Sobald sich meine Finger um den Griff schlossen, öffnete sich das Auge und bedachte mich wieder einmal mit seinem grau-purpurnen Blick.
»Gypsy«, schien eine alte, mürrische Stimme in meinem Kopf zu flüstern. »Endlich.«
Okay, anscheinend konnte das Schwert auch noch sprechen. Supergruselig, aber inzwischen war ich über die Grenze hinaus, vor der es mir noch etwas ausgemacht hätte. Meine Finger umschlangen den Knauf, und ich riss das Schwert aus Der Vitrine. Das Heft war so geformt, dass meine Hand die untere Hälfte des Männergesichts umschloss – vom Mund abwärts. Die Hakennase hing über meine Hand wie eine Art Parierstab – zumindest glaube ich, dass es so hieß –, und das Auge war darüber klar zu sehen. Das Auge, das mich immer noch anstarrte. Für einen Moment geschah gar nichts.
Dann trafen mich die Gefühle.
Das Schwert war alt – uralt –, wie die Schale der Tränen alt war. So viele Dinge blitzten in meinen Gedanken auf. So viele Bilder. Überwiegend Schlachten. Hunderte, Tausende Schlachten, die alle in einer einzigen Sekunde stattfanden. Große, kleine, leise, laute. Ich roch Rauch und Blut. Hörte schmerzerfüllte und wütende Schreie. Fühlte andere Schwerter, andere Klingen, die in mein Fleisch schnitten, sodass ich gleichzeitig vor Schmerz aufschrie und von Wut überschwemmt wurde.
Ich konnte nichts weiter tun, als einfach nur dort zu stehen, mir die Bilder anzusehen und die Gefühlswellen zu reiten, die über mir zusammenschlagen wollten. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich das Schwert nicht loslassen können. Nach einer Weile kamen die Bilder langsamer, sodass ich sie verstehen konnte. Ich erkannte, dass ich Schlachten im Laufe der Geschichte beobachtete. Verschiedene Orte, verschiedene Zeiten, verschiedene Feinde. Kleidung, Waffen, Rüstung, Leute. Sie veränderten sich und wurden mit jedem Kampf moderner.
Aber eine Sache blieb in jedem Bild gleich – immer schwang eine Frau das Schwert. Wieder und wieder blitzten ihre Gesichter vor meinem inneren Auge auf, fast zu schnell, um den Bildern zu folgen. Aber ich fühlte sie, fühlte all die Dinge, die sie empfunden hatten, während sie das Schwert schwangen. Stolz. Macht. Angst. Wut. Und immer wieder tiefes Pflichtgefühl und Ehre.
Es gab auch Lücken, Zeiten, in denen das Schwert überhaupt nicht zu sehen war und es nur um die Frauen ging. Eine nach der anderen wurde geboren, wuchs auf, bekam selbst Töchter, wurde alt und starb schließlich. Die Bilder sprangen von einer zur anderen, und ich hatte das Gefühl, dass dies eine lange, ungebrochene Kette von Frauen war, die sich durch die Geschichte zog bis zurück in die Zeit, als die Götter selbst auf Erden wandelten.
Unter den Gesichtern sah ich ein vertrautes – Grandma Frost. Ihre Züge flackerten für einen Moment vor meinem inneren Auge auf, bevor sie von einem anderen Gesicht ersetzt wurden – dem meiner Mom.
»Mom?«, flüsterte ich.
Grace Frost lächelte mich an und öffnete den Mund, als wollte sie mir etwas sagen.
»Mom!« Ich streckte ihr die Hand entgegen, als könnte ich irgendwie in die Vision greifen und sie berühren.
Dann fühlte ich, wie ich fiel, fiel, fiel …
Mit einem Keuchen riss ich die Augen auf und stellte fest, dass ich mitten in der Bibliothek der Altertümer stand, an der Stelle, wo der Schaukasten mit der Schale der Tränen gestanden hatte. Ich hielt immer noch das Schwert in der Hand. Sofort wirbelte ich herum und suchte nach den anderen.
Sie waren nicht da.
Es gab keine Jasmine, die versuchte, mich umzubringen. Auch keine Morgan, die auf dem Tisch lag und ins Nichts starrte. Keinen Logan, der gegen einen Nemeischen Pirscher kämpfte. In der Bibliothek war nur ich – allein.
»Hallo?«, rief ich. »Ist … ist hier irgendwer?«
Meine Stimme hallte durch die Bibliothek, ein verängstigtes, kleines Geräusch, das lange in der Luft zu hängen schien …
»Hallo, Gwendolyn«, raunte eine weiche Stimme.
Ich unterdrückte einen Schrei und drehte mich um. Hinter mir, direkt vor der geschlossenen Flügeltür, stand eine Frau. Auf den ersten Blick war an ihr nichts Besonderes. Durchschnittlich groß, schlank, aber muskulös. Ihr Haar fiel ihr in sanften braunen Locken auf die Schultern und schien in einem metallischen Bronzeton zu leuchten. Sie trug ein Kleidungsstück, das mich an eine Toga erinnerte – lange, fließende Stoffbahnen in einem fliederfarbenen Ton. Ein silberner Gürtel schlang sich um ihre Hüfte, und irgendwelche silbernen Pflanzen lagen wie eine Krone um ihren Kopf. Lorbeeren, dachte ich und fragte mich im nächsten Moment, woher ich das wusste.
Aber je länger ich sie anstarrte, desto klarer wurde mir, dass sie schlichtweg die schönste Frau war, die ich je gesehen hatte. Nicht weil ihre Gesichtszüge so schön gewesen wären, sondern weil sie eine Aura besaß, eine Präsenz ausstrahlte, ein Gefühl von Frieden und Gelassenheit und Ewigkeit. Aus irgendeinem Grund tröstete mich das, selbst jetzt, da ich eigentlich wegen der ganzen Seltsamkeiten in der letzten Stunde laut hätte schreien müssen. In der letzten verdammten Minute.
Die Frau kam näher, und ihre Toga umfloss ihren Körper wie Wasser. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie zwei weiche, gefiederte Flügel auf dem Rücken trug, die ziemlich genauso aussahen, wie ich mir Engelsflügel immer vorgestellt hatte. War ich tot? War das irgendeine Art von Himmelreich?
Die geflügelte Frau blieb vor mir stehen und betrachtete mich aus Augen, die weder grau noch purpurn waren, sondern den sanften Farbton der Dämmerung hatten.
»Wer bist du?«, flüsterte ich.
Sie legte den Kopf schräg und lächelte. »Ich glaube, das weißt du.«
Plötzlich wusste ich es tatsächlich. Das Wissen erfüllte meinen Geist. Ich hatte ihr Bild in meinem Mythengeschichtsbuch gesehen und hatte Professor Metis über sie sprechen hören. Ich hatte sogar hier, in genau dieser Bibliothek, ihre Statue gesehen. Ich blickte zu der Stelle im ersten Stock auf, an der die Statue immer stand, aber sie war verschwunden. Vielleicht, weil ich sie gerade vor mir sah.
»Du bist Nike, die griechische Göttin des Sieges«, sagte ich mit schwacher Stimme.
Sie nickte. »Richtig. Und du bist Gwendolyn Frost, Tochter von Grace Frost, Enkelin von Geraldine Frost und so weiter und so fort.«
»Du kennst meine Mom? Und meine Grandma?«
Ein mysteriöses Lächeln umspielte Nikes Lippen. »Ich kenne alle deine Vorfahren, Gwendolyn. Die Frauen deiner Familie haben mir seit Anbeginn der Zeit gedient.«
Okay, ich fühlte mich, als würde mir jeden Moment der Kopf explodieren. Ich meine, hier stand ich und unterhielt mich mit einer Göttin. Einer echten Göttin. Und nicht einfach irgendeiner Göttin, sondern Nike, der Superfrau, die Loki besiegt und so ziemlich die Welt vor der Zerstörung bewahrt hatte. Und sie wusste von mir und kannte meine gesamte Familie. Ja, mein Hirn würde definitiv in meinem Schädel platzen.
»Ähm … sollte ich mich verbeugen oder irgendwas?«, fragte ich. Ich fühlte mich, als stände ich vollkommen neben mir, als passierte das alles einer anderen Person. »Ich habe in Mythengeschichte nicht besonders gut aufgepasst, also kenne ich die richtige Etikette für das Reden mit Göttinnen nicht. Tut mir leid.«
Nikes Lächeln wurde breiter. »Nein, Gwendolyn, du musst dich nicht vor mir verneigen. Aber wir müssen uns über ein paar Dinge unterhalten.«
»Wie zum Beispiel?«
Sie nickte in Richtung des Schwertes in meiner Hand. »Wie zum Beispiel darüber.«
Ich merkte, dass ich das Schwert noch immer festhielt. Das einzelne purpur-graue Auge betrachtete mich skeptisch.
»Ich bin mir nicht sicher, Göttin«, sagte das Schwert. »Sie sieht nicht allzu vielversprechend aus.«
Ich fühlte, wie sich der kalte, metallene Mund unter meiner Handfläche bewegte. Es kitzelte. Ich kreischte und ließ das Schwert fallen, sodass die Waffe klirrend auf den Boden fiel.
»Oh, zur Hölle«, grummelte das Schwert, das Gesicht auf dem Marmorboden. »Sie kann mich nicht mal festhalten.«
»Das ist Vic«, sagte die Göttin. Sie beugte sich vor und hob die Waffe auf. Sie rieb eine Stelle an der Klinge direkt über dem Heft. »Er wird dir dabei helfen, dich dem zu stellen, was kommt. Den Gefahren, die die Welt erwarten.«
Gefahr? Das klang nicht gerade verlockend. Noch vor einer Minute hatte ich in großer Gefahr geschwebt, wo doch Jasmine versucht hatte, mich umzubringen und so.
Vic strahlte förmlich unter der sanften Berührung der Göttin, als wäre er ein geschätztes Haustier, dem sie all ihre Liebe und Aufmerksamkeit schenkte.
»Du weißt vom Chaos, oder, Gwendolyn?«, fragte Nike sanft. »Von Loki und seinen Schnittern?«
Ich nickte.
»Also, Loki steht dichter davor, in deine Welt zurückzukehren – in die Welt der Sterblichen –, als alle denken. Sein Gefängnis wird schwächer, und seine Gefolgsleute werden jeden Tag stärker. Und an diesem Punkt kommst du ins Spiel, Gwendolyn. Du wirst mir dabei helfen, gegen die Schnitter zu kämpfen und Loki davon abzuhalten, die Welt in einen zweiten Chaoskrieg zu stürzen.«
»Ich?«, quietschte ich.
Nike nickte. »Du, Gwendolyn Frost. Seit Tausenden von Jahren haben mir die Frauen deiner Familie gedient. Sie waren meine Champions, haben mir dabei geholfen, die Ordnung zu bewahren, das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, zwischen Sieg und Niederlage zu halten.«
Ich erinnerte mich daran, was Daphne über die Champions gesagt hatte, dass sie Menschen waren, die die Götter erwählten. Um anderen zu helfen.
Um Helden zu sein.
Ich dachte an die Bilder zurück, die ich gerade gesehen hatte, an all diese Frauen und all diese Kämpfe durch die Jahrhunderte. Ich war Teil davon? Es schien einfach unmöglich. Es schien nicht richtig und noch weniger real. Sicher, Grandma Frost war die stärkste Person, die ich kannte, und meine Mom war vor ihrem Tod genauso gewesen. Aber ich? Eher nicht. Ich schaffte es ja nicht mal, in Mythos Freunde zu finden, und ich war keine große Kriegerin wie die anderen Schüler.
»Warum ich?«, fragte ich. »Ich bin nicht wie die anderen hier. Ich bin ein Niemand.«
Ich verzog das Gesicht, als ich die Worte wiederholte, die Jasmine noch vor Augenblicken in der Bibliothek zu mir gesagt hatte. In der echten Bibliothek. Oder Moment, vielleicht war das jetzt die echte Bibliothek? Ich bekam definitiv Kopfweh.
»Du bist kein Niemand«, erklärte Nike scharf. »Du bist Gwendolyn Frost, und du bist mein Champion.«
Mit weit aufgerissenen Augen sah ich sie an und fragte mich, was ich getan hatte, um sie wütend zu machen. Nach einer Weile wurden die Züge der Göttin wieder weicher.
»Als alle anderen Jasmines Tod ignoriert haben, warst du die Einzige, die sich dafür interessiert hat, Gwendolyn«, sagte sie ernst, als wäre das sehr wichtig.
»Aber ich habe doch nichts getan«, protestierte ich. »Nicht wirklich. Zumindest nichts Wichtiges. Ich habe mich nur so durchgewurschtelt und bin Leuten gefolgt und habe meine Gypsygabe eingesetzt, um Schwingungen aufzufangen. Das war doch nichts, was jemand anderes nicht auch hätte tun können.«
»Das ist wahr«, stimmte Nike zu. »Aber zumindest war es dir wichtig genug, es zu versuchen. Das ist etwas wert. Genau wie damals, als du deiner Mutter erzählt hast, dass dieses Mädchen missbraucht wurde.«
»Das hast du auch gesehen?«, flüsterte ich.
Sie nickte. »Ich sehe viele Dinge, aber am deutlichsten sehe ich die Stärke und Güte in deinem Herzen. Doch ich kann dich zu nichts zwingen, was du nicht tun willst, Gwendolyn. Es ist deine Entscheidung.«
Ich stand da und dachte darüber nach. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich Champion-Material war. Aber wer war ich schon, dass ich mit einer Göttin diskutieren konnte? Besonders mit der Göttin des Sieges? Trotzdem würde ich mich nicht einfach blind auf die Sache einlassen.
»Was passiert, wenn ich Nein sage?«, fragte ich. »Ich meine, jetzt im Moment in der Bibliothek?«
»Du meinst den Spartanerjungen?«, fragte Nike.
»Na, er wird natürlich sterben«, blaffte Vic, das Schwert, und starrte mich mit seinem einzelnen Auge an. »Wenn der Pirscher ihn nicht umbringt, erledigt es sicherlich die Walküre. Was glaubst du denn, was passieren wird?«
Trauer erfüllte mich, und meine Knie zitterten. Logan. Ich wankte zu einem der Bibliothekstische und lehnte mich dagegen.
»Das wäre nicht dein Fehler, Gwendolyn«, sagte Nike. »Der Spartanerjunge hat selbst die Entscheidung getroffen, in die Bibliothek zu kommen. Das war, was ihm geschehen musste.«
Was ihm geschehen musste? Was sollte das bedeuten? Dass alles von Anfang an vom Schicksal bestimmt war oder etwas in der Art? Ich fragte mich, ob die Göttin auch wusste, dass mir dies alles geschehen sollte, hakte aber nicht nach.
Jetzt, da ich wusste, dass Logan sonst sterben würde, war mir die Entscheidung abgenommen worden. Sicher, ich war immer noch total sauer auf ihn wegen … wegen allem eben. Aber er war mir heute Abend nachgelaufen, war mir aus irgendwelchen Gründen in die Bibliothek gefolgt. Ich konnte weder das noch die Gefühle ignorieren, die er in mir auslöste. Ich … konnte es einfach nicht.
»In Ordnung«, erklärte ich. »Ich werde dein Champion sein, Nike.«
Ein Lächeln breitete sich auf dem schönen Gesicht der Göttin aus, und die Flügel auf ihrem Rücken zuckten. »Dann streck die Hände aus, Gwendolyn Frost, und nimm die Geschenke entgegen, die ich dir geben kann.«
Ich tat, worum sie mich gebeten hatte. Nike legte mir Vic, das Schwert, in die Hände. Die Waffe starrte mich mit ihrem einen Auge an.
»Also gut«, sagte Vic in einem etwas zufriedeneren Tonfall. »Können wir jetzt irgendwas töten gehen?«
»Ähm, eigentlich weiß ich gar nicht, wie man tötet.«
»Sie weiß nicht mal, wie man richtig tötet? Was für einem Mädchen hast du mich da übergeben, Göttin?«, protestierte Vic und richtete sein Auge erneut auf Nike.
Nike lachte. »Vic ist ein wenig blutrünstig. Du wirst dich daran gewöhnen.«
Das bezweifelte ich irgendwie.
Nike sah mich noch einen Moment an, dann tat sie etwas sehr Seltsames. Sie lehnte sich vor und küsste mich auf die Wange.
Sofort fühlte ich, wie sich kalte Macht in mir ausbreitete, als hätte sich mein Blut in Eis verwandelt. Ich wappnete mich und wartete darauf, dass etwas in mir aufblitzte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was der Kontakt mit einer Göttin auslösen würde. Aber dann verschwand das eisige Gefühl wieder, und ich empfing auch keine Schwingungen von ihr. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie anders, als hätte sich etwas in mir an eine neue Stelle geschoben. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich atmete aus, und mein Atem bildete vor meinem Mund Dampfwolken, obwohl mir gar nicht mehr kalt war.
Nike streckte die Arme aus und legte ihre Hände über meine. Ich starrte ihr in die Augen – Augen, die weder purpurn noch grau waren, sondern stattdessen die Farbe der Dämmerung hatten. Und wieder fühlte ich, wie die Macht in ihrem Blick mich gefangen nahm. Eine kalte, harte Macht, aber trotzdem nicht unangenehm.
»Jetzt geh«, sagte Nike. »Rette den Spartanerjungen.«
Ich sah zu ihr auf. »Aber wie soll ich das machen? Ich weiß nicht mal, wie man kämpft …«
Die Göttin lächelte mich an und trat zurück. Ihr Körper schimmerte und schmolz wie die Dämmerung, wenn sie der Nacht Platz macht – oder dem kommenden Tag.
»Warte!«, rief ich. »Sag mir, was ich tun soll …«
Aber Nike war bereits verschwunden und hatte ihre Weisheit mitgenommen.
Mit einem Aufkeuchen landete ich wieder in der Realität. Ich stand an genau derselben Stelle wie zuvor, direkt vor der Vitrine, in der das Schwert gelegen hatte – das Schwert, das ich immer noch in Händen hielt.
»Können wir jetzt endlich irgendwas töten?«, wiederholte Vic in leicht quengelndem Tonfall, und mir fiel auf, dass er mit einem wirklich coolen, britischen Akzent sprach. »Es ist so lange her, dass ich Blut gekostet habe. Ich bin ausgehungert.«
Ich wurde bleich, und das nicht nur, weil das Gefühl des Schwertmundes unter meiner Handfläche wirklich total gruselig war. »Du magst tatsächlich den Geschmack von Blut …«
Ein scharfes Pfeifen hinter mir brachte mich dazu, mich zur Seite zu werfen. Ein Schwert traf mit Wucht Die Vitrine, zerschlug sie in zwei Teile und sorgte dafür, dass überall um mich herum Holzsplitter und Scherben herabregneten. Ich kämpfte mich wieder auf die Beine, nur um festzustellen, dass Jasmine sich bereits mit erhobenem Schwert zu mir umdrehte.
Als sie die Waffe in meiner Hand sah, grinste Jasmine abfällig. »Dieser Zahnstocher wird dich nicht retten, Gypsy.«
»Zahnstocher?«, murrte Vic empört. »Hat sie mich gerade einen verdammten Zahnstocher genannt? Töte sie! Töte sie jetzt!«
»Falls du irgendwelche Tipps hast, wie ich das anstellen soll, dann höre ich sie gern«, blaffte ich und hob Vic. »Weil ich bei solchem Zeug im Sportunterricht wirklich total versage.«
»Oh, phantastisch«, murmelte Vic. »Einfach nur phantastisch. Die Göttin hat mich einer dämlichen Pazifistin ausgehändigt …«
Ich hätte ihn ja darauf hingewiesen, dass ich keine Pazifistin war, sondern einfach nur total unkoordiniert, aber Jasmine stürzte sich wieder auf mich, und ihre Klinge war nur noch ein silberner Schatten. Blocken, blocken, blocken. Mehr konnte ich nicht tun, um sie davon abzuhalten, mich mit ihren wütenden Angriffen in Stücke zu hacken. Trotzdem, die Walküre war um einiges stärker als ich, und jeder einzelne Schlag fühlte sich an, als würde ich mit einem Vorschlaghammer bearbeitet. Die reine Wucht der Attacken erschütterte meinen gesamten Körper, und es fiel mir schwer, auf den Beinen zu bleiben.
Verzweifelt versuchte ich mich an all die Dinge zu erinnern, die ich angeblich bei diesen Trainingskämpfen in Sport hätte lernen sollen. Ich bemühte mich, mein Schwert so zu schwingen und meine Füße so zu setzen, wie Trainer Ajax es uns gezeigt hatte.
Aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich schaffte es nicht, Jasmine zu treffen. Ich konnte ihr mit meinem Schwert nicht mal einen Kratzer zufügen. Ich hielt mich schon für ziemlich gut, weil ich es schaffte, mich nicht von ihr töten zu lassen. Ich hatte in Sport genügend Kämpfe beobachtet, um zu wissen, dass Jasmine mir schon sehr, sehr bald ihr Schwert ins Herz rammen würde, wenn ich nicht schnell etwas Drastisches unternahm.
Ich starrte in ihr Gesicht, beobachtete ihre Augen, versuchte herauszufinden, was sie als Nächstes vorhatte, wie sie mich im nächsten Moment angreifen wollte. Ihre einst blauen Augen waren immer noch vollkommen rot, genau wie die des Pirschers. Wenn überhaupt war die Farbe noch kräftiger geworden, seit sie mich angegriffen hatte. Es sah aus, als wären ihre gesamten Augenhöhlen mit Blut gefüllt. Jasmines rosa Lippen waren zu einem Knurren zurückgezogen, aber in ihrem Gesicht erkannte ich eine gewisse Leere, ähnlich der ausdruckslosen Miene, die Morgan zur Schau trug. Es war, als wäre ein Teil von Jasmine überhaupt nicht mehr da, als hätte jemand oder etwas außerhalb ihres Körpers Besitz von ihr ergriffen und triebe sie an, gäbe ihr die Macht, mich zu töten.
Ich hätte darauf gewettet, dass dieses Etwas die Schale der Tränen war.
Jasmine holte wieder aus, und ich wich zurück, bis ich außerhalb ihrer Reichweite war. Sie rutschte auf einem Buch aus, das während unseres Kampfes aus dem Regal gefallen war, und ich nutzte die Chance, um über sie hinwegzuspringen und in die Mitte der Bibliothek zu rennen.
»Was tust du?«, fragte Vic. »Wieso ziehst du dich zurück? Der Kampf findet dahinten statt.«
»Halt den Mund, Vic!«, schrie ich über das Rauschen des Blutes in meinen Ohren, während meine nackten Füße über den kalten Marmorboden rannten. »Außer du willst auch die nächsten ein oder zwei Jahrzehnte in diesem Schaukasten verbringen.«
Vic hielt den Mund.
Ich kam schlitternd vor Morgan zum Stehen, die immer noch auf dem Tisch lag und ins Leere starrte. Inzwischen war das Blut in der Schale der Tränen bis zum Rand gekocht und wirkte wie ein scharlachroter Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Was auch immer als Nächstes passieren würde, es konnte nicht gut sein. Ich konnte Jasmine nicht besiegen, aber ich konnte dieses … dieses bösartige … Ding … zerstören.
»Wird schon schiefgehen«, murmelte ich und hob Vic mit beiden Händen über den Kopf.
Jasmine rannte um ein Bücherregal, das Schwert immer noch in der Hand. Als sie sah, was ich vorhatte, erstarrte sie.
»Nein!«, schrie sie. »Nicht!«
Zu spät. Ich ließ das Schwert so fest ich konnte auf die Schale der Tränen hinuntersausen. In der Sekunde, als die Klinge die Schale berührte, erfüllte ein Schrei die Bibliothek – so laut und hoch und voller Schmerz, dass er sogar die Luft in Stücke zu reißen schien. Scharlachrotes Licht ergoss sich aus der Schale, so hell, dass ich den Blick abwenden musste.
Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, was danach geschah. Das Licht brannte weiter, die Stimme schrie, und eine Hitzewelle traf mich, die so heiß war, dass ich das Gefühl hatte, meine gesamte Haut müsste sich vom Körper lösen. Aber aus irgendeinem Grund blieb das Schwert in meinen Händen eiskalt. Ich packte Vic fester und riss die Klinge hoch, als könnte sie mich vor dem intensiven Licht und der Hitze beschützen.
Irgendwie klappte das auch.
Kaum hatte ich das Schwert gehoben, ließen Licht und Hitze nach, als hätte sich die Waffe in eine Art Schild verwandelt. Ich wich ein paar Schritte zurück und zwang mich dazu, die Augen zu öffnen und mir anzusehen, was gerade geschah.
Eine wirbelnde, blutrote Wolke aus … aus … aus Magie hing mitten in der Bibliothek direkt über der Schale der Tränen. Die Wolke hob sich, als versuche sie zu entkommen, aber ich konnte sehen, dass das Ende eher einem Tornado ähnelte. Es drehte sich schneller und schneller und sog alles über sich ein. Wie ein Cartoon-Dschinn, der zurück in seine Flasche gezwungen wird, ob er nun will oder nicht.
Kurz bevor die letzten Reste der Magie zurück in die Schale der Tränen gesaugt wurden, erschien darüber ein riesiges Paar roter Augen und drehte sich langsam. Ihr Blick richtete sich direkt auf mich, sie verengten sich zu wütenden Schlitzen, und eine Welle von Gefühlen traf mich – entsetzliche Wut und abgrundtiefer Hass und Boshaftigkeit. Ich schrie auf und stolperte ein paar Schritte nach hinten. Die Augen starrten mich noch einen Moment an, bevor sie und der Rest der Magie in der Schale verschwanden.
Mir lief ein Schauder über den Rücken, weil ich wusste – ich wusste es einfach –, dass diese Augen real gewesen waren. Dass sie jemandem gehört hatten, der mich wirklich gesehen hatte. Der mich hasste. Der mich mehr als alles andere tot sehen wollte.
Loki, flüsterte eine Stimme in meinem Hinterkopf. Der finstere Gott mochte ja in den Gefängnisgefilden festsitzen, aber irgendwie hatte Loki es heute Nacht geschafft, in die Bibliothek zu schauen – und ich hatte gerade gefühlt, wie sehr er mich zerstören wollte. Wieder schüttelte es mich.
Die magische Wolke verschwand. Genau wie das blutrote Licht. Die Schreie, der Lärm, die Magie, alles. Es war alles weg, und die Bibliothek lag einmal mehr ruhig da.
Dann rutschte die Schale der Tränen von Morgans Brust, fiel auf den Marmorboden und zerschellte in tausend Stücke.