Persona non grata

Meine liebste Gula,

Ich sende Dir diesen Brief heimlich mit dem treuen Tnuva-Chauffeur, weil ich nicht wünsche, daß sein streng vertraulicher Inhalt öffentlich bekannt wird. Zuerst dachte ich, ich würde mit dem Lastwagen heimfahren, aber nachher beschloß ich, meine Gesundheit, die ohnehin schwach ist, nicht zu gefährden, indem ich zusätzliche Risiken eingehe. Daher möchte ich Dich hiermit bitten, Gula, mir ohne Verzug den Wagen zu schicken, um mich heimzubringen.

Diesmal ist kein Verdacht am Platz. Ich gedenke meinen eisernen Entschluß unter keinen Umständen zu ändern, und du wirst nicht von den gleichen kindischen Schritten Gebrauch machen müssen, um mich heimzubekommen. Ich habe jeden Kontakt zu Menschen abgebrochen, und ich habe sogar aufgehört, das Vieh zu hüten. Ich habe soeben eine schwere geistige Krise durchgemacht, die ihr Zeichen in meiner oben erwähnten schwachen Gesundheit hinterlassen hat. Heute bin ich wieder gezwungen, haufenweise verschiedene Schlaftabletten zu schlucken, da mein Magen launisch und mein Blutdruck über dem normalen Stand ist. Ich wurde von einem Menschen doppelt enttäuscht, der jahrelang zu meinen Füßen gelernt hat und meine Unschuld ausnützte. Diese Wunde ist noch nicht geheilt, so daß ich Dir im Augenblick keinen eingehenden Bericht über die schmerzliche Angelegenheit geben kann. Ich möchte Dir kurz eine Enttäuschung anderer Art beschreiben, die ich im Dorf Kimmelquell erlitten habe, deren uneinige Bürger ihr Leben verwüsten und auf Schlimmeres zusteuern. Ich hoffe, daß Dir diese Enthüllungen, Gula, die unerträgliche Situation, die mein Sein bedrückt, verstehen helfen. Vor zwei Wochen fand ich einen anonymen Brief auf meinem Bett. Er enthielt in äußerst primitiven Buchstaben die Frage: >Warum baut der Barbier einen Kuhstall statt eines Büros?< Zu der Zeit hatte ich mich bereits von den Dorfangelegenheiten zurückgezogen, war jedoch gezwungen, die Folgerungen des anonymen Briefes zu überlegen, weil auch ich bemerken mußte, daß in den letzten eineinhalb Monaten Baumaterial ins Dorf geströmt war, und daß auf der Baustelle des Gemeindeamts dennoch kein Bau vorhanden war, mit Ausnahme von vier Betonsäulen des Gerüsts. Selbst auf der Baustelle des Kulturhauses ist nur ein hastig aufgestelltes Schild zu finden, auf dem steht: >Hier wird der Kulturpalast des Dorfes zur Erinnerung an den verstorbenen Amitz Dulnikker errichtet werden. < (Die Unterstreichung stammt von mir. Ich meine damit nämlich, daß sie es zur >Erinnerung an den verstorbenen< gemacht haben, weil ich, als ich seinerzeit das Projekt plante, gleichzeitig die Dorfräte informierte, daß ich den Byzantinismus bedauere, Gebäude nach Lebenden zu benennen.)

Dennoch, trotz der sündhaften Langsamkeit auf dem Gebiet öffentlicher Bauten, hat sich Herr Hassidoff, der provisorische Bürgermeister, einen wunderschönen Kuhstall ganz aus Beton erbaut - eine Entwicklung, die Grund zu kummervollen Gedanken liefert.

Die Gewalt dieser Überlegung bewog mich, den anonymen Brief dem Dorfrat zu übergeben, aber die Abgeordneten reagierten auf die Beschwerde mit heftigen Vorbehalten und begründeten es mit der Tatsache, daß die Beschwerde nicht unterzeichnet war. Meine kompromißlos negative Einstellung zu anonymen Briefen ist öffentlich bekannt. (Wenn Du die Gelegenheit hast, meine Liebe, sieh Dir Band 3 des stenographischen Berichtes des Kongresses der Regierungskörperschaften 1953 an, und du wirst - nach Shimshon Groidiss’ langer und langweiliger Tirade - meine Rede über das Thema finden, die, ich glaube, von ungefähr Seite 420 bis Seite 500 läuft.) Dennoch bestand ich diesmal hartnäckig darauf und unterrichtete Herrn Hassidoff davon, daß ich ohne Rücksicht auf die mangelnde Unterschrift zu wissen wünschte, mit was für Material er seinen schönen Kuhstall erbaut habe. Herr Hassidoff antwortete mir, daß er nicht zu antworten bereit sei, solange er nicht wisse, wer den Brief geschrieben habe.

Von einem gewissen Gesichtspunkt aus schien er recht zu haben, daher lud ich unverzüglich den Polizeichef ein, in die Ratskammer zu kommen, und wies ihn an, mit Hilfe seines klugen Hundes Satan eine Untersuchung einzuleiten. Gleichzeitig deutete ich ihm meinen Verdacht an, daß sich der Urheber des Briefes in Dorfratskreisen bewege und die ganze Beschwerde bloß ein Akt persönlicher Rache sei. Daher beschnüffelte Satan den anonymen Brief, richtete seine Schnauze sofort auf den Boden und kletterte treppauf. Zu meinem großen Erstaunen ging Satan geradewegs in mein Zimmer. Einige Minuten später kam mein Zimmergenosse, der Polizist, mit seinem Hund wieder herunter und berichtete mir, daß Satan ohne zu zögern zu dem Bett seines Herrn gegangen sei und darin zu scharren begonnen hatte. Somit enthüllte sich, daß der Polizist den Brief selbst geschrieben und ihn in einem unbemerkten Augenblick auf mein Bett gelegt hatte. Der Polizist verfaßte unverzüglich eine Niederschrift des Kreuzverhörs entsprechend den Vorschriften, und es ist mir ein Vergnügen, einige Zeilen wie folgt aus der Niederschrift wörtlich zu zitieren, wegen ihres seltsamen Charakters:

ICH: Warum habe ich diesen Brief geschrieben?

Der Beschuldigte: Weil es ekelhaft ist, wie sie Dorfgelder stehlen.

ICH: Kann ich beweisen, daß der Barbier den Zement gestohlen hat?

Der Beschuldigte: Was ist das für eine Frage? Wenn ich es beweisen könnte, hätte ich den Brief unterschrieben -stimmt’s?

ICH: Habe ich den Brief aus privater Rachsucht oder so etwas geschrieben?

Der Beschuldigte: Das verstehe ich nicht.

Ich: Ich auch nicht.

Nachdem das seltsame Protokoll öffentliches Gut geworden war,    wandte ich    mich    wieder an Herrn    Hassidoff und

begründete meine Forderung mit seiner vorangegangenen Erklärung, in der er versprochen hatte, den Fall der Erbauung des schönen Kuhstalls zu erklären, sobald der Verleumder identifiziert sei. Der Bürgermeister lehnte es jedoch ab, sich mit der Frage zu beschäftigen, mit der Behauptung, daß der Polizist geistig labil sei, da er Selbstgespräche führe, so daß seine Verleumdungen den Bürgermeister nicht im mindesten beleidigen könnten. Persönlich stimmte ich    bereitwillig mit

ihm    überein,    daß    der Polizeichef    zu lästiger

Zurückgebliebenheit neigt, gleichzeitig aber unterstrich ich, daß    die Affäre    einer    Klärung bedürfe.    Ich wies die

Abgeordneten auf die Wichtigkeit der Reinheit im öffentlichen Leben in unseren Zeiten hin und warnte sie, den Leuten einen Vorwand zu verschaffen, selbst wenn es nur eine lächerliche, völlig unbegründete Erfindung sei. Als ich endete, nahm der fünfköpfige Untersuchungsausschuß seine Tätigkeit wieder auf und im Prinzip meinen Vorschlag an, eine neutrale Persönlichkeit aus den Kreisen der Dorfbewohner als Rechnungsprüfer des Dorfrats zu ernennen, so daß dieser überprüfen könne, ob die Beschwerden gerechtfertigt waren.

Um diese Stellung auszufüllen, schlug ich Hermann Spiegel vor, der den Eindruck macht, streng und gerecht zu sein. Wenige Tage später wurden ihm die Dokumente der Hassidoff-Affäre übergeben. Als der Rechnungsprüfer sein Amt antrat, versprach er dem Dorfrat in einer Plenarsitzung, daß er nicht nachlassen würde, bis er die Wahrheit in der Angelegenheit aufgedeckt habe. Als er mit seinem obenerwähnten Versprechen fertig war, brachen alle Räte in herzlichen Beifall aus, und jeder von ihnen, einschließlich des Herrn Hassidoff, kamen zum Rechnungsprüfer, um ihm Glück zu wünschen und die Hand zu drücken. Überdies segnete ihn der Schächter, Herr Sfaradi, mit dem Erlösersegen.

Ich erinnere mich nicht genau, ob ich dich, Gula, während Deines kurzen Aufenthaltes im Dorf mit dem Tierarzt bekannt gemacht habe. Herr Spiegel ist eine pedantische westdeutsche Persönlichkeit, die alle ihre beschränkten Fähigkeiten zur Lösung des Geheimnisses ins Spiel warf. Die ersten Schritte des Rechnungsprüfers waren jedoch nicht allzu erfolgreich, weil der Bürgermeister in seiner Zusammenarbeit mit Herrn Spiegel etwas zurückhaltend war, aus Gründen, deren Logik nicht leicht zu durchschauen ist. Das Folgende ist die Niederschrift eines Teils des Berichts Nr. 1, verfaßt vom kommunalen Rechnungsprüfer über diese Angelegenheit: Frage: Herr Hassidoff, warum endete der Bau Ihres Büros mit dem Gießen der vier Posten?

Antwort: Weil das Baumaterial, das wir gekauft hatten, inzwischen ausgegangen war.

Frage: Warum ging es aus, Herr Hassidoff?

Antwort: Weil es nicht genügte.

Frage: Wo haben Sie genügend Zement herbekommen, Herr Hassidoff, um Ihren Kuhstall zu erbauen?

Antwort: Ich hatte es.

Frage: Woher, Herr Hassidoff?

Antwort: Ich weiß sehr gut, wer an einer solchen Frage interessiert ist.

Frage: Herr Hassidoff! Wie erklären Sie es, daß einerseits der Zement für das Gemeindeamt verschwand und daß andererseits Sie einen Kuhstall mit Material bauen, von dem Sie nicht sagen können, wo Sie es gekauft haben?

Antwort:    Ich werde dem Schuhflicker vor den

Bürgermeisterwahlen kein Material gegen mich verschaffen, das verspreche ich Ihnen.

Und so weiter, neun Seiten lang, bis der Verdacht des Herrn Hassidoff, daß seine Worte beim Wahlkampf gegen ihn verwendet werden könnten, endlich beschwichtigt war und er eine eingehende Zeugenaussage lieferte, die Licht auf die ganze Affäre warf:

»Eines Nachts gehe ich schlafen«, so beginnt die Zeugenaussage des provisorischen Bürgermeisters, »und um Mitternacht, da taucht plötzlich in meinem Traum ein sehr alter Zwerg auf, vielleicht neun Zoll hoch, alles in allem, der einen Turban trägt. Sein langer Bart ist ganz rot, und seine Augen sind wie Kohlen. Dann läutet er dreimal mit einer Glasglocke und sagt zu mir: >Salman Hassidoff, gehe in einer dunklen, mondlosen Nacht, dann, wenn der Hahn zu krähen anfängt, zum Kreuzweg des Dorfes, wo die drei Pappeln stehen, und grabe unter den Wurzeln des mittleren Baumes nach. Einen halben Meter tief<, fuhr der uralte Zwerg fort, >wirst du ein Kästchen voller Tnuvascheine finden. Nimm sie und baue dir mit ihnen zum Ruhm des Dorfes einen Kuhstall.< So sprach der alte Zwerg, und ich wußte wirklich nicht, was ich ihm sagen sollte. >Meister<, fragte ich ihn. >Warum schenkst du mir einen solchen Schatz?< Da antwortete mir der Alte: >Weil du der Bürgermeister bist<, und er läutete wieder mit seiner Glocke und verschwand. Als ich in der Früh aufwachte, glaubte ich den Traum nicht. Aber dann wurde ich neugierig, und in einer mondlosen Nacht, als der Hahn krähte, ging ich zu den drei Pappeln, und unter der mittleren fand ich ein Vermögen. Ich nahm es und erfüllte den Befehl des Zwerges mit dem Kuhstall.«

Frage: Haben Sie irgendeinen greifbaren Beweis, daß das, was Sie sagen, wahr ist, Herr Hassidoff?

Antwort: Natürlich. Jeder kann kommen und den Kuhstall sehen, den ich gebaut habe.

Verzeih, bitte, Gula, daß ich Dir so ausführlich beschreibe, wie sich die Dinge entwickelt haben, aber ich will wirklich, daß Du die Kräfte voll verstehst, die mich gezwungen haben, diese Hinterwäldler so schnell wie möglich zu verlassen. Nun, wie Du oben gelesen hast, wäre die Aussage Herrn Hassidoffs über den Ursprung seiner Mittel glaubhaft gewesen, wenn nicht die Sache mit dem Glockenläuten gewesen wäre, die mich staunen ließ, denn ich konnte keinen Sinn und Verstand für diese Handlung seitens des uralten Zwerges finden. Trotz alledem hätten wir uns dennoch von der Hassidoff-Affäre den täglichen Angelegenheiten zugewandt, hätte es nicht die Wachsamkeit des Herrn Spiegel gegeben, die ich hier als lobenswert vermerke.

Was ich meine, ist, daß die Aussage Herrn Hassidoffs den Rechnungsprüfer des Dorfrats nicht befriedigte und er deshalb beschloß, der Sache nachzugehen. Daher erhob er sich in einer entsprechenden Nacht beim ersten Hahnenschrei und ging zum Kreuzweg, wo er - nur zwei Pappeln vorfand! Verständlicherweise widerlegte und zerstörte das alle Behauptungen des Bürgermeisters. Er hatte sich widersprochen; denn man kann nun einmal nicht feststellen, welcher von zwei Bäumen der mittlere ist. Daraus ersiehst Du, daß jede Lüge kurze Beine hat und entdeckt wird.

Der Rechnungsprüfer des Dorfrats hielt seine Entdeckung absolut geheim, um die Verdächtigen nicht im voraus zu warnen, und setzte seine Untersuchung fort, obwohl er seine Taktik änderte. Einmal, in einer besonders schwülen Nacht, als ich in den Garten hinunterging - wie das meine Angewohnheit ist, um in der strohgedeckten Hütte etwas frische Luft zu holen -, bemerkten wir plötzlich eine schwarze Silhouette, die verstohlen zum Fenster des Barbiers kroch, durch das noch immer Licht schien, sich aufrichtete - und die ohren an die Fensterläden preßte.

Kurz und gut, am nächsten Tag berief ich auf ausdrückliches Ersuchen des Rechnungsprüfers den Dorfrat zu einer Notstandssitzung ein und erteilte Hermann Spiegel das Wort, dessen Zittern seine stürmische Geistesverfassung anzeigte. Nun, Geliebte meiner Seele, was uns der Rechnungsprüfer enthüllte, genügte, daß einem die Haare zu Berge standen. Der Rechnungsprüfer hatte - wie er es ausdrückte - jener Nacht ein offenes Ohr geliehen und gerade jenen Teil eines Zwiegesprächs zwischen Herrn Hassidoff und seiner Gattin erlauscht, in dem Frau Hassidoff ihren Gatten schalt, weil er Mischa, dem Polizisten, nicht einen Sack Zement angeboten hatte, da es auf diesen Sack ohnehin nicht mehr angekommen wäre, weil der Barbier bereits drei Säcke dem Schuhflicker und je einen dem Wirt, dem Schächter und dem Schneider gegeben hatte. Andererseits, behauptete Frau Hassidoff, hätte der Zement dem Polizisten den Mund versiegelt, und alles wäre nie so weit gekommen.

Die scharfen Worte des Rechnungsprüfers legten den Abgeordneten ein Hindernis in den Weg. Tiefes Schweigen herrschte in der Ratskammer. Schließlich stand Herr Hassidoff auf und sprach sehr scharf zu Herrn Spiegel. >Das ist Spioniererei !< rief der provisorische Bürgermeister. >Das ist das Niedrigste auf der Welt: An einem geschlossenen Fenster horchen! < Der Dorfschächter stimmte Herrn Hassidoff unverzüglich zu und erklärte, daß >ein ohr leihen< eines der ernstesten Kapitalverbrechen sei, weil es eine Art geistigen Diebstahls sei, für den rabbinische Gerichte schon mehr als einmal schwere Urteile verhängt hatten.

Die Situation war wirklich äußerst heikel. Dem Rechnungsprüfer des Rats gelang es nicht, sich angesichts der Beschuldigungen zu verteidigen, die von allen Seiten auf ihn herunterprasselten, und er konnte nur monoton den einen Satz wiederholen: >Zugegeben, ich habe eine schändliche Tat begangen, aber der Herr hat trotzdem Zement gestohlen!< Seine Worte wurden jedoch von dem allgemeinen Geschrei verschluckt. >Wichtigmacher! Kleiner Angeber! < schrie Ratsherr Ofer Kisch den Rechnungsprüfer auf Bauernart an. >Solche Leute gehören eingesperrt!< Die Frau des Barbiers, Frau Hassidoff, konnte ihre Wut nicht beherrschen und erkundigte sich, wie es denn käme, daß der Dorfzement Hermann Spiegel etwas angehe, und warum Hermann Spiegel den Dorfrat mit persönlichen Angelegenheiten belästige? >Drei bildschöne Kühe sind mir letztes Jahr eingegangen, wegen Ihrer miesen Behandlung<, wurde jetzt auch der Schuhflicker hysterisch. >Warum reden Sie nicht davon, Spiegel?<

So schalten die Räte den Rechnungsprüfer immer wieder wegen seiner Unloyalität dem Vertrauen gegenüber, das sie zu ihm gehabt hatten, und daß er seine Stellung dazu mißbraucht habe, die Stellung des Dorfrats absichtlich zu unterminieren. Der arme Spiegel versuchte, sich zu verteidigen und sie daran zu erinnern, daß sie ihn gebeten hatten, die Wahrheit der Hassidoff-Affäre zu enthüllen. Aber seine Bemühungen waren umsonst, und er war gezwungen, die Kammer beschämt und schnellen Fußes zu verlassen, um Huliganismus zu vermeiden. Der Untersuchungsausschuß wurde unverzüglich zusammengerufen. Er zog auf der Stelle die Ernennung des Tierarztes zurück und beauftragte das Ausschußmitglied Ofer Kisch, mit der Untersuchung fortzufahren.

Nunmehr, Gula, siehst Du sicherlich meine besondere Situation als Vorsitzender des Provisorischen Dorfrats. Einerseits verstehe ich die Stimmung der Abgeordneten völlig

-    Hermann Spiegels Spionieren hatte ihre Wut geweckt. Schnüffeln ist, gleichgültig unter welchen Umständen, immer ekelhaft. Aber andererseits bin ich bekannt für meine feste Haltung in allem, was den Puritanismus in unseren Zeiten betrifft. Also erhob ich mich und verurteilte das Benehmen des Rats einem Mann gegenüber, der einfach seine Pflicht getan hatte. Ich erklärte den Abgeordneten, daß sie, die Spitzen des Volkes, vom Eigentum des Volkes nicht einmal einen Faden oder ein Schuhband nehmen dürften, besonders wenn eine so fragwürdige Regelung völlig unnötig gewesen war, denn wir hätten gesetzesmäßig eine anständige Menge Zement und verschiedenen Materials für den Bürgermeister und die übrigen Abgeordneten in Form eines Vorschusses auf ihre zukünftige Pension oder so irgend etwas im Budget untergebracht. Jedoch

-    das machte ich klar - darf ein Vertreter öffentlicher Angelegenheiten niemals in Handlungen verwickelt werden, die sein Image verderben könnten.

Stelle Dir vor, Gula-Liebling, daß gerade in diesem Augenblick der Barbier - dieses Lästermaul - aufsteht, mich unverfroren unterbricht und mich schamlos fragt: >Was für ein Recht haben Sie, Herr Ingenieur, sich in die internen Angelegenheiten des Dorfrats einzumischen, und wer hat Sie, Herr Ingenieur, eigentlich eingeladen, nichtöffentlichen Sitzungen beizuwohnen?< Nicht nur das, aber der Schuhflicker, Herr Gurewitsch, beleidigte mich ebenfalls gröblichst: >Das Willkommen eines Gastes hat seine Grenzen<, und sie seien keine Säuglinge mehr und brauchten daher keinen Lehrer und so weiter.

Da alle Abgeordneten diesen zwei hochstaplerischen, unverschämten Kerlen gegenüber loyal waren, die übrigens unfähig sind, ohne mich auch nur einen Finger zu rühren, stand ich schweigend auf und erledigte sie mit dem Ausspruch: >Wehe dem Dorfe, das Amitz Dulnikker so behandelt!< Worauf ich hochaufgerichtet zu meinem Bett hinaufstieg.

Es wird Dir daher jetzt klar sein, Gula, warum es zwingend notwendig ist, daß ich aus diesem stinkenden Loch herauskomme. Es ist schwer für mich, die vergiftete Luft dieses Nestes von Huliganen zu atmen, die mir so unverschämt Trotz bieten. Mein Fall ist jedoch ähnlich dem vieler Baumeister der Gesellschaft. Ein Mann versucht, rückschrittliche Massen auf ein anständiges Niveau zu heben, obwohl er immer alles selber machen muß. Und letzten Endes wird er von seinen Schützlingen mit Füßen getreten, genau wie Julius Cäsar und alle Habsburger, glaube ich. Außerdem sind die ersten Herbstregen gefallen, und im Dorf ist es plötzlich kalt geworden. Ich bin in meinem Zimmer mit meinen Gedanken eingeschlossen und komme in keinen Kontakt mit Menschen, denn ich habe mich von der schmutzigen Wirklichkeit entfernt und betrachte weltliche Angelegenheiten als eitlen Wahn. Au revoir, Geliebte meiner Seele, ich warte auf Dich.

Dein

Dulnikker

P.S. Bring Reporter mit!

Die Kräfte konsolidieren sich

Dulnikker versiegelte den Umschlag, schrieb seine eigene Adresse darauf und übergab ihn seinem vertrauenswürdigen Freund, dem Tnuva-Chauffeur, mit dem ausdrücklichen Ersuchen, er möge das Schreiben so bald wie möglich Frau Dulnikker aushändigen. Er betonte dem Chauffeur gegenüber, es dürfe unter keinen Umständen im Dorf bekannt werden, daß er einen Brief abgesandt habe, weil die Dorfbewohner dem Schreiben wahrscheinlich alle möglichen irrigen Bedeutungen zumessen würden.

Es war zu sehen, daß der Chauffeur die >heikle Situation< gut verstand.

»Verlassen Sie sich auf mich, Herr Dulnikker«, versicherte er dem Staatsmann, als er den Umschlag in seine Mappe steckte. Gleich darauf eilte der Chauffeur zum Barbier hinüber und legte ihm den Brief mit dem Ausdruck seiner Hoffnung vor, daß sie, der Barbier und seine Frau, daran interessiert sein würden, ihn zu lesen, bevor er ihn bei der angegebenen Adresse ablieferte. Zur Ehre des Chauffeurs sei gesagt, daß es Gott behüte nicht grundloser Haß war, der sein Handeln lenkte. Er versuchte bloß, seine geschäftlichen Bande mit dem Bürgermeister mit dieser freundlichen Geste zu festigen, denn letzterer hatte in letzter Zeit die Liste der verlangten Waren absolut willkürlich zusammengestellt.

Herr Hassidoff und Gattin öffneten hastig den Umschlag und lasen aufmerksam den Brief.

»Siehst du, Salman«, klagte Frau Hassidoff, als sie fertiggelesen hatte, »da hat man den Dank, wenn man gut zu den Menschen ist. Dem Ingenieur geht es großartig in unserem

Dorf, er frißt und säuft wie ein Nilpferd, und am Ende bewirft er uns mit Schmutz und will weglaufen. Ich sage dir, Salman, euch Politiker sollte man alle miteinander prügeln.«

Geistesabwesend nahm der Barbier ein Streichholz und verbrannte den Brief. Salman Hassidoff war in den letzten Tagen nervös. Die Last des Herrschens lag schwer auf seinen Schultern und verursachte ihm gelegentlich ein seltsames Stechen im Magen, das ihm einen sauren Geschmack im Mund hinterließ. Die Leute redeten aus eifersüchtiger Kleinlichkeit ständig über ihn, und es kamen ihm alle möglichen erfundenen Berichte zu Ohren, die von Mund zu Mund gingen, über einen gewissen Kuhstall und den Dorfzement und den Tierarzt, der anscheinend sein Partner beim Stehlen sei, und ähnliche Aussprüche, von denen nur der Herrgott selbst wußte, von wem sie ausgingen. Die Untersuchungen der Angelegenheit war bereits aus Mangel an Beweisen fallengelassen worden; aber ehrlich gesagt, war der Rechnungsprüfer des Dorfrats, Ofer Kisch, nicht imstande gewesen, sich der Aufklärung der Affäre voll zu widmen, weil sich die Zahl der Aufträge seitens der Dorfräte für verschiedene Schneiderarbeiten in letzter Zeit infolge der Zunahme an Gegenabstimmungen erhöht hatte. In der öffentlichen Meinung des Dorfes konnte man jedoch ein gewisses Gefühl passiver Opposition gegen den Dorfrat wittern. »Wer von uns hat eigentlich diese Führer ausgesucht?« pflegten einander die Dörfler sehr überrascht zu fragen. »Wie ist das plötzlich so gekommen, daß sie uns Befehle geben und wir auf sie hören? Warum?« Und mehr noch, die Bauern verbrachten tagelang Stunde um Stunde unter den Bäumen auf der Straße neben dem neuen Kuhstall des Barbiers, ohne die Augen von den geschlossenen Fenstern zu wenden, hinter denen die tägliche Ratssitzung stattfand. Diese Bauern sagten: »Verflucht noch einmal! Wie lange können sie noch drinnen sitzen, ohne einen Finger zu rühren, während die Kümmelfelder furchtbar vernachlässigt werden?«

Die Räte spürten die Kritik auch, aber sie hätten sich keinen Deut darum geschert, wenn nicht die Wahlen immer näher gekommen wären, die jetzt nur noch drei Wochen fern waren. Als ihnen das klar wurde, warfen sie in einer Sitzung die praktische Idee auf, daß man etwas Gutes durchführen müßte, etwas, das die allgemeine Wertschätzung der legal eingesetzten Dorfführung heben würde. Zu dieser Zeit fungierte als Vorsitzender der Sitzungen - anstelle des Ingenieurs, der sich zurückgezogen hatte - ein neuer, verhältnismäßig junger Mann, Zemach Gurewitschs Schwiegersohn, der für diesen hohen, stundenweise bezahlten Posten ernannt worden war (auf Empfehlung des Schuhflickers). Die meisten Mitglieder des Provisorischen Dorfrats behaupteten, daß Gurewitsch grenzenlos frech sei, aber nicht einer stimmte gegen die Ernennung des Krankenwärters, weil der Vorsitzende keine Stimme besaß und außerdem seine Macht darauf beschränkt wurde, Vorschläge zu machen.

»Herr Krankenwärter«, wandten sich nun die Räte an den Vorsitzenden, »wie setzt man eine eindrucksvolle Tat?«

»Im allgemeinen macht man was Soziales.«

»Warum gerade Soziales?« fragten die Auserwählten. »Was heißt das?«

»Das ist eine Art >Liebe-deinen-Nächsten<-Programm«, erklärte Zev mit großem Vergnügen, »das allerlei Wohltätigkeiten beinhaltet, wie zum Beispiel kostenlose ärztliche Behandlung, kostenlosen Schulbesuch, Massenbesuche in Museen und ähnliches auf Kosten der Regierung.«

»Nix gut«, meinte der Barbier, »wenn sie den Tierarzt nicht bezahlen müßten, wären sie alle krank.«

»Andererseits haben wir bereits kostenlosen Unterricht«, verkündete der Schächter. »Bezahlung ist das schwer zu nennen, was mir die Eltern geben.«

»Und Museumsbesuche auf Kosten des Dorfrats würde sie nicht reizen, weil sie nicht wissen, was ein Museum ist«, meinte der Schuhflicker. »Ich habe eine Idee. Kinder sind uns teurer als alles sonst, daher soll der Rat dem Großvater jedes Neugeborenen ein großes Geschenk oder Bargeld geben.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« erwiderte Elifas. »Das betrifft nur einen äußerst beschränkten Kreis, Herr Krankenwärter, Sie kommen aus der Stadt. Was hat man dort vor der Bürgermeisterwahl getan?«

»Daheim?« Der Sekretär wurde nachdenklich. »Daheim haben sie jedem Kleinen kostenlos ein Glas Milch gegeben. Aber«, fügte er hinzu, »das war in der Stadt, wo es nicht genug Milch gibt, nicht so wie hier auf dem Dorf.«

»Im Gegenteil!« Die Abgeordneten waren begeistert. »Das ist das beste an dem ganzen Handel. Hier ist Milch für die Kinder kein Problem, weil jeder Bauer mindestens eine Kuh besitzt.«

Die Räte beglückwünschten einander und beeilten sich, zu versichern, daß >dieser Tag den Wendepunkt im Leben des Dorfes bezeichnet^ Aber der Schneider war schon wieder siebengescheit, wie das seine Gewohnheit war.

»Wir stehen vor einer ganz anderen Frage«, behauptete der Steueraufseher. »Woher nehmen wir das Geld, um die zu verteilende Milch zu bezahlen?«

»Wo ist da ein Problem?« wollte der Barbier wissen. »Im Dorf hier wohnen, soweit ich weiß, nicht weniger als zwölf Bürger, die dreitürige Kleiderschränke besitzen, und wir können die benötigte Summe einfach von ihrem Tnuva-Konto abziehen.«

»Nur elf«, verbesserte Ofer Kisch die Zahl der Steuerpflichtigen und erzählte dem versammelten Dorfrat die

Geschichte von dem >Dreitürnik<, der den Dörflern heimlich den Rest seiner Habe verkauft hatte und seit zwei Tagen samt seiner Frau verschwunden war, da sie sich gerüchteweise in einer Höhle im Berg versteckten. Die Sache war immer ungeklärt, aber der Steueraufseher hatte seine Schlüsse auf kurze Sicht gezogen und sofort die Einstufung der einmaligen Zahlungen bei den Übriggebliebenen um ein Zwölftel erhöht.

»Aber meine Herren!« Der Vorsitzende zeigte sich der Situation gewachsen. »Wo steht geschrieben, daß wir Geld aufbringen müssen, um das Projekt zu finanzieren? Verlangen wir doch einfach, daß jeder Bauer den Dorfrat täglich mit einer Tasse Milch für die Dorfkinderchen versorgt.«

»Ausgezeichnet!« rief Elifas Hermanowitsch begeistert, »aber ich schlage vor, zwei Tassen Milch zu verlangen, weil beim Transport sicher eine Menge verschüttet wird.«

»Und noch etwas«, mischte sich der Vorsitzende ein. »Es hat keinen Sinn, daß alle Bauern Milch hergeben. Ich schlage vor, wir verlangen sie nur von denen, die kleine Kinder haben.«

Daher dauerte es nicht lange, bis in Vorbereitung des Projektes >Kostenlose Tasse Milch für jedes Kind durch Gemeindekanäle< vom Dorfapparat die Registrierung von Kleinkindern in Angriff genommen wurde. Gleichzeitig erhielten jene Bürger, die die Hände voller Kleiner hatten, eine schriftliche Anweisung vom Gemeindesekretariat, daß sie allmorgendlich dem Schächter in seinem Haus zwei Tassen frischer Milch zu überbringen hätten. Dann würde Ja’akov darauf sehen, daß der Ratsbote früh aufstand und Tablett um Tablett voller Milchtassenreihen austrug und sie den Kindern ins Haus zurückbrachte, eine Tasse pro Kopf.

»Siehst du, Hühnchen«, sagte der neue Vorsitzende unter laut kreischendem Gelächter zu seinem zärtlichen Weibchen, »so muß man den dumpfen Massen den sozialen Fortschritt aufzwingen.«

»Du bist genauso schlimm wie eh und je«, klagte Dwora. »Du machst dich einfach über alles lustig.«

»Was erwartest du von mir, das ich sonst hier tun soll?« Der Sekretär wurde plötzlich ernst und streckte sich mit einem traurigen Stöhnen auf seinem Bett aus, wie ein Löwe im Käfig eines fremden Zoos.

Das Sozialmilchprojekt rief nur vereinzelte Zusammenstöße zwischen ein paar Rebellen und der Polizeimacht hervor, zu der der Hund Satan gehörte. Diese Vorfälle entwickelten sich nicht zu allgemeinen Tumulten, weil außer dem vorerwähnten Projekt die Bürger keinen Grund zur Klage hatten. Ja, mehr noch, es hatte ganz den Anschein, daß für Kimmelquell das Goldene Zeitalter begonnen hatte.

Das Goldene Zeitalter wurde praktisch durch Ja’akov Sfaradi eröffnet, der eines strahlend schönen Tages damit begann, eine Bezahlung für das Schlachten von Hühnern abzulehnen. Ein gottesfürchtiger Mensch, sagte er, dürfe kein Geld von Juden annehmen, die bei den Gemeindewahlen für ihn stimmten -aus welchen Worten die Leute schlossen, daß sie anscheinend für den Schächter stimmen sollten.

Eine Weile später stellte der Schneider vorübergehend die Einhebung der örtlichen Steuern ein. Statt dessen tanzte er kostenlos bei Privatgesellschaften und gelegentlich sogar ohne eine Gesellschaft - einzig aus glühender Bruderliebe. Aber jedermann war sicher, da sich der Schächter und der Schneider falschen Hoffnungen hingaben, da der Kampf, was das Bürgermeisteramt betraf, zwischen den zwei Riesen des Kampfringes ausgefochten werden würde: dem Barbier und dem Schuhflicker.

Zur Zeit war die Situation Gurewitschs einfach miserabel. Nachdem Hassidoff begonnen hatte, seine frisch getrimmten

Kunden mit dem erfreulichen Satz in den Ohren zu verabschieden, »um die finanzielle Seite kümmern wir uns später«, begann ein plötzlicher Schuhstrom in die Werkstatt des Schuhflickers zu fließen, ein ständig wachsender Zustrom sämtlicher Schuhe im Dorf, die zerrissen oder sonst reparaturbedürftig waren. Zum großen Kummer Gurewitschs begann sein alter Herr - just in dieser Zeit - ärgerliche Symptome geistigen Verfalls zu zeigen, als er seinem Sohn verkündete, daß auch er einen Ausflug über die Grenzen des Dorfes hinaus machen wolle, bevor er zu seinen Vätern versammelt würde.

Der Schuhflicker war geteilter Meinung; derjenigen des Gurewitsch-Sohnes und derjenigen des Gurewitsch-Dorfratsmitglieds. Das heißt, der Repräsentant in ihm neigte zuzustimmen und den Ausflug zu erlauben aus Angst, daß der erzürnte alte Knabe vielleicht für den Barbier stimmen könnte; während der Sohn in ihm behauptete: »Genie! Und wer wird dann diesen ganzen Schuhmist richten?« Schließlich gewann der Sohn die Oberhand, und der Schuhflicker sagte zu Gurewitsch senior:

»Selbst obwohl du mein Vater bist, Papa, kann ich als Dorfrat einem gewöhnlichen Ausflug nicht zustimmen. Tnuva-Geld auszugeben ist nur im Dienst des Dorfes erlaubt.«

Aber Gurewitsch senior war von seinem Herzenswunsch völlig besessen und hatte seine Ersparnisse beim Schächter bereits zum Kurs von zwei Tnuva-Pfund für drei örtliche umgetauscht. Das führte den alten Herrn dazu, sich der etwas nebligen Lektion des Herrn Ingenieurs zu erinnern. Er hörte unverzüglich zu arbeiten auf, setzte sich auf seinen Schemel vor die Schuhflickerei in die milde Sonne des Frühwinters, drehte sich nach seinem hartherzigen Sohn um und sagte:

»Streik!«

Der Schuhflicker wurde mehr als wütend, daß ihn sein Vater in einer so schwierigen Zeit leiden ließ, aber aus angeborenem Stolz versuchte er nicht, ihn umzustimmen, sondern sagte nur:

»Schön, streike. Aber warum draußen?«

Das klang sehr vernünftig, daher ging der Alte wieder in die Werkstatt zurück und setzte seinen Streik am Tisch fort, indem er mit Volldampf arbeitete. Diese Wendung der Ereignisse erlaubte es dem Schuhflicker, sich einem neuen Projekt zu widmen, das das Lager des Barbiers wie ein unerwartetes Erdbeben erschütterte. Zemach Gurewitsch stichelte einen großen Ball aus Lederresten zusammen, auf den er mit weißer Ölfarbe malte: »Ein Geschenk des Schuhflickers an seine jungen Verehrer!« (»Wenn das seine eigene Idee ist, dann rasiere ich mit Schlagrahm!« bemerkte Hassidoff in seiner höllischen Eifersucht.) Der hübsche, leicht ovale Ball wurde seinen springlustigen Verehrern übergeben, die hinfort den Großteil ihrer Tage der Entwicklung ihres Talents fürs Kicken auf dem bequem gelegenen Terrain neben den Erdwällen widmeten.

Die Art, wie sich die Dinge entwickelten, hatten ihren Einfluß auf das Privatleben der Bürger. Es mag genügen zu erwähnen, daß im Laufe der Zeit der Wächter des Lagerhauses systematisch alle schmackhaften Brieftauben briet und aß, da der Tnuva-Lastwagen nunmehr ohnehin häufige Rundfahrten machte, fast schon nach einem festen Fahrplan. Die Gewinne des Chauffeurs aus den Importen nach Kimmelquell überstiegen seinen Gewerkschaftslohn bei der Tnuva trotz der Tatsache, daß er verheiratet und höheren Dienstalters war. Der Chauffeur fuhr die Mitglieder des Provisorischen Dorfrats herum und schmuggelte sogar den >Dreitürnik< Nr. 12 und seine Familie zu ihrem unbekannten Bestimmungsort. Den Löwenanteil seines Einkommens bezog er jedoch aus persönlichen Bestellungen, die ihm unter völliger Geheimhaltung übergeben wurden.

Der Inhalt der Pakete, die er von draußen ablieferte, wurde im allgemeinen sehr schnell öffentliches Wissensgut und setzte jeweils ein großes Schäumen im Kommunalkessel in Gang. Nach Elifas Hermanowitschs Rückkehr aus Jerusalem, wo er als Dorfvertreter für den Ankauf einer Sodawasser-Maschine zwei Tage verbrachte, wurden sich die Bauern plötzlich bewußt, daß von Malka, der Wirtsfrau, ein zarter Duft ausging. Nicht nur, daß sie selbst ein so angenehmes, befriedigendes Aroma ausströmte, aber sie ließ auch, wenn sie durch die Straße ging, Duftwolken hinter sich, die in der Luft schwebten und in den Nasenflügeln der übrigen Damen des Dorfes eine gefährliche Herausforderung hervorriefen. Selbst dem störrischen Gatten blieb nichts anderes übrig: Er mußte zum Tnuva-Chauffeur schleichen und heimlich etwas von diesem begehrten Parfüm bestellen. Später begab es sich, daß Frau Hassidoff die Verehrer des Bürgermeisters samt Gattinnen zu sich einlud - ein Brauch, der nach der Auflösung der samstagabendlichen Dorfrunde beliebt geworden war - und siehe: Sie servierte ihren Tee nicht in Gläsern, sondern in neiderweckenden weißen Porzellantassen. Ist es ein Wunder, daß nach einem solchen Vorfall der Lastwagen kleine Kartons mit der Schablonenaufschrift    »Vorsicht!«    und

»Zerbrechlich« ablieferte? Und Gott sei Dank konnten es sich die Bauern leisten, es fehlte ihnen nicht an Geld, dank der diesjährigen katastrophalen Kümmelernte.

Aus irgendeinem Grund begannen die Frauen im Leben von Kimmelquell eine wichtige Rolle zu spielen.

»Höre, Salman«, sagte Frau Hassidoff eines Abends mitten im Fegen, »ich möchte wirklich gern wissen, ob du errätst, was heute für ein Tag ist.«

»Heute?« Er kratzte sich die Glatze. »Keine Ahnung.« »Dann sage ich es dir«, fuhr sein Weib leicht bewegt fort. »Heute vor genau zwanzig Jahren haben wir den Barbierladen eröffnet!«

Auch Salman Hassidoff spürte eine Art Verengung der Kehle; zwanzig Jahre sind schließlich zwanzig Jahre. Aber er nahm ein Stück Papier und rechnete etwas herum, wonach ihm klar wurde, daß die Zahl nicht ganz so rund war, da der Barbierladen vor genau neun Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen eröffnet worden war.

»Auch das ist eine lange Zeit!« erklärte Frau Hassidoff etwas ärgerlich. »Was für ein wunderbarer Gedenktag. Ich schwöre, Salman, wir sollten eine Feier veranstalten.«

»Sei kein Idiot, Weib!« Der Barbier hob die Stimme. »Ich weiß, was du im Sinn hast! Schlag dir das aus dem Kopf.«

Dulnikker blieb vor dem Luxuskuhstall des Barbiers stehen, ging den perfekt gepflasterten Weg hinauf und las sehr erstaunt die riesige Bekanntmachung, die auf die der Straße zugekehrten Wand geschrieben war:

Kommenden Samstag Abend wird das Dorf den 20. Jahrestag der Gründung des Friseurgeschäftes unseres

GELIEBTEN BÜRGERMEISTERS INGENIEUR SALMAN HASSIDOFF

feiern! Die Feier wird auf dem Grund des Kulturpalastes stattfinden. Jedermann Willkommen.

Es Grüsst: Friseurgeschäft Kimmelquell

Diese Ankündigung hatte die Passanten in den letzten paar Tagen ständig geblendet, aber aus irgendeinem Grund machte der Schuhflicker keinen Versuch, sie zu entstellen oder zu übertünchen; er hatte sich nur damit zufriedengegeben, zwischen >GELIEBTEN< und >BÜRGERMEISTERS< >ZEITWEILIGEN UND KAHLEN drüberzuschreiben und einzufügen.

Der Staatsmann studierte das grelle Plakat, und sein eingesunkenes Gesicht wurde traurig. Einen langen Tag nach dem anderen in sein Zimmer eingesperrt wie ein Einsiedler, hatte Dulnikker darauf gewartet, daß die Dorfbewohner kommen und sich bei ihm entschuldigen würden für die Schande, die sie über sich gebracht hatten, indem sie auf ihren Lehrer und Meister verzichtet hatten. Jedoch vergeblich, niemand war bereit, zu Kreuz zu kriechen, und der Staatsmann fühlte sich in seiner absoluten Isolierung vergessen wie der Schnee vom Vorjahr auf den Höhen des Libanon. Schließlich trat er im sanften Schein der Sonne wieder auf die Straße. Die Männer grüßten ihn mit einem leichten Kopfnicken, so, wie sie es in seinen ersten Tagen im Dorf getan hatten. Das regte jedoch den Staatsmann jetzt nicht mehr auf, denn er wußte, daß Gula bestimmt unterwegs war und ihn bald wieder in die Welt mehr oder weniger normaler Menschen bringen würde.

Einen kurzen Augenblick lang fühlte Dulnikker einen tobenden Haß gegen seinen ehemaligen Sekretär in sich aufwallen, denn wenn es diesem gelungen wäre, seine seinerzeitige Flucht mit größerer Pfiffigkeit zu bewerkstelligen, dann wäre der Staatsmann schon längst wieder in seinem bequemen Büro in Tel Aviv gesessen ...

Ein leichter Schlag auf seinen Schädel weckte den Staatsmann aus dem hypnotischen Zug seiner traurigen Gedanken. Als er zwei weitere Schläge, diesmal auf seinem Rücken, spürte, drehte er sich verwirrt um und bemerkte Majdud und Hajdud auf den Bäuchen hinter einem dicken Eichenstamm, wie sie aus ihren Schleudern ein Dutzend kriegslüsterne Lümmel mit Kies überschütteten, die hinter dem Haus hervor auf sie feuerten.

»Vorsicht, Ingenieur«, schrien ihm die Zwillinge zu. »Sie sind in der Feuerlinie! Rennen Sie!«

Die Angreifer eröffneten neuerlich das Feuer, und auch ihre Steine trafen den Staatsmann. Kühn drohte Dulnikker den Wilden:

»Was heißt das? Ihr benehmt euch wie Straßenbälger! Ich verlange, daß ihr sofort aufhört!«

»Hauen Sie ab, Ingenieur!« riefen die Kleinen im chor. »Sie sind uns im Weg! Hauen Sie ab, schnell! Sind Sie taub? Abhauen!«

Dulnikker trat von einem Fuß auf den anderen, verwirrt und aufgebracht. Einmal, bei einer Massenversammlung in Frankreich, hatten ihn Huligane mit zahllosen verfaulten Tomaten beworfen, aber die Kinder daheim hatten ihn noch nie mit etwas beschossen. Majdud - der mit Seniorat - stürzte unter großer Gefahr hinter der Barrikade hervor und zerrte den Staatsmann hinter die Bäume.

»Seien Sie kein Waisenkind, Ingenieur«, schrie er ihn nach der Rettung an. »Sehen Sie denn nicht, daß es so viele sind?«

»Wer sind diese Kinder?«

»Die Schuhflicker-Klasse.«

Dulnikker runzelte die Stirn: Er hatte keine Ahnung von der Veränderung der Werte, die im Erziehungssystem stattgefunden hatte. Zu Beginn jener schicksalhaften Woche hatte sich Salman Hassidoffs Söhnchen während des Mittagessens an seinen Vater, den Bürgermeister, gewandt und plötzlich gefragt: »Papa, ist es wirklich wahr, daß der Schuhflicker der nächste Bürgermeister wird und wir dann eine Menge Wasser haben werden?«

Das Essen blieb Hassidoff im Hals stecken.

»Großartig! Vielleicht erzählst du mir, wo du das her hast?«

»Was für eine Frage! Aus der Schule.«

Frau Hassidoff stieß ein wildes Wutgeheul aus.

»Da hast du’s, Salman! Jetzt siehst du’s!«: schrie die Frau mörderisch. »Dieser heuchlerische Schächter lehrte deinen eigenen Sohn für dein Geld, daß dieser hinkende Schuster Messias ist! Da hast du’s!«

Ohne seine Mahlzeit zu beenden, erhob sich Salman vom Tisch, und von einem stechenden Gefühl im Magen begleitet, rannte er wütend zum Schächter. Ja’akov Sfaradi begrüßte den Bürgermeister höflich und mit königlicher Herablassung. Die Bewegungen des Schächters waren seit kurzem gelassener geworden, und er schritt gemessenen Schritts einher. Selbst sein Gesicht war dank verbesserter Ernährung etwas runder, sein Bart überraschend länger und seine Kleidung unter Ofer Kisches Bügeleisen frischer geworden. Und der Gedanke, einen berufsmäßigen Kantor von draußen herzubringen, gärte schon seit langem in ihm.

»Willkommen«, sagte Ja’akov Sfaradi zu seinem ehrenwerten Gast. »Nehmen Sie Platz.«

»Nehmen Sie gar nix!« griff ihn Hassidoff an. »Sie, meine Herren, zerstören Ihre Schüler, Sie verwandeln die Jugend in Schuhflickerniks, Sie machen meinen Sohn zu meinem Todfeind! Was soll das, wenn ich fragen darf?«

»Einen Augenblick, Herr Bürgermeister.« Der Schächter wich vor der väterlichen Wut zurück. »Nicht im Zorn, bitte. So einfach ist die Sache nicht. Was soll das alles? Täglich fragen die Kinder, wer Bürgermeister wird, warum er es wird, wann er es wird - und schließlich muß ich ihnen im Interesse der Gemeinschaft eine Antwort geben, stimmt’s, Ingenieur Hassidoff?«

»Dann«, der Barbier wurde noch zorniger, »dann geben Sie Ihnen bitte die Antwort, daß der Barbier ewig Bürgermeister bleibt. In Ordnung?«

»Verlangen Sie so etwas nicht von mir, Herr Bürgermeister. Wenn ich Ihren Sieg im voraus prophezeien soll, wäre der

Schuhflicker mit Recht böse, denn erst vor zwei Tagen schenkte er mir ein Paar Wildlederschuhe mit kleinen Löchern an den Seiten zwecks Lüftung.«

»Ich schwöre, was für eine Chuzpe!« Der Barbier kochte und hielt sich die Hand an den Bauch, den Partner seiner Wut. »Vielleicht sagen Sie mir, Ja’akov Sfaradi, wer Sie täglich mit einem Quorum für Gebete versorgte, bevor Sie ein so großer Mann geworden sind? Und wer noch immer Ihren dreckigen Bart kostenlos trimmt?«

»Sie, Ingenieur Hassidoff«, erwiderte der Schächter. »Aber Sie müssen meine heikle Lage verstehen. Wenn Ihre Einstellung vorherrschen sollte, könnte Elifas Hermanowitsch morgen kommen und von mir verlangen, daß ich seine Zwillinge lehre, daß er - der Wirt - zum Bürgermeister gewählt wird, oder zumindest, daß er gewählt hätte werden sollen, als Dank, weil er mir für meine Überwachung kostenlos Mittagessen gibt! Ich kann keine getrennten Klassen für die Kinder sämtlicher Räte und ihrer Anhänger errichten.«

»Warum eigentlich nicht?«

Salman Hassidoff stieß auf keine Schwierigkeiten, die Abgeordneten dazu zu überreden, denn die dem Gedanken innewohnende Logik stand auf seiner Seite.

»Das ist der einzig mögliche Weg«, erklärte der Bürgermeister den Räten. »Nur so können wir es verhindern, daß unsere Kinder das Lob unserer Feinde hören. Selbst aus der Sicht der Kinder: Das wird die Raufereien zwischen ihnen beenden und einen günstigen Einfluß auf ihren Fortschritt in der Schule haben.«

Am nächsten Tag wurde die Registrierung der Kinder unter Leitung des jungen Vorsitzenden eröffnet. Das Gemeindesekretariat ersuchte die Eltern der Kinder, einen Fragebogen auszufüllen, in dem sie gebeten wurden, darauf hinzuweisen, welches Mitglied des Provisorischen Dorfrats ihrer Meinung nach am meisten recht hatte. (»Bitte unterstreichen Sie den Mann, der recht hat.«) Die Antworten dienten als Grundlage für die Zusammensetzung der Schulklassen. Der Schulklassenausschuß nahm Zevs Vorschlag an, daß sie in Zweifelsfällen - wo der Vater den einen Mann und die Mutter einen anderen für richtig hielt - den Geschlechtern angepaßt werden sollten: Das heißt, eine Tochter ging in die Klasse der Wahl ihrer Mutter, und ein Sohn folgte den Spuren seines Vaters. So kam es, daß der Schächter gezwungen war, außer den zwei größten Klassen, der Barbierklasse und der Schuhflickerklasse - die Zwillinge separat und eine zahlenmäßig begrenzte Gruppe strebsamer kleiner Schächter zu unterrichten. Zusätzlich wurde eine Klasse für die Sprößlinge der >Dreitürniks< errichtet, die ihre Kinder in schneidermeisterlichem Geist zu erziehen wünschten.

Am Tag nach dem Inkrafttreten der Erziehungsreform verwandelte sich die Dorfstraße in ein Schlachtfeld, und die einzelnen Klassen führten untereinander einen unaufhörlichen Krieg. Die große Schuhflickerklasse schüchterte die Minoritäten gleich von Anfang an ein, und Amitz Dulnikker bekam unter anderem zwangsläufig ihre Stärke zu fühlen. Die schuhflickerischen Fratzen umzingelten in einem Infanterieangriff den Baum, hinter dem sich die Schüler der Wirtsklasse zusammen mit dem Onkel Ingenieur eingegraben hatten, und sie schossen von allen Seiten Kiesel. Die überlegene Streitmacht zerschmetterte die Verteidigungen der Zwillinge schnell, und sie rasten davon.

»Ingenieur!« schrie Majdud und Hajdud über die Schulter zurück. »Was ist los mit Ihnen? Los, rennen Sie!«

Dulnikker rührte sich nicht; er starrte die Schwärme der kleinen Lümmel mit einem bekümmerten, verwirrten Blick an, als spüre er die Steine überhaupt nicht, mit denen ihn die Vorhut überschüttete.

Die Feier des zwanzigsten Jahrestages der Eröffnung des Barbierladens fand in Anwesenheit sämtlicher Dorfbewohner statt, trotz der schwarzen Wolken, die sich an jenem Samstagabend am Horizont    gesammelt    hatten    und    die

Teilnehmer mit einem Guß bedrohten. Das Grundstück des Kulturzentrums war nach wie vor eine öde Fläche, zu der an einem Ende einige Tische und ein neues Schild gekommen waren, das statt des Namens des verstorbenem Ingenieurs folgenden Text trug:

Hier wird demnächst der Salman-Moses-Kulturpalast errichtet.

Unnötig zu sagen, daß der neue Name das Ergebnis langer rauher Debatten im Dorfrat zwischen dem Schuhflicker und dem Barbier war. Nur der weise Vorschlag des Vorsitzenden brachte einen Kompromiß zwischen dem Vorschlag    des

Schuhflickers (Moses) und der Forderung des Barbiers (Salman) zustande.

»Der Name des Herrn Hassidoff verdient es sicherlich, auf dem Schild zu erscheinen, weil man während seiner Amtszeit als Bürgermeister beschlossen hat, den Palast zu errichten«, behauptete Zev. »Aber andererseits ist es passend, den Namen des Propheten Moses darauf zu lassen, weil er zu seiner Zeit so viel für unsere Kultur getan hat.«

Der Sekretär saß jetzt an    dem langen    Tisch    unter    den

Höherstehenden, während die    Menge die    Augen    nicht    von

seiner kleinen Frau abwenden konnte und aus ihrer Gestalt zu erraten versuchte, in welchem Monat sie war. Die Tische

waren mit Nelkengebinden geschmückt, die den Namen >Salman< auf den Tischtüchern bildeten - eigenhändige Schöpfung von Frau Hassidoff. Vor Elifas Hermanowitsch, der in Feiertagsschwarz gewandet war und als Zeremonienmeister waltete, stand bescheiden die Tischglocke aus dem Stadtamt.

Plötzlich erhob sich der Wirt und drückte auf den Klingelknopf. Der Nachklang des hübschen Glockentons begleitete den Ehrengast und seine Gemahlin auf dem Weg zu ihren Sitzen durch die respektvoll zurückweichende Menge. Frau Hassidoff sah tadellos aus, und ihr Kleid, aus einem einzigen Stück Tupfenstoff geschnitten (Bluse und Rock in einem) löste Wogen der Bewunderung mit einer Spur von Neid aus. Die Heldenfrau war tief gerührt, und als sie sich neben den Zeremonienmeister setzte, flüsterte sie mit Tränen in der Stimme ihrem Gatten ins Ohr:

»Salman, Salman, daß wir das noch erleben durften!«

Elifas erhob sich wieder und drückte neuerlich auf die wunderbare Glocke, und siehe, die Menge verstummte von einem Ende bis zum anderen.

»Geliebte Versammelte, Mitglieder des Provisorischen Dorfrats, Ehrengast und Gemahlin!« eröffnete der Wirt seine Rede heftig schielend. »Wir haben uns an diesem Samstagabend hier auf dem Boden des Kulturzentrums versammelt, um unseren Bürgermeister de facto zu begrüßen, einen der besten Rasierer der Stadt, Ingenieur Salman Hassidoff.«

Wieder drückte der Wirt auf die Glocke, und die Zuhörer brachen in Applaus aus. Amitz Dulnikker, der schweigend und unbemerkt mitten in dem Gedränge stand, starrte seinen Nachbarn höchst verblüfft an. Warum jubelten sie diesem unbedeutenden Menschen zu, den jeder verachtete? Wußten sie denn nicht, daß der Barbier und seine Frau dieses ganze Picknick mit allen Zutaten auf Kosten eben dieser Menge organisiert hatten? Der Staatsmann staunte auch über den glatten Vortrag des Wirts: Er konnte seinen Ohren kaum trauen. War das derselbe halbidiotische Dicke, der seinerzeit keinen ganzen Satz hervorzubringen vermochte?

»Wer immer Salman Hassidoff halbwegs kennt, weiß, daß er solche Feiern zu seinen Ehren nicht mag«, setzte der Wirt seine Laudatio fort und wandte sich an den Bürgermeister, der zustimmend nickte, während sein Gesicht den Glanz der Genugtuung widerstrahlte, »aber ich muß von hier oben sagen, daß wir ursprünglich, vor zwanzig Jahren, als Ingenieur Hassidoff sein Friseurgeschäft in Kimmelquell gründete, nicht erwartet hätten, daß es sich zu einer so wichtigen öffentlichen Einrichtung entwickeln würde. Vor zwanzig Jahren ein Geschäft in Kimmelquell zu eröffnen, war ein sehr gewagtes Unternehmen. Ich erinnere mich, als ich meinen Gasthof eröffnete, daß viele Leute zu meiner Frau sagten: >Malka, Malka, dein Mann macht eine Dummheit.< Aber meine tapfere Frau sagte ihnen unverzagt:    >Verlaßt euch auf Elifas

Hermanowitsch. Er hat viele große Schwierigkeiten bewältigt, und er wird schon wissen, was er jetzt tut!< Natürlich unnötig zu sagen, daß wir zuerst schwere Zeiten durchmachten. Kaum ein Gast kam in die Schankstube. Die Leute sagten, wozu brauchen wir einen Gasthof? Wir haben bis heute ohne einen gelebt, und wir werden auch in Zukunft ohne einen leben. Dennoch mußte ich täglich Mahlzeiten zubereiten, denn sollte doch zufällig ein Gast kommen, dann hatte ich ihm nicht sagen können, >Verzeihung, mein Herr, ich habe keine Gäste erwartete Wenn ihr nur wüßtet! In jener Zeit hatte mein Haus noch keinen zweiten Stock, daher war die Küche praktisch im Speisezimmer, und wir konnten keine weißen Tischtücher auflegen, wegen des Rauchs aus dem Herd ...«

Der Wirt brauchte nicht ganz fünfviertel Stunden, um unter häufigem Glockenläuten zu der gegenwärtigen Lage zu kommen, da er nunmehr mit Leichtigkeit Mahlzeiten für 120 Erwachsene zu vernünftigen Preisen liefern konnte, die gekochtes Fleisch und Nudeln beinhalten, wenn er rechtzeitig von der Anzahl der Gäste verständigt wurde, etwas, worum er jeden sehr bäte, genau einzuhalten, weil sie im allgemeinen immer in der letzten Minute zu ihm kämen. In diesem späteren Stadium der Festlichkeiten saßen der Barbier und seine Frau mit grünen Gesichtern auf ihren Ehrenplätzen und trommelten Märsche mit den Fingern auf dem Tisch. Frau Hassidoff erhob sich gelegentlich halb von ihrem Stuhl, als hätte sie gern den Wirt tätlich angegriffen. Zevs Stirn ruhte auf seinen Unterarmen, und er hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, während es seinen Kopf seltsam schüttelte. Aber die Menge beachtete diese kleineren Störungen nicht und hörte begeistert der Jungfernrede des Wirts zu. Ja, mehr noch, sowie der Wirt seinen Vortrag mit folgenden herzlichen Worten beendet hatte: >Daher wollte ich Ihnen nur sagen - möge der Herr unseren Ehrengast Ingenieur Hassidoff und dessen Gattin segnen!<, brachen die Zuhörer spontan in langanhaltenden Beifall aus.

Die erfreuliche Stimmung wurde jedoch schnell durch die Erwiderung des Ehrengastes verdorben. Der Barbier begann mit einer derartigen Schärfe, daß sie schon an Rohheit grenzte, und er verteilte nach links und rechts Andeutungen über gewisse Leute, die über seine Jahresfeier unglücklich seien, weil sie nicht günstigen Auges mitansehen könnten, daß er das Rasiermesser des Barbiers mit dem Schwert der Herrschaft vertauscht habe. Aber das störe ihn überhaupt nicht, weil er überzeugt sei, daß die Bürgerschaft wisse, wie sie den Mann schätzen sollte, der die kommunale Dorfangelegenheiten in den letzten Jahren gelenkt hatte, und daß sie alle bei den kommenden Wahlen für ihn stimmen würden ...

Der Schuhflicker am entgegengesetzten Ende der Tafel saß nicht müßig da, sondern begann Hassidoff mit Zwischenrufen zu unterbrechen, und behauptete, daß er, Zemach Gurewitsch, gemeint habe, sie feierten den 20. Jahrestag des Barbierladens

- der übrigens erst vor drei Jahren gegründet worden sei -, aber niemand hatte je etwas von einem bürgermeisterlichen Jahrestag gesagt. Worauf Frau Hassidoff dem Schuhflicker gepfeffert antwortete und die Verehrer des Schuhflickers unverzüglich unter den Zuhörern in ein ohrenbetäubendes Pfeifen der Verdammung ausbrachen.

»Ihr werdet mir nicht den Mund verbieten, ihr Schakale!« kreischte der Ehrengast. »Solange ich euer Bürgermeister bin, werdet ihr mich ehren, sonst lasse ich euch von meiner Polizeitruppe hinausschmeißen, samt eurem Schuster!«

Die Augen Gurewitschs spien Pech und Schwefel. Einen Augenblick schien es, daß er zum Kopfende der Tafel stürzen würde, aber schließlich drehte er sich einfach um und verließ den Kampfplatz in mörderischer Wut. Der Tumult unter den Feiernden schwoll zügellos an, und eine Drohung von Blutvergießen hing in der geladenen Atmosphäre, als das Unerwartete geschah. Der Herr Ingenieur bahnte sich einen Weg durch die lärmende Menge, sprang auf das Podium und stieß den Barbier beiseite.

»Meine Freunde!« rief Dulnikker, »dieser Skandal kann nicht so weitergehen!«

Der Ton formt den Töpfer

Als Amitz Dulnikker das Podium im Sturm nahm, verstummte die Menge. Nur der Schwiegersohn Gurewitschs am anderen Ende der Tafel griff sich an den Kopf, richtete seinen flehenden Blick himmelwärts und sagte zu seiner Frau:

»Wenn er auch hier zu reden anfängt, bekomme ich wiederum einen Nervenzusammenbruch!«

Der Staatsmann selbst hielt den Kopf hoch, atmete jedoch in seiner Aufregung so schwer wie irgendein Novize der Rednerkunst.

»Meine guten Freunde«, sagte er, »was um Gottes willen geht hier vor? Ich bin ein erfahrener Mann, aber wenn ich an das reizende, einfache und stille Dorf denke, das ich hier vorfand, als ich ankam, und an den streitsüchtigen, lärmenden Ort, den ich jetzt bald verlassen werde - ich schwöre, ich muß weinen .«

Dulnikkers Augen wurden tatsächlich feucht. Er stützte sich in plötzlicher Schwäche auf den Tisch, aber seine Stimme wurde stärker, bis sie so klar wie eh und je war. Einige Schritte weit von ihm entfernt nahm sein persönlicher Sekretär die Finger aus den Ohren und starrte den Staatsmann verblüfft an.

»Ihr wart wie eine große glückliche Familie. Ihr habt eure Arbeit und eure Freunde geliebt. Heute? Ihr habt gelernt, wie man argumentiert, Unsinn redet, und auch, wie man haßt. Nicht den Haß aus Zorn, sondern den Haß kalten Blutes aus kleinlicher Berechnung, zu dessen Parteigängern ihr eure Kinder gemacht habt. Wozu, meine Freunde? Warum? Habt ihr wirklich vergessen, wie die Berge aussehen, wie ein Kümmelfeld in der Blüte aussieht? Seid ihr nie im grünen Gras in der Sonne gelegen, stumm und friedlich, daß ihr denkt, der Schuhflicker und der Barbier seien alles, worauf es in dieser Welt ankommt? Was mit euch geschehen ist, übersteigt meinen Verstand, meine guten Freunde! Seid ihr krank?«

Amitz Dulnikker war überzeugt, daß er noch nie so primitiv gesprochen hatte und daß es ihm nur gelang, das Gefühl seines Herzens mit dem breiigen stammelnden Pathos eines sentimentalen alten Mannes auszudrücken.

»Bitte ändert die Dinge wieder so, wie es früher war, meine Freunde«, fuhr er flehend fort, »erneuert die Sitte der Dorfrunde, geht an die Arbeit auf den Feldern zurück. Wenn ihr es wünscht, dann wählt einen Bürgermeister, aber hört um Himmels willen mit diesem Tohuwabohu auf, bevor ihr einander gegenseitig die Gurgeln durchschneidet!«

Die Menge hatte sich von ihrem anfänglichen Schock erholt, und Wellen der Erleichterung durchliefen sie. Es war wirklich ein bißchen seltsam, eine solche Lektion ausgerechnet vom Ingenieur zu erhalten. Eine fröhliche Stimme verspottete den Staatsmann: »Herr Ingenieur, wieviel Wein haben Sie eigentlich getrunken?«

Dulnikker tat, als höre er die Anpöbelung nicht, aber das wilde, unbeherrschte Gelächter, das aus allen Kehlen drang, ließ ihn seinen großen Irrtum erkennen. Der Staatsmann öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder. Und es kam kein Laut mehr von ihm. Er stand erschüttert und gelähmt vor den Leuten. Plötzlich kam ein Schreckensschrei vom Rande des Grundstückes:

»Feuer!« kreischte jemand. »Das Haus des Barbiers brennt!«

Die Menge drehte sich um, um zu schauen; erst dann merkte sie, daß hinter ihrem Rücken Flammen, die ein blaßrosa Licht ausstrahlten, vor dem Hintergrund aufsteigenden Rauchs hochsprangen. Aus der Menge erhob sich ein Gebrüll, alles stürzte in Panik weg und strömte zum Schauplatz des Brandes.

Aber zwei Minuten später öffneten sich die Schleusen des Himmels weit, und ein segensreicher Regenguß löschte das Feuer im Nu.

Nur ein Mensch blieb an den Tischen auf dem Kulturfeld zurück. Der Staatsmann rannte nicht vor dem Regen davon, sondern überließ sich fast freudig dem schauerartigen Prickeln auf seinem Gesicht. Als es aufhörte, kehrte der Staatsmann ins Wirtshaus zurück. Sein durchnäßtes Gewand klebte an seinem Körper, der vor Kälte zitterte. Die Dorfbewohner sahen ihn von der Seite an, zurückhaltend und unsicher, als erblickten sie einen alten, harmlosen Narren, dem man es erlauben konnte, ungestört weiterzugehen. Der Ingenieur stand in diesem Augenblick ohnehin nicht im Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Alles rätselte an dem Feuer herum. Sicher, es war nur eine Wand im Hinterzimmer des Hauses von Hassidoff beschädigt worden, aber es war jedermann klar, daß nur himmlische Barmherzigkeit das Dorf vor einem nicht wieder gutzumachenden Unglück bewahrt hatte. Der Ursprung des Brandes war in Geheimnis gehüllt, da fast das ganze Dorf zu der Zeit auf dem Kulturfeld gewesen war. Trotzdem war ein und derselbe gräßliche Verdacht in den Herzen aller Bürger geweckt, obwohl freilich keiner seinen grauenhaften Gedanken in Worte zu fassen wagte.

Dulnikker ging schweren Schrittes die Holztreppe hinauf und fiel auf sein Bett. Malka kam hinter ihm herein und zog die Decke über ihn.

»Dumme Bauern, jeder einzelne von ihnen«, tröstete sie den Staatsmann. »Sie haben nicht genug Hirn, um Sie zu verstehen. Viele dachten, daß Sie, Herr Dulnikker, im Ernst gesprochen haben. Ich habe nur meine Zeit verschwendet, als ich ihnen zu erklären versuchte, daß es ein Witz war, daß Sie jemanden nachgemacht haben.«

Dulnikker lächelte höflich und schlief erschöpft ein. Nach zwei Stunden bleiernen Schlafs öffnete er die Augen und war überrascht: Auf einem Küchenschemel saß Zev vor ihm und lächelte ihn breit an. Dulnikker schlüpfte aus dem Bett, der Sekretär trat auf ihn zu, und beide Männer umarmten einander fest und wortlos. Lange standen sie so da, schweigend, einander liebevoll den Rücken tätschelnd. Und das Lächeln auf ihren Gesichtern vermochte ihre Rührung nicht zu verbergen. Beide waren bis zu Freudentränen über ihre Begegnung erregt, die gleichzeitig so natürlich und doch so unlogisch war.

»Hören Sie, Dulnikker«, sagte Zev etwas heiser, nachdem sie einander endlich losgelassen hatten, »ich bin mir erst jetzt bewußt geworden, daß Sie wirklich ein großer Redner sind. Wenn ich nicht so ein kleines Schwein wäre, würde ich sagen, daß Sie mein Herz gerührt haben.«

»Glaubst du, Zev?« Dulnikkers Gesicht strahlte auf, verdunkelte sich aber sofort wieder. »Keine Spur«, fügte er traurig hinzu. »Amitz Dulnikker hat vor den Bauern einen Narren aus sich gemacht.«

»Herr Ingenieur! Die Bauern haben es auch nicht gern, wenn sie mitten in ihren Spielen unterbrochen werden.«

Plötzlich brachen sie in ein ungeheures befreiendes Lachen aus.

Sie fielen auf die Betten, rollten herum, wanden sich auf dem Rücken, während sie seltsame Worte brüllten, unfähig, sich den Grund für ihren Ausbruch zu erklären, obwohl sie beide tief innen spürten, daß sie in Wirklichkeit über sich selbst lachten. Als ihr Heiterkeitsanfall vorbei war, stand Dulnikker auf und zog sich um.

Er hatte sich durch Zevs Rückkehr erstaunlich verjüngt, aber die Zeichen des Alters blieben in seinem Gesicht eingegraben. Zevs Gesicht hingegen war beträchtlich runder und sein Körper plump und dicklich geworden.

»Höre, mein Freund Zev«, zog ihn Dulnikker gutmütig auf, »dein ausgestopfter Kopf beginnt allmählich wie der Vollmond auszusehen, wie der Kopf des Schächters, der zum Rabbi kam und rief, >Rebbe, Rebbe< ...« Plötzlich schwieg der Staatsmann und runzelte die Stirn, als ihm ein Gedanke in den Sinn kam. »Genossen«, fragte er zögernd seinen Sekretär, »habe ich euch je diesen Witz erzählt?«

»Nein«, erwiderte Zev. Und erst am Ende - als es sich herausstellte, daß der Schächter zu Rosh Hashanah nicht Schofar blasen durfte, weil er nicht in das kalte Wasser der Mikve untergetaucht war, brach der treue Sekretär in ein echtes, aufrichtiges Gelächter aus, das dasjenige des Staatsmannes noch übertraf.

»Großartig«, keuchte Dulnikker erleichtert. »Wie geht’s deiner reizenden Frau? Wie trägt sie ihren gesegneten Zustand?«

»Worüber reden Sie da?« Der Sekretär wurde ernst. »Es gibt keine gesegneten Umstände. Eine Woche nach der Trauung kommt Dwora und sagt zu mir: >Zev, ich glaube nicht, daß ich schwanger bin.< Haben Sie je schon einmal so was Dummes gehört, Dulnikker?«

»Scherze des Schicksals«, versicherte Dulnikker und fügte ein bißchen bekümmert hinzu: »Natürlich bedauerst du es jetzt, daß du sie geheiratet hast?«

»Ich habe sie nicht geheiratet, Dulnikker. Nur unter uns: Ein Schächter ist doch kein Rabbi!«

Der Sekretär lag auf dem Rücken im Bett und starrte zur Decke.

»Haben Sie wegen Dwora kein ungutes Gefühl, Dulnikker. Ein paar Wochen Eheleben haben genügt, ihr beizubringen, daß ich für sie zu intelligent bin. Mischa der Kuhhirt paßt zu ihr, nicht ich. Und das Komischste an der ganzen Sache ist, daß ich gerade jetzt - wirklich, wie soll ich es ausdrücken - sie gern zu haben begann. So ein Hühnchen!«

Dulnikker konnte seinen Handrücken nicht länger beherrschen, die Umgebung seiner Nasenflügel zu reiben, ein Vergnügen, das er seit langem nicht mehr genossen hatte.

»Also, was wird jetzt?«

»Wir sind übereingekommen, daß ich mich davonmache, sobald ich ihren Vater loswerden kann.«

»So gern hat dich Gurewitsch?«

»Wie ein Loch im Kopf, Dulnikker. Aber er läßt mich bis zur Wahl nicht aus den Augen, weil er meinen Rat braucht.«

»Die Dorfbewohner sind wahnsinnig geworden«, versicherte Dulnikker. Und er enthüllte seinem Sekretär mit gesenkter Stimme vertraulich einen Teil des Briefes, den er durch seinen vertrauenswürdigen Chauffeur Gula geschickt hatte. »Mein Wagen kann jeden Augenblick eintreffen«, schloß der Staatsmann seine Erzählung, und die Hoffnung, daß sie bald in den Wirbel des öffentlichen Lebens zurückkehren konnten, erinnerte Zev an seine etwas vernachlässigte ehemalige Funktion.

»Ich wünsche Ihnen Glück, Dulnikker«, sagte er im offiziellen Tonfall des Ersten Sekretärs. »Es ist wirklich an der Zeit, daß Sie die Angelegenheiten Ihres Büros wieder in die Hand nehmen.«

Auch Dulnikker war über die angenehme Veränderung froh.

»Ich bin aus offenkundigen Gründen etwas müde, Genossen«, sagte er, während er im Zimmer auf und ab ging. »Ich werde wirklich froh sein, wenn Sie sich, mein Freund, daran machen, einen Entwurf für meine Rede an die Reporter nach meinem Empfang zu verfassen. Ein paar Worte über den gesunden Einfluß ruhiger Ferien draußen auf dem Land und Rast für die Nerven einer Gestalt der Öffentlichkeit .«

»Sie brauchen nicht weiterzureden, Dulnikker.« Der Sekretär zog einige gefaltete Blätter aus der Tasche. »Es ist schon alles da.«

Die letzte Sitzung des Provisorischen Dorfrats fand in einer beispiellos geladenen Atmosphäre statt. Auf der Tagesordnung stand eine heikle, gefahrvolle Frage. Mit anderen Worten, die Dorfjugend hatte die Regierung informiert, daß sie eine Fußballmannschaft aufzustellen wünsche, die gegen die Mannschaft des Dorfes jenseits des Flußberges antreten wolle. Diese explosive Idee wäre noch vor einigen Monaten als gotteslästerlich empfunden worden, angesichts der Veränderung jedoch, die sich in der Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Reisen vollzogen hatte, war die Sache schwierig zu entscheiden. Die Dorfräte beeilten sich daher nicht, eine Entscheidung zu treffen, sondern gingen persönlich in das Gebiet am Fuß der Dämme und studierten die Übungen der Jungen ausgiebig. Danach beschloß der Dorfrat -im Prinzip - zugunsten eines einmaligen Matchs mit dem Dorf Metula, blieb dann jedoch bei der Streitfrage der Auswahl der Kimmelquellmannschaft stecken.

Das war wirklich eine komplizierte Sache. Natürlich verlangte der Barbier die Majorität der Mannschaft für sich, und zwar weil er Geschäftsführender Bürgermeister und der Block seiner Anhänger der größte aller Lager im Dorf war. Aber der Schuhflicker leugnete letztere Behauptung mit der Feststellung, daß die Schuhflickerklasse in der Schule nicht kleiner war als die des Barbiers, und fügte hinzu, daß außerdem der Ball sein eigenes Erzeugnis sei. Daher verlangte er für seine Anhänger unter anderen Positionen auch drei von den fünf Stürmern. Dementsprechend drangen die übrigen Repräsentanten, gegründet auf ihren Rang im Dorf, auf gute

Positionen für sich. Überdies verkündete der Schächter, daß er die Spieler persönlich zu begleiten wünsche, um in dem Gewühl von Metula ein Auge auf sie zu haben.

»Auch verstehe ich etwas von Fußball«, empfahl sich der Schächter selbst. »Im Chaider pflegten wir eine Menge zu spielen, bis uns der Lehrer erwischte und uns die Schläfenlocken ausriß.«

Die Abgeordneten stimmten der Reise des Schächters zu, da es unvernünftig war, ihn allein im Dorf zu lassen, wenn alle Dorfräte die Bürde auf sich nehmen würden, die Mannschaft zu begleiten. Über die Zusammensetzung der Mannschaft konnten sie jedoch einfach zu keiner Übereinstimmung gelangen. Elifas Hermanowitsch schlug, um den Spielern gegenüber nicht ungerecht zu sein, die Verschiebung des Spieles bis nach den Wahlen vor, weil es dann leichter sein würde, das Team der Wahlstärke entsprechend aufzustellen. Sein Vorschlag wurde jedoch unverzüglich niedergestimmt, weil es, behaupteten sie, nach den Wahlen für die Spieler nicht mehr nötig sein würde, eine solche Reise zu machen.

Zemach Gurewitschs Geduld erreichte schließlich ihre Grenze, und er stellte der Plenarsitzung des Rats ein Ultimatum, indem er nachdrücklich folgende Mannschaftsstruktur verlangte:

Schuh Barb Schäch Schuh Schuh Barb Schnei/Wir Barb Schuh Schuh Barb

»Die zwei Rechtsaußen sind folgendermaßen zu verstehen«, erklärte Gurewitsch: »In der ersten Spielhälfte wird der Mann Hermanowitschs spielen, und der Mann Kischs wird in der

zweiten Hälfte spielen oder andersherum; ist mir egal. Weitere Konzessionen zu machen, bin ich nicht bereit.«

Gurewitschs Kühnheit weckte wilde Wut im Herzen des Barbiers.

»Genossen, ihr seid verrückt!« schrie er den Schuhflicker an. »Nicht nur, daß ihr fünf Plätze für euch in Anspruch nehmt, aber ihr beansprucht bei ihnen auch den Mittelläufer und den Mittelstürmer? Wollt ihr, daß mich ganz Metula auslacht?«

»Die Mannschaft muß das Dorf repräsentieren«, beharrte Gurewitsch hartnäckig. »Mir haben vierzig Leute Quittungen unterschrieben, daß ich ihnen die Schuhe kostenlos geflickt habe.«

»Und ich sage Ihnen, meine Herren«, krächzte der Barbier mit Schaum vor dem Mund, »ich werde eine Mannschaft ohne einen einzigen Schuhflickernik in ihr zusammenstellen, nur mit Sfaradi und Kisch mit einer Stimmenmehrheit von drei!«

Die kommunale Drohung ließ Gurewitsch die Selbstbeherrschung verlieren:

»Tyrann!« brüllte der Schuhflicker. »Ein Bürgermeister wie Sie sollte verbrannt werden!«

»Verbrannt? Ah - Sie lassen also die Katze aus dem Sack?«

»Sie kann Ihnen auch aus Ihrem Bauch herauskriechen, Sie Bauernlümmel!«

»Ach nein? Nu, ich schlitze Ihnen Ihre dreckige Gurgel auf, Sie Bauernlümmel, wenn Sie es je wagen, den Eingang meines Barbierladens zu verfinstern!«

»Keine Angst! Eher hänge ich mich auf, Sie Bauernlümmel, bevor ich Ihr stinkendes Loch betrete!«

»Nur los, hängen Sie sich auf! Ich werde nur darauf sehen, daß man mich Gott behüte nicht neben Ihnen begräbt, Sie Bauernlümmel!«

(»Bitte, das können wir später erörtern«, murmelte Ofer Kish, der Totengräber des Dorfes. In seiner fruchtbaren Phantasie teilte er den Kimmelqueller Friedhof - dem Schulreformplan folgend - schnell in die Enklaven des Schuhflickers, des Barbiers und der übrigen Abgeordneten.)

Die Rivalen standen einander wie zur Entscheidungsschlacht angespornte Kampfhähne Aug in Aug gegenüber. Zev war bei dieser Sitzung nicht anwesend: Die Abgeordneten fühlten sich frei.

»Glatzkopf!«

»Klumpfuß!«

Dulnikker wurde durch das Geräusch splitternden Glases aufgeweckt und trat gerade auf den Balkon hinaus, als der Barbier und der Schuhflicker durch das Fenster der Ratskammer hinauskollerten. Beide Abgeordneten hatten einander mit Zähnen und Fingernägeln gepackt und bedeckten sich mit dem Schmutz der Landstraße, während jeder >diesem Bauernlümmel< tödliche Hiebe versetzte. Diesmal beeilte sich der Staatsmann jedoch durchaus nicht, den Kampf abzubrechen. Er schaute mit einem Gefühl heilsamer Erleichterung hinunter. >Wenn sich diese schwachsinnigen Kreaturen gegenseitig umbringen würden, dann wäre das Dorf gerettet<, dachte Dulnikker und ging gelassen vor das Wirtshaus, weil das Laub der Bäume am Straßenrand die zwei ineinander verbissenen Kämpfer vor seinen Blicken verbarg.

»Sie sehen, Herr Ingenieur«, jammerte Elifas Hermanowitsch, der neben dem Staatsmann stand, »wie sie das Image des Dorfrats zerstören.«

Dulnikker brach in einen Lachanfall aus, der seinen ganzen Körper schüttelte. >Mögen sie sich ihres Geschmacks an Schmutz erfreuen<, sagte er zu sich. >Ich wünschte, daß dieser Liliputanerzirkus zerfiele, daß dieser ganze Dorfrat vom Angesicht der Erde weggewischt würde, denn er hat meine Ferien auf dem Land verdorben und zerstört. Mit welchem Recht haben sich die Abgeordneten in mein Privatleben gemischt und meine Ruhe zerstört? Wie haben sie mich in ihre Irrsinnsverwirrung mit hineingezogen?<

>Vielleicht bin auch ich etwas schuld daran<, überlegte der Staatsmann. >Am Tag meiner Ankunft in dem Dorf hätte ich den Provisorischen Dorfrat unterrichten sollen, daß ich an der Regelung seiner Gemeindeangelegenheiten nicht teilnehmen würde. Jetzt ...<, Dulnikker streckte sich genußvoll, >jetzt ist mir Gott sei Dank die ganze Angelegenheit ohnehin aus den Händen genommene

Wenige Schritte entfernt bemerkte Dulnikker ein gefaltetes Stück Papier, eine aus seinem Parteiorgan gerissene Seite, mit der die Tnuva ihre Kartons ausstopfte. Neugierig hob Dulnikker die Seite auf, weil das Blatt noch nicht zu gelb war. Er strich es glatt und begann zu lesen.

Wenig später brach der Staatsmann an der Ecke des Wirtshauses fast zusammen, und kalter Schweiß brach auf seinem bleichen Gesicht aus.

Sowie er sich leicht erholt hatte, raste der gefährlich erregte Staatsmann zum Schuhflickerhaus hinüber und hielt seinem Sekretär die Zeitungsseite unter die Nase. Ganz unten auf der Seite versteckt stand eine kurze bescheidene Notiz:

Ein Sprecher des Presseamts der Regierung gab gestern abend bekannt, daß Amitz Dulnikker aus Gesundheitsgründen um seine Entlassung ersucht habe, die vom Minister angenommen wurde. Die Regierung ratifizierte die Ernennung Shimshon Groidiss ’ zum Stellvertretenden Generaldirektor anstelle Dulnikkers.

»Was hast du dazu zu sagen, mein Freund?« knurrte Dulnikker, und eine panische Angst tanzte in seinen Augen. Nur einmal, vor ungefähr zehn Jahren, war Dulnikker etwas Ähnliches zugestoßen, als man ihn leise aus dem

Parteivorstand hinausgeschmissen hatte. Damals gründete Dulnikker sofort die Fraktion für Interne Säuberung, die er erst auflöste, als man ihn - in Panik - als Vorsitzenden wieder eingesetzt hatte. Aber damals war der Staatsmann um zehn Jahre jünger gewesen.

»Das bedeutet nichts, Dulnikker«, versuchte ihn der Sekretär zu beruhigen. »Bald kehren wir heim und kümmern uns darum. Es ist schon Schlimmeres passiert.«

»Schlimmeres als das?« Dulnikkers Gesicht lief rot an, und was immer von seiner Kraft übriggeblieben war, sammelte sich in seiner Kehle. »Soll das das Schicksal eines Mannes sein, der seinerzeit die Partei aufbaute und heute mit sechsundsiebzig Jahren am Ende seines Lebens steht, an dem jeder Tag aktiv und schöpferisch war? Nennst du das >nichts<, Zev, mein Freund, daß am Ende ausgerechnet Shimshon Groidiss auf meinen Platz gesetzt wird? Bedeutet das, meine Herren, Ihrer Meinung nach keine Provokation? Oder sind Sie vielleicht froh über meinen Sturz?«

»Schon gut, Dulnikker, schon gut«, entschuldigte sich seine hilflose Rechte Hand, »wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen!«

»Kämpfen?« flüsterte Dulnikker. »Ich, Amitz Dulnikker, werde mich so erniedrigen, daß ich diesem unreifen Niemand Shimshon Groidiss den Krieg erkläre?«

»Nein, Dulnikker, wirklich nicht.« Zev blickte ängstlich auf die geschwollenen Adern. »Ein Kampf ist gar nicht nötig!«

»Großartig!« brüllte der Staatsmann. »Du erwartest also, daß ich mit gefalteten Händen dasitze, während mich die infernalischen Huligane ruinieren, nur weil mein Sekretär zu schwach ist, um als Puffer zu handeln? Nein, mein Freund Zev, wenn du Angst hast, dann tritt beiseite. Aber ich bitte dich, versuche nicht, meinen Kampfgeist zu zerstören!«

Der Sekretär erkannte, daß er nicht imstande war, den Vulkan zu löschen. Daher hielt er den Mund.

»Aha! Jetzt also schweigen wir, meine Herren!« Die Wut des Staatsmannes erreichte ihren Gipfel. »Es zahlt sich für uns nicht aus, unser Verhältnis zu Shimshon Groidiss wegen eines langweiligen Alten wie Dulnikker zu ruinieren, wie? Aber ich, mein Freund Zev, werde nicht davor zurückschrecken, diesen internationalen Skandal vor einen Untersuchungsausschuß zu bringen! Ich weiß, was hinter all dem steckt! Shimshon Groidiss rächt sich an mir, weil meine Stimme ihn vor dreizehn Jahren davon abhielt, wegen des Nationalfonds nach Australien geschickt zu werden. Und andererseits ist die Frau von Shimshon Groidiss mit Dahlia Groß befreundet, und Dahlia war seinerzeit die Schwägerin dieser Giftschlange Zvi Grinstein, der mich wie die Pest haßt, weil seine Ernennung zum Stellvertretenden Generalpostmeister nicht gebilligt wurde und er glaubt, ich hätte statt ihn Shimshon Groidiss unterstützt.«

Dulnikker, die Stirnadern zum Platzen angeschwollen, begann im Zimmer auf und ab zu rasen.

»Zev«, schrie er, »ich bin nicht bereit, auch nur einen Tag länger auf Gula zu warten! Ich werde mich unverzüglich mit dem Tnuva-Chauffeur in Verbindung setzen. Der Preis spielt keine Rolle. Wir fahren noch heute abend!«

»Pscht!« flüsterte der Sekretär und blickte in bleicher Furcht zur Wand der Schuhflickerwerkstatt. »Mein Schwiegervater wird Sie hören, Dulnikker!«

»Soll er mich hören, das ist mir egal!« brüllte der Staatsmann. »Diesmal wird es dir nicht gelingen, mein Freund, meine Abreise aus diesem übelriechenden Loch zu verhindern! Heute abend fahren wir!«

»Sch-sch-sch!« bat ihn sein treuer Gefolgsmann mit zischendem Geflüster. »Wenn Gurewitsch entdecken sollte, daß ich drauf und dran bin, mich aus dem Staub zu machen, wird er mich in den Hühnerstall einsperren, das verspreche ich Ihnen, Dulnikker.«

»Das wäre fein«, meinte der Staatsmann. Aber dann erbarmte er sich des entsetzten jungen Mannes. »Keine Angst, Genossen!« fügte er hinzu. »Selbst ich muß diskret handeln, weil ich vermute, daß sich Malka Gott behüte etwas antut, wenn sie meine Absicht vermutet. So daß ich unseren Plan nur dem Chauffeur, dem ich vertraue, enthüllen werde.«

Alles verlief planmäßig.

Dulnikker lag angezogen auf seinem Bett, zu handeln bereit, während alle möglichen Gedanken über >diese Ratte< Groidiss in seinem Gehirn nagten. Er war nichts als Verlangen, über nichtverzeichnete Landstraßen in der stockdunklen Nacht dahinzurasen, bis die angestrengten Pferde erschöpft vor dem Hauptgebäude der Partei zusammenbrachen und er, Dulnikker, mit Gewalt hinaufstürmen, in Zvi Grinsteins Büro platzen und brüllen würde:

»Was geht hier vor, Genossen?«

Zum Glück wurde Mischa bei diesem Ausbruch nicht wach. Dulnikker hielt einige Augenblicke den Atem an und wartete, dann glitt er vorsichtig von seinem Bett herunter und begann im schwachen Mondlicht leise seine Sachen zu packen. Das Öffnen der Schranktür dauerte wegen ihrer knarrenden Angeln eine Ewigkeit wie die Schöpfung selbst. Der Staatsmann kniete sich neben seinen größten Koffer und quetschte nur die nötigsten Sachen hinein, weil er beschlossen hatte, den Großteil seines Gepäcks im Dorf zu lassen, um seine Flucht nicht zu gefährden. Er riß eine Seite aus seinem Notizbuch, in das er in den vergangenen Tagen seiner Depression einen Vortrag über den >Soziologischen Stand primitiver

Bevölkerungsteile in unserem Land< zu schreiben begonnen hatte. Er kratzte mit einem Bleistift und unter großer Anstrengung seiner Augen:

An

Herrn und Frau Elifas Hermanowitsch

Gasthof

Kimmelquell

Meine lieben Freunde! In den gestrigen späten Nachtstunden erhielt ich ein Telegramm mit dem Ersuchen, unverzüglich in mein Büro zurückzukehren, damit ich mich um eine bestimmte Angelegenheit von höchster Wichtigkeit kümmere. Es ist mir daher zu meinem großen Bedauern unmöglich, mich persönlich von Ihnen zu verabschieden. Ich möchte Ihnen beiden meinen tief empfundenen Dank für die angenehmen Ferien zum Ausdruck bringen, die ich in Ihrem Hotel im Dorf Kimmelquell genossen habe. Die Küche ist befriedigend, die Bedienung recht gut und die Landschaft herrlich. Ich empfehle Ihr Hotel jedem Interessenten.

Hochachtungsvoll Ingenieur Dulnikker

Nachdem der dankbare Staatsmann seinen Abschiedsbrief in eine zur Veröffentlichung geeignete Fassung gebracht hatte, legte er eine große Geldsumme auf das Blatt. Als er seinen Brief nochmals durchgelesen hatte, strich er jedoch das Wort >Ingenieur< aus.

»Albern«, murmelte er, »schließlich bin ich überhaupt kein Ingenieur.«

Dulnikker trug einen alten grünen Pullover, dazu grüne Wollfäustlinge und Ohrenschützer, sowohl wegen der Winterkälte als auch aus persönlichen Überlegungen. Er drückte seinen Koffer zu, indem er sich mit seinem ganzen

Gewicht auf ihn setzte. Die Schlösser klickten scharf zu, aber -dem Himmel sei Dank - der Polizist schlummerte weiter wie ein Bär im Winterschlaf.

Die Situation war dennoch äußerst kritisch. Einerseits konnte er es nicht riskieren, die knarrende Holztreppe hinunterzusteigen, weil der Wirt und Malka im Nebenzimmer schliefen. Andererseits war jedoch sein Regenschirm dem zusätzlichen Gewicht des Koffers nicht gewachsen. Deshalb knüpfte der Staatsmann seinen Bademantel an sein sorgfältig zusammengedrehtes Bettlaken und fügte noch ein Handtuch hinzu, dessen anderes Ende er um den Griff des Koffers schlang. Dann trug er den ganzen Apparat auf den Balkon und senkte die Ladung sorgfältig in den Garten hinab, während ihn die ganze Zeit die Frage bekümmerte: >Warum nur muß ich immer alles selber machen?<

Der vollgestopfte Koffer schwebte durch die Luft und stieß gelegentlich so laut an die Hauswand, daß Dulnikker sich schreckliche Szenen vorzustellen begann, in denen Malka in sein Zimmer gestürzt kam, sich ihm zu Füßen warf und laut kreischte: >Gehen Sie nicht fort, Dulnikker, gehen Sie nicht fort!<

Der Staatsmann begann vor Aufregung zu schwitzen. Zu alledem stellte sich heraus, daß er das behelfsmäßige Bademantel-Bettlaken-Handtuch-Seil nicht wieder heraufziehen konnte, weil sonst auch der Koffer mit heraufgekommen wäre.

Dulnikker blickte auf die Uhr und stellte zitternd fest, daß ihm nur noch zehn Minuten bis Mitternacht blieben. Daher schuf er für seinen eigenen Bedarf ein zweites Seil aus allen Stoffgegenständen, die ihm in der Dunkelheit des Zimmers zur Hand kamen, einschließlich des Tischtuches, der Hose und des Unterhemds des Kuhhirten sowie seiner eigenen Krawatte, die er hastig vom Hals knüpfte und an dem Balkongitter befestigte.

Dann kehrte Dulnikker auf einen Augenblick in das dunkle Zimmer zurück, um sich davon zu verabschieden, aber die kühle Luft draußen ließ ihn plötzlich laut niesen.

Mischa wachte auf und fragte undeutlich: »Was ist denn?«

»Mi-i-au«, erwiderte der Staatsmann, öffnete seinen großen schwarzen Regenschirm und eilte über das neue Seil hinunter. Aber das Schicksal arbeitet zu solchen Zeiten mit einem unbegrenzten Budget an Hindernissen. Das Unterhemd des Kuhhirten zerriß mit einem lauten Knall, und Dulnikker landete neben seinem Koffer, halb verrückt von den nächtlichen Verwirrungen. Es war genau Mitternacht. Dulnikker stand auf, nahm sein Gepäck und fing zu laufen an. Er stolperte jedoch sofort und fiel flach aufs Gesicht, weil sich das noch immer an seinen Koffer geknüpfte Seil um einen Baum gewickelt hatte. Mit klappernden Zähnen versuchte der Staatsmann, den Knoten um den Koffergriff aufzuknüpfen, aber er kam damit nicht weiter. Daher befreite er den Baum aus dem Griff des Seils und lief wie irr durch die Hecken auf die Straße hinaus ...

»Schon weg?« fragte der Wirt seine Gattin, welche die Manöver des Ingenieurs durch das Fenster beobachtet hatte.

»Hoffentlich«, erwiderte Malka und ging ins Bett zurück.

In Amitz Dulnikkers sehr aktivem Leben nehmen jene paar hundert Schritte den Rang eines unvergeßlichen Alptraums ein. Die wachsamen Dorfhunde begannen sich sofort für die lange Schleppe zu interessieren, die hinter der Gestalt dahinzog, und sie fielen mit wütendem Gebell über sie her, so daß Dulnikkers letzte Schritte vorwärts zu einem Tauziehen zwischen ihm und der Hundemeute wurde. Es ist sehr zu bezweifeln, ob die Hunde durch ein rein zahlenmäßiges Übergewicht den Staatsmann den Weg zurückgezogen hätten oder nicht, wäre sein loyaler Freund, der Chauffeur, nicht aus dem Schatten der Nacht aufgetaucht, um Dulnikker zu helfen, die einfältigen Tiere loszuwerden.

»Wo ist mein Krankenwärter?« fragte der Staatsmann am Rand eines körperlichen und geistigen Zusammenbruchs. Der Chauffeur brachte ihm die bittere Neuigkeit bei.

»Ich weiß nicht, wo Ihr Sekretär ist, mein Herr«, erwiderte er. »Sollte er ebenfalls kommen?«

»Oh, Himmel«, schrie Dulnikker, »man hat ihn entführt!« Die Hütte des Lagerhauswächters war wieder hell erleuchtet.

Die Hunde stolzierten weiter um die beiden Männer herum, sprangen an ihnen hoch und bellten. Dulnikker sah auf seine Armbanduhr: 0 Uhr 10.

»Wir müssen fahren«, flüsterte er heiser. »Ich habe alle Brücken hinter mir verbrannt. Ein Rückzug ist unmöglich.«

»Fein. Ganz, wie Sie wünschen, mein Herr«, erwiderte der Chauffeur. »Klettern Sie unter die Plane. Schnell. Ich werfe Ihnen den Koffer hinein.«

Dulnikker trottete hinter den massigen Lastwagen und setzte einen Fuß auf die eiserne Sprosse des Wagens. Plötzlich verspürte er den starken Wunsch, einen letzten Blick auf Kimmelquell zu werfen. Es war seltsam, aber in diesem Augenblick empfand er überhaupt keine Abneigung gegen das Dorf. Gerade umgekehrt: Eine Art Wärme umhüllte Dulnikker, obwohl ihm von seiner Flucht über die finstere Landstraße alle Glieder schmerzten. >Wenn das Dorf Beleuchtung hätte, wäre mir so etwas nie passiert<, dachte der Staatsmann. >Sobald ich heimkomme, schreibe ich Joskele Treibitsch eine Zeile, er soll ihnen Strom geben.<

Dulnikker atmete tief auf und kletterte in den Hinterteil des Lastwagens.

»Entschuldigen Sie, Ingenieur«, flüsterte ihm jemand ins Ohr, »es tut mir leid ...«

Dulnikker vernahm das Geräusch eines undeutlichen Schlags auf seinen Schädel, und alles wirbelte ihm im Kopf durcheinander.