sich die Erregung gelegt hatte, streckte sich Dulnikker zufrieden ins Gras und sonnte sich weiter. Nicht so sein Erster Sekretär.
»Hören Sie, Dulnikker«, klagte er zornig, »warum darf ich mir nicht eine Büchse Neskaffee kaufen, wenn ich nach einer Tasse anständigen Kaffees lechze, Sie aber aus derselben verdächtigen Quelle Zeitungen bestellen?«
»Ich will dir die Dinge erklären, mein Freund.« Dulnikker rieb sich die Nasenflügel. »Der Ankauf von Kaffee ist ein rein kommerzieller Akt, während ich versuche, Informationen vom Feind zu erhalten. Übrigens«, fügte der Staatsmann nach einem männlich kraftvollen Sich-Strecken hinzu, »glaubst du nicht, mein Freund, daß ich eine gemeinsame Sprache mit dem arabischen Volk spreche? Weißt du, es ist nicht unmöglich, daß ich mehr als eine der brennenden Fragen unserer Region zu lösen geeignet wäre. Aber« - niedergeschlagen machte er eine resignierende Geste - »ich kann nicht immer alles selber machen ...«