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Später an diesem Abend kam Daphne in mein Zimmer, eine Pizza in der einen Hand und ein Sixpack Cola in der anderen. Wir hatten eine Lernstunde mit anschließendem Lästerfest geplant. Ich war natürlich für den Nachtisch verantwortlich, und Grandma Frost hatte mich, als ich sie gestern besucht hatte, mit Schokolade, Erdnussbutter und Kürbiskuchen beladen.

Daphne und ich stellten das Essen auf dem Boden ab und setzten uns vor den Fernseher, wo wir auf Daphnes Wunsch hin den Project Runway-Marathon einschalteten. Während die Walküre die präsentierte Mode auf dem flackernden Bildschirm betrachtete, öffnete ich die Pizzaschachtel und erstarrte.

»Was ist das?«, fragte ich.

Das Ding in der Schachtel sah für mich nicht nach einer Pizza aus. Oh, es gab einen Rand und irgendwo unter dem anderen Zeug auch ein wenig Mozzarella, aber die gesamte Oberfläche der Pizza war mit irgendwelchem exotischen Fleisch, einer verdächtig würzig riechenden Sauce und gekochtem Gemüse bedeckt. Ich kniff die Augen zusammen. War das verwelkter Spinat? Igitt.

»Ich habe sie im Speisesaal geholt«, sagte Daphne, streckte die Hand aus und nahm sich ein dampfendes Stück. »Es ist eine Florentinische Pizza mit gegrilltem Lamm. Der letzte Schrei auf der Karte.«

»Was ist denn falsch an dem guten alten Käse mit Peperoni? Oder Schinken und Ananas?«

Daphne verdrehte die Augen. »Peperoni? Das ist so langweilig und dermaßen out.« Ihr Blick glitt über meine Kleidung. »Genau wie die Kapuzenpullis, die du ständig trägst. Wir müssen wirklich dringend mal shoppen gehen, Gwen. Du brauchst auf jeden Fall frischen Wind in deiner Garderobe.«

Ich war zwar noch nicht lange mit der Walküre befreundet, aber langsam konnte ich ihre Stimmungen einschätzen – und ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr über meine Kapuzenpullis zu diskutieren. Also seufzte ich nur, nahm mir ein Stück Pizza und biss hinein. Okay, sie schmeckte sogar irgendwie gut, trotz Spinat und allem, aber das würde ich Daphne nicht verraten. Zumindest jetzt noch nicht.

»Also«, sagte Daphne, öffnete mit einem langen Fingernagel eine Dose und sorgte so dafür, dass rosafarbene Funken die Luft erfüllten. »Ich hatte im Speisesaal, als ich die Pizza holen wollte, eine Begegnung mit Morgan.«

»Wie ist das passiert?«

Daphne hatte eigentlich nicht mehr viel mit Morgan und den anderen Walküren zu tun, seit sie mit Carson auf den Ball gegangen war. Wir allerdings hingen viel miteinander ab, und langsam wurden wir echte Freunde. Ich mochte eine Menge Dinge an Daphne. Sie war cool und witzig und in Bezug auf Computer ein vollkommener Freak. Sie war überhaupt nicht die verwöhnte, selbstsüchtige Walkürenprinzessin, für die ich sie an diesem ersten Tag im Mädchenklo gehalten hatte.

Daphne zuckte mit den Schultern. »Es lief ungefähr so, wie ich es erwartet hatte. Morgan hat versucht, mich dazu zu bringen, dass ich mich zu ihr und den anderen setze. Sie wollten alles über meine tolle Verabredung mit Carson erfahren. Aber ich weiß genau, sollte ich Morgan irgendwas erzählen, würde sie sich hinter meinem Rücken über mich lustig machen, wie Jasmine es auch getan hat.«

»Tut mir leid.«

Daphne zuckte wieder mit den Schultern. »Muss es nicht. Ich habe Morgan genau gesagt, was ich von ihr halte und was für ein dämliches Flittchen sie ist, weil sie hinter Jasmines Rücken mit Samson geschlafen hat. Und dann habe ich den anderen Mädchen all die E-Mails gegeben, die ich von Jasmines Laptop geholt habe. Die, in denen Morgan und Jasmine ihre Lästereien über alle anderen ausgetauscht haben.«

Ich wäre fast an meiner Pizza erstickt. »Das hast du nicht!«

Daphne warf mir ein verschlagenes Grinsen zu. »Habe ich wohl. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen. Sie waren so sauer, dass sie mitten im Speisesaal angefangen haben, Morgan anzuschreien. Als ich gegangen bin, waren sie immer noch damit beschäftigt.«

Das war nicht die blutige, grausame Rache, die Jasmine sich gewünscht hatte, aber wahrscheinlich war es zumindest etwas. Vielleicht würden die anderen Mädchen jetzt erkennen, wie Morgan wirklich war, und konnten sich von ihr fernhalten.

»Was ist mit dir?«, fragte Daphne. »Hast du dich mit Metis getroffen? Was hat sie gesagt?«

Ich war noch nicht bereit, Daphne zu erzählen, dass die Göttin Nike mich zu ihrem Champion erwählt hatte, also kehrte ich diesen Teil unter den Teppich. Aber ich erzählte Daphne alles andere, inklusive der Tatsache, dass Metis der Meinung war, ich sei in Gefahr, weil Jasmines Familie nur aus Schnittern bestand.

»Ich habe Jasmines Familie kennengelernt«, sagte Daphne. »Metis macht sich zu Recht Sorgen. Ihr Bruder ist besonders unheimlich. Ich fand immer, dass er ein wenig zu überspannt wirkt, egal, wie süß er ist.«

»Das hat Metis mir nicht erzählt«, gab ich zurück. »Aber sie hat meinen Stundenplan umgestellt. Jetzt muss ich jeden Morgen, bevor der Unterricht anfängt, Privatstunden bei einem Kampftutor nehmen. Metis will, dass ich lerne, mein Schwert auch wirklich zu benutzen.«

Ich wedelte mit der Hand in Richtung Vic, der in seiner Scheide an der Wand direkt neben dem Wonder Woman-Poster hing.

»Kampftutor?«, fragte Daphne. »Metis hat dir einen Tutor zugewiesen? Wen?«

»Logan Quinn.«

Daphnes Augen glänzten. »Wirklich? Das ist sehr interessant.«

»So wird es nicht«, sagte ich mit bitterer Stimme. »Logan hat es mir selbst gesagt. Er hat mir so ziemlich die ›Ich mag dich, aber wir können aus irgendwelchen dämlichen Gründen nicht miteinander ausgehen‹-Rede gehalten. Und dann hat er direkt vor meinen Augen seine Zunge in Savannah Warrens Hals gesteckt.«

Daphne verzog mitfühlend das Gesicht.

Ich hatte Daphne nicht erzählt, wie ich in Bezug auf Logan empfand, aber ich war mir ziemlich sicher, dass die Walküre es erraten hatte. Wahrscheinlich war es für sie so offensichtlich, wie ihre Gefühle für Carson es für mich gewesen waren.

»Es tut mir leid, Gwen.«

Ich zuckte nur mit den Schultern.

Wir aßen ein paar Minuten schweigend, bevor Daphne das Gespräch zurück auf ein sichereres Thema lenkte – Carson und für wie wundervoll sie ihn hielt.

»Habe ich dir schon erzählt, dass er mir ein Lied geschrieben hat?«, fragte Daphne mit träumerischer Stimme. »Es geht ungefähr so …«

Trotz meiner anderen Probleme ließ ich mich von Daphnes Geschichte mitreißen, und bald schon lachten und kicherten wir, als wären wir schon Ewigkeiten beste Freundinnen. Wieder einmal verspürte ich dieses Gefühl der Normalität, des Friedens. Mit einer Freundin über einer Pizza reden. Ich konnte mir keine bessere Art vorstellen, den Abend zu verbringen.

Sicher, es lief immer noch eine Menge. Eine Göttin hatte mir ein Schwert gegeben und mich zu ihrem Champion erklärt, und Jasmines Familie und der Rest der bösen, bösen Schnitter wollten mir ziemlich üble Dinge antun. Ich hatte dem Jungen, in den ich verknallt war, gerade mitgeteilt, na ja, dass ich in ihn verknallt war, und er hatte mir erklärt, dass wir nicht zusammenkommen konnten, um dann mit einem anderen Mädchen abzuziehen.

Mein Blick wanderte zu dem Foto meiner Mom, das direkt unter Vic auf dem Schreibtisch stand. Ich hatte vor, auch das Bild von ihr und Metis rahmen zu lassen und dort aufzustellen. Vielleicht war es ja nur meine Einbildung, aber wann immer ich das Bild in letzter Zeit ansah, schien es, als würde meine Mom mich direkt anlächeln. Als könnte sie mich von dort, wo sie jetzt war, irgendwie sehen. Vielleicht konnte sie das. Schließlich war die Mythos Academy ein Ort der Magie – hier wurden Legenden real, und alles war möglich.

Ich hatte auch noch etwas anderes verstanden. Die Leute, die einen lieben, sterben nie wirklich – nicht, solange man die Erinnerung an sie lebendig hält und sie im Herzen trägt. Und meine Mom würde immer einen Platz in meinem Herzen haben.

Daphne schnippte vor meinen Augen mit den Fingern. »Erde an Gwen!«

»Was? Was hast du gesagt?«

Sie deutete auf die Pizzaschachtel zwischen uns, in der nur noch ein Stück lag. »Ich habe dich gefragt, ob du das letzte Stück Pizza haben willst.«

Ich sah sie an, dann wanderte mein Blick noch mal zu Vic, dem Bild meiner Mom und dem Rest meines gemütlichen Zimmers. Schließlich blieb er an der Statue von Nike hängen, die ich im Buchladen der Schule gekauft hatte. Die geflügelte Göttin des Sieges stand auf meinem Schreibtisch direkt neben dem Bild meiner Mom.

Während ich die Statue ansah, öffneten sich plötzlich Nikes Augen, genau wie es bei Vic an diesem ersten Abend in der Bibliothek geschehen war. Sie hatten dieselbe Farbe wie Vics Auge, dieselbe Farbe wie meine Augen. Eine wunderschöne Mischung aus Purpur und Grau, die mich immer an die Dämmerung erinnerte.

Während ich mit hängendem Kiefer hinsah, schloss sich ein Auge langsam, um sich dann wieder zu öffnen. Zwinkerte sie mir zu? Ich blinzelte, und im nächsten Moment waren die Augen der Statue wieder geschlossen, als wäre es nie anders gewesen.

Aber diesmal machte mir dieser Anblick keine Angst. Stattdessen fühlte ich mich, als hätte ich mir irgendwie die Anerkennung der Göttin verdient, als hätte ich irgendeine Art von … Frieden oder etwas in der Richtung gewonnen. Einen Sieg errungen. Zumindest für heute Abend.

»Gwen?«, fragte Daphne wieder. »Geht es dir gut?«

»Ich sag dir was«, meinte ich und sah meine Freundin an. »Warum teilen wir uns das letzte Stück nicht einfach?«

Daphne lächelte. »Finde ich okay.«

»Ich auch.«

Also machten wir es so.