Der nächste Tag war unglaublich langweilig. Der Unterricht zog sich wie Kaugummi, und für die anderen Schüler war ich so unsichtbar wie immer. Alle sprachen nur darüber, wer gestern beim Lagerfeuer zusammengekommen war oder sich getrennt hatte und welche Auswirkungen das alles auf den großen Ball heute Abend hatte. Selbst die Professoren schienen nicht mehr zu erwarten, dass die Schüler wirklich etwas lernten, denn in den meisten Vormittagsstunden sollten wir frei arbeiten.
In Wahrheit waren es einfach nur Tratschstunden über den kommenden Ball. Wer mit wem hinging, welche Designerkleider die Mädchen trugen und wie viel sie gekostet hatten, welches Wohnheim die beste Anschlussparty geplant und das meiste Bier auf Lager hatte. Es waren so ziemlich die gleichen Unterhaltungen, die auch auf meiner alten Schule stattgefunden hätten. Nur dass ich dort vielleicht tatsächlich auf den Ball gegangen wäre, statt den ganzen Abend in meinem Zimmer zu verbringen, wie es hier der Fall war.
In gewisser Weise war ich froh, dass ich nicht zum Ball ging. Denn neben all dem Gerede über Pärchen und Trennungen wurde auch über ein anderes Ritual geflüstert. Anscheinend dankten der Lehrkörper und die Schüler der Mythos Academy vor dem großen Ball immer den Göttern dafür, dass sie sie wieder für ein Jahr beschützt hatten. Es schien einem Erntedankfest zu ähneln. Ich schauderte und dachte daran, was ich gestern am Lagerfeuer beobachtet hatte – die silbrigen Flammen und die alte, uralte Macht, die die Luft erfüllt hatte. Für diese Woche hatte ich mein Limit an magischem Hokuspokus schon erreicht – ich hatte überhaupt kein Interesse daran, noch mehr zu sehen.
Alle waren so aufgeregt wegen des Balls, dass fast niemand Jasmine Ashton erwähnte. Ihre Ermordung lag erst ein paar Tage zurück, aber es war, als wäre nie etwas geschehen. Alle schienen die Walküre bereits vergessen zu haben, obwohl sie das beliebteste Mädchen der Klasse gewesen war.
Das machte mich gleichzeitig traurig und wütend. Besonders da es mich einfach nicht losließ. Ich schaffte es immer noch nicht, Jasmines Anblick in dieser Nacht zu vergessen. Die Art, wie ihre blauen Augen mich angestarrt hatten, als bettelten sie um Hilfe.
Ich musste einfach immer wieder daran denken, wie sie in dieser riesigen Blutlache gelegen hatte.
Die Zeit fürs Mittagessen kam. Ich holte mir meinen üblichen Salat mit Hühnerbruststreifen, dazu eine Flasche herben Apfelsaft und ein deprimierend kleines Stück schokoüberzogenen Käsekuchen. Ehrlich. Der cremige Teil war nicht mal so breit wie zwei meiner Finger. Ich lud alles auf ein Glastablett und zog mich an einen leeren Tisch in der ruhigsten, abgelegensten Ecke des Speisesaals zurück.
Ich ignorierte den Salat und all sein hübsch geschnitztes Gemüse, öffnete den Apfelsaft und trank ihn in einem Schluck halb aus. Das fiel mir nicht schwer, da die Getränke in fast ebenso kleinen Portionen ausgegeben wurden wie die Desserts. Ich beäugte die winzige Flasche und wünschte mir, ich hätte einfach zwei davon mitgenommen, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte, statt …
Mir gegenüber landete ein Tablett auf dem Tisch, sodass ich überrascht aufschreckte und fast meinen Saft hätte fallen lassen.
Daphne Cruz wuchtete ihre riesige Tasche auf den Tisch, sodass sie halb über dem Mythologiebuch lag, das ich eigentlich beim Mittagessen lesen wollte. Aber das war noch nicht das Seltsamste, was Daphne tat. Sie setzte sich tatsächlich zu mir an den Tisch.
Als … als wären wir befreundet oder irgendwas.
Ich beäugte die Walküre und fragte mich, ob sie vielleicht besessen war oder etwas in der Art. Vielleicht hatte ja jemand ihr Blut in die Schale der Tränen geträufelt und sie zu einer willigen Sklavin gemacht …
»Aha«, sagte die Walküre und schraubte den Deckel von ihrer Perrier-Flasche. »Hier isst du also zu Mittag. Hier ganz weit hinten. Was bist du? Ein Vampir, der Angst vor dem Sonnenlicht hat oder so?«
Vampire? Waren Vampire auch real? Ich dachte einen Moment darüber nach, aber ich wollte nicht dumm dastehen, indem ich fragte, besonders da ich noch nicht mal wusste, was Daphne überhaupt hier wollte.
»Genau«, antwortete ich wachsam. »Du hast mich erwischt. Bei mir läuft so eine Superhelden-Geschichte, deshalb sitze ich hier hinten, um mich vor den Paparazzi und den irren Fans zu verstecken.«
Daphne musterte mich kritisch, aber nach einem Moment hoben sich ihre mit rosa Lipgloss verzierten Lippen. »Du hast einen seltsamen Sinn für Humor. Superhelden sind so was von out.«
»Schon, aber die Schauspieler, die sie gespielt haben, sind immer noch so was von reich. Ich glaube, sie werden es überleben, dass du sie nicht magst.«
Daphne lachte schnaubend, dann hob sie die Gabel und fing an, in ihrem überbackenen Auberginenauflauf herumzustochern. Ich wartete eine Minute, dann sah ich mich im Speisesaal um, weil ich mir nicht sicher war, ob das ein schlechter Witz sein sollte. Aber ich konnte niemanden entdecken, der in unsere Richtung sah und hinter vorgehaltener Hand kicherte.
Ich entdeckte allerdings Morgan McDougall und ein paar der anderen Walkürenprinzessinnen an ihrem üblichen Tisch, wo sie über dem Mittagessen lästerten und jeden süßen Jungen, der an ihnen vorbeikam, mit Blicken verschlangen. Aber Daphne sah nicht zu ihren Freundinnen hinüber, und sie schienen nicht zu bemerken, dass Daphne bei mir in der Ecke saß.
»Willst du … tatsächlich mit mir zu Mittag essen?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Daphne, brach ein Stück von ihrem Brötchen ab und tauchte es in die würzige Marinara-Soße auf ihrem Teller. »Ich bin eine Ausgeburt deiner Phantasie. Du stellst dir nur vor, dass ich hier sitze und mit dir esse. Weil ich einfach so wunderbar bin, dass die Leute davon träumen, mit mir gesehen zu werden.«
»Witzig«, murmelte ich.
Die Walküre lächelte mich an und biss in ihr Brot.
»Aber warum?«, fragte ich. »Du hasst mich.«
Daphne kaute und schluckte. »Ich würde es nicht Hass nennen. Du bist ein wenig wie ein Pilz, Gwen. Nach einer Weile wächst du einem einfach ans Herz.«
»Dann bin ich also Schimmel. Toll. Und warum wäschst du mich nicht einfach ab und setzt dich wie gewöhnlich zu deinen Walkürenfreundinnen?«
»Weil …«, sagte Daphne und senkte den Blick auf ihren Auberginenauflauf, »… ich neulich abends, als du gerade nicht hingeschaut hast, alle Mails von Jasmine an mich weitergeleitet habe. Und ich habe darin einiges entdeckt, das mir nicht gefallen hat – über mich.«
»Wie zum Beispiel?«
Daphne seufzte und schob ihren Auflauf von sich, als wäre ihr der Appetit vergangen. »Wie zum Beispiel die Tatsache, dass Jasmine und Morgan hinter meinem Rücken über mich gelästert haben. Sie wussten, dass ich für Carson schwärme, und fanden es zum Ausschütten komisch. Und das war noch so ungefähr das Netteste, was sie über mich gesagt haben. Es waren auch nicht nur sie. Claudia, Kylie, Seraphina … sie alle haben E-Mails über mich und übereinander ausgetauscht. Keine von uns scheint die anderen wirklich zu mögen.«
»Und?«, hakte ich nach. »Ist das nicht, wie sich Zicken benehmen? Ich meine, die Walküren sind die Bienenköniginnen von Mythos. Neben euch wirkt Gossip Girl harmlos. Gehört das nicht alles irgendwie dazu?«
»Vielleicht.« Daphne zuckte mit den Schultern. »Aber ich bin es leid. Ich kenne diese Mädchen seit der ersten Klasse, und ich habe das Gefühl, sie werden jedes Jahr noch oberflächlicher und dümmer. Ich glaube, es ist an der Zeit, neue Freunde zu finden.«
Dann holte sie tief Luft und sah mich an. »Du hast letzte Nacht etwas wirklich Cooles für mich getan, indem du mich mit Carson zusammengebracht hast. Ich weiß nicht, warum ich mir solche Sorgen gemacht habe, was andere über mich und ihn denken könnten. Aber jetzt bin ich frei von dieser Angst. Und ich werde nicht vergessen, was du für mich getan hast, Gwen.«
»Also hast du einfach entschieden, dass ich es bin?«, fragte ich. »Deine neue beste Freundin? Über Nacht? Einfach so?«
Zum ersten Mal flackerten Zweifel in Daphnes schwarzen Augen auf. »Hey, wenn du ganz allein hier in der Ecke sitzen und schmollen willst, weil du keine Freunde hast, ist das für mich auch in Ordnung. Ich wollte nur nett sein.«
Sie packte ihr Tablett und machte Anstalten, einfach davonzustürmen, aber ich hob in einer besänftigenden Geste die Hände.
»Nein, nein, nein«, sagte ich. »Warte. Setz dich wieder. Ich … würde mich über ein bisschen Gesellschaft sehr freuen. Bitte. Bleib.«
Daphne starrte noch eine Weile auf mich herunter, dann sank sie wieder auf ihren Stuhl. Himmel! Die Walküre war ein wenig sprunghaft. Daran musste ich denken: Daphne nicht sauer machen, sonst reißt sie einem das Herz aus der Brust.
Die Walküre trommelte mit den Fingern auf der Gabel herum, und pinkfarbene Funken blitzten und funkelten in der Luft, wie es immer passierte, wenn ihre Nägel gegen etwas stießen.
»Warum machen deine Finger das?«, fragte ich. »Warum die rosafarbenen Funken überall?«
Daphne zuckte mit den Schultern. »Das ist so ein Walkürending. Es gehört einfach zu unserer Magie.«
»Magie? Welche Art von Magie?«
»Du weißt doch, dass alle Walküren stark sind, oder?«
Ich nickte. »Stark« war ein wenig untertrieben, wenn man einem Kerl mit bloßen Händen den Kopf abreißen konnte.
»Na ja, Walküren haben auch noch andere Magie, eine andere besondere Gabe oder Fähigkeit. Gewöhnlich entwickelt sich diese Gabe, was auch immer es ist, erst, wenn man schon sechzehn oder siebzehn ist. Meine Magie ist noch nicht gereift, also weiß ich nicht, was für eine Art von Magie es wird. Aber manche Walküren sind Heiler, während andere verstärkte Sinneswahrnehmungen haben. Einige können Zauber wirken und Dinge geschehen lassen, während andere das Wetter kontrollieren oder mit bloßen Händen Feuer erschaffen können. Manche Walküren können sogar Illusionen erzeugen.«
Dieser Gedanke stieß etwas in meinem Hirn an. »Illusionen? Was für Illusionen?«
Wieder zuckte Daphne mit den Schultern. »Alles Mögliche. Sieh es mal so. Du berührst Dinge und siehst etwas, richtig? Wann immer ich etwas berühre, sprühen eben Funken aus meinen Fingerspitzen. So ist es einfach bei Walküren. Die Funken sind nur Farbtupfer wie kleine Lichtblitze, und sie verblassen fast sofort wie ein Regenbogen. Sie können niemanden verletzen oder irgendwas. Im Grunde sind meine Finger ein bisschen wie Wunderkerzen.«
Okay, dann war das einfach eine magische Eigenart. Wie bei Logan Quinn, dem Spartaner, der nur eine Waffe anfassen musste und sofort wusste, wie er damit Leute umbringen konnte. Trotzdem gab es noch etwas, das mich interessierte.
»Warum Rosa?«, fragte ich und dachte an die grünen Funken, die Morgan produziert hatte, als sie und Samson gestern im Innenhof ihr nachmittägliches Stelldichein genossen hatten. »Warum nicht Blau oder Silber oder irgendeine andere Farbe? Rosa erscheint mir irgendwie seltsam. So … mädchenhaft.«
»Es hat etwas mit unseren Auren zu tun«, antwortete Daphne. »Die Farbe der Funken ist an unsere Gefühle und Persönlichkeiten gebunden. Und je tiefer wir fühlen oder je mehr wir uns aufregen, desto mehr Funken entstehen.«
Ich zog die Augenbrauen hoch und fragte mich, was für ein Mensch wohl eine prinzessinenrosafarbene Aura hatte. Daphne sah die Frage in meinen Augen.
»Ich mag Rosa«, erklärte sie abwehrend. »Ich finde es cool.«
»Sicher, sicher ist es das«, stimmte ich hastig zu.
Hmpf. Jedes zweite Wort, das ich sagte, schien die Walküre zu kränken. Es war so lange her, dass ich eine Freundin gehabt oder mich auch nur länger mit jemandem außer Grandma Frost unterhalten hatte, dass ich nicht mehr wusste, wie man sich benahm. Sicher, in meiner alten Schule hatte ich Freunde gehabt, aber nach dem Tod meiner Mom hatte ich sie alle weggestoßen. Ich hatte mich nicht mehr bei ihnen gemeldet, seit ich nach Mythos ging, und sie hatten nicht versucht, mich zu erreichen. Wir mussten eben alle mit unserem Leben weitermachen.
Vielleicht fühlte ich mich deswegen so unsicher, weil ich mir Sorgen machte, dass man auf der Akademie anders Freunde fand. Schließlich war hier alles so seltsam und anders. Ich meine, Daphne würde doch nicht verlangen, dass ich ihr Blut trank oder irgendwas? Denn das würde ich auf keinen Fall tun. Freundin oder nicht.
Danach wurde es ein wenig besser, hauptsächlich, weil ich Daphne nach Carson fragte und danach, worüber sie gestern am Telefon gesprochen hatten. Das Gesicht der Walküre fing an zu leuchten, und weitere rosafarbene Funken sprühten um ihre Fingerspitzen. Sie war Carson völlig verfallen, und es schien ihr nichts mehr auszumachen, das auch zuzugeben. Allerdings aß sie auch mit mir zu Mittag, dem Gypsymädchen und größten Außenseiter von Mythos. Mit Carson gesehen zu werden war im Vergleich dazu einfach phantastisch.
»Eigentlich bin ich rübergekommen, um dich etwas zu fragen«, sagte Daphne, und plötzlich klang ihre Stimme scheu. »Ich habe mich gefragt, ob, ähm, du vielleicht vor dem Ball heute Abend in mein Zimmer kommen willst. Ich habe mir ein Kleid gekauft, nur für den Fall, dass Carson oder sonst irgendwer mich fragt, ob ich mit ihm hingehe, aber ich habe es noch niemandem gezeigt.«
Ihre Worte katapultierten mich zurück zum letzten Mal, als ich etwas in der Art getan hatte. Etwas so … Normales. Etwas so … Nettes.
Es war mehrere Wochen vor dem großen Ball für die zehnte Klasse an meiner alten Schule gewesen – und Tage, bevor ich Paiges Geheimnis entdeckt hatte. Ich hatte mich gerade von Drew Squires getrennt, der für ganze drei Wochen mein Freund gewesen war, aber ich hatte trotzdem vor, zum Ball zu gehen, hauptsächlich, weil meine Mom Grace und ich Wochen damit verbracht hatten, das perfekte Kleid und die richtigen Schuhe zu finden. Schließlich hatten wir beides in einer kleinen, abgelegenen Boutique in einer heruntergekommenen Einkaufsstraße gefunden, zusammen mit einem purpurnen Kleid, von dem meine Mom behauptete, es habe exakt die Farbe meiner Augen.
Wir hatten es am Samstag gekauft, und am Freitag danach, sechs Tage später, war sie gestorben. Natürlich war ich danach nicht zum Ball gegangen. Aber aus irgendeinem Grund hatte ich das Kleid nicht zurückgegeben. Tatsächlich hing es ganz hinten im Schrank in meinem Zimmer.
»Geht es dir gut?«, fragte Daphne und riss mich damit aus meinen Erinnerungen. »Du siehst aus, als würdest du jeden Moment heulen oder so.«
»Mir geht’s gut«, erklärte ich und schob die Erinnerung beiseite.
Die Walküre starrte mich nur an, und ich suchte nach einer Erklärung.
»Ich habe an meine Mom gedacht«, erklärte ich leise. »Im Frühling, ein paar Tage bevor sie gestorben ist, waren wir zusammen ein Ballkleid für mich kaufen.«
»Oh. Oh.« Daphne kapierte sofort den Teil mit der toten Mom, und für einen Moment schwieg sie. »Wenn du lieber nicht kommst, verstehe ich das …«
»Nein«, antwortete ich schnell. »Nein, mir geht’s gut. Ich würde dir wahnsinnig gern dabei helfen, dich für den großen Abend mit Carson fertig zu machen. Wann soll ich vorbeikommen?«
Daphne und ich verabredeten uns nach meiner Schicht in der Bibliothek. Die Glocke bimmelte und verkündete damit das Ende der Mittagspause, und wir gingen wieder getrennte Wege. Mir fiel auf, dass ich heute zum ersten Mal, seit ich auf Mythos war, nicht allein gegessen hatte. Es war nett, mit jemandem zusammenzusitzen und sich zu unterhalten. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr ich das vermisst hatte. Na ja, vielleicht hatte ich es schon bemerkt. Vielleicht hatte ich nur einfach nicht darüber nachdenken wollen, weil es meine Einsamkeit noch vertieft hätte.
Unglücklicherweise war meine gute Laune nicht ansteckend, besonders nicht, wenn es um Professoren ging, und der Rest des Tages zog sich wieder endlos dahin. Schließlich allerdings klingelte zum letzten Mal die Glocke und beendete damit die Stunde in Mythengeschichte. So schnell wie möglich packte ich meine Sachen zusammen. Ich wollte mich noch vom Campus schleichen und Grandma Frost besuchen, bevor ich mich in der Bibliothek bei Nickamedes melden musste. Obwohl absolut niemand heute Abend an etwas so Langweiliges wie Hausaufgaben denken würde, ließ er mich trotzdem meine normale Freitagsschicht arbeiten, bevor die Bibliothek wegen des Balles früher schloss.
»Gehst du auch zum Ball, Gwen?«, fragte Carson, während er seine eigenen Bücher in seine Tasche stopfte.
»Nö«, sagte ich. »Aber ich helfe Daphne, sich vorzubereiten. Damit du auch weißt, dass sie sich für dich richtig schick macht.«
Carson lächelte, und ich ertappte mich dabei, wie ich den Musikfreak angrinste. Vielleicht war es doch nicht so schwierig, Freunde zu finden.
Ich verließ das Geschichtsgebäude und ging über den Hof. Statt stehen zu bleiben und SMS zu schreiben, eilten heute fast alle sofort davon, um sicherzustellen, dass sie alles hatten, was sie am Abend brauchen würden – Kleider, Anzüge, Bierfässer, Kondome und was nicht noch alles.
Niemand beachtete mich, und ich schaffte es, unentdeckt bis zum Haupttor zu schlendern. Ich hielt direkt vor den Gitterstäben an und starrte zu den zwei Sphingen neben dem Tor hinauf. Professor Metis hatte mir erzählt, dass Nickamedes zusätzliche Magie, zusätzliche Schutzzauber oder was auch immer auf das geschlossene Tor legen würde, um zu verhindern, dass sich noch ein Schnitter auf den Campus schlich. Vielleicht war es ja nur Einbildung, aber ich hatte den Eindruck, dass die Sphingen jetzt sogar noch strenger und wilder aussahen als beim letzten Mal, als ich am Tor gewesen war. Ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen, und ihre Klauen glänzten in der Nachmittagssonne, als würden sich die katzenartigen Wesen jeden Moment aus dem Stein lösen und jeden anspringen, der versuchte, sich an ihnen vorbeizumogeln.
Für einen Moment überlegte ich, ob ich nicht umdrehen sollte, aber es war schon ein paar Tage her, seit ich Grandma Frost gesehen hatte. Sie würde warten, dass ich vorbeischaute. Außerdem vermisste ich sie. Sie war alles, was ich noch hatte, und ich wollte sie sehen. Das war es wert, den magischen Alarm auszulösen, den Nickamedes auf das Eingangstor gelegt hatte. Außerdem würden mich die Sphingen wahrscheinlich nicht umbringen – richtig?
Ich schlich auf Zehenspitzen an das Gitter heran, hielt die Luft an, drehte mich seitwärts und schob mich zwischen den schmiedeeisernen schwarzen Stäben hindurch.
Nichts passierte.
Es erklang keine Sirene, und die Sphingen sprangen nicht herab, um mich in Stücke zu reißen. Falls sie das überhaupt konnten. Anscheinend hatte Nickamedes nur die Zauber verstärkt, die Schnitter von der Akademie fernhalten sollten – er hatte keinen neuen Zauber geschaffen, der Schüler auf dem Campus hielt. Wie alle anderen glaubte der Bibliothekar, dass die Bedrohung von außen kam – nicht von innen. Trotzdem war ich glücklich über seine Nachlässigkeit, als ich über die Straße eilte und in den Bus sprang. Zwanzig Minuten später stieg ich die Stufen zu Grandma Frosts Haus hinauf und schloss mit meinem Schlüssel die Tür auf.
Ausnahmsweise war Grandma Frost nicht im anderen Zimmer dabei, jemandem die Zukunft vorherzusagen. Stattdessen fand ich sie in der Küche mit den fröhlichen blauen Wänden und den weißen Fliesen.
»Mmmmm. Was riecht hier so gut?«, fragte ich und warf meine Tasche auf den Tisch.
Grandma nahm den Topflappen von der Arbeitsfläche, griff in den Ofen und zog ein Backblech voller selbstgemachter Mandelzuckerkekse heraus. Ich sog den warmen Geruch von geschmolzener Butter, klebrigem Teig und karamellisiertem Zucker in meine Lunge, während mir das Wasser im Mund zusammenlief und mein Magen knurrte. Niemand backte so gut wie Grandma Frost. Die Dessertköche von Mythos konnten definitiv noch ein paar Dinge von ihr lernen.
Grandma schob drei Kekse auf einen Teller und gab sie mir zusammen mit einem Glas kalter Milch. Um ihren Körper wehten die üblichen farbenfrohen Tücher, und die kleinen Münzen an den Fransen klimperten.
Ich kniff die Augen zusammen. »Du wusstest, dass ich heute kommen würde.«
Grandma lächelte ihr mysteriöses Gypsylächeln, das sie jedem ihrer Kunden schenkte. »Ich bin eine Wahrsagerin, Süße. Manchmal ist das ziemlich praktisch. Besonders wenn man seiner Enkelin ein paar Kekse backen will.«
Grandma Frost nahm sich ebenfalls eine Handvoll der warmen Plätzchen und ein eigenes Glas Milch, dann setzten wir uns gemeinsam an den Tisch, um zu essen. Zuerst redeten wir nicht viel, weil wir beide zu sehr damit beschäftigt waren, uns den Mund mit süßem Teig vollzustopfen. Aber schließlich waren die Kekse und die Milch verschwunden, und Grandma starrte mich an.
»Gibt es heute Abend nicht einen großen Ball in der Akademie?«, fragte sie. »So eine schicke Feier?«
Ich blinzelte. »Woher weißt du das? Hattest du eine Vision von mir in einem Kleid oder was?«
»Natürlich nicht. Ich habe es in diesem elektronischen Newsletter gelesen, den Professor Metis jede Woche verschickt.« Grandma warf mir einen schiefen Blick zu. »Um genau zu sein, habe ich diese Woche zwei Newsletter bekommen. Den normalen, in dem es um den Ball und die Speisefolge der Cafeteria und andere Sachen ging. Der andere war ein wenig ernster – es ging um den Mord an diesem armen Mädchen.«
Oh, oh. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, Grandma Frost von Jasmine Ashton zu erzählen, weil ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte. Aber Grandma war einfach zu klug für mich. War sie immer. Ich hatte nie herausgefunden, ob es an ihrer Gabe lag oder ob sie mich einfach nur zu gut kannte. Es war sinnlos, sie anzulügen, also holte ich tief Luft und erzählte ihr die ganze Geschichte von der Nacht in der Bibliothek und auch alles andere, das ich seitdem über Jasmine erfahren hatte.
»Ich weiß, dass die Professoren alle denken, es wäre einfach ein Schnitter-Bösewicht gewesen, der hinter der Schale der Tränen her war«, sagte ich schließlich. »Aber ich habe dieses seltsame Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Irgendwas übersehen wir alle. Irgendwas Offensichtliches. Mom hat mir gesagt, ich soll immer auf meine Instinkte hören, aber langsam fange ich an, mich zu fragen, ob sie nicht unrecht hatte.«
Grandma starrte mich an, und in ihren violetten Augen blitzte ein seltsamer Schimmer. Es war nicht der Ausdruck, den sie immer bekam, wenn sie einen Blick in die Zukunft warf. Nein, das war etwas anderes. Als hätte ich etwas gesagt, das sie erschreckte. Ich vermutete, dass sie sich einfach Sorgen machte wegen des Mords an Jasmine. Ich meine, wer wollte schon, dass die einzige Enkelin auf eine Schule ging, in der gerade einer Schülerin die Kehle aufgeschlitzt worden war?
»Geht es dir gut, Grandma?«
Sie schüttelte den Kopf, und der seltsame Ausdruck in ihren Augen verschwand. »Alles gut. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Ich hasse es, dass du überhaupt auf diese Schule gehen musst.«
Ich zögerte. »Warum muss ich nach Mythos gehen? Ich habe dich schon mehrmals gefragt, aber du hast es mir nie richtig erklärt.«
Grandma seufzte. »Weil es endlich Zeit für dich ist, zu lernen, wie du deine Gypsygabe einsetzt, Gwen. Und das kannst du nur auf Mythos.«
»Aber ich weiß doch schon, wie ich meine psychometrische Magie einsetze. Ich wusste es immer. Ich verstehe einfach nicht, was Mythos an der Sache ändert.«
Wieder schüttelte sie den Kopf, diesmal abwehrend. »Ich weiß, dass es momentan vielleicht keinen Sinn ergibt, aber eines Tages wird es das. Vertrau mir, Süße, okay?«
Ich vertraute ihr, mehr als jedem anderen, aber ich wollte trotzdem Antworten auf meine Fragen – warum mein Leben sich so sehr hatte ändern müssen. Warum alle in Mythos Dinge glaubten, an die ich nicht glaubte. Und besonders, warum Professor Metis und Grandma Frost der Meinung waren, dass ich überhaupt dort hingehörte.
Ich dachte kurz daran, nachdrücklicher Antworten zu fordern, aber sie sah in diesem Moment so alt aus, so traurig und müde, als hätte sie all ihre Lebenskraft aufgebraucht und wäre nicht mehr als eine leere Hülle. Oder vielleicht hatte ein Teil von mir auch einfach Angst davor, wie die Antworten lauten könnten. Die Geheimnisse anderer Leute zu kennen gab mir das Gefühl, klug zu sein. Zu erkennen, dass es auch Geheimnisse gab, die sich um mich drehten, machte mich nervös. Ja, ich konnte manchmal eine ziemliche Heuchlerin sein.
Ich wusste nicht, warum Grandma Frost Geheimnisse vor mir hatte, aber sie liebte mich, und ich liebte sie. Es waren immer nur ich, meine Mom und Grandma Frost gewesen. Mein Dad war gestorben, bevor ich auch nur Erinnerungen an ihn haben konnte, und wir hatten sonst keinerlei Familie, von der ich wusste. Nun da meine Mom tot war, war Grandma die Einzige, die ich noch hatte. Ich wollte nicht mit ihr streiten – niemals. Besonders nicht über etwas so Dummes wie die Mythos Academy.
»Na ja, auf jeden Fall glaube ich nicht, dass du dir Sorgen machen musst«, erklärte ich, wobei ich gleichzeitig das Thema wechselte und versuchte, sie zu beruhigen. »Professor Metis und die anderen haben die magischen Security auf dem Campus erhöht. Außerdem, wer auch immer Jasmine umgebracht hat, ist wahrscheinlich schon lange verschwunden, egal was ich denke. Soweit ich weiß, wurde niemand sonst verletzt, und es ist auch sonst nichts aus der Bibliothek gestohlen worden.«
Ich erwähnte nicht, was gestern vor der Bibliothek passiert war. Es war ja nicht so, als hätte die fallende Statue mich zum Ziel gehabt. Auch wenn man dasselbe nicht unbedingt von dem Nemeischen Pirscher behaupten konnte. Aber er war tot, hatte sich in eine Rauchwolke aufgelöst, während ich noch lebte. Und das war das Einzige, was zählte.
Grandma Frost wirkte, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann schüttelte sie den Kopf, und der Moment verging. »Ich bin mir sicher, du hast recht, Süße.«
»Sie haben auch die Sicherheitsvorkehrungen in den Wohnheimen erhöht«, sagte ich, immer noch in dem Versuch, ihr die Sorge zu nehmen. »Und da werde ich den Abend verbringen.«
»Du gehst also nicht zu diesem Tanzabend? Im Newsletter klang es, als wäre es eine große Sache.«
Ich hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Es ist nur der jährliche Ball. Sie werden in jeder Klasse einen Prinzen und eine Prinzessin krönen, und dann gibt es Musik, und die Leute tanzen und so. Genau wie auf meiner alten Schule.«
Ich erzählte nichts von dem Ritual, über das die anderen geredet hatten, der Erntesegen oder was auch immer es wirklich war.
»Warum gehst du dann nicht hin?«, fragte Grandma. »Du hast dich früher immer gerne für so etwas herausgeputzt, bevor …«
Sie brach ab, aber wir wussten beide, was sie hatte sagen wollen. Bevor deine Mom gestorben ist.
Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Zum einen habe ich keine Verabredung. Niemand hat mich gefragt. Ich will einfach nicht allein gehen und dastehen wie der totale Loser.«
»Warum nicht?«, fragte Grandma Frost. »Du machst doch sonst eine Menge allein. Hast du schon immer.«
»Ja schon, aber nicht so was«, sagte ich. »Nichts …«
Dieses Mal brach ich ab, aber Grandma konnte ich nicht an der Nase herumführen. Sie wusste genau, was ich hatte sagen wollen.
»Nichts, das Spaß macht«, beendete sie mit leiser Stimme meinen Satz.
Grandma Frost sah mich mit sanften, traurigen Augen an. »Es ist in Ordnung, wenn du wieder Spaß hast, Gwen. Deine Mom würde nicht wollen, dass du jeden Abend zu Hause sitzt und um sie weinst. Sie würde wollen, dass du zu dem Ball gehst und dich amüsierst, selbst wenn du mit niemandem verabredet bist. Sie würde wollen, dass du so viel Spaß hast wie möglich, so oft du kannst. Bevor …«
Sie schluckte ihre Worte herunter, und für einen Moment verspannte sich ihr gesamter Körper. Ihre Ringe knirschten, als sie die Hände zu Fäusten ballte, und die Münzen an den Rändern ihrer Tücher schlugen misstönend aneinander. Dann bemerkte Grandma Frost, dass ich sie anstarrte, und zwang sich dazu, sich wieder zu entspannen. Sie öffnete die Hände, und die Münzen spielten eine freundlichere Melodie.
»Bevor, na ja, bevor du ganz erwachsen bist«, sprach sie weiter. »Das wäre, was deine Mom sich für dich wünschen würde. Dass du zu dem Tanzabend gehst und viel Spaß hast.«
Ich wusste, dass es so war. Grace Frost hätte mich aufgefordert, genau das zu tun. Ich biss mir auf die Lippe und wandte den Blick ab, um nicht in Grandmas wissende Augen schauen zu müssen.
»Es fühlt sich einfach … falsch an«, sagte ich. »Dass ich noch lebe und sie tot ist. Dass sie nie wieder etwas tun wird, was Spaß macht. Dass ich niemals wieder ihr Lächeln sehen oder ihr Lachen hören werde.«
Grandma griff über den Tisch und legte ihre Hand auf meine. Ich fühlte, wie die sanfte Wärme ihrer Liebe mich umhüllte, wie sie es immer tat, wenn Grandma mich berührte. Aber dieses Mal spürte ich auch ihre Trauer, einen Schmerz, der so scharf und tief und wild war, dass es sich anfühlte, als würde jemand mein Herz mit einem Schwert in zwei Teile schlagen. Auch Grandma hatte jemanden verloren. Der Tod meiner Mom hatte ihr genauso wehgetan wie mir.
»Ich weiß, dass es sich nicht richtig anfühlt, Süße. Aber der Tod deiner Mutter war nicht dein Fehler. Das Leben geht weiter, ob du es nun willst oder nicht. Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass du wieder anfängst, es zu genießen, findest du nicht auch? Selbst wenn es nur ein winziges bisschen ist.«
Ich seufzte und hatte das Gefühl, alle Energie würde meinen Körper verlassen. »Wahrscheinlich. Aber es ist alles so hart, weißt du? Ich war so … wütend, und nach Mythos zu gehen … Ich passe da einfach nicht hin. Ich verstehe nicht, warum ich nicht einfach wieder auf meine alte Schule wechseln kann. Ich bin nichts Besonderes, nicht wie die anderen Kinder dort.«
»Du bist aus gutem Grund auf der Akademie«, antwortete Grandma Frost, und in ihre Stimme schlich sich wieder dieser ahnungsvolle Tonfall. »Du wirst früher oder später deinen Platz finden. Und was deine Mom angeht, sie ist nicht mehr bei uns, aber sie würde nicht wollen, dass du nur Trübsal bläst. Sie würde wollen, dass du rausgehst und lebst und alles tust, was Teenager so tun sollten.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Du meinst, betrunken und bekifft nach Hause kommen, nachdem ich beim Ball unter der Tribüne ungeschützten Sex mit meinem Freund hatte?«
Grandma kniff die Augen zusammen, grinste mich aber trotzdem an. »Na ja, das nicht, aber alles andere. Du weißt, was ich meine. Also, ich möchte, dass du mir versprichst, zu diesem Ball zu gehen und dich zu amüsieren. Oder versprich mir zumindest, dass du mal darüber nachdenkst.«
Das konnte ich ihr nicht abschlagen, aber ich konnte auch meine Schuldgefühle, meinen Schmerz und meine Wut nicht lange genug unterdrücken, um einfach Ja zu sagen. »Okay. Ich werde darüber nachdenken. Aber ich verspreche nichts.«
»Mehr wollte ich gar nicht hören, Süße.«
Grandma drückte mir einen Kuss auf die Stirn, dann stand sie auf und fing an, den Rest der abkühlenden Kekse in einer Dose zu stapeln, damit ich sie mit zurück in die Akademie nehmen konnte.
Ich blieb einfach am Tisch sitzen und dachte über das nach, was Grandma gesagt hatte. Dann fragte ich mich, ob es vielleicht wirklich Zeit war, mit dem Leben weiterzumachen – und ein bisschen Spaß zu haben.
Egal ob mir danach war oder nicht.