Dulnikker hatte seinen Sekretär vor sechs Jahren entdeckt, bei der Versammlung einer kleinen Jugendgruppe. Der Staatsmann pflegte Vorlesungen auch vor so unbedeutenden Einzelgrüppchen zu halten, um seine Unparteilichkeit zu zeigen, indem er keinen Unterschied zwischen den einzelnen Größenordnungen machte. Zev, der Gruppenkoordinator, hatte Dulnikker mit einigen Worten etwa folgendermaßen begrüßt: »Ich freue mich, in unserer Mitte Amitz Dulnikker zu begrüßen, einen der Gründerväter und Former unseres Staates, einen der Gründer und Baumeister der Bewegung, einen Mann der Arbeit, des Schöpferischen, des Kampfes, der Eroberung und Leistung; den Pionier und Verwirklichet«
Dulnikker war der gewitzte Jüngling aufgefallen; er erblickte ein noch unbehauenes Talent in ihm. Nach seinem Vortrag hatte er sich mit Zev in eine Ecke abgesondert, wo sie die Ansichten des Staatsmannes über zuchtvolle Organisation, Entwicklung, Wirtschaft, Sicherheit und das Atom erörtert hatten. An jenem Tag nahm Dulnikker den begierig lauschenden Jüngling unter seine Fittiche. Aufgrund Dulnikkers persönlicher Anordnung wurde der unbekannte Jugendkoordinator innerhalb von vierundzwanzig Stunden zur Zentralexekutive versetzt und innerhalb eines halben Jahres von dem Staatsmann in die Stellung seines Ersten Sekretärs befördert. Es ist anzunehmen, daß der bekannte Scharfblick des Staatsmannes ihn auch diesmal nicht im Stich gelassen hatte. Zev erwies sich als ein gewandter Sekretär, den Dulnikker im Lauf der Zeit in einen Großteil seiner Tätigkeit einweihte und ihm sogar Gelegenheit gab, sich ideologisch zu entwickeln, indem er selbständige Berichte, Reden und Aufsätze entwerfen durfte, wann immer Dulnikker nicht selbst die Zeit dafür fand. Er überraschte Dulnikker mehr als einmal mit einer schwer zu fassenden glänzenden Idee, der der Staatsmann erst zu folgen vermochte, als man sie ihm erklärte. Auch jetzt wieder hatte der Knabe mit irritierender Einfachheit seine Meinung zur Lage hingeworfen: >Das Fuhrwerk ist die Lösung.<
»Ich sehe, daß du zum Kern der Sache vorgedrungen bist«, sagte Dulnikker vorsichtig, »aber ich möchte doch gern hören, wie du dir vorstellst, die Idee in die Tat umzusetzen.«
»Sehr einfach, Dulnikker«, erwiderte Zev. »Wir haben beide bemerkt, daß die Bauern größtenteils zufriedene Menschen sind. Aber sie müssen zu Fuß zu ihren Feldern und wieder zurückgehen, so daß sie todmüde heimkommen. Also habe ich mir gedacht, wenn man dem Bürgermeister die Benutzung irgendeines Beförderungsmittels bewilligen würde, so ungefähr, wie es den Staatsbeamten dritter Klasse erlaubt ist, wären sie eifriger dahinter, den Job zu übernehmen.«
»Probe bestanden, mein Freund«, versicherte der Staatsmann, als ihm Zevs Plan aufging. »Genau das, was ich meinte, als ich dir, wenn ich mich recht erinnere, sagte, der erste Schritt sei, ihren Wunsch nach einem Beförderungsmittel zu wecken. Nur bin ich bei der Entwicklung meiner Idee etwas weiter gegangen und habe beschlossen, sie zu verwirklichen.«
Dulnikker wartete, bis der Karren sie einholte.
»Genossen«, wandte er sich an den Kutscher, »würde es euch etwas ausmachen, jemanden anderen statt uns zu befördern?«
»Nein«, erwiderte der Pfeifenraucher. »Im Gegenteil.«
An diesem Abend strich Dulnikker um die Häuser herum, bis die Kunden den Barbierladen verlassen hatten. Salman Hassidoff wollte eben die Rolläden herunterlassen, und seine Frau kehrte bereits die Haare vom Fußboden zusammen, als der Staatsmann hereinstürzte und sich auf den Sessel vor den Zerrspiegel setzte.
»Wie sieht’s mit der Ernte aus, meine Herren?« erkundigte er sich. »Wie steht’s mit den Feldern?«
Hassidoff beschleunigte das Einseifen beträchtlich, blieb jedoch stumm.
»Kein Naserümpfen, meine Herren! In der Landwirtschaft rackern, im Barbierladen rackern, und noch dazu offizielle Dorfangelegenheiten besorgen«, sagte der Staatsmann, blind für seine feindselige Umgebung. »Ich möchte sagen, Genossen, daß sich der Mensch manchmal eine größere Last aufbürdet, als er tragen kann.«
»Ja«, erwiderte der Barbier vorsichtig, »und deshalb bekommen Sie auch heute keinen Haarschnitt.«
»Nur recht und billig«, sagte Dulnikker verzeihend. »Wenn es einen gibt, der den kleinen Mann versteht, dann bin ich es. Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Hassidoff?«
Hassidoff machte sich das Angebot des Staatsmannes zunutze: »Bitte bewegen Sie die Haut neben Ihrem Mund nicht soviel, so werden wir früher fertig.«
»Wie Sie wünschen«, antwortete Dulnikker und fügte sofort hinzu: »Ich nehme an, Ihre Felder liegen vom Dorf ziemlich weit weg.«
»Und wie weit!« schaltete sich die Frau des Barbiers ins Gespräch ein.
Dulnikker war voll Mitleid. »Wirklich? In dem Fall kann ich Ihnen vielleicht helfen, meine Herren. Woran ich denke? Ich habe mir und meinem Krankenwärter für zwei Wochen einen Wagen gemietet, aber ich brauche ihn nicht mehr. Also dachte ich daran, ihn Herrn Hassidoff zu leihen.«
Herr Hassidoff hielt mitten im Rasieren inne.
»Was?« fragte er. »Warum?«
»Weil ich helfen will, Genossen. So einfach ist das!« »Warum ausgerechnet mir?«
»Weil Sie, Herr Hassidoff, der Bürgermeister sind.«
»Was für ein Bürgermeister?«
»Amtierender Bürgermeister, Leiter der
Dorfangelegenheiten. Bürgermeister de facto!«
»Ich bin kein de facto! Ich leite nichts.«
»Lassen Sie die Bescheidenheit, Genossen. Herr Hassidoff, sind Sie denn nicht der Mann, der die Bestellung für die Tnuva aufstellt? Sind Sie denn nicht derjenige, der den Leuten sagt, wann der Lastwagen eintrifft?«
»Das stimmt«, gab Hassidoff verschämt zu. »Sie lassen immer mich das tun. Nur ein Narr wie ich läßt sich eine solche Arbeit aufhalsen.«
»Das ist genau der Grund, der mich bewog, Ihnen meinen Wagen zu leihen, Genossen. Ich habe ihn ohnehin schon bezahlt, also wird es Sie keinen Heller kosten.«
»Was soll das, Herr?« protestierte der Barbier. »Glauben Sie, ich setze mich auf einen Karren? Ein Karren ist dazu da, um Futter zu befördern, nicht Leute.«
Plötzlich tauchte eine mächtige Verstärkung auf.
»Wird es dir schon weh tun, Salman, ein paar Tage auf einem Karren zu fahren, wenn ihn der Herr Ingenieur ohnehin schon für mich gemietet hat?« übertönte ihn die Stimme seiner Frau. »Bist du Bürgermeister de facto, oder wie das der Herr Ingenieur genannt hat - oder bist du’s nicht?«
»Sei nicht blöd!« sagte der Barbier zornig und begann Dulnikker erneut einzuseifen. »Was werden die Leute hier sagen? Nein, Herr«, wandte er sich an Dulnikker, »hören Sie nicht auf das Geschwätz der Frau. Das kommt nicht in Frage.«
Als der Barbier zum erstenmal in dem Karren auf sein Feld hinausfuhr, trauten die Dorfbewohner ihren Augen nicht, besonders da Frau Hassidoff strahlend hinter dem Rücken des teilnahmslosen Frachters saß und den Leuten, die offenen
Mundes vorbeigingen, liebenswürdig zuwinkte. Wann immer Leute in Rufweite herankamen, hielt der Barbier das Fahrzeug an, um sich zu entschuldigen: Es sei nicht seine Schuld, er habe den Karren als Leihgabe für ein paar Tage von dem Ingenieur bekommen, der halte ihn für den Bürgermeister de facto - und ähnliche, mindestens ebenso unklare Ausflüchte. Hassidoff entdeckte jedoch, daß seine Angst übertrieben gewesen war, denn das Spannende verlor sich von Tag zu Tag, und der Barbier auf dem Karren wurde zu einem untrennbaren Teil der Szenerie - genau wie der Staatsmann und sein bebrillter Krankenwärter, wenn sie tief ins Gespräch versunken die Dorfstraße hinunterwanderten.
Was Dulnikker betraf, fühlte er sich seit Beginn seines nun schon ziemlich langen Aufenthaltes in Kimmelquell befriedigt. Sein Erfolg, den Barbier auf den Karren zu setzen, war zwar keine der großen Leistungen auf seinem Konto, aber er betrachtete es als einen guten Start. Zu seiner großen Erleichterung sollte die Fortsetzung nicht lange auf sich warten lassen, wenn auch nicht durch eine Bemühung seinerseits.
Es geschah am Samstag abend in der >Dorfrunde< und so still, daß nur wenige der Speisenden bemerkten, daß es überhaupt geschah. Zemach Gurewitsch, der Schuhflicker, der neben Dulnikker saß, eröffnete mitten im Mahl eine lebhafte Diskussion mit ihm. Das war bemerkenswert, weil es das erste Mal war, daß es, mit Ausnahme der Zwillinge, je ein Dorfbewohner getan hatte.
»Herr Ingenieur«, sagte der Schuhflicker zu Dulnikker, »meine Felder liegen sehr weit vom Dorf entfernt.«
»Wirklich?«
»Daher«, fuhr der Schuhflicker fort, »geben Sie auch mir einen Karren.«
Die Schuhflickerstochter, die kleine Blonde, die neben dem »Herrn Krankenwärter« saß, begann ihren Vater sachte anzustoßen, aber der materialistisch gesonnene Mann brachte sie mit einem Knurren zum Schweigen.
»Laß mich in Ruhe, Dwora«, donnerte Zemach Gurewitsch, »ich bin älter als der Barbier und habe außerdem ein schlechtes Bein. Ich schwöre, es wäre wunderbar, wenn ich ein paar Tage nicht zu Fuß gehen müßte ...«
»Ich würde mit Freude Ihr Ansuchen bewilligen, meine Herren«, rechtfertigte sich Dulnikker, »aber was kann ich tun, wenn Sie, Herr Gurewitsch, keine öffentliche Funktion im Dorf versehen? Das Recht auf einen Karren gebührt dem Bürgermeister, und da gegenwärtig der Barbier die Liste zusammenstellt, steht der Karren zu seiner Verfügung.«
»Das versteh’ ich nicht«, platzte der Schuhflicker heraus. »Wieso verdient der größte Dummkopf im Dorf den Karren?«
»Weil er der Bürgermeister ist, meine Herren.«
»Und wenn ich der Bürger- oder Teufel-was-weiß-ich wäre, könnte ich dann auf dem Karren fahren?«
»Natürlich.«
»Schön, das kann im Handumdrehen geregelt werden. Der Barbier ist mein Freund«, sagte Zemach Gurewitsch kichernd. Er stand auf und hinkte zu Hassidoff hinüber. »Salman«, sagte er und klopfte ihm freundlich auf den Rücken, »weißt du was? Wie wär’s, wenn du an deiner Stelle mich die Tnuva-Liste machen läßt? Es ist wirklich nicht gerecht, es die ganze Zeit dir anzuhängen. Also wechseln wir auf ein paar Tage ab, ja?«
»Gott sei Dank!« rief der Barbier erleichtert, als würde ihm eine Last vom Herzen genommen. Aber gleich darauf jaulte er auf: »Au!« und rieb sich mit saurer Miene den Knöchel unter dem Tisch.
»Salman wollte sagen«, informierte die Barbiersfrau den Schuhflicker, »daß du dafür zuviel zu tun hast, Zemach, und außerdem kannst du nicht lesen und schreiben, und außerdem bist du auch nicht so de facto, verstehst du.« »Weib«, knurrte Gurewitsch, »dich hab’ ich nicht gefragt. Ich habe mit Salman gesprochen.«
»Ich glaube«, stöhnte Salman, »wir lassen die Dinge vorläufig so, wie sie sind.«
Der Schuhflicker klopfte ihm wieder auf den Rücken. Diesmal aber angewidert. Er kehrte auf seinen Platz zurück, wo er verbittert berichtete:
»Der kleine Barbier ist plötzlich ein großes Tier geworden!«
»Natürlich«, bemerkte Dulnikker befriedigt, »er ist ja auch Bürgermeister!«
Jener Abend grub sich in Dulnikkers Herz als ein wunderbares Vergnügen ein. Er stopfte sich mit jedem verbotenen Leckerbissen voll, von Bratenfett bis Sauerkraut, er sog sich mit Schnaps voll, bis er selig besoffen war und der Schmerz in seinen verletzten Gliedern spurlos verschwand. Er sprach mit vielen Bauern fast wie mit seinesgleichen und war diesen Wohltätern herzlich dankbar. Außerdem verabredete Dulnikker an jenem Abend sein erstes Stelldichein mit Malka. Ehrlich gesagt, war es eine durchaus einseitige Handlung. Nach dem schweren Abendessen kam die Frau zu ihm und flüsterte ihm sehr deutlich zu, daß sie nach Mitternacht in der strohgedeckten Hütte hinten im Garten auf ihn warten würde.
Einen Augenblick war Dulnikker bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert.
»Wozu?« stammelte er. »Warum sollten Sie auf mich warten, Madame?«
Malka lachte, genoß die bei Männern so übliche Schäkerei von Herzen und ließ dabei zwei Reihen tadelloser, schimmernder Zähne sehen.
»Bringen Sie eine Decke mit«, flüsterte sie, »benützen Sie aber nicht die Treppe, sonst wecken Sie vielleicht wieder den Narren auf.«
Zum erstenmal dämmerte Dulnikker der ganze Ernst seiner schwierigen Lage. In seinem Kopf jagten einander wundersame Gedanken und Verzweiflungsschreie.
»Aber wenn ich nicht die Treppe hinuntergehen kann, kann ich einfach nicht hinuntergelangen.«
»Muß ich es Ihnen erst beibringen, Herr Dulnikker?« sagte das Weib lächelnd. »Sie sind ein Mann von Welt!«
»Ha, ha, ha«, kicherte Dulnikker. »Das bin ich ja wirklich.«
Die seltsame, berauschende Spannung begleitete den Staatsmann, selbst nachdem er zu Bett gegangen war. Er lag mit weit offenen Augen da und versuchte nicht einmal einzuschlafen. Hie und da schaute er ungeduldig auf die Uhr und zählte die Minuten. Was er jedoch die ganze Zeit wirklich wollte, war, einige Worte mit einem Mitmenschen tauschen. Genau wie ein Gewohnheitsraucher, der sich mit einigen Zügen an einer Zigarette entspannt, konnte Dulnikker bloß mit ein paar Worten, und wenn es die kürzeste Rede war, Spannung loswerden. Zum Glück für ihn ging Mischa nach ihm - sehr spät - zu Bett, und Dulnikker beutete diese Gelegenheit aus.
»Sag mir, Mischa«, wandte sich der Staatsmann in der Dunkelheit an den Kuhhirten, »warst du je verliebt?« Die Frage kam ihm unerwartet, fast unwissentlich auf die Zunge, aber der Kuhhirte war überhaupt nicht überrascht. Er antwortete sogar mit ungewohntem Eifer:
»Herr Ingenieur, ich bin gerade jetzt verliebt, in die Dwora Gurewitsch, aber ihr Vater läßt sie mich nicht heiraten.«
»Augenblick«, unterbrach ihn Dulnikker. »Mit welchem Recht mischt sich der Schuster ein?«
»Sie ist seine Tochter.«
»Ich sage dir, mein Freund Mischa, diese Situation wird so lange andauern, solange den Frauen von Rechts wegen nicht gleiche Rechte gewährt werden. Nur eine gesamtstaatliche Regelung wird das Problem lösen helfen.«
»Stimmt.«
»Nun, in deinem speziellen Fall, Mischa, gehen wir der Sache auf den Grund. Bei aller Hochachtung vor dir, mein Freund, schließlich bist du nur der Dorfhirte, während Zemach Gurewitsch der Besitzer einer mit assortierten Produktionsmitteln ausgestatteten Werkstätte ist.«
»Stimmt. Ausgestattet.«
»Hör auf, mich jeden Augenblick zu unterbrechen, Mischa. Laß mich zu Ende reden, genauso wie ich schweige, wenn du redest. Es steht nicht in eurer Macht, Genossen, in diesem Stadium unserer Entwicklung die grausamen Gesetze der Gesellschaft zu ändern. Die Begüterten - und es ist im Augenblick unerheblich, auf welche Weise sie ihre Profite angehäuft haben - errichten Schranken zwischen sich und den unteren Klassen, selbst im Rahmen eines so winzigen Dorfes wie diesem hier. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sich auch Fräulein Dwora der finanziellen und sozialen Kluft bewußt, und sie ist von sich aus nicht bereit, die gesellschaftlichen Schranken niederzureißen, die ich im Vorgehenden erörtert habe. Kannst du mir folgen?«
»Ich verstehe Sie. Was also kann ich tun, Herr Ingenieur?«
»Sich zusammenschließen, Genossen. Das ist das ganze Geheimnis. Ein einziger öffentlicher Kuhhirte ist noch keine öffentliche Macht; aber alle Hirten zusammen, in einem vereinigten Block, stellen eine Macht dar, die niemand übergehen kann. Wie viele Hirten gibt es außer dir im Dorf, einschließlich aller Hirtengattungen?«
»Nur mich.«
Einen Augenblick schwieg Dulnikker, nahm jedoch bald das Gespräch wieder auf und faßte dessen Schlußfolgerungen zusammen:
»Du mußt durchhalten, Mischa, und dir eine öffentliche Stellung im Dorf erringen, denn eine solche Stellung würde deinen Mangel an materiellen Hilfsmitteln aufwiegen.«
»Öffentliche Stellung?«
»Ja. Irgendeine respektgebietende Funktion, die dich ins Scheinwerferlicht rückt. Wen hält man für die respektierteste Person im Dorf?«
»Man sagt«, berichtete Mischa, »den Kuhhirten.«
»Dich?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ungefähr die Hälfte des Viehs mir gehört.«
»Dir?«
»Sicher. Ich bin der Reichste im ganzen Dorf, Herr Ingenieur.«
»Jedenfalls, es wird spät, mein Freund, und du mußt schon im Morgengrauen aufstehen«, meinte Dulnikker. »Gute Nacht, Mischa, überlege dir, was ich dir gesagt habe.«
»Jawohl«, antwortete der Kuhhirt und schlief unter schweren Gedanken ein, während sich die Stirn des jungen Riesen vielleicht zum erstenmal im Leben runzelte. Dulnikker wartete, bis es Mitternacht schlug, wusch sich dann schnell das Gesicht und begab sich an das von ihm geplante Unternehmen: Er knüpfte den Ärmel seines Bademantels an das Balkongitter, klemmte eine gefaltete Decke unter den Arm und begann unter lautem Herzklopfen den Abstieg via Bademantel. Sowie der Staatsmann in dem schwachen Mondlicht von oben sah, daß seine Füße fast den Boden berührten, ließ er den Bademantelstrick los und fiel ungefähr zwei Meter tief auf den weichen Gartenboden. Er schlug mit dem Kopf auf und rollte dann in einen Blumenteppich. Während all dieser Manöver kreischte Dulnikker immer wieder entsetzt auf, raffte sich jedoch schnell zusammen, klopfte flüchtig den Staub von seinem Pyjama und kroch auf allen vieren zu der strohgedeckten Hütte.
Bei Tagesanbruch kehrte Dulnikker in sein Bett zurück, geschwächt und schwindlig, dennoch voll angenehmer Erinnerungen an ein unvergeßliches Erlebnis. Diese Nacht in der strohgedeckten Hütte übertraf mit ihrer lebendigen Erquicklichkeit alle Vorstellungen. Der Staatsmann sagte sich, daß es allein um dieser leidenschaftlichen Nacht willen wert gewesen war, zur Erholung nach Kimmelquell zu kommen.
Als Dulnikker zum Ort des Stelldicheins gekrochen kam, hatte er Malka schon wartend vorgefunden. Sie saß in der efeuüberwucherten Hütte in einem rosa Nachthemd und begrüßte den Staatsmann mit ihrem üblichen ermutigenden Lächeln. Dulnikker atmete schwer, und trotz der kalten Nacht spürte er eine seltsame Wärme in sich. Er breitete die Decke auf dem Boden aus und setzte sich neben Malka auf die aus dicken Ästen gezimmerte Bank.
»Ihr Hals ist sehr schmutzig«, sagte die Frau. »Sind Sie auf den Rücken gefallen?«
»Kann schon sein«, erwiderte Dulnikker etwas beleidigt. »Ich habe keinen Fallschirm mit.«
Malka begann, den Lehm mit einem kitzelnden Kratzen abzuschälen.
»Sie haben einen schönen dicken Nacken«, flüsterte sie, während sie drauflosarbeitete.
»Ja, in meiner Familie haben meine engsten Verwandten alle den gleichen dicken Nacken«, erwiderte Dulnikker männlich stolz. Dank der Entdeckung der Dicke seines Nackens durchflutete seinen Körper plötzlich eine neue warme Welle. Der Staatsmann rückte der Frau ein bißchen näher, und von diesem Punkt an entwickelte sich alles vollkommen natürlich. Malka erschauerte durch seine Nähe, schloß die Augen und lehnte den Kopf an die Schulter ihres Galans. Eine Weile saßen sie in heiligem Schweigen wie zwei Götzendiener da -trunken von der kalten Pracht der zwinkernden Sterne. Dulnikker erkannte mit einem erschreckten Zusammenzucken, daß sie außer der leichten Hülle nichts anderes trug, und diese neue Entdeckung ließ sein Herz stocken.
»Malka«, flüsterte er in die feuchte Nachtluft, »ich bin kein Jüngling mehr, mein Frühling ist vorbei, und mein Haar wird langsam grau. Aber glaube mir, Malka, von der ersten Stunde an fühlte ich, wie uns eine spontane, fast mystische Anziehung zueinander zog ...«
Dulnikkers Herz öffnete sich von der Gewalt seiner Worte. Malka beugte den Kopf zurück, ihr schwarzes Haar fiel in Wellen auf ihre Schultern, und ihre Lippen öffneten sich leicht.
»Ein solches Gefühl hat ein Mann nur in entscheidenden Augenblicken seines Lebens«, fuhr Dulnikker flüsternd fort. »Seine Seele steht still, und der Flügelschlag des Schicksals wird hörbar. Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, daß ich ihn so deutlich hörte wie jetzt in deiner Gegenwart, Malka. Wenn ich mich recht erinnere, fand das zu Beginn eines besonders heißen Sommers statt, als ich noch ein schmucker Jüngling war: Zvi Grinstein ließ mich ins Parteihauptquartier kommen und fragte mich, ob ich bereit sei, die Leitung einer Propagandakampagne zur Verdoppelung der Mitgliederzahl zu übernehmen. Damals - damals hatte ich ein Gefühl, als sei ich kein von einer irdischen Frau geborener Mensch. Ich hatte das Gefühl, daß ich irgendein Vogel sei, ein Vogel, der steil himmelwärts fliegen wollte. Stelle dir das vor, Malka: Ich, der junge Verkaufsleiter des Parteiblattes - und Zvi Grinstein!« Hier unterbrach sich Amitz zu einer kurzen, aber dramatischen Pause.
»Gott der Allmächtige!« flüsterte er in die geheimnisvolle Dunkelheit. »Wer hätte je gedacht oder vorausgesagt, daß der Sohn des armen Hausierers eine solche Bedeutung im Heiligen Land erlangen würde? Es stimmt, mein lieber Vater - Friede seiner Seele - setzte große Hoffnungen in mich. Denn während die anderen Schulkinder auf der Straße spielten, pflegte ich im Heder zu sitzen, Humesh zu studieren und nicht herumzurennen, weil ich viel zu dick war. Aber gleichzeitig war ich hübsch wie ein kleiner Engel mit meinen krausen Seitenlocken - würdig des Pinsels eines van Gogh. Die Leute wollten mich immer hochheben und meine Pausbacken mit Küssen überschütten. Zu meinem großen Kummer war ich gezwungen, mit meinem Studium an der Jeshiva aufzuhören, bevor ich meinen Rabbinergrad erreichen konnte, weil wir plötzlich nach Palästina auswanderten, wo wir eine schwere Zeit knochenbrechender Arbeit durchmachten. Heute mag es Ihnen lächerlich klingen, Madame, aber einst arbeitete Amitz Dulnikker als gewöhnlicher Markthelfer. Ich bin auf jene kurze Zeit der körperlichen Arbeit stolzer als, sagen wir, auf den Literaturpreis für die Veröffentlichung des ersten Bandes meiner gesammelten Leitartikel. Kehren wir jedoch zum Thema zurück, um die Dinge nicht durcheinanderzubringen. Es war mein Glück, bald eine Anstellung als erster Diener bei dem verstorbenen Rabbi Zuckermann von Jerusalem zu finden. Mein Gehalt war minimal, dennoch war es eine intellektuelle Beschäftigung, eines gebildeten Mannes würdig. Er war ein lieber Mensch, voll frommen Eifers, zugleich aber ein aufgeklärter, fortschrittlicher geistiger Führer und tief im Herzen ein vorbildlicher Zionist. Einmal - ich muß Ihnen das erzählen, Madame - kam ein Schächter, dem man nicht erlaubt hatte, an Rosh Hashanah Shofar zu blasen, zu ihm. Der arme Kerl jammerte: >Rebbe, Rebbe, warum läßt man mich nicht an Rosh Hashanah blasen?< Und was erwiderte der Rebbe, meine
Herren? >Ich habe gehört - ähm -, daß du nicht in der Mikve untergetaucht bist! < Der Schächter begann sich zu entschuldigen: >Rebbe, das Wasser war kalt. Oj, war das kalt, Rebbe!< Und der Rebbe erwiderte: >Oif Kalts blust men nischt!< Ha, ha, ha ... Der verstorbene Rabbi Zuckermann war ein sehr kluger und geistreicher Mann, obwohl ich nur kurz in seinen Diensten blieb, um mich einer der zionistischen Arbeiterbewegungen anzuschließen. Erlauben Sie mir, Freunde, mit einem Gefühl der Genugtuung zu bemerken, daß dieser Schritt einen Wendepunkt in meinem Leben darstellte. Ich begann zweimal wöchentlich für das Parteiorgan zu schreiben. Siedlungen! In jedem Artikel wiederholte ich mein Schlagwort: Siedlungen! Entweder wir werden eine
unabhängige jüdische Landwirtschaft haben, oder es wird auf der Welt überhaupt keine Landwirtschaft geben! Gott, war ich damals kühn! Als der verstorbene Rabbi Zuckermann hörte, daß ich Zionist geworden war, verfluchte er mich schrecklich und entließ mich; und von da an verdiente ich mir mein Leben mit Hebräisch-Unterricht. Selbst damals war ich schon gezwungen, immer alles selber zu machen, und daher gründete ich aus eigener Initiative mit einigen anderen Genossen zusammen den Kibbuz Givat Tushija. Aber jener Teil meiner Memoiren gehört, glaube ich, zu den Annalen unserer historischen Wiedergeburt. Wir kultivierten, meine Damen und Herren, jene Wüstengebiete wie die Irren, weil wir alle der Romantischen Schule angehörten, und wenn der anonyme Korrektor im Stab des Parteiorgans nicht plötzlich tot umgefallen wäre, dann wäre ich vielleicht mehr als zwei Jahre im Kibbuz geblieben. Nachher forderte mich Zvi Grinstein auf, wie du dich vielleicht erinnerst, ihn zu besuchen, und in jener Stunde von so großer Tragweite, Genossen, war ich ein Mann von neunundzwanzig Jahren der Selbsthingabe und Standhaftigkeit.«
Der junge Dulnikker hatte das 35. Lebensjahr erreicht, viele Kämpfe durchgestanden, viele Erfolge zu seiner Ehre verbucht, als Malkas regelmäßiger Atem seine Laufbahn für einige Sekunden unterbrach. Der Kopf der Frau war hinuntergerutscht und ruhte nun auf der Brust des Staatsmannes. Dulnikker ignorierte ihren tiefen Schlaf und setzte seinen Vortrag weitere zehn Minuten fort, nach denen auch ihn die Müdigkeit überkam. Seine Augenlider wurden schwer, seine fleißige Zunge wurde schläfrig und machte dem tiefen Schnarchen Platz, das seiner Kehle entströmte.
Dulnikker erwachte durch Malkas erschrockenen Aufschrei.
»Oh, Himmel!« rief die Frau aus und sprang auf. »Es ist schon fast Sonnenaufgang!«
Dulnikker packte ihr rosa Nachthemd.
»Wann kommst du wieder?« fragte er stürmisch. Die Frau warf ihm einen völlig verblüfften Blick zu und lief davon. Der schläfrige Staatsmann wollte ebenfalls zu seinem warmen Bett zurückeilen. Als er jedoch unter seinem Balkon angelangt war, entdeckte er, daß er seinen Bademantel nicht erreichen konnte, um an ihm emporzuklettern. Daher kehrte er wieder in die strohgedeckte Hütte zurück, um abzuwarten, bis er in Ruhe die knarrende Treppe emporsteigen konnte, ohne das Mißtrauen Elifas’ zu wecken.
Kaum hatte sich Dulnikker auf der Bank niedergelassen, als er ein schwaches Rascheln hörte, das aus dem Garten vor dem Haus des Schuhflickers dem Wirtshaus gegenüber kam. Langsam kroch der neugierige Staatsmann zur Hecke, spähte durch ihr Laub und war niedergeschmettert. Im Licht der frühen Morgendämmerung nahm er zwei schattenhafte Gestalten wahr, die vorsichtig zu Zemach Gurewitschs Haus zurückkehrten und es betraten.
Es war Zev, mit einer gefalteten Decke unter dem Arm, begleitet von der kleinen Dwora.
Dulnikkers wütender Blick folgte ihnen. Er hatte sich sofort zusammengereimt, was im Garten des Schuhflickers vor sich gegangen war: >Zev hat Fräulein Dwora den Kopf verdreht, ist dann nachts in den Garten hinausgegangen, und dann .< Konnte der Sekretär ihr bis zum Tagesanbruch seinen Lebenslauf erzählt haben? Nein, dazu hatte Zev noch nicht lange genug gelebt. Dulnikker verstand allmählich, warum sein Sekretär jetzt immer so schläfrig dreinsah. Er verführte Mädchen bei Nacht!
Dulnikker kletterte so entsetzt und so sehr in düstere Gedanken versunken die Treppe hoch, daß er sich erst in letzter Minute daran hinderte, wieder das Schlafzimmer des Wirts zu betreten. Er fiel wie ein Holzklotz auf sein Bett, streckte sich genießerisch in Erwartung angenehmer Träume aus und schlief sofort ein.
Der Zeiger der Sonnenuhr hatte seinen Schatten gerade auf die Ziffer 10 geworfen, als Dulnikker von einem fröhlichen Lärm erwachte, der aus dem Garten kam. Er stolperte mit noch halb geschlossenen Augen auf den Balkon hinaus und entdeckte die Zwillinge, die unten standen und über den Anblick des Bademantels lachten, der noch immer am Geländer festgebunden war und im Morgenwind heftig flatterte.
»He, Ingenieur«, schrie Hajdud, »Majdud sagt, es ist ein Fetzen. Ist es nicht eine Fahne für den Bürgermeister?«
Dulnikker versuchte auch diesmal nicht, das Geschwätz der Fratzen zu ergründen. Er tat, als habe er sie nicht gehört, und versuchte unter ständigen Selbstvorwürfen den verknüpften Ärmel aufzubinden.
»Sieht so aus, daß der Mantel schon trocken ist!« sagte er absichtlich laut. Aber zu seinem großen Ärger gelang es ihm erst nach einem längeren Kampf der Fingernägel, den Knoten aufzumachen, da der Mantel mit Tau vollgesogen war. Anschließend ging er schläfrig, jedoch angenehm ermattet, in den Speisesaal hinunter, entschlossen, von seinem Sekretär für dessen unverantwortliches Tun eine ausführliche Erklärung zu verlangen.
»Genossen«, beabsichtigte er ihm entgegenzuschleudern, »ein Mann, der unfähig ist, seine Triebe zu beherrschen und ein Sklave seines Fleisches wird, sollte besser auf seine Berufung zum Dienst an Volk und Partei verzichten!«
Auch Malka sah etwas müde aus, aber als sie Dulnikker sein ausgiebiges Frühstück servierte, sah sie ihn träumerisch an und drückte ihm leidenschaftlich den Arm.
»Joj!« staunte die Frau. »Wo haben Sie es gelernt, so hübsch und so viel zu reden, Herr Dulnikker? Und so viele Fremdwörter, und in einem Zug. Ich hab’ noch nie so reden gehört.«
Wieder wogte die gleiche warme Welle in Dulnikker hoch. Noch immer spürte er Malkas Kopf an seiner Brust. Er stand auf und trat zu ihr.
»Komm heute nacht wieder hin, Malka«, flüsterte er heiser. »Ich werde auf dich warten.«
»Pst, mein Mann!«
Sehr verwirrt begann Dulnikker in der Küche herumzuwandern, als suche er etwas. Er stieß gegen den Schächter und verwickelte ihn sofort in ein Gespräch. Er erzählte ihm einen Witz über einen Schächter, dem verboten worden war, Schofar zu blasen, und fragte ihn, wie viele gottesfürchtige Mitglieder übrigens seine Gemeinde zähle.
»Nur eines«, erwiderte der Schächter und deutete mit einem traurigen Lächeln auf sich.
»Das ist nicht viel«, spottete der Staatsmann, »aber auf eine solche Gemeinde können Sie sich wenigstens verlassen.« »Weiß ich? Es ist schwer, in einem Ort fromm zu bleiben, der keine Synagoge hat, nicht einmal eine schundige.«
»Das ist ja großartig«, sagte der Staatsmann in einem professionell scherzenden Ton klagend. »Für eine Synagoge ist kein Geld da, aber der Bürgermeister fährt in einem Wagen herum! Einfach wundervoll!«
Der Schächter blickte ihn überrascht an.
»Verzeihung, Herr Ingenieur«, erwiderte er, »aber sind denn nicht Sie es gewesen, der den Karren für ihn gemietet hat?«
»Na und? Hat man ihn gezwungen, den Wagen von mir anzunehmen?«
Die klare Logik des erfahrenen Staatsmannes traf ins Schwarze. Der Schächter klopfte auf den Busch. »Herr Ingenieur, würden Sie mir helfen, eine Synagoge zu bauen?«
»Ich würde Ihnen gern Ihr Ansuchen bewilligen, meine Herren, aber ich habe kein Budget für andere dringende Bedürfnisse als die des Bürgermeisters.«
»Ich kann kein Bürgermeister werden, Herr Ingenieur, ich bin Schächter.«
»Na und? Ist der Schächter weniger als der Barbier? Im Gegenteil! Salman Hassidoff tut, was für ihn am besten ist, und Sie, Herr Rabbi tun, was für Gott am besten ist.«
»Da ist viel Wahres dran«, meinte der Schächter, »aber ich bin kein Rabbi.«
»Praktisch sind Sie einer! Sie sind ein Rabbi de facto!«
Hier ließ Dulnikker den aufgeregten Schächter stehen, weil sein Sekretär mit den Spuren der nächtlichen Ausschweifung im Gesicht im Speisesaal erschien. Kühn näherte sich Dulnikker, pflanzte sich vor ihm auf und sagte leicht hüstelnd:
»Ich möcht mit dir reden, mein Freund Zev.«
Der Sekretär setzte sich mit aufreizender Fassung nieder.
»Ja, Dulnikker. Was gibt’s?«
Der Politiker beugte sich über den Tisch, das Gesicht nahe an Zev, und betonte jedes Wort:
»Ich meine die Ereignisse heute nacht, Genosse!«
»Keine Sorge, Dulnikker«, antwortete der Sekretär, während er sich Butter aufs Brot strich, »nur ich und Dwora haben euch beide im Garten gesehen. Beruhigen Sie sich, es wird nicht weiterdringen.«
»Danke«, murmelte Dulnikker und begann sein weiches Ei aufzuklopfen.
Am Nachmittag, als das Vieh von der Weide zurückkehrte, spielten sich Ereignisse ab, die in der Geschichte Kimmelquells noch nie dagewesen waren. Niemand wußte, wie es begonnen hatte. Die Leute sahen, wie die Tür der Schusterwerkstätte aufflog und Zemach Gurewitsch zusammen mit Mischa, dem Kuhhirten, herausstürmte.
»Glaubst du, ich bin ein Narr, Gurewitsch?« schrie der Kuhhirte. »Ich weiß, daß du Dwora verboten hast, mich zu sehen!«
»Ich es ihr verboten?« schrie ihn der Schuhflicker gellend an. »Dwora läuft vor dir davon, Mischa, das ist alles! Warum sollte ich es verbieten?«
»Warum? Du fragst noch, warum?« brüllte der Kuhhirte wütend. »Glaubst du, ich weiß es nicht? Glaubst du, es wird dir durchgehen, daß du alle möglichen Schranken zwischen uns aufrichtest, nur weil ich ein Mann der materiellen Hilfsmittel bin?«
»Was?«
»Ja, ja, du hast richtig gehört, Zemach Gurewitsch! Gott sei Dank habe ich Augen im Kopf! Glaubst du, daß du das Recht hast, dich einzumischen, nur weil du Mittel produzieren kannst?« »Ich schwöre, er ist betrunken!« kreischte der Schuhflicker. »Schau, daß du weiterkommst, bevor ich mich vergesse!«
Der Kuhhirte war fuchsteufelswild. »Sag du mir ja nicht, was ich tun soll, Gurewitsch! Noch bist du nicht Bürgermeister!«
Der Schuhflicker sprang hoch, als hätte ihn eine Schlange gebissen. Seit zwei Tagen war er überzeugt, daß der Bürgermeister-Barbier unnötig vor seiner Werkstatt herumfuhr, um ihn zu provozieren. Gurewitsch ballte die Fäuste und ging wütend auf den Kuhhirten los.
»Ich werde früher Bürgermeister sein, als du denkst!« schrie er. »Selbst wenn es einigen Leuten nicht paßt!«
Dulnikker beobachtete die Auseinandersetzung mit kaum unterdrückter Genugtuung. »Endlich ein etwas menschlicher Ton«, sagte er zu seinem Sekretär. »Es sieht zwar aus, als sei es nicht mehr als ein persönlicher Kampf zwischen zwei Einzelmenschen, aber meiner bescheidenen Meinung nach ist dieser Konflikt der erste Vorbote einer gesunden politischen Gärung im Dorf Kimmelquell!«
»Unser Vorbote«, bemerkte der Sekretär nervös, »müßte jetzt schon bei Manager Schultheiß eingetroffen sein.«
»Dessen kann man nicht so sicher sein«, erwiderte Dulnikker. »Ich habe irgendwo gelesen, daß sich in diesem Sommer die Raubvögel ungeheuer vermehrt haben.«
Hermann Spiegel kam herbeigelaufen und fragte atemlos:
»Worüber streiten sie?«
»Über das Bürgermeisteramt«, erwiderte Dulnikker. »Natürlich.«
»Lächerlich«, bemerkte der Tierarzt. »Erst gestern abend habe ich zufällig das Thema mit meiner Frau besprochen. Sie meinte, ich würde einen perfekten Bürgermeister abgeben, wegen meiner wunderbar klaren Handschrift. Ich habe ihr gesagt: >Was redest du da, mein Schatz? Das könnte ich gerade brauchen!«« »Warum nicht?« fragte Dulnikker. »Selbst ein Intellektueller könnte einen guten Bürgermeister abgeben. Oder haben nur Handwerker das Recht, in Kutschen herumzufahren?«
»Meinen Sie wirklich, Herr Ingenieur?« überlegte Hermann Spiegel und eilte zu den Streitenden hinüber, obwohl sich die Menge inzwischen mangels Handlung zerstreut hatte.
»Immer muß ich alles selber machen!« erklärte der Staatsmann befriedigt. »Ich werde jetzt den Schuhflicker besuchen und ihm einige elementare Dinge erklären.« Er drehte sich nach seinem Sekretär um. »Sag mir, mein Freund Zev, als ich dir die Idee mit dem Karren das erste Mal auseinandersetzte, hast du da geglaubt, daß sie ermutigende Entwicklungen erzeugen würde?«
»Nein, Dulnikker. Wirklich nicht.«
Zev und die kleine Blonde kletterten langsam einen schmalen Pfad hinauf, der sich durch den Tannenwald schlängelte. Der langarmige Sekretär schien das Mädchen unter seiner Achselhöhle zu tragen, während Dworas große Augen an seinem Gesicht hingen.
»Hörst du die Vögel zwitschern?« fragte sie begeistert. Der Sekretär versicherte ihr, daß er den Lärm höre, er sei ja nicht taub.
»Sie zwitschern nicht nur«, versicherte er ihr, »sie beflecken einem auch die Kleider.«
»Ihr Stadtfräcke sucht in allem immer nur das Schlechte.«
»Im Gegenteil, mein Huhn, wir suchen uns das Gute heraus.«
Um zu beweisen, daß es ihm ernst damit sei, nahm Zev seine Brille ab, lehnte das Mädchen gegen einen Baumstamm und küßte es auf die Lippen. Da dies seine einzige Zerstreuung im rückständigen Kimmelquell war, war es nur natürlich, daß die beiden ihren Weg erst nach einer langen Pause fortsetzten.
»Warum seid ihr hergekommen?« fragte Dwora.
»Der Ingenieur kam zur Erholung.«
»Das stimmt nicht. Der Ingenieur ist nicht zur Erholung gekommen, er ist gekommen, um das Dorf aufzuhetzen.«
»Möglich. Das ist sein Geschäft.«
»Geschäft? Warum lassen ihn das die Leute tun?«
»Vielleicht, weil sich die Leute gern aufhetzen lassen.«
Sie hatten eine kleine, bewachsene Waldlichtung erreicht. Dwora setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, und Zev legte sich zu ihren Füßen hin.
»Weißt du, Zev, der Pappi benimmt sich seit neuestem so seltsam«, klagte das Mädchen, während es genußvoll Zevs Haare zauste. »Plötzlich hat er sich entschlossen, anstelle des Barbiers Bürgermeister zu werden. In den letzten Tagen ist er nicht zur Arbeit hinausgegangen, er bespricht sich nur immer mit dem Herrn Ingenieur, und nachher sitzt er stundenlang in seiner Werkstatt und >klärt<. Es ist einfach nicht mit ihm zu reden. Du weißt ja, wie dickköpfig er ist!«
»Wie soll ich das wissen?«
»Er ist störrisch wie ein Maulesel. Ich weiß, es ist nicht nett, daß ich meinen Vater einen Maulesel nenne, aber was er vorhat, ist schrecklich. Gestern abend kam er vom Herrn Ingenieur heim und sagte mir: >Ich muß beweisen, daß ich wirklich für das öffentliche Wohl arbeite, nicht wie Hassidoff, der keine Ahnung vom Rasieren hat!< Wir saßen da und haben den ganzen Tag geklärt. Ich habe verschiedenes vorgeschlagen, was wir wirklich brauchen, wie zum Beispiel mehr Kinder im Dorf oder kühleres Wetter, aber erst am Abend hatten wir eine gute Idee: Es gibt nicht genug Wasser im Dorf. Der Papa war schrecklich glücklich, und ich hab’ sofort ein großes Schild in Großbuchstaben machen müssen: >WIR WERDEN SO LANGE NICHT GENUG WASSER HABEN, SOLANGE DER BARBIER BÜRGERMEISTER IST. WENN ICH
BÜRGERMEISTER BIN, WERDE ICH FÜR EINEN GROSSEN
Brunnen mitten in der Stadt de facto sorgen.< Und jetzt will der Papa diese Ungeheuerlichkeit in der Werkstatt aufhängen, damit es jedermann sehen kann. Wieso lachst du so? Es ist gar nicht komisch!«
Zev wälzte sich vor Vergnügen.
»Fabelhaft!« keuchte er zwischendurch. »Gärung!«
»Was soll denn das, Genossen?« schrie Dulnikker Zemach Gurewitsch gellend an, als er das Schild an der Wand las. »Was für einen Zweck soll denn das eigentlich haben, wenn ich fragen darf?«
»Eine Art schriftlicher Verständigung«, stammelte der Schuhflicker. »Haben Sie mir denn nicht selbst gesagt, Herr Ingenieur, und ich zitiere: >Wasser ist eine feine Idee, aber Sie werden sie dem Dorfpublikum zur Kenntnis bringen müssen<? So habe ich mir vorgestellt, daß sie alles darüber lesen.«
»Die Idee eines Plakats ist durchführbar«, meinte der Staatsmann, »aber es müßte gedrängter und pointierter ausgedrückt werden. Sie müssen es zu einem Schlagwort machen!«
»Einem Schlagwort?«
»Ja. So ist es wirksamer, Genossen. Schweigen Sie - ich möchte etwas Ruhe haben.«
Dulnikker versank in Gedanken, während der Schuhflicker und sein Assistent auf ihren Schemeln zu Statuen unendlicher Ehrfurcht erstarrten. Der Staatsmann hob die Augenbrauen zum Zeichen der geistigen Anstrengung, genoß eine Weile das erwartungsvolle Schweigen und verkündete dann seinen Slogan:
DER BARBIER BAUT KEINEN BRUNNEN!
Der Schuster einen feinen Brunnen!
Am nächsten Tag schlenderte Dulnikker allein über die Dorfstraße. Im tiefsten Herzen war er froh, daß sich sein fauler Sekretär in diesen letzten paar Tagen nicht blicken ließ; denn Zevs zynische, verächtliche Einstellung seiner Erziehungskampagne gegenüber hatte den Zorn des Staatsmannes erregt. Dulnikker vermerkte mit tiefer Befriedigung, daß der Karren, komplett samt alternder Eselin und rauchendem Kutscher, noch immer vor Hassidoffs Haus wartete, trotz der Tatsache, daß die Frist, für die ihn Dulnikker gemietet hatte, schon vor einigen Tagen abgelaufen war. Dulnikker vermutete, daß der Barbier nicht gewillt war, auf sein königliches Gefährt zu verzichten, damit ein solcher Schritt nicht den Eindruck machte, als gebe er seinem Gegner Zemach Gurewitsch nach. Und genauso war es: Salman Hassidoff hielt aus Anmaßung an dem Karren fest und bezahlte ihn aus eigener Tasche. Außerdem fuhr er an einem äußerst heißen Tag zu dem direkt gegenüberliegenden Schuhflickerhaus und sagte von oben her zu Zemach Gurewitsch, der neiderfüllt nur mit den Zähnen knirschen konnte: »Morgen schicke ich meinen Kutscher um den Schuh herüber.«
Als Dulnikker den Barbierladen betrat, kehrte die Frau ihren Fußboden genauso, wie sie es getan hatte, als er zum erstenmal aufgekreuzt war. Diesmal jedoch war ihre Haltung dem Staatsmann gegenüber völlig verändert. Dulnikker setzte sich auf den Sessel, stopfte sich das Handtuch in den Kragen und -dann bemerkte er den kleinen Zettel, der am Spiegel klebte:
Schuster baut keinen Brunnen!
Der Barbier einen feinen Brunnen !
In des Staatsmannes Seele begannen laut die Siegesglocken zu erschallen.
»Verzeihung, mein Freund«, fragte der Staatsmann unschuldig, »was ist denn das?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte der verlegene Barbier. »Alle erzählen mir, daß Gurewitsch ein Schild hat, auf dem das Gegenteil steht.« Hassidoff wandte sich bekümmert seiner Frau zu, die ihm unverzüglich zu Hilfe kam:
»Daß es ein Gedicht ist, verstehen wir, Herr Ingenieur«, sagte sie. »Aber wozu der Brunnen?«
»Zufällig weiß ich, was hier vorgeht, Madame«, erwiderte der Staatsmann. »Der Schuster verspricht dem Dorf einen Brunnen, wenn er zum Bürgermeister ernannt wird.«
»Aber in diesen Bergen gibt es unterirdisch doch keinen Tropfen Wasser!«
»Meine Herren, er verspricht nicht Wasser, er verspricht einen Brunnen.«
»Höre, Salman«, brüllte sein Heldenweib, »dann wirst du eben auch einen Brunnen versprechen! Sogar zwei Brunnen! Drei!«
»Nützt nichts, Madame.« Der Staatsmann schüttelte traurig sein Haupt. »Der Schuster hat die Glaubwürdigkeit a priori für sich. Daher wird man ihm eher glauben.«
»A priori?«
»A priori.«
»Warum?«
»Weil er die Opposition ist. Er tritt mit der Regierung in Konkurrenz.«
»Das ist eine Schweinerei!« schrie der Barbier himmelwärts. Sein Weib begann dem warmen, menschlich so mitfühlenden Ingenieur ihr Herz auszuschütten. »Schauen Sie, Herr Ingenieur«, sagte Frau Hassidoff weinerlich, »jetzt auf einmal wollen sie alle Bürgermeister de facto werden, nur weil es
Mode ist. Und trotzdem haben wir bis jetzt nicht einmal gewußt, daß wir einen Bürgermeister haben.«
»Sie haben recht, Madame«, entschied Dulnikker. »Das Seniorat Ihres Gatten ist unbestreitbar.«
»Hörst du, Salman? Der Herr Ingenieur sagt auch, daß du irgendein Seniorat hast.«
»So?« brüllte Hassidoff, und sein Blick war mörderisch. »Was will also dieser dreckige Kerl, der die Schuhe so flickt, daß man nicht in ihnen gehen kann? Was will er eigentlich?«
»Eine Regierungsumbildung«, erklärte Dulnikker und fügte höchst erheitert hinzu: »Benützen Sie nicht Ihre Zunge, Herr Hassidoff; benützen Sie auch Ihre Klinge!«
Das Rasiermesser in Salman Hassidoffs Hand tanzte tatsächlich wie das Schwert in der Hand eines nervösen Fechters. Der Barbier errötete bis zum Scheitel seines kahlen Schädels.
»Salman«, jammerte die Frau, »denk daran, was dir Hermann Spiegel gesagt hat! Du darfst dich nicht aufregen! Diese ganze Bürgermeisterei de facto ist deine Gesundheit nicht wert.«
»Recht hast du, Weib«, keuchte Hassidoff. »Ich trete zurück, und damit hat sich’s!«
»Zurücktreten?« Frau Hassidoff richtete sich hoch auf. »Niemals!«
»Aber meine Herren, meine Herren«, beruhigte sie Dulnikker sanft. »Um Himmels willen, wohin sind wir geraten? Was ist mit diesem soliden Dorf geschehen?«
»Herr Ingenieur, Sie sind ein zu gütiger Mensch, um so etwas zu verstehen«, bemerkte die Frau. »Seit neuestem hat sich hier eine Menge verändert!«
»Jedenfalls möchte ich gern helfen. Bitte informieren Sie mich, meine Herren, wie hier der Bürgermeister gewählt wird.«
»Er wird nicht gewählt«, klärte ihn der Barbier auf. »Bisher hat sich das immer ungefähr so abgespielt: Wenn sie mich zuviel belästigt haben, hab’ ich zu schreien angefangen, daß ich genug habe, und von jetzt an soll jemand anderer die Liste zusammenschreiben. Dann sind sie alle über mich hergefallen und haben behauptet, daß ich fehlerlos hebräisch schreibe und daß ich viel mehr Zeit habe, weil ich nicht immer warten muß, bis ich beim Barbier drankomme. So war’s, wie sie mich immer gewählt haben.«
»In jedem Fall muß das Wahlsystem unverzüglich geändert werden«, verkündete Dulnikker. »Nicht länger soll ein blindes Schicksal eine so gewichtige Frage entscheiden; sie wird einem fairen Wettkampf auf Gemeindebasis unterzogen.«
»Fein!« rief der Barbier. »Ich bin bereit dazu!«
»In nächster Zukunft werden wir einen Provisorischen Dorfrat einberufen, als oberste Instanz, welche die Interessen des Dorfes repräsentiert«, fuhr Dulnikker fort, seinen Geheimplan zu erläutern. »Von nun an, meine Herren, wird nur eine Gemeindekörperschaft festsetzen und entscheiden, wer Bürgermeister von Kimmelquell wird!«
»Gemeindekörperschaft?« wunderte sich Frau Hassidoff. Der Gatte brachte jedoch das feige Frauenzimmer sofort zum Schweigen.
»Keine Sorge, Weib«, sagte er und richtete sich zu seiner vollen Höhe auf. »Ich bin zwar nicht groß gewachsen, aber ich fürchte mich nicht vor dem hinkenden Schuhflicker!«
»In welchem Fall wir anscheinend einer Meinung sind«, versicherte Dulnikker befriedigt und verließ den Laden in bester Laune. Salman Hassidoff trat vor den Spiegel und ließ seine Muskeln spielen.
»Fein«, rief er seiner Frau kraftvoll zu, »lassen wir also die stärkste Körperschaft der Gemeinde entscheiden!«
Die nächsten drei Tage waren von fieberhaften Beratungen gekennzeichnet. Der Staatsmann widmete seine besten Talente der Bildung eines Dorfrats und benützte zu diesem Zweck seinen durchaus nicht begeisterten Sekretär. Wieder wurde er zur >Dampfwalze Dulnikker<, der dynamischen Kraft, die ein ganzes Dorf hinter sich herzuziehen vermochte. Diese wundersame Genesung war zum Teil seiner Entdeckung eines bequemeren Weges als den Balkon zu seinem zweiten Stelldichein mit Malka zu verdanken. Auch dieses Stelldichein prägte sich der Seele des Staatsmannes ein, obwohl es sich vom ersten insofern unterschied, als Malka in warmen Kleidern kam und auch ein Wollknäuel mitbrachte, aus dem sie einen grünen Pullover zu stricken anhub. Dulnikker hatte das Alter von 43 erreicht, sein Stern war aufgegangen, und er war zum stellvertretenden Parteisekretär ernannt worden, trotz der Opposition Shimshon Groidiss’, als ein schlafloser Hahn Malka aufweckte und beide die Hütte verließen, um in den Morgennebeln zu verschwinden. Das hielt ihn in keiner Hinsicht von seinen Bemühungen ab, die >oberste, den Dorfwillen repräsentierende Instanz< zu errichten.
»Es ist wirklich nicht recht, daß wir beide die Räte auswählen, statt es das Dorf selbst tun zu lassen«, versicherte Dulnikker in der Gegenwart seines gähnenden Sekretärs, »aber ich glaube, wir können uns noch nicht auf diese Bauern verlassen, denen selbst die minimalste politische Erfahrung abgeht.«
Zev deutete an, daß ja auch der Staatsmann zum erstenmal im Leben einen Dorfrat wählte, aber Dulnikker beruhigte ihn und sagte, Zev wäre überrascht, wenn er sähe, wie leicht das sei. Man brauche dazu nur die verschiedenen Klassen im Dorf, die sozialen Ebenen mit ihren unterschiedlichen und entgegengesetzten politischen Bestrebungen zu unterscheiden. Nach dieser kurzen, jedoch pointierten ideologischen Aufklärung begannen sie, die Bauern nach der obenerwähnten Skizzierung einzuteilen. Drei Stunden später hörten sie verschwitzt und enttäuscht mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit auf.
»Gott steh uns bei!« Dulnikker war höchst erstaunt. »Es gibt überhaupt keine Unterschiede zwischen ihnen! Sie sind alle gleich!«
»Stimmt!« bemerkte Zev. »Sie sind alle Bauern, stammen alle aus Rosinesco, bauen Kümmel, besitzen Kühe und tragen Schwarz.«
»Von einem Gummistempel gezeugt«, stöhnte der Staatsmann. »Der Inbegriff politischer Rückständigkeit!«
»Schauen Sie, Dulnikker: Das Endziel jeder sozialistischen Partei ist, die Unterschiede zwischen den Menschen niederzureißen.«
»Natürlich ist es das Endziel, aber in diesem elenden Dorf stehen wir doch erst am Anfang!«
Sie gingen an eine neue Klassifizierung und sonderten die Bauern aus, die einer zweiten Beschäftigung nachgingen. Dulnikker meinte, daß der Barbier - als Bürgermeister de facto
- den natürlichen Kern der herrschenden Partei darstelle, während der Schuhflicker naturgemäß die mächtige Opposition der arbeitenden Menschen repräsentiere.
»Das stimmt nicht«, kicherte der Sekretär. »Der Schuhflicker hat einen alten Mann in seiner Werkstatt angestellt.«
»Schön«, sagte Dulnikker, »dann soll er die Kleingewerbetreibenden darstellen. Darauf kommt es wirklich nicht an. Wir brauchen diese Unterscheidungen nur für uns, um das Ganze in eine Perspektive zu bringen. Die
Dorfbewohner können solche Feinheiten nie begreifen. Wen haben wir sonst noch?«
Zev schlug den Tierarzt als Sprecher der Dorfintelligenz vor, aber Dulnikker, der sich an den Optiker aus Frankfurt am Main erinnerte, erhob Einspruch gegen Hermann Spiegel.
»Er repräsentiert das Vieh«, behauptete er. »Ich ziehe ihm bei weitem Elifas Hermanowitsch vor.«
»Der ist auch blöd«, bemerkte Zev. »Erst vor einigen Tagen gab er zu, daß er nie versteht, was der Herr Ingenieur sagt.«
»Wenigstens du, mein Freund, könntest dich zurückhalten, mich Herr Ingenieur zu nennen. Es regt mich auf.«
»Ich habe nur den Wirt zitiert.«
Elifas wurde dank der Majorität von Dulnikkers Stimme trotzdem in den Rat gewählt, als Repräsentant der parteiunabhängigen Rückständigen. Der Staatsmann nominierte auch den Schächter mit der Bemerkung, daß der religiöse Glaube überall eine mächtige Kraft sei. Der Sekretär grinste breit und wagte zu bemerken, daß der Schächter keinen einzigen religiösen Anhänger im Dorf habe. Das erweckte den Zorn des Staatsmannes.
»Bitte, hör mit diesem dummen Lachen auf«, sagte Dulnikker wütend. »Du weißt sehr gut, daß ich ein Sozialist bin, der keinen Deut für die Einhaltung längst überlebter religiöser Bräuche gibt, daß ich Schweinefleisch esse, kein Käppchen trage und nicht eine Spur von dem Unsinn einhalte, den man mich in meiner Jugend gelehrt hat. Aber als Jude sprechend, dulde ich keine so abfälligen Bemerkungen über einen jüdischen Schächter, der durch das Hauptrabbinat geweiht wurde!«
»Verzeihen Sie mir, Dulnikker.«
»Ich kann es dir nicht verzeihen, mein Freund. Dieser primitive Haß um seiner selbst willen gegen alle traditionellen jüdischen Werte und diese Verhöhnung unserer heiligen Thora sind typisch für einen antisemitischen Schweinefleischfresser. Nicht jedoch für einen Zionisten, gleichgültig, wie sehr er auch Atheist ist!«
Der Sekretär hielt den Mund, weil er wußte, daß das gefährliche Stadium des Adernschwellens auf der Stirn seines Herrn und Meisters erreicht war. Erst als sich der Anfall legte, bemerkte Zev höflich, daß sie, da die Räte endlich zu jedermanns Befriedigung gewählt waren, in Erwartung ihrer nahenden Abreise aus Kimmelquell ihre Koffer packen konnten.
»Unsere Taube«, sagte der Sekretär hoffnungsvoll, »ist jetzt bestimmt schon bei der Tnuva angekommen.«
»Wer weiß«, bemerkte Dulnikker, noch immer zornig, »diese gebrauchten Tauben sind nie sehr stark. Außerdem fallen sie nach einem Flug von 50 oder 60 Kilometern wie ein Stein zu Boden.«
»Nein, Dulnikker. Unsere Taube war eine starke.«
Dulnikker runzelte die Stirn.
»Solange wir hier sind, werden wir für das Wohl des Dorfes weiterarbeiten«, sagte er mit warnender Stimme. »Daher bitte ich dich, unverzüglich allen Betroffenen einen Brief zu senden:
>Mein Herr, wir beglückwünschen Sie zu Ihrer Wahl durch die Einwohner von Kimmelquell (Ober-Ostgaliläa) in ihren Provisorischen Dorfrat. Sie werden hiermit eingeladen, kommenden Mittwoch um Punkt 3.30 Uhr in der Ratskammer des örtlichen Gasthofes zu erscheinen, um an der ersten Sitzung des Provisorischen Rates unter Ausschluß der Öffentlichkeit teilzunehmen.
Tagesordnung:
1. Ratifizierung des Dorfrats.
2. Die Oberste Kommunalkörperschaft wird die Frage der Besetzung des Bürgermeisters entscheiden.
Streng geheim. Um pünktliches Erscheinen wird gebeten. Schwarzer Anzug erwünscht.««
»Praktisch tragen sie nie was anderes als Schwarz«, unterbrach der Sekretär den Staatsmann, aber dieser hieß ihn schweigen und beschloß sein Diktat mit: »Datum! Unterschrift!«
»Wessen Unterschrift, Dulnikker?«
»Juristisch gesprochen habe ich kein Recht, das Dorf zu vertreten. Also unterzeichne den Brief mit einer allgemeinen Unterschrift wie etwa >Direktion<.«
»Schön«, sagte der Sekretär zuvorkommend und schrieb: »Direktion, Abtlg. Ingenieurwesen.«
»Noch etwas«, fuhr Dulnikker fort. »Ich bin durchaus nicht glücklich, daß wir nur vier Mitglieder für den Rat finden konnten. Die gerade Zahl ist unbefriedigend, weil sich dadurch Stimmengleichheit ergeben kann. Daher brauche ich ein Zünglein an der Waage.«
»Vielleicht den Kärrner?«
»Statt eines unabhängigen Unternehmers wäre mir irgendein Kommunist oder extremer Linker lieber, um den Rat auszubalancieren. Hat dieses Dorf keine ausgebeuteten Arbeitskräfte oder Angestellte?«
»Soweit ich weiß, bin ich der einzige.«
»Hör zu witzeln auf, Zev! Ich kann meinen Krankenwärter nicht in den Rat einsetzen.«
»Ich bin Ihr Sekretär, Dulnikker.«
»Natürlich. Wer hat das je geleugnet?« wollte Dulnikker wissen. »Ich glaube, ich kann vielleicht meinen Kommunisten in dem Gehilfen des Schuhflickers bekommen! Jetzt hör mit dem dummen Gelächter auf, mein Freund, und notiere dir, daß ich morgen in der Schusterwerkstatt vorsprechen muß.« »Ganz wie Sie meinen, Dulnikker«, erwiderte der Sekretär. »Ich jedenfalls gehe jetzt packen.«
Dulnikker warf einen Blick in die Schusterwerkstatt, und als er sah, daß der Gehilfe allein war, betrat er die dunkle Kammer. Der Staatsmann studierte aufmerksam das verwitterte Gesicht des bleichen alten Mannes, der, den zahnlosen Mund voller Nägel, an seiner Werkbank arbeitete. >Er ist alt genug, um der Vater des Schusters zu sein<, überlegte Dulnikker. >Aber statt so geehrt zu werden, wie es ihm gebührt, muß er sich von früh bis spät ausbeuten lassen.<
»Guten Morgen, Genossen«, begrüßte der Staatsmann den Arbeiter und fügte mit wohlüberlegter Diplomatie hinzu: »Ist mein Schuh schon fertig?«
»Nein«, erwiderte der Alte schrill mit seinem unverkennbaren rosineskanischen Akzent. »Sie haben uns keine Reparatur gebracht, Herr Ingenieur.«
»Natürlich nicht.« Dulnikker steuerte das Gespräch in die richtigen Bahnen: »Wie kann ich mir eure Preise leisten?«
»Bitte richten Sie sich das mit Salman.«
»Nein, Genossen. Dafür seid ihr zuständig!«
»Warum?«
Diese naive Frage entfesselte einen Redeschwall Dulnikkers, der rapid auf den unglücklichen nichtorganisierten Arbeiter herunterprasselte.
»Wieviel bekommen Sie für ein gewöhnliches Besohlen?«
»Ungefähr dreißig Agoroth.«
»Und wie viele Reparaturen machen Sie im Durchschnitt täglich?«
»Vielleicht drei.« »Das kommt auf ungefähr ein Pfund pro Tag! Sie arbeiten fünfundzwanzig Tage im Monat. Nun, das kommt auf fünfundzwanzig Pfund im Monat. Stimmt’s?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie hoch ist Ihr Monatsgehalt?«
»Weiß nicht.«
»Bekommen Sie vierzig Pfund?«
»Die bekomme ich.«
»Aha!« brüllte Dulnikker. »Und wer steckt den Unterschied ein, ha?«
»Weiß nicht.«
»Das ist es ja gerade, Genossen! Ihr habt überhaupt kein Klassenbewußtsein. Und dann wacht ihr eines schönen Tages auf und entdeckt, daß die Jahre an euch vorbeigegangen sind, daß selbst eure wenigen übriggebliebenen Zähne wie Herbstblätter verweht sind. Und dann werdet ihr alle kommen und >Dulnikker, Dulnikker, Dulnikker< schreien. Aber dann wird es zu spät sein!«
»Aber«, stammelte der Alte verzweifelt und rückte von seinem Besucher ab, »aber Sie haben uns wirklich keinen Schuh zur Reparatur gegeben, Herr Ingenieur.«
Dulnikker ging auf den Arbeiter zu und stand wie ein dräuender Schicksalsbote vor ihm. »Ihr müßt für euch denselben Lebensstandard verlangen, den Zemach Gurewitsch aufrechterhält!«
»Nein! Nein!« rief der erschrockene Alte flehend. »Bitte, Herr Ingenieur, bitte, verlangen Sie das nicht von mir! Ich kann nicht so schwer arbeiten wie Zemach. Er ist noch jung und kann auf das Feld gehen, aber ich komme gerade nur mit meiner Arbeit in der Werkstatt zurecht.«
Der Staatsmann wischte sich den Schweiß von der Stirn. In dem engen Raum war es ausgesprochen heiß.
»Ihr seid schwach, Genossen!« rief er. »Deshalb verdient ihr einen kürzeren Arbeitstag! Wie viele Stunden am Tag arbeitet ihr jetzt?«
»Soviel ich mag.«
»Das ist zuviel! Der Schuster beutet euer Pflichtgefühl als Arbeiter aus! Er weiß sehr gut, daß euer Gewissen euch zwingen wird, so lange zu arbeiten, solange ihr noch einen Finger rühren könnt. Und was ist das Resultat? Ihr beginnt zu husten, und ihr ertrinkt im Abgrund von Armut und Hunger. Nein, Genossen! Ihr müßt Zemach Gurewitsch informieren, schwarz auf weiß, daß ihr unter keinen Umständen so viel arbeiten werdet, wie ihr mögt. Von nun an, Genossen, werdet ihr eine Stunde weniger arbeiten! Und wenn das der Schuster ablehnt, werdet ihr unverzüglich einen Streik ausrufen!«
»Ja, unverzüglich ... einen Streik ... Herr Ingenieur.«
Allmählich wurde Dulnikker böse, weil er im Unterbewußtsein witterte, daß der Arbeiter die Grundtatsachen des Problems noch immer nicht begriffen hatte.
»Streiken bedeutet, mit der Arbeit aufhören«, erklärte er schreiend. »Und wollen Sie bitte diese Nägel aus dem Mund nehmen! Sie könnten sie ja schlucken!«
»Nur wenn ich bei der Arbeit gestört werde, Herr Ingenieur.«
»Keine Angst, Genossen! Wenn Gurewitsch vom Feld heimkehrt, steht ihr auf, mutig und gerade, und sagt ihm auf meine Verantwortung: >Zemach Gurewitsch, von nun an werde ich um eine Stunde weniger arbeiten!« Der Schuster wird das ablehnen, und ihr werdet ihn von einer Arbeitsniederlegung informieren.«
»Oh, Gott!«
»Keine Angst, Genossen! Zemach Gurewitsch braucht euch, Zemach Gurewitsch wird euch nie mit leeren Händen wegschicken! Er wird euch eine halbe Stunde anbieten; ihr werdet dreiviertel verlangen, und ihr werdet höchstens zehn
Minuten nachgeben! Im Fall einer völligen Ablehnung - streikt ihr! Ihr müßt euch organisieren, Genossen. Ihr müßt einen bescheidenen Streikfonds beiseite legen. Nur so werdet ihr imstande sein, euch in eurem Kampf gegen die Industrieunternehmer sicher zu fühlen. Verstanden?«
»Ich verstehe, ich verstehe«, sagte der Alte, mit dem Rücken an die Wand gepreßt, und nickte. »Jetzt gehen Sie ganz ruhig nach Hause, Herr Ingenieur, und ich kümmere mich um alles hier. Es wird schon alles gut werden.«
»Nein, Genossen«, erklärte Dulnikker und setzte sich auf den zweiten Schemel. »Ich beabsichtige zu warten, bis der Schuster heimkommt. Jetzt kann ich Ihnen ja ruhig sagen, daß ich beabsichtige, Sie, mein Freund, in den Dorfrat aufzunehmen! Das ist der Prüfstein, Genossen!«
Der Alte zuckte die Achseln und arbeitete mit einem bekümmerten Ausdruck weiter. Gelegentlich warf er dem starr dasitzenden Dulnikker einen ängstlichen Blick zu, aber es fiel kein Wort. Nach einer Weile hörten sie den schweren Schritt des Schuhflickers. Er trat ein, begrüßte Dulnikker und band seinen Schurz um.
»Jetzt!« flüsterte Dulnikker dem zögernden Arbeiter zu. »Ich stehe hinter euch!«
»Höre, Zemach«, sprach der Alte den Schuhflicker demütig an und gestikulierte entschuldigend, »der Herr Ingenieur will, daß ich heute eine Stunde weniger arbeite.«
»Fein«, sagte der Schuster, »es ist heute ohnehin nicht viel zu tun.«
Die Adern an Dulnikkers Schläfen begannen wieder zu schwellen.
»Nein!« schrie er heiser. »Nein! Nicht nur heute! Von heute an!«
Der Schuhflicker sah ihn erstaunt an.
»Schön«, sagte er und setzte sich mit einer fragenden Grimasse auf den leeren Schemel.
»Schneiden Sie keine Grimassen, mein Freund! Dieser alte Mann ist voll berechtigt, eine Stunde weniger zu arbeiten!«
»In Ordnung!«
»Täglich!«
»Herr Ingenieur« - Zemach Gurewitsch war außer sich -, »natürlich kann mein Vater arbeiten, wann es ihm paßt! Sie brauchen mich nicht die ganze Zeit daran zu erinnern, daß die Werkstatt ihm gehört!«
Das Stelldichein in der Hütte hatte einige Tage nicht stattgefunden, weil sich Dulnikker verkühlt hatte. Der Staatsmann nieste sehr oft, und dank seiner tropfenden Nase klang seine Stimme wie die eines Wildenterichs. Aber betrachtete man es genau, so rettete ihn seine Verkühlung vor einem schlimmeren Schicksal. Wäre sie nicht gewesen, hätte ihn Elifas Hermanowitsch am frühen Mittwoch morgen nicht in seinem Bett angetroffen.
»Wer ist da?« Der Staatsmann wachte bei der Berührung der Hand des Wirts auf. »Wer stört mich?«
»Ich«, kam Elifas’ Stimme aus der pechschwarzen Finsternis. »Stehen Sie bitte auf, Herr Ingenieur, es ist alles so vorbereitet, wie Sie es haben wollen. Der Dorfrat wartet auf Sie.«
Der Staatsmann fuhr zusammen. »Was? Aber ich habe sie für drei-dreißig eingeladen.«
»Stimmt«, erwiderte der Wirt. »Es ist jetzt drei-dreißig.«
Dem Staatsmann wirbelte es im Kopf. »Guter Gott«, murmelte er, »habt ihr geglaubt, der Dorfrat würde sich nachts um halb vier versammeln?«
»Es ist nicht nachts. Es ist halb vier morgens«, korrigierte ihn Elifas. »Es tut mir sehr leid, Herr Ingenieur, aber in dem
Geheimbrief stand nicht, daß Sie es für Nachmittag gemeint haben.«
»Jedenfalls«, knurrte Dulnikker, als er sich die Decke wieder über den Kopf zog, »unterrichten Sie bitte die Räte von ihrem peinlichen Irrtum.«
»Unmöglich, Herr Ingenieur, das ganze Dorf ist unten ...«
Diese originelle Wendung der Ereignisse konnte nur Dulnikker selbst überraschen. Die Einladungen, die der Krankenwärter persönlich an die Gewählten verteilt hatte, wurden trotz der düsteren Geheimhaltungspflicht innerhalb von Stunden Allgemeingut der Öffentlichkeit.
Alles in allem billigten die Dorfbewohner die Initiative, die von der >Direktion, Abtlg. Ingenieurwesen< an den Tag gelegt wurde, und sie billigten einhellig die glänzende Idee, die strittigen Fragen zwischen dem Barbier und dem Schuhflicker durch einen Kampf von Mann zu Mann zu bereinigen, besonders da in den Dörfern ihrer Ahnen in Rosinesco der Dorfvorsteher ebenfalls von Zeit zu Zeit gezwungen gewesen war, seinen Gegnern seine körperliche Tüchtigkeit vor Augen zu führen. Die Dorfbewohner waren vom Ingenieur selbst angenehm überrascht, weil sie nie geahnt hätten, daß sich ein so verweichlichter Stadtfrack so leicht an das bäuerliche Naturgesetz anpassen konnte. Sie billigten auch seine Wahl einer frühen Morgenstunde, wodurch die Teilnehmer instand gesetzt waren, ungestört an ihr Tagewerk zu gehen.
Das Geheime an der Sache hielt die Dörfler natürlich nicht davon ab, schon um Mitternacht dem Wirtshaus zuzustreben. Einige Leute bezogen schon früher am Abend Stellung in der Nähe der Fenster, um garantiert eine gute Sicht zu haben. Andere hatten Stühle und Schemel mitgebracht, während die Kinder auf den Schultern ihrer Väter saßen und Majdud und Hajdud beneideten, die das Glück hatten, alles durch das Schlüsselloch der Küchentür mitansehen zu können. Der
Ausgang des bevorstehenden Zweikampfes war umstritten. Einige behaupteten, der Schuster sei größer und schwerer, während andere meinten, seine Lahmheit sei ein Nachteil, und die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn auf die Festigkeit der Gemeindekörperschaft des Barbiers lenkten.
Der Speisesaal des Wirtshauses, von einem Dutzend Kerosinlampen erleuchtet, war selbst durch die Fenster ein prachtvoller Anblick. Elifas Hermanowitsch und seine Frau hatten sich lobenswert bemüht, den Raum auf Glanz zu bringen. Auf die Bitte des Ingenieurs hin hatten sie an einem Ende des Saals einige umgestülpte Holzkisten und auf dieses provisorische Podium den Präsidialtisch gestellt. Außerdem verteilten sie auf dem Tisch Gläser, Obstsaft, Kuchen, Zettel, Bleistifte und sogar einen mittelgroßen Hammer - mit Empfehlungen vom Schuhflicker. Ein breiter, von Nelken umrahmter Streifen Packpapier hing über dem Podium. Darauf stand in riesigen roten Buchstaben eine Schlagzeile, die der Herr Ingenieur verfaßt hatte: »Eine gesunde
Stadtverwaltung - Grundlage Einer gesunden Regierung. Zvi Grinstein.« Das Spruchband setzte lebhafte Argumente der Menschenmenge in Gang, weil es nicht ganz klar war, warum dieser Zvi Grinstein die Grundlage der Regierung sein sollte, wenn man bedachte, daß keiner dieses Namens im Dorf lebte.
Die streitenden Parteien kamen nacheinander zum Wirtshaus und wurden von der Menge begeistert empfangen. Zuerst kam der hinkende Schuhflicker, der einen schwarzen Festanzug trug. Er zerrte eine in einen Mantel gewickelte Gestalt mit geschlossenen Augen hinter sich her, die sofort an dem nächstgelegenen Tisch niedersank und einschlief. Nach der von einem Ohr baumelnden Brille und der gelben Aktentasche in der einen verkrampften Hand zu schließen, so rechnete sich die Menge aus, muß das der Krankenwärter des Ingenieurs sein. Nach ihm traf der Schächter ein, den Kopf mit einem ungewöhnlich großen und dekorativen Käppchen bedeckt. Er wurde mit besonderen Hochrufen von den Schulkindern begrüßt, die sich freuten, ihren Lehrer zu sehen. Der dritte Mann war zur Überraschung der Menge ein kleines Individuum plumpen Schrittes, namens Ofer Kisch, der Dorfvagabund, den Dulnikker nach dem vergeblichen Versuch, den Vater des Schuhflickers zu organisieren, >in tiefstem Elend< entdeckt hatte. Ofer Kisch war Schneider von Beruf, da jedoch seit Jahren niemand Schneiderarbeit bestellt hatte, war der arme landlose Kerl gezwungen gewesen, sich sein Leben als Amateurspaßmacher bei Hochzeiten und als Totengräber zu verdienen. Angesichts letzterer Funktion verursachte sein Erscheinen im Wirtshaus, was den Ausgang des Kampfes betraf, eine ziemliche Bewegung im Publikum. Als letzter kam der Barbier in Begleitung seiner Frau, die - da die Einladung an Einzelpersonen gerichtet waren - offiziell zur Privatkrankenschwester ernannt worden war. Beide betraten das Wirtshaus hastig und gespannt.
Alle Räte saßen um den Saal herum, hatten keine blasse Ahnung, was vor sich ging, und kraulten die Katzen, die zwischen ihren Beinen herumwanderten. Es war ihnen allen schwergefallen, ihre Schläfrigkeit zu bekämpfen, daher waren sie erleichtert, als Elifas auftauchte und den Ingenieur mitschleppte. Dulnikker taumelte die Treppe hinunter, ebensosehr von seiner Verkühlung wie von seinem Schlafmangel bedrückt. Der Staatsmann war schrecklich müde, bezog aber Trost vom Anblick seines Krankenwärters: Verglichen mit dem Aussehen des halbtoten jungen Mannes sah Dulnikker geradezu energiegeladen aus. Der Staatsmann befriedigte seinen Wunsch nach Rache, weil sich sein Verhältnis zu Zev dank eines kurzen Gesprächs besonders abgekühlt hatte. Dulnikker hatte seine rechte Hand gefragt, ob er von Anfang an gewußt habe, daß der Alte, der im Hintergrund der Schuhflickerwerkstatt dahinmoderte, sowohl der Vater des Schuhflickers als auch der Besitzer der >Firma< persönlich war?
»Natürlich hab’ ich’s gewußt«, erwiderte Zev. »Ich wohne beim Schuhflicker.«
»Warum hast du mir das denn nicht erzählt, wenn ich fragen darf?«
»Sie haben mich nie gefragt, Dulnikker.«
Jetzt näherte sich Dulnikker seinem schlummernden Sekretär und rüttelte ihn kräftig. Es bedurfte noch einiger ordentlicher Rüttler, um wenigstens eins seiner Augen aufzubekommen.
»Laßt mich schlafen«, stöhnte Zev. »Bitte sagen Sie ihnen, sie sollen nachmittags wiederkommen.«
»Unmöglich, mein Freund Zev.« Dulnikker rieb sich sehr vergnügt die Nase. »Ich habe sie für jetzt eingeladen!«
»Für jetzt?« Der Sekretär wurde noch ein bißchen munterer. »Haben Sie wirklich drei Uhr dreißig nachts gemeint?«
»Nicht nachts, morgens, mein fauler, schläfriger Freund!« höhnte Dulnikker. »Ich schlage vor, ihr wacht auf, Genossen, damit ihr ordnungsgemäß das Protokoll führen könnt.«
»Hol’s der Teufel!« fluchte Zev. »Wozu brauchen wir diesen ganzen Mist?«
»Muß ich dir Rechenschaft über mein Tun ablegen?« entgegnete der Staatsmann kühl. »Wenn du gegen konstruktives Handeln bist, werde ich dich von der aktiven Teilnahme an der Debatte befreien. Alles, was du zu tun hast, ist, das Protokoll zu führen, nichts weiter! Hallo, Genossen, was geht hier vor?«
Dieser fast hysterische Schrei bezog sich auf Salman Hassidoff und Zemach Gurewitsch, die auf dem Fußboden herumrollten und abgerissene Schlachtrufe blökten.
Es war eine ganz natürliche Entwicklung. Als der Schuhflicker merkte, daß der Ingenieur mit seinem Krankenwärter kostbare Zeit mit internen Diskussionen vertat, stand er auf und nahm die Sache selbst in die Hand. Er zog sein schwarzes Jackett aus, hinkte zum Tisch des Barbiers hinüber und fragte:
»Bereit, Salman?«
Hassidoff zog sich wortlos aus, und im nächsten Augenblick waren sie in der Arena und in einen mächtigen Kommunalkampf verwickelt. Der Barbier war wendiger und packte Gurewitsch an der Gurgel, diesem jedoch gelang es, Hassidoff mit einem Tritt seines lahmen Beins in dessen Magen abzuschütteln. Die Dörfler draußen standen auf den Fußspitzen und drückten sich die Nasen an den Fensterscheiben platt; die leichter Erregbaren unter ihnen begleiteten jede Wendung der Entscheidungsschlacht mit begeisterten Zurufen. Einen Augenblick schien es, daß der Schuhflicker die Oberhand hatte, weil er den Kopf des Barbiers in einem Würgegriff hielt, aber in letzter Sekunde gelang es Hassidoff, ein Tischbein zu packen, und der Tisch schleifte überallhin mit, wohin Gurewitsch den Barbier zerrte.
Amitz Dulnikker sah all dem vom Podium aus zu. Sein Gesicht war krebsrot, die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf, und seiner Kehle entrang sich ständig wildes Grunzen und sinnloses Knurren. Als der Staatsmann merkte, daß mit seinen Stimmbändern etwas nicht stimmte, hob er den Hammer und begann wild auf den Tisch einzuschlagen, aber seine Bemühungen fruchteten nichts gegen den Lärm der Menge draußen. Die einzige Anwesende, die ihren Gefühlen freien Lauf ließ, war das Heldenweib, das ständig kreischte:
»Gib’s ihm, Salman! Gib’s ihm!«
Salman hatte die Unterstützung seines Weibes grausam nötig, denn er lag auf dem Bauch, der Schuhflicker kniete auf seinem
Rücken und trommelte ihm mit den Fäusten auf den Kopf. In diesem Stadium der Schlacht mischte sich eine neue Stimme in den allgemeinen Lärm: Der Sekretär brach in ein heulendes Hyänenlachen aus und wand sich auf seinem Stuhl. Mittlerweile war es dem Barbier gelungen, der Kommunalkörperschaft des Schuhflickers zu entrinnen und wie ein wütender Stier mit Kopfstößen zum Angriff überzugehen. Eifrig sprang der Schneider auf und begann die Tische beiseite zu rücken. Jetzt endlich fand Dulnikker die Sprache wieder.
»Idiot, was machst du da?« fragte er Ofer Kisch.
»Platz«, erwiderte Ofer Kisch. In diesem Augenblick gaben die dünnen Beine des Präsidialtisches unter Dulnikkers Hammerschlägen nach und brachen zusammen. Der plötzliche Krach ließ die Kämpfer einen Augenblick ihren Griff lockern. Dulnikker machte sich die kurze Flaute zunutze, sprang über die Ruinen seines Tisches und stürmte in die Arena.
»Huligane!« brüllte er und warf sich mit ausgebreiteten Armen zwischen die Kämpfer. Beide waren jedoch schon längst jenseits aller Beherrschung ihrer Reaktionen und setzten den Kampf fort, ohne auf den Staatsmann zwischen ihnen zu achten. Dulnikker zappelte wie ein Fisch im Netz. Zum Glück gelang es ihm, mitten in einem dreifachen Salto einer der streunenden Katzen auf den Schwanz zu treten, und das ohrenzerreißende Gekreisch des Tieres brachte die Kämpfer augenblicklich zur Vernunft.
Dulnikker saß mit einer dicken Staubschicht bedeckt und zerrauft auf dem Boden. »Schluß!« kreischte eine fremde Stimme aus seiner Lunge. »Schluß, ihr Mörder! Ihr verrückten, bösartigen Viecher, jeder einzelne von euch! Schluß, ihr Metzger! Schluß, sage ich! Zev!« schrie Dulnikker plötzlich seinen Ersten Sekretär an, der noch immer gelassen auf dem
Podium saß. »Warum rührst du keinen Finger, du Taugenichts, wenn du siehst, daß man mich vor deinen Augen ermordet?«
»Herr Ingenieur, Sie haben mich angewiesen, mich nicht in die Debatte zu mischen«, erwiderte der Sekretär. »Meine Aufgabe ist es, mechanisch Protokoll zu führen, nichts weiter.«
Amitz Dulnikker stampfte auf und brach buchstäblich in Tränen der Enttäuschung aus. Malka umarmte seinen zitternden Körper und führte ihn auf die Rednertribüne. Das Schluchzen des kranken Staatsmannes wirkte auf die Menge genauso wie die Tränen eines Lehrers auf ungebärdige Schüler.
»Was haben wir denn falsch gemacht?« flüsterte Zemach Gurewitsch den übrigen Repräsentanten zu, während er sich seine blauen Flecken rieb. »War denn nicht er es, der uns geschrieben hat, daß die Oberste Kommunalkörperschaft die Bürgermeisterei entscheiden würde? Weshalb weint er also?«
Die Räte glätteten ihre Kleider und kehrten höchst verblüfft auf ihre Sitze zurück. Diese plötzliche Stille löste ein böses Geschrei der Menge draußen aus. Die Bürgerschaft reagierte auf die unerwartete Unterbrechung höchst unmutig mit mißbilligendem Pochen an die Fensterscheiben.
Dulnikker stand auf und stürzte, eine Hand auf seine verletzte Seite gedrückt, wütend zur Tür. Er schob den Riegel zurück und stellte sich dem tobenden Mob.
Er ergoß seine ganze Wut auf sie:
»Ruhe! Sonst schmeiß’ ich euch alle miteinander aus diesem Dorf hinaus!«
Sein vulkanartiger Wutausbruch brachte sie zum Schweigen. Eine einsame Stimme wagte es, ihn respektvoll über das Meer von Köpfen hinweg auf die Tatsache hinzuweisen:
»Entschuldigen Sie, Herr Ingenieur, aber bis jetzt ist noch keiner besiegt worden!« »Ihr Erbauer von Babel!« zischte der Staatsmann zwischen zusammengebissenen Zähnen und kehrte dem blutdürstigen Gesindel den Rücken. Er versperrte die Tür hinter sich, schneuzte sich mit einem empörten Trompetenstoß und kehrte auf seinen Platz am Präsidialtisch zurück.
»Meine Herren«, rief er dem Rat kummervoll zu, »was um Himmels willen hat sich hier getan?«
Fast die ganze nächste Stunde lang erhielten Dulnikker und Sekretär eine aufschlußreiche Belehrung über >Begriffe und Bedingungen in Kimmelquell und ihre Bedeutung für die Funktionen des Dorfrates als einer kommunalen Körperschaft«. Mit wachsender Bestürzung hörte sich Dulnikker die lokalen Ansichten an und versetzte das Dorf im Geist vom Mittelalter in die Steinzeit zurück.
»Genossen!« sprach er den Rat mit schwacher Stimme an, »zivilisierte Menschen entscheiden Führungsfragen nicht durch Faustkämpfe, sondern durch demokratische Wahlen.«
»Demokratische Wahlen?« wiederholten die Räte unter viel schnellem Blinzeln. »Wozu?«
»Weil die Dorfbewohner - sie und nur sie - entscheiden dürfen, wer sie regieren darf, Genossen.«
»Herr Ingenieur«, platzte der Schuhflicker flehentlich heraus, »ist unser System nicht einfacher?«
Dulnikker war am Ende seiner Geduld angelangt und warnte Gurewitsch unter energischen Hammerschlägen, daß er keinerlei provokante Zurufe dulden würde.
»Meine Herren!« wandte er sich scharf an seinen Sekretär. »Warum nehmen Sie kein Protokoll auf?«
»Entschuldigen Sie, Dulnikker, aber das habe ich doch!« protestierte der andere höflich und las dem Dorfrat unverzüglich vor, was er auf ein Stück Papier gekritzelt hatte: »Nach Ankunft des Vorsitzenden fand ein Kommunalkampf de facto zwischen zwei provisorischen Ratsmitgliedern statt, den
Herren Zemach Gurewitsch und Salman Hassidoff. Verletzt wurde ein Anwesender: der Herr Ingenieur.«
Nach Verlesung des Protokolls verbeugte sich der Sekretär und setzte sich feierlich nieder. Dulnikker beherrschte sich bewundernswert und dankte dem jungen Taugenichts für seinen Fleiß. Dann erhob sich der Staatsmann, legte seine Uhr vor sich auf den Tisch, zog eine Rolle Papier aus der Tasche und ergriff das Wort. »Ehrenwerter neuer Dorfrat«, eröffnete Dulnikker die Inaugurationsrede, die er vor zwei Tagen vorbereitet hatte. Er sprach ruhig, aber mit weitausholenden Gesten und keinerlei Zeichen von Müdigkeit oder Niedergeschlagenheit. »Ich muß mich streng beschränken, weil es schon spät wird, aber bevor ich meine Rede auf ein bloßes Mindestmaß zusammendränge, fühle ich mich verpflichtet, ein Wort zur Begrüßung an die höchste Vertretung der Dorfinteressen zu richten - an den ersten Dorfrat der Geschichte von Kimmelquell seit der Zerstörung des Zweiten Tempels!«
Hier hielt der Staatsmann inne, um dem Publikum zu erlauben, in lauten Beifall auszubrechen, aber nur Malka applaudierte - einmal.
»Erlauchter Dorfrat! Meine Damen und Herren! Alteingesessene und Neueinwanderer!« fuhr Dulnikker fort. »Wir haben uns heute abend hier versammelt, nicht um neue Siedlungen zu gründen; wir haben uns nicht versammelt, um große Industrieunternehmen zu errichten; wir haben uns nicht versammelt, um Ölquellen in den Einöden der Wüste anzubohren; wir haben uns nicht versammelt, um edle, schnelle Pferde zu züchten; wir haben uns nicht ...«
Um ungefähr 11.30 Uhr, als der Schatten des Zeigers der Sonnenuhr fast verschwunden war, wurde Amitz Dulnikker durch einen unerwarteten Herzanfall gefällt und war gezwungen, mitten in seiner Inaugurationsansprache eine Pause einzulegen. Zu der Zeit schliefen schon sämtliche Zuhörer, vielleicht mit Ausnahme Malkas, die etwas Erfahrung im Zuhören erworben hatte. Der eine schlief, den Kopf auf den Arm gelegt, ein anderer offenen Mundes zurückgelehnt. Der Barbier schlief mit offenen, glasigen Augen, die den Sprecher leblos anstarrten. Zev hatte sich die Ohren mit den Fingern verstopft und schlief, das Kinn auf den Rand des Präsidialtisches gestützt, mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Vor den Fenstern stand schon seit Stunden niemand mehr; die Dörfler hatten jedoch eine Kinderwache organisiert, die der Reihe nach häufig durch die Fenster in die Kammer blickten. Dann rannten die Kleinen immer wieder heim und sagten ihren Eltern beeindruckt:
»Redet noch immer!«
Ehrlich gesagt, hatte Dulnikker während der Inaugurationsansprache selbst das Gefühl, daß er zu weit gegangen war und das Publikum schon lange aufgehört hatte zuzuhören. Aber er wußte einfach nicht, wie er den Redefluß aufhalten sollte, der aus seinem Munde strömte; es war ein von ihm unabhängiger Sturzbach, den er nicht unter Kontrolle zu bringen vermochte. Um ungefähr 10 Uhr spürte er einige einzelne Nadelstiche um sein Herz, und die Warnung Professor Tannenbaums schoß ihm durch den Kopf. Aber seine Zunge weigerte sich, seinem Willen zu gehorchen, und der alternde Staatsmann wurde wie Strandgut von der Strömung seiner eigenen Worte mitgerissen.
Als Dulnikker quer über dem Tisch zusammenbrach, verzog sich sein Gesicht, und seine Stimme versickerte. Die plötzliche Stille weckte alle. Malka stürzte sofort an die Seite ihres Galans und flößte ihm etwas lauwarmen Tee ein. Der verwirrte Sekretär sah auf die Uhr, und als er sah, wie spät es war, trat plötzlich ein erschrockener Blick in seine Augen. Er erholte sich jedoch schnell und tätschelte unter protestierenden Seufzern dem hartnäckigen Staatsmann den Rücken. Dulnikker riß sich jedoch schnell zusammen, obwohl seine rote Gesichtsfarbe krankhaft blaß wurde und seine Hand weiter in die Brust verkrampft blieb.
»Also gehen wir heim«, schlug der Schächter vor. Die Dorfräte erhoben sich, der Staatsmann hielt sie jedoch mit einer schwachen Geste zurück:
»Zev«, flüsterte er seinem Sekretär zu, »lies die Resolution vor, mein Freund.«
Zev verdrehte die Augen in stummem Tadel himmelwärts und begann in schwindelerregendem Tempo die grundlegenden Punkte vorzulesen, die er schon früher nach dem Entwurf des Staatsmannes vorbereitet hatte:
»Der Provisorische Dorfrat beschloß in seiner heutigen ersten Sitzung einstimmig:
a) Der Bürgermeister ist die höchste Verwaltungsspitze des Dorfrates.
b) Der Bürgermeister wird von den Dorfbewohnern für eine Zeitspanne von sechs Monaten gewählt.
c) Die ersten verfassungsmäßigen Wahlen werden in zwei Monaten, vom heutigen Tage an gerechnet, abgehalten. Bis dahin bleibt der Status quo de facto und de jure in Kraft.
d) Die Wahl wird geheim und demokratisch erfolgen.«
Die Dorfräte scharrten ungeduldig mit den Füßen herum, die Augen halb geschlossen. Noch nie hatte sie die Arbeit eines ganzen Tages auf den Feldern derart schrecklich ermüdet.
»Irgendwelche Fragen?« sagte Dulnikker schwach, aber der Schächter wollte nur wissen, ob sie schon heimgehen könnten. Der Staatsmann bat sie, das Dokument zu unterzeichnen, und sie kritzelten ihre Namen unter die Resolution, einschließlich des Schuhflickers, der einen Davidstern statt einer Unterschrift zeichnete. Dann liefen sie alle heim und fielen wie die Mehlsäcke auf ihre Betten. Mehlsäcke, die das Pech gehabt hatten, zu kommunaler Größe erhoben zu werden.