Für den Abend war ein großes Lagerfeuer geplant. Anscheinend war es eine Tradition der Akademie, und die Veranstaltung fand immer am Abend vor dem großen Ball statt. Der Ball wurde natürlich im Speisesaal abgehalten. Selbst in Mythos fiel den Mächtigen kein besserer Ort ein, um einen Tanzabend zu veranstalten, als die Cafeteria. Einige Dinge änderten sich nie, egal auf welche Schule man ging.
Normalerweise wäre ich nicht zum Lagerfeuer gegangen, da ich auch zu den anderen Schulveranstaltungen nicht ging. Es war ja nicht so, als hätte ich Freunde, die mich anbettelten, doch mitzukommen. Oder als wäre ich beliebt genug, dass es die Leute überhaupt interessierte, ob ich beim großen Ereignis auftauchte oder nicht. Und sicherlich hatte ich keine Verabredung mit einem Jungen, mit dem ich mich am Feuer unter eine Decke kuscheln wollte.
Aber Morgan und Samson hatten sich beim Feuer verabredet, und ich wollte sehen, was sie im Schilde führten. Ich hoffte nur, dass es interessanter werden würde als der Trockensex vom Nachmittag.
Vielleicht war es dumm, aber ich konnte dieses Gefühl einfach nicht abschütteln, dass die beiden etwas mit Jasmines Ermordung zu tun hatten. Vielleicht hatten sie Jasmine nicht selbst umgebracht, aber irgendwas an dieser ganzen Sache erschien mir falsch. Außerdem hatte ich am Abend ohnehin nichts anderes vor, außer in meinem Zimmer zu sitzen, ungesundes Zeug in mich hineinzustopfen und Comics zu lesen.
Das große Feuer fand in einem der Amphitheater auf einem der Plätze statt, in einer Senke unterhalb der Bibliothek der Altertümer. Ich duschte, zog saubere Jeans, ein T-Shirt und einen purpurfarbenen Kapuzenpulli an und ging hinüber. Es war nach sieben und bereits dunkel an diesem Oktoberabend. Die Luft war kühl, aber nicht unangenehm, und die Sterne funkelten am samtig schwarzen Himmel wie Strass-Steine am Kleid der Ballprinzessin.
Der obere Teil des Amphitheaters bestand aus flachen, breiten Steinstufen, die auch als Sitze dienten. Die Stufen formten einen Halbkreis, der sich gemächlich zu dem erhobenen Podium absenkte, das als Bühne diente. Anders als die anderen Gebäude auf dem Campus bestand das Theater aus weißem Stein, in dem schillernde Farbtupfer eingeschlossen waren – himmelblau, rosa, ein sanfter Fliederton. Vier Säulen ragten über der Bühne auf, jede mit einer Chimäre darauf, die einen Ball zwischen den gebogenen Klauen hielt und hinausstarrte auf die Sitzreihen und damit die Besucher.
Als ich ankam, war die Bühne bereits fort, und in einer Umrandung aus weißen Steinen ganz unten im Amphitheater war ein kleines Feuer entzündet worden. Ich hatte erwartet, dass die anderen inzwischen schon halb betrunken lachten und sich unterhielten, aber stattdessen waren alle ruhig, fast ernst. Statt in ihren üblichen Cliquen die Köpfe zusammenzustecken und zu tratschen, standen die Schüler alle in einer einzigen Reihe, die sich die Stufen des Amphitheaters nach oben zog. Ich war mir nicht sicher, was das sollte, also hielt ich mich im Hintergrund, stellte mich nicht in die Reihe und achtete sorgfältig darauf, nicht in den flackernden Feuerschein zu treten.
Einer nach dem anderen gingen die Schüler an einem großen Mann vorbei, der einen königsblauen Umhang trug und auf dessen Kopf eine Krone aus silbernen Blättern ruhte. Er wurde von hinten vom Feuer beleuchtet, und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass es ausgerechnet Nickamedes war. Was tat er da? Und warum trug er diesen lächerlichen Umhang und die Krone? War er für einen Abend Liverollenspiel in der Welt von Dungeons & Dragons verkleidet oder was?
Anscheinend fanden die anderen Schüler das Aussehen des Bibliothekars nicht im Mindesten seltsam. Ich hörte keine spöttischen Kommentare, kein heimliches Kichern, gar nichts. Alle waren so still, als wären sie auf einer Beerdigung. Die Leute, die an Nickamedes vorbeigingen, griffen in eine große Silberschüssel, die er hielt, und nahmen sich eine Handvoll von dem, was darin war. Ich beobachtete, wie das erste Mädchen in der Reihe zu dem Steinring ging. Es blieb für einen Moment vor den Flammen stehen, dann warf es eine Handvoll silbernen Staub in das Herz des Feuers.
WHUUSCH!
Was auch immer das für Staub war, er ließ das Feuer höher auflodern und heißer brennen, und die orangefarbenen Flammen bekamen einen leichten Silberstich. Einer nach dem anderen wiederholten die Schüler in der Reihe den Vorgang, und unter ihnen waren auch Metis, Trainer Ajax und einige der anderen Professoren. Als der letzte Schüler fertig war, reichten die Flammen bis zur obersten Stufe des Amphitheaters, und die Hitze ließ die Luft zucken und wabern, als wäre sie lebendig. Aber es war mehr als nur die Hitze. Die Luft veränderte sich, als wäre sie mit irgendetwas aufgeladen. Es war die Art von alter, wachsamer, wissender Macht, die ich immer fühlte, wenn Grandma Frost eine ihrer Visionen hatte. Ich schauderte und schlang die Arme um den Körper. Ich mochte ja den ganzen magischen Hokuspokus nicht glauben, von dem die Profs ständig sprachen, aber hier, heute Abend konnte ich fast glauben, dass es Götter und Monster wirklich gab – und dass sie uns alle beobachteten.
»Wir weihen dieses Feuer allen, die vor uns gekämpft haben«, sagte Nickamedes. »Das Licht ihres Opfers wird immer die Dunkelheit bannen und Ordnung ins Chaos bringen. Durch sie leben wir, und sie leben in uns weiter.«
»Und sie leben in uns weiter«, murmelten alle, und die Worte verbreiteten sich durch die Dunkelheit.
Für einen Moment loderte das Feuer noch höher und heller, die Flammen eher silbern als golden. Dann blinzelte ich, und die Illusion verschwand. Es war einfach ein Lagerfeuer, das in seinem Steinring brannte, während sein fröhliches Prasseln und süßer Rauch die Luft erfüllten – nicht mehr.
Einfach so war das Ritual beendet, und alle entspannten sich. Es verging kaum eine Minute, bevor sich die Schüler wieder in ihren üblichen Cliquen zusammenfanden. Es schien, als hätte ich nur geblinzelt, und schon war das Bild vor meinen Augen genau das, was es von Anfang an hätte sein sollen.
Jugendliche standen lachend ums Feuer und unterhielten sich kichernd, während andere in Liegestühlen saßen oder sich unter Decken auf den Steinstufen aneinanderkuschelten. Ich hatte sie bis jetzt nicht bemerkt, aber ein paar Schritte entfernt standen mehrere Tische mit dem üblichen Etepetete-Essen und Getränken. Einige Schüler hatten bereits lange Metallstangen hervorgezogen, die sie benutzten, um bauschige Gourmet-Marshmallows über dem Feuer zu rösten.
Dieser Anblick half mir dabei, das seltsame Gefühl abzuschütteln, das mich zuvor überfallen hatte, und mich daran zu erinnern, warum ich überhaupt hier war. Mmmm. Marshmallows. Eine meiner Lieblingssüßigkeiten. Ich würde mir ein paar rösten müssen, um sie mit auf mein Zimmer zu nehmen – sobald ich herausgefunden hatte, was Morgan und Samson im Schilde führten.
Metis, Trainer Ajax und ein paar andere Professoren patrouillierten inzwischen an den Rändern des Amphitheaters, um sicherzustellen, dass niemand etwas Dummes tat. Wie zum Beispiel sich einen brennenden Stock aus dem Feuer zu schnappen und damit jemand anderem die Haare anzuzünden.
Außerdem waren die Professoren auch anwesend, um ein Auge auf den Alkoholkonsum zu haben. Trotz der angeblich strengen »Kein Alkohol«-Regel auf dem Campus nippten mehrere Jugendliche aus kleinen Flachmännern, wann immer sie sich unbeobachtet fühlten. Einige waren etwas frecher und hatten Bier, Wein oder was auch immer in Plastikbecher gegossen. Ein paar Jungs, überwiegend Römer, öffneten sogar ganz dreist Dosen und ließen das Bier hervorsprudeln, bevor sie es auf Ex tranken und sich dann die leeren Dosen am Kopf zerdrückten. Aber solange keine Prügeleien ausbrachen, schienen Metis und die anderen Professoren zufrieden, den Schülern ihren Spaß zu lassen – zumindest heute Abend.
Ich schob mich am Rand des Amphitheaters entlang, blieb in den Schatten und hielt Ausschau nach Morgan oder Samson. Ich entdeckte sie nicht sofort, aber dafür sah ich jemand anderen, den ich kannte – Carson Callahan. Er spielte in einer spontan entstandenen Band, die sich neben den Tischen mit dem Essen versammelt hatte, irgendeine Art von Trommel – ich glaube, man nannte sie Bodhran. Daneben gab es noch einen Kerl mit einer Gitarre, ein Mädchen mit einer Violine und einen Jungen mit einem Becken. Die vier improvisierten nur und spielten schnelle, rockende Keltenmusik. Tatsächlich klangen sie ziemlich gut zusammen. Ich winkte Carson zu, aber natürlich sah er mich nicht, und ich ging weiter.
Ich war nicht die Einzige, die Carson im Blick behielt. Auf der anderen Seite des flackernden Feuers entdeckte ich Daphne Cruz, die in seine Richtung starrte. Sie war vollkommen auf den Musikfreak konzentriert.
Und direkt neben ihr stand Morgan McDougall. Bingo.
Ich ging weiter um das Feuer und versuchte, nicht zu wirken, als würde ich einem der beliebtesten Mädchen der Schule nachspionieren, sondern als hätte ich ein Ziel. Morgan war eine derjenigen, die tranken, denn sie hielt einen Becher mit Bier in der rechten Hand. Daphne trank auch, aber ihr Getränk der Wahl sah eher aus wie Weinschorle.
Ich war so damit beschäftigt, Morgan und Daphne anzustarren, dass ich nicht auf meinen Weg achtete und wieder einmal in jemanden lief, den ich kannte.
Logan Quinn.
Der Spartaner hatte eine Cola in der Hand gehalten. Nun ergoss sie sich über sein langärmliges Hemd und die Jeans, sodass er vollkommen durchnässt war. Oh, oh. Logan trat überrascht einen Schritt zurück und öffnete den Mund, wahrscheinlich um mich zu verfluchen, weil ich ihn angerempelt hatte. Aber dann erkannte er mich, und die Wut auf seinem Gesicht verwandelte sich in ein durchtriebenes, wissendes Lächeln.
»Wenn das nicht das Gypsymädchen ist«, sagte er gedehnt. »Wir müssen wirklich aufhören, ständig ineinander zu laufen.«
»So ist es«, murmelte ich. »Tut mir leid, dass ich dich angerempelt habe. Schon wieder.«
Ich war froh über die Dunkelheit, die die Schamröte auf meinen Wangen verbarg. Gewöhnlich war ich kein solches Trampel, und ich achtete sogar meistens darauf, wo ich hinging. Dann war da noch die Tatsache, dass ich vor dieser Woche noch nie mit Logan gesprochen hatte, und jetzt lief ich ihm wieder und wieder in den Weg – im wörtlichen Sinne. Der Spartaner dachte wahrscheinlich, ich würde ihn verfolgen oder so. Dieser Gedanke sorgte dafür, dass mein Gesicht noch heißer wurde.
Ich wollte um ihn herumgehen, aber Logan trat mir in den Weg. Ich wechselte die Richtung, und wieder blockierte er mir den Weg.
»Was?«, blaffte ich, weil mir die ganze Situation mit jeder Sekunde peinlicher wurde. Besonders da Logans nasses Hemd förmlich an seinem Körper klebte und mir damit den Blick auf seinen Waschbrettbauch ermöglichte – einen Bauch, von dem ich kaum die Augen lassen konnte. »Willst du was?«
»Nur das Vergnügen deiner Gesellschaft, Gypsymädchen.«
Dann lächelte mich Logan an, ein kleines, aufreizendes Lächeln, das seine Lippen nach oben zog und seine Augen hellblau leuchten ließ. Mein Hirn musste den Geist aufgegeben haben oder so, weil ich für einen Moment keine Luft bekam, obwohl mein Herz in meiner Brust wie verrückt schlug. Bumm bumm bumm. Wenn es noch lauter hämmerte, musste Logan es einfach hören, und das wäre dann noch peinlicher.
Nachdem ich ihn ein paar Sekunden einfach nur angestarrt hatte, sprang mein Hirn wieder an, und ich erinnerte mich daran, mit wem ich hier eigentlich sprach. Das war der verdammte Logan Quinn, die männliche Schlampe der Mythos Academy. Er sprach wahrscheinlich nur deswegen mit mir, weil ich ihn vor Kurzem hatte abblitzen lassen und er es einfach noch mal versuchen wollte. Bestimmt war er davon überzeugt, dass ich einsam, freundlos und verzweifelt und daher leichte Beute war. Noch ein Mädchen, dessen Matratze er signieren konnte, um dann nie wieder mit mir zu sprechen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Morgan etwas zu Daphne sagte und dann in der Menge verschwand. Morgan musste auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Samson sein, und Logan würde mich nicht davon abhalten, herauszufinden, was sie im Schilde führten.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Meine Gesellschaft geht jetzt woanders hin.«
Logan öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber diesmal drängte ich mich an ihm vorbei und verschwand in der Dunkelheit.
Morgans hellblauer Pulli und ihre weißen Jeans hoben sich gut gegen das schattige Gras ab, was es einfach machte, ihr zu folgen. Na ja, das und die Tatsache, dass die Walküre bereits betrunken war. Sie schwankte von rechts nach links und hielt ab und zu an, um noch einen Schluck aus ihrem Becher zu nehmen, während sie vom Amphitheater langsam den Hügel hinauf Richtung Bibliothek ging.
Die Bibliothek der Altertümer schien mir nicht gerade der beste Ort für ein romantisches Stelldichein unter Geliebten zu sein, aber ich folgte Morgan, indem ich von einer Gruppe Leute zur nächsten driftete, von einem Baum zum nächsten, damit sie mich nicht entdeckte. Ich hätte mir die Mühe auch sparen können. Die Walküre sah sich nicht um, nicht ein einziges Mal. So viel zu Diskretion.
Ich fragte mich, ob Jasmine so herausgefunden hatte, dass ihre beste Freundin mit ihrem Freund schlief. Indem sie Morgan einfach gefolgt war, als die sich eines Nachts davongeschlichen hatte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Morgan McDougall auch nur ansatzweise so schlau war, wie sie selbst dachte.
Morgan erreichte die Hügelkuppe, und ich hielt an und tat so, als müsste ich mir meinen Turnschuh neu binden, um ihr Zeit zu geben, den oberen Hof zu überqueren. Dann stieg ich hinter ihr den Hügel hinauf.
Als ich oben ankam, sah ich noch, wie Morgan die breiten Bibliotheksstufen hinaufging. Die Bibliothek war wegen des Lagerfeuers geschlossen, und die Walküre bog auf den breiten Arkadengang ab, der sich um das Gebäude zog. Dort standen schmiedeeiserne Tische und Stühle verteilt, damit sich die Schüler bei warmem Wetter zum Lernen auch nach draußen setzen konnten.
Ich eilte nicht hinter ihr die Stufen hinauf, sondern blieb auf der Grasfläche, um mich dort auf derselben Höhe wie die Walküre von Baum zu Baum zu bewegen. So konnte ich sie im Blick behalten.
Morgan bog gerade um eine Ecke, als eine Hand sie packte und in die Schatten zog. Ich erstarrte hinter einem Baum und fragte mich, ob die Person, die Jasmine ermordet hatte, doch noch um die Bibliothek schlich. Vielleicht war der Bösewicht nicht einfach verschwunden, nachdem er die Schale der Tränen gestohlen hatte, wie alle dachten.
Aber dann kicherte Morgan, und ich hörte ein lautes, schmatzendes Geräusch. Ich verdrehte die Augen. Klang, als wäre Samson vor ihr angekommen.
»Wurde aber auch Zeit, dass du kommst.«
Tatsächlich, es war Samsons Stimme, die vom halbdunklen Arkadengang zu mir herüberwehte. Ich kniff die Augen zusammen. Dank der Lampen, die sich um die Bibliothek zogen, konnte ich vage den Wikinger erkennen, der in den Schatten stand.
»Mmmmhmmm«, stimmte Morgan zu.
Ich hörte weitere schmatzende Geräusche, dann etwas, das klang, als würde ein Reißverschluss nach unten gezogen. Morgan kicherte noch einmal, und ich hörte das Rascheln von Kleidung. Eine Minute später keuchte Samson auf.
»Oh, yeah, Baby. Härter. Härter.«
Morgan gab ein kehliges Geräusch von sich und kam der Bitte offensichtlich nach.
Ich verzog das Gesicht und widerstand der Versuchung, mir die Hände über die Ohren zu schlagen und zum Lagerfeuer zurückzurennen. Ich hatte gehofft, die beiden würden sich noch einmal über Jasmines Tod unterhalten. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier zuzuhören, wie Morgan ihrem heimlichen Freund einen blies. Igitt. Riesenbähigitt …
Plötzlich rieselten Steinstückchen von einem oberen Stockwerk der Bibliothek herunter. Es hörte sich an, als würde es Murmeln regnen, aber Morgan und Samson waren zu beschäftigt, um es zu bemerken. Ich trat unter dem Baum hervor und sah dankbar für die Ablenkung nach oben.
Eine der Steinstatuen stand dichter am Rand des Daches, als sie sollte. Während ich hinsah, schwankte die Statue vor und zurück. Dann kippte sie nach vorne und begann ihren unaufhaltsamen Fall nach unten – wo sie direkt auf Morgan und Samson landen würde.
»Vorsicht!«, schrie ich.
Überrascht lösten sich die beiden voneinander. Samson sah auf und entdeckte die Statue, die auf sie zuraste. Er warf sich auf Morgan und brachte sich selbst und sie aus der Gefahrenzone. Hinter ihnen krachte, an genau der Stelle, an der sie noch zwei Sekunden vorher gestanden hatten, die Statue auf den Boden und zerbrach in tausend Stücke.
Ich rannte die nächstgelegene Bibliothekstreppe hinauf und eilte zu ihnen. Die beiden lagen auf dem Boden des Arkadenganges. »Geht es euch gut?«
»Runter von mir«, murmelte Morgan. »Du verknitterst meinen neuen Kaschmirpullover.«
Mit einem Grunzen rollte sich Samson von ihr herunter und damit in eine Lichtpfütze. Ich sah, dass er alle Kleidung unterhalb der Hüfte nach unten gezogen hatte, um Morgan ihren Job einfacher zu machen. Schnell wandte ich den Blick ab.
»Ähm, geht es euch beiden gut?«, fragte ich wieder und sah absolut nicht hin, während Samson sich aufrappelte und alles wieder in seiner Hose verstaute.
»Uns ging’s prima, bis du aufgetaucht bist, du Freak«, murmelte Morgan.
Sie stand auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung und starrte mich böse an. Dann rümpfte sie die Nase und schaute zu dem schmiedeeisernen Tisch, auf dem sie ihr Bier abgestellt hatte. Der Tisch war während des Aufruhrs zusammen mit dem Becher umgefallen, und die Walküre schien sich mehr über ihr vergossenes Getränk aufzuregen als über die Tatsache, dass ihr fast ein Steinbrocken das Hirn aus den Ohren gequetscht hätte.
»Was tust du überhaupt hier?«, fragte Samson und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Hast du uns nachspioniert?«
Mein Hirn war plötzlich vollkommen leer. »Ich …«
»Sie ist ein Gypsyfreak. Sie ist niemand. Wen interessiert, was sie getan hat?«, sagte Morgan. »Lass uns gehen. Jetzt. Ich habe dir doch gesagt, dass es eine blöde Idee war. Wir hätten einfach zu den Wohnheimen zurückgehen sollen. Aber nein, du stehst ja drauf, es in der Öffentlichkeit zu treiben.«
Samson schnaubte. »Oh, als hättest du was dagegen. Heute Nachmittag hast du mich im Innenhof quasi angefallen.«
Morgan stemmte die Hände in die Hüfte, öffnete den Mund und wollte Samson offensichtlich Saures geben. Aber dann fiel der Walküre ein, dass ich immer noch dastand und sie beobachtete.
Ich wollte gerade protestieren, dass ich kein Gypsyfreak, kein Niemand war, aber Morgan warf mir einen weiteren bösen Blick zu, packte Samsons Hand und zerrte ihn hinter sich her, als sie an mir vorbeistürmte.
Das war mal richtig mies gelaufen. Ich hatte nichts Nützliches gehört, und jetzt dachten die beiden, ich sei eine kranke Spannerin, die gerne Leute beim Oralsex beobachtete. Ich seufzte.
Aber dann verdrängte ich den Gedanken an die letzten paar peinlichen Minuten und starrte an der Bibliothek nach oben. Meine Mutter Grace hatte als Ermittlerin nie an Zufälle geglaubt, und sie hatte mir beigebracht, sie ebenfalls nicht einfach hinzunehmen. Also konnte ich nicht anders, als mich zu fragen, wie und warum sich diese Statue genau in dem Moment vom Dach gelöst hatte, als Morgan und Samson darunter standen.
Hatte noch jemand herausgefunden, dass sie sich heimlich wegschlichen? Jemand, der einem oder sogar beiden schaden wollte? Wenn ja, wer würde so etwas tun? Und warum?
Jasmine war die Einzige, die gute Gründe gehabt hatte, Morgan und Samson zu hassen. Zumindest, soweit ich wusste. Aber Jasmine war tot. Ich wusste nicht, wie alles in Mythos lief, aber ich war mir ziemlich sicher, dass tote Leute keine Statuen von Gebäuden werfen konnten.
Ich starrte die steinernen Überreste an. Die Statue war größer gewesen als ich, aber jetzt war nicht mehr allzu viel davon übrig. Sie war so alt gewesen und dann so tief gefallen, dass sie sich beim Aufprall so ziemlich in Pulver aufgelöst hatte. Aber hier und da lagen größere Trümmerstücke. Vielleicht konnte ich meine Gypsygabe einsetzen, um etwas daraus zu lesen. Vielleicht war es ja wirklich ein Unfall gewesen, und der Stein würde mir nur erzählen, wie alt er war und wie das Wetter ihn in all diesen Jahren verschlissen hatte. Oder vielleicht, nur vielleicht, hatte jemand die Statue heruntergestoßen, und ich würde genau sehen, wer es gewesen war – und so der Antwort auf die Frage, wer Jasmine umgebracht hatte, deutlich näher kommen.
Ich streckte gerade die Hand aus, um einen Steinbrocken zu berühren, um zu sehen, ob ich Schwingungen davon empfing, als die Luft hinter mir von einem tiefen, unheilvollen Knurren zerrissen wurde.
Ein Knurren, das bösartiger klang als alles, was ich je gehört hatte.
Ich erstarrte, dann drehte ich mich langsam um.
Ein … ein Monster stand hinter mir auf dem Pflaster. Es sah aus wie ein Panther, nur größer. Viel größer. Seine Schultern waren fast auf einer Höhe mit meiner Taille, und er war viel länger, als ich hoch war. Sein Fell schimmerte in vollkommenem Schwarz mit einem leichten Rotton darin, den ich nicht verstand. Die Augen des Panthers waren ebenfalls rot – ein dunkles, glühendes Rot, das mich an Feuer, Blut und Tod denken ließ. Die Kreatur sah aus wie eine Zeichnung in meinem Mythengeschichtsbuch, ein zum Leben erwecktes mythologisches Monster, das nur darauf wartete, mich zu fressen.
Der Panther, die Katze oder was auch immer es war, riss sein Maul auf und gab ein weiteres Mal ein tiefes Knurren von sich. Die Lampen um die Bibliothek beleuchteten jeden einzelnen seiner rasiermesserscharfen Zähne.
Dann klappte das Monster sein Maul wieder zu, leckte sich mit einer langen, roten Zunge über die Lefzen und kam auf mich zu.