«Einen mutmaßlichen Mord», verbessert Detective Chief Inspector Harry Nelson sofort.
«Ja, natürlich», sagt Phil eifrig und wirft Ruth dabei einen Blick zu, der in etwa ausdrückt: «Siehst du, ich rede mit einem echten Detective!» Ruth verzieht keine Miene.
«Das ist Doktor Ruth Galloway», fährt Phil fort. «Unsere Expertin für forensische Fragen.»
«Freut mich sehr», sagt Nelson, ohne zu lächeln. Dann deutet er auf Ruths verschlossene Bürotür. «Können wir vielleicht …?»
Ruth schiebt ihre Schlüsselkarte ins Schloss und öffnet die Tür. Ihr Büro ist winzig, es misst kaum sechs Quadratmeter. Eine Wand wird komplett von Bücherregalen eingenommen, eine weitere von der Tür, die dritte von einem schmuddeligen Fenster mit Blick auf einen nicht minder schmuddeligen Zierteich. An der vierten Wand steht Ruths Schreibtisch, über dem ein gerahmtes Indiana Jones-Plakat hängt – rein ironisch natürlich, wie sie stets hastig versichert. Wenn Ruth hier ihre Tutorien hat, sitzt ein Teil der Studenten meist auf dem Gang, und sie hält die Tür mit einem Stopper in Katzenform offen, den Peter ihr einmal geschenkt hat. Jetzt allerdings lässt sie die Tür hinter sich zufallen. Phil und der Detective bleiben verlegen stehen und wissen nicht, wohin mit sich. Als Nelson sich mit finsterer Miene an die Fensterbank lehnt, kommt es Ruth vor, als verdunkelte sich das Zimmer. Er wirkt viel zu breit, zu groß, zu erwachsen für diesen Ort.
«Bitte.» Ruth deutet auf die Stühle, die neben der Tür gestapelt stehen. Phil überlässt Nelson mit großer Geste den ersten Stuhl und kann sich offenbar nur knapp davon abhalten, ihn vorher noch mit dem Pulloverärmel abzustauben.
Ruth zwängt sich hinter ihren Schreibtisch und gibt sich kurz der Illusion hin, dadurch sicherer und autoritärer zu wirken. Das hält jedoch nur so lange an, bis Nelson sich zurücklehnt, die Beine übereinanderschlägt und mit energisch-monotoner Stimme das Wort an sie richtet. Er hat einen nordenglischen Akzent, was ihn nur noch zupackender erscheinen lässt, so als hätte er schlicht nicht die Zeit für die langgezogenen Norfolk-Vokale.
«Wir haben Knochen gefunden», sagt er. «Sieht aus, als stammten sie von einem Kind, aber sie wirken irgendwie alt. Ich muss wissen, wie alt.»
Ruth schweigt, doch Phil mischt sich eifrig ein. «Wo haben Sie die Knochen denn gefunden, Inspector?»
«Beim Vogelschutzgebiet. Im Salzmoor.»
Phil sieht Ruth an. «Aber das ist ja gleich bei dir …»
«Ja, ich weiß», bremst ihn Ruth. «Wie kommen Sie darauf, dass die Knochen alt sein könnten?»
«Sie sind bräunlich verfärbt, wirken aber sonst gut erhalten. Ich dachte, das ist Ihr Fachgebiet?» Sein Ton wird unvermittelt aggressiver.
«So ist es», erwidert Ruth ruhig. «Deshalb sind Sie ja hier, nehme ich an.»
«Können Sie mir nun sagen, ob es neuere Knochen sind, oder nicht?», fragt Nelson unvermindert streitlustig.
«Neuere Funde lassen sich meist schnell bestimmen», sagt Ruth. «Man erkennt sie am Erscheinungsbild und an der Oberfläche. Mit älteren Knochen ist es da schon komplizierter. Oft lässt sich nicht sagen, ob sie nun fünfzig oder zweitausend Jahre alt sind. Dann muss man eine Radiokarbonanalyse durchführen.»
«Doktor Galloway ist Expertin für das Konservieren von Knochenmaterial.» Schon wieder Phil, der vor lauter Aufregung ständig dazwischenquatscht. «Sie war sogar in Bosnien bei den Kriegsgräbern im Einsatz.»
«Können Sie sich die Sache mal ansehen?», fragt Nelson, ohne Phil zu beachten.
Ruth tut, als würde sie nachdenken, obwohl sie längst geködert ist. Knochen! Im Salzmoor! Wo sie damals ihre erste, unvergessliche Ausgrabung mit Erik absolviert hat. Das kann alles Mögliche bedeuten. Eine Entdeckung vielleicht. Oder aber …
«Und Sie vermuten einen Mord?», fragt sie.
Nelson sieht zum ersten Mal etwas unbehaglich drein. «Darüber möchte ich lieber nicht sprechen», sagt er ernst. «Zumindest jetzt noch nicht. Können Sie sich die Sache ansehen?»
Ruth steht auf. «Ich habe eine Veranstaltung um zehn. Aber in der Mittagspause hätte ich Zeit.»
«Dann schicke ich Ihnen um zwölf einen Wagen», sagt Nelson.
Zu Ruths heimlicher Enttäuschung schickt Nelson ihr keinen Streifenwagen mit Blaulicht und allem Drum und Dran. Stattdessen kommt er selbst in einem verdreckten Mercedes. Ruth wartet wie vereinbart am Haupteingang, und Nelson bequemt sich nicht einmal aus dem Wagen, sondern beugt sich nur herüber, um die Beifahrertür zu öffnen. Ruth steigt ein und fühlt sich dick und unförmig dabei, wie immer im Auto. Sie wird von der krankhaften Befürchtung geplagt, dass der Gurt einmal nicht um sie herumpassen oder ein versteckter Gewichtssensor einen grellen Alarmton auslösen könnte. «Neunundsiebzig Kilo! Neunundsiebzig Kilo an Bord! Alarmstufe Rot! Schleudersitzfunktion einleiten!»
Nelson mustert ihren Rucksack. «Haben Sie alles, was Sie brauchen?»
«Ja.» Sie hat ihre Taschenausrüstung dabei: eine Spitzkelle, eine kleine Handschaufel, Tiefkühlbeutel für Fundstücke und Bodenproben, Klebeband, Notizbuch, Bleistifte, Pinsel, Kompass und eine Digitalkamera. Außerdem hat sie Turnschuhe angezogen und eine Sicherheitsweste. Entnervt ertappt sie sich bei dem Gedanken, dass sie vermutlich furchtbar aussieht.
«Und Sie wohnen also in der Nähe vom Salzmoor?», fragt Nelson, während er den Wagen mit quietschenden Reifen durch den Verkehr steuert. Er fährt wie die berühmte gesengte Sau.
«Ja.» Ruth hat das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, obwohl sie eigentlich gar nicht weiß, warum. «An der New Road.»
«An der New Road!» Nelson lacht bellend auf. «Ich dachte, da wohnen nur Vogel-Freaks.»
«Der Vogelschutzwart wohnt tatsächlich gleich nebenan.» Ruth versucht, höflich zu bleiben, während sie mit dem Fuß immer wieder unwillkürlich auf eine nicht vorhandene Bremse tritt.
«Für mich wäre das nichts», sagt Nelson. «Viel zu einsam.»
«Mir gefällt es», sagt Ruth. «Ich habe dort eine Ausgrabung gemacht und bin geblieben.»
«Eine Ausgrabung? Was Archäologisches?»
«Ja.» Ruth denkt zurück an den Sommer vor zehn Jahren. Die Abende am Lagerfeuer, wo sie halb verkohlte Würstchen aßen und rührselige Lieder sangen. Das Vogelzwitschern am Morgen, der blühende Strandflieder, der das ganze Sumpfland lila färbte. Die Schafherde, die mitten in der Nacht ihre Zelte niedertrampelte. Die Angst, als Peter bei Flut auf dem Watt festsaß und Erik auf allen vieren herüberkroch, um ihn zu retten. Die fiebrige Aufregung, als sie den ersten hölzernen Pfahl entdeckten, den Beweis, dass der Henge tatsächlich existierte. Ruth hat den Klang von Eriks Stimme noch im Ohr, als er sich umdrehte und ihnen über die nahende Flut hinweg zurief: «Wir haben ihn gefunden!»
Sie sieht Nelson an. «Wir waren auf der Suche nach einem Henge.»
«Einem Henge? So was wie Stonehenge?»
«Ja, genau. Das Wort bezeichnet im Grunde nur einen kreisförmigen Erdwall mit einem Graben drum herum. Im Inneren des Kreises stehen meistens Pfähle.»
«Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Stonehenge eigentlich eine Art riesige Sonnenuhr war. Zur Bestimmung der Uhrzeit.»
«Wir wissen nicht genau, wozu es tatsächlich diente», sagt Ruth. «Aber fest steht in jedem Fall, dass es dabei um Rituale ging.»
Nelson wirft ihr einen merkwürdigen Blick zu.
«Rituale?»
«Ja. Eine Kultstätte für Gaben und Opferhandlungen.»
«Opfer?», wiederholt Nelson. Er wirkt plötzlich ernstlich interessiert, der leicht herablassende Ton ist aus seiner Stimme verschwunden.
«Gelegentlich finden wir Belege für Opferrituale. Gefäße, Speere, Tierknochen.»
«Was ist mit Menschenknochen? Haben Sie auch schon mal menschliche Knochen gefunden?»
«Ja, hin und wieder schon.»
Nach kurzem Schweigen fragt Nelson: «Ist das nicht ein etwas komischer Ort für so ein Henge-Ding? Direkt am Meer?»
«Damals war hier noch kein Meer. Landschaften verändern sich im Lauf der Zeit. Vor zehntausend Jahren war unsere Insel noch mit dem Kontinent verbunden. Man hätte von hier zu Fuß bis nach Skandinavien gehen können.»
«Im Ernst?»
«O ja. King’s Lynn war früher einmal ein großer Gezeitensee. Das ist auch die Bedeutung des Wortes ‹Lynn›: Es ist das keltische Wort für ‹See›.»
Nelson dreht sich zu ihr um und mustert sie skeptisch. Der Wagen gerät gefährlich ins Schlingern. Ruth fragt sich, ob er wohl glaubt, sie hätte sich das ausgedacht.
«Und was war da, wo jetzt das Meer ist?»
«Ebenes Sumpfland. Wir vermuten, dass unser Henge am Rand eines Moores errichtet worden ist.»
«Scheint mir trotzdem ein komischer Ort für so was.»
«Sumpfgebiete waren in der prähistorischen Zeit von großer Bedeutung», erläutert Ruth. «Sie sind so etwas wie symbolische Landschaften. Wir vermuten, dass sie deshalb so wichtig waren, weil sie Land und Wasser in sich vereinen. Oder auch Leben und Tod.»
Nelson schnaubt verständnislos. «Hä?»
«Nun, ein Sumpf ist kein Festland, er ist aber auch kein Gewässer, sondern eine Mischung aus beidem. Wir wissen, dass Sümpfe für den prähistorischen Menschen von großer Bedeutung waren.»
«Und woher wissen wir das?»
«Weil wir entsprechende Gegenstände im Randgebiet von Sümpfen gefunden haben. Votivgaben.»
«Votivgaben?»
«Opfergeschenke an die Götter, die an heiligen Stätten dargebracht wurden. Manchmal auch Leichen. Sie haben doch sicher schon von Moorleichen gehört? Vom Lindow-Mann beispielsweise?»
«Kann sein», antwortet Nelson zögernd.
«Leichen, die in torfhaltigem Boden begraben wurden, sind meist fast vollständig erhalten. Und es gibt Forscher, die glauben, dass diese Toten absichtlich im Moor beigesetzt wurden, um die Götter gnädig zu stimmen.»
Nelson wirft ihr einen weiteren Blick zu, sagt aber nichts mehr. Sie nähern sich jetzt dem Salzmoor, von der unteren Straße her, die direkt zum Besucherparkplatz führt. Ein paar einsame, windgepeitschte Tafeln informieren über die verschiedenen Vögel, die im Sumpfgebiet anzutreffen sind. Ein geschlossener Kiosk bewirbt Eissorten, deren leuchtende Farben bereits verblasst sind. Man kann sich kaum vorstellen, dass Leute hier Picknick machen und ihr Eis in der Sonne genießen. Der Ort scheint wie gemacht für Wind und Regen.
Der Parkplatz ist leer, bis auf einen einsamen Streifenwagen, dessen Insasse aussteigt, als er sie kommen sieht. Er wirkt verfroren und schlecht gelaunt.
«Doktor Ruth Galloway», stellt Nelson sie vor. «Detective Sergeant Clough.»
DS Clough nickt trübsinnig, und Ruth hat den Eindruck, dass es nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählt, sich stundenlang auf einem windgepeitschten Moor herumzutreiben. Nelson hingegen kann es offenbar kaum abwarten, er tritt sogar ein wenig auf der Stelle wie ein Rennpferd, das die Galoppbahn schon vor Augen hat. Er geht voraus auf den Kiesweg, den ein Schild als «Besucherpfad» ausweist. Sie passieren einen hölzernen Unterstand, der auf Pfeilern über dem Sumpfland thront. Bis auf ein paar Chipstüten und eine leere Coladose auf der umlaufenden Plattform ist er leer.
Nelson bleibt nicht einmal stehen, er deutet nur im Vorbeigehen auf den Abfall und bellt: «Mitnehmen.» Ruth kann sich eine gewisse Anerkennung für seine Sorgfalt nicht verkneifen, wenn auch nicht für sein Benehmen. Offenbar hat Polizeiarbeit eine gewisse Ähnlichkeit mit der Arbeit des Archäologen. Auch sie würde alles einsammeln, was sich an einer Ausgrabungsstätte findet, und es sorgsam beschriften, um den Kontext zu erkennen. Auch sie wäre bereit, tage- und wochenlang zu suchen, immer in der Hoffnung, etwas Bedeutsames zu finden. Und auch sie, das wird ihr mit plötzlichem Schaudern klar, befasst sich vorwiegend mit dem Tod.
Ruth ist bereits außer Atem, als sie endlich an die Stelle kommen, die mit blauweißem Absperrband, wie sie es von Verkehrsunfällen kennt, gekennzeichnet ist. Nelson ist gut zehn Meter vor ihr, er hat die Hände in die Taschen geschoben und den Kopf vorgereckt, als würde er in die Luft schnuppern. Clough trottet hinter ihm her, die Plastiktüte mit dem Abfall aus dem Unterstand in der Hand.
Hinter dem Absperrband findet sich ein nicht sehr tiefes Loch, das zur Hälfte mit schlammigem Wasser gefüllt ist. Ruth bückt sich unter der Absperrung durch und hockt sich hin, um hineinzuschauen. Im schweren Schlamm schimmern deutlich sichtbar Knochen.
«Wie haben Sie die bloß gefunden?», fragt sie.
Diesmal antwortet Clough. «Auf Hinweis einer Passantin, die mit ihrem Hund spazieren war. Das Tier hatte plötzlich einen Knochen im Maul.»
«Haben Sie den noch? Den Knochen, meine ich.»
«Auf dem Revier.»
Ruth fotografiert den Fundort und macht in ihrem Notizbuch eine grobe Lageskizze. Sie befinden sich im äußersten Westen des Sumpfgebiets – hier hat sie noch nie gegraben. Das Strandstück, wo der Henge entdeckt wurde, liegt gut drei Kilometer östlich. Ruth kniet sich auf den schlammigen Boden und macht sich sorgfältig daran, mit einem Plastikbecher aus ihrer Ausgrabungsausrüstung das Wasser abzuschöpfen. Nelson kann seine Ungeduld kaum bezähmen.
«Können wir da nicht mithelfen?», fragt er.
«Nein», antwortet Ruth knapp.
Als das Loch weitgehend wasserfrei ist, schlägt ihr Herz schneller. Vorsichtig schöpft sie einen weiteren Becher Wasser ab, streicht etwas Schlamm beiseite und betrachtet das, was sich dort vor ihr im dunklen Boden abzeichnet.
«Und?» Nelson schaut ihr erwartungsvoll über die Schulter.
«Eine Leiche», sagt Ruth zögernd. «Aber …»
Langsam zieht sie ihre Kelle hervor. Sie darf nichts überstürzen. Eine einzige kleine Nachlässigkeit kann ganze Ausgrabungen ruinieren, das hat sie selbst häufig genug erlebt. Und so trägt sie, dem zähneknirschenden Nelson zum Trotz, ganz behutsam den durchnässten Boden ab. Darunter kommt eine leicht zur Faust geballte Hand zum Vorschein. Um das Handgelenk liegt ein Armband, das offenbar aus Gras geflochten ist.
«Ach du Schande!», murmelt Nelson hinter ihr.
Ruth arbeitet jetzt wie in Trance. Sie markiert den Fund auf ihrem Lageplan, notiert die Ausrichtung. Dann macht sie ein Foto und beginnt erneut zu graben.
Diesmal stößt sie mit der Kelle auf Metall. So langsam und sorgfältig wie zuvor greift Ruth in das Loch und zieht den Gegenstand aus dem Schlamm. Stumpf glänzt er im Winterlicht, wie die Münze im Weihnachtskuchen: ein verbogenes Stück Metall, in der Form eines Halbkreises.
«Was ist das denn?» Nelsons Stimme dringt wie aus einer anderen Welt an ihr Ohr.
«Ich glaube, es ist ein Torques», antwortet Ruth versonnen.
«Und was soll das bitte sein?»
«Ein Halsring. Vermutlich aus der Eisenzeit.»
«Aus der Eisenzeit? Und wann war die?»
«Vor ungefähr zweitausend Jahren», sagt Ruth.
Clough lacht unvermittelt auf, und Nelson wendet sich ohne ein weiteres Wort ab.
Nelson fährt Ruth zur Universität zurück. Er brütet düster vor sich hin, doch Ruth ist ganz außer sich vor Aufregung. Eine Leiche aus der Eisenzeit – denn eine solche Moorleiche muss natürlich aus der Eisenzeit stammen, dieser Epoche ritueller Tötungen und sagenumwobener Schätze! Was hat das zu bedeuten? Der Körper liegt ein ganzes Stück vom Henge entfernt, aber könnten die beiden Funde vielleicht doch zusammenhängen? Der Henge stammt aus der frühen Bronzezeit, mehr als tausend Jahre vor der Eisenzeit. Doch ein weiterer Fund am selben Ort ist kein bloßer Zufall. Ruth kann es kaum erwarten, Phil davon zu erzählen. Vielleicht sollten sie auch die Presse informieren. Ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit wird dem Institut sicher nicht schaden.
Plötzlich sagt Nelson: «Sind Sie sich mit der Datierung ganz sicher?»
«Was den Torques angeht, ja, der stammt mit Sicherheit aus der Eisenzeit, und die logische Folgerung wäre, dass er zusammen mit der Leiche begraben wurde. Aber ganz sicher wissen wir das erst, wenn wir eine 14C-Datierung durchführen.»
«Was ist das?»
«14C ist ein Kohlenstoff-Isotop, das in der Erdatmosphäre enthalten ist. Es wird von Pflanzen aufgenommen, die Pflanzen werden von Tieren gefressen und die Tiere dann wiederum von uns. Das bedeutet, dass wir alle ständig Radiokohlenstoff zu uns nehmen, bis wir sterben. Danach nehmen wir nichts mehr auf, und der Radiokohlenstoff in unseren Knochen zerfällt ganz langsam. Man kann das Alter von Knochen bestimmen, indem man nachweist, wie viel 14C noch in ihnen enthalten ist.»
«Und wie genau ist diese Methode?»
«Nun, man muss natürlich die kosmische Strahlung einkalkulieren, die die Funde beeinflussen kann … Sonnenflecken, Sonneneruptionen, Atomtests und dergleichen. Aber bis auf ein paar hundert Jahre plus oder minus ist die Methode schon recht exakt. In jedem Fall können wir damit nachweisen, ob die Knochen in etwa aus der Eisenzeit stammen.»
«Wann war denn diese Eisenzeit?»
«Ganz genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen, aber ungefähr von 700 vor bis 43 nach Christus.»
Nelson schweigt einen Augenblick, während er diese Informationen verdaut, dann fragt er: «Und wieso liegt da eine Leiche aus der Eisenzeit im Moor?»
«Als Gabe an die Götter. Möglicherweise war sie an Pflöcken festgebunden. Haben Sie das Gras am Handgelenk gesehen? Das könnte eine Art Schnur gewesen sein.»
«Mein Gott. Festgebunden und ihrem Schicksal überlassen?»
«Ja, möglicherweise. Vielleicht war sie aber auch schon tot, als sie dort angebunden wurde. In dem Fall waren die Pflöcke nur zur Fixierung gedacht.»
«Mein Gott», sagt Nelson noch einmal.
Plötzlich fällt Ruth wieder ein, warum sie hier mit diesem Mann in seinem Wagen sitzt. «Wie kamen Sie eigentlich darauf, dass es sich um neuere Knochen handeln könnte?», fragt sie.
Nelson seufzt. «Vor etwa zehn Jahren ist hier ganz in der Nähe ein Kind verschwunden. Wir haben nie eine Leiche gefunden. Ich dachte, vielleicht ist sie das ja.»
«Sie?»
«Sie hieß Lucy Downey.»
Ruth schweigt. Ein Name macht alles gleich viel realer. Deshalb hat ja auch der Archäologe, der den ersten echten Menschen fand, dem Skelett gleich einen Namen gegeben – kurioserweise auch den Namen Lucy.
Nelson seufzt noch einmal. «Ich habe im Zusammenhang mit diesem Fall ein paar Briefe bekommen. Das ist seltsam, was Sie mir da vorhin erzählt haben.»
«Was genau?», fragt Ruth verwirrt.
«Über Rituale und so was. Diese Briefe sind nämlich voll mit allem möglichen krausen Zeug, aber eins kommt immer wieder vor: dass Lucy ein Opfer war und wir sie dort finden werden, wo die Erde auf den Himmel trifft.»
«Wo die Erde auf den Himmel trifft», wiederholt Ruth. «Das kann praktisch überall sein.»
«Richtig. Aber dieser Ort hier, da fühlt man sich doch irgendwie wie am Ende der Welt. Und deshalb … als ich hörte, dass dort Knochen aufgetaucht sind …»
«Da dachten Sie, es könnten ihre sein?»
«Ja. Die Ungewissheit ist das Schlimmste für die Eltern. Wenn wir die Leiche endlich finden würden, hätten sie wenigstens die Möglichkeit zu trauern.»
«Dann sind Sie also sicher, dass sie tot ist?»
Nelson zögert einen Moment und konzentriert sich darauf, kurz vor einer scharfen Kurve einen Laster zu überholen. «Ja», sagt er schließlich. «Eine Fünfjährige, die mitten im November verschwindet und dann zehn Jahre lang nicht mehr auftaucht? Sie muss tot sein.»
«Im November?»
«Ja. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren.»
Ruth denkt an die langen, dunklen Abende, den Wind, der über das Moor heult. Sie stellt sich die Eltern vor, wie sie warten und beten, dass sie ihre Tochter zurückbekommen, wie sie jedes Mal zusammenzucken, wenn das Telefon klingelt, jeden Tag von neuem auf Nachricht hoffen. Und wie die Hoffnung dann nach und nach versiegt und der dumpfen Gewissheit des Verlusts weicht.
«Was ist mit den Eltern?», fragt sie. «Leben die noch hier in der Gegend?»
«Ja. In der Nähe von Fakenham.» Nelson weicht schlingernd einem weiteren Lastwagen aus, und Ruth kneift die Augen zu. «In solchen Fällen», fährt er fort, «waren es ja meistens die Eltern.»
Ruth ist entsetzt. «Die Eltern bringen ihr eigenes Kind um?»
Nelsons Ton klingt sachlich, die nordenglischen Vokale noch dumpfer als zuvor. «In neun von zehn Fällen. Da hat man diese völlig verzweifelten Eltern, Pressekonferenzen, bitterliche Tränen, und am Ende findet man das Kind im Garten hinterm Haus verscharrt.»
«Aber das ist ja furchtbar.»
«Ja. In diesem Fall allerdings … ich weiß nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht waren. Sie sind so ein nettes Paar, nicht mehr sonderlich jung, sie haben jahrelang versucht, ein Kind zu kriegen, und dann kam Lucy. Sie war ihr Ein und Alles.»
«Wie schrecklich für sie», sagt Ruth hilflos.
«Ja, schrecklich.» Nelsons Stimme bleibt ausdruckslos. «Aber sie haben uns nie Vorwürfe gemacht, weder mir noch dem Ermittlungsteam. Sie schicken mir jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Darum wollte ich auch …» Er ringt kurz nach Worten. «Ich hätte die Sache einfach gern für sie zu Ende gebracht.»
Sie sind wieder bei der Universität angekommen. Nelson hält mit quietschenden Reifen vor dem Naturwissenschaftsgebäude. Ein paar Studenten auf dem Weg zur nächsten Vorlesung bleiben stehen und schauen herüber. Obwohl es erst halb drei ist, wird es bereits dämmrig.
«Danke fürs Herbringen», sagt Ruth leicht verlegen. «Ich lasse die Knochen für Sie datieren.»
«Danke», sagt Nelson. Plötzlich scheint er Ruth zum ersten Mal richtig anzusehen, und sie wird sich schmerzlich ihrer zerzausten Haare und ihrer schlammverklebten Kleider bewusst. «Dieser Fund … der ist vielleicht wichtig für Sie, oder?»
«Ja», antwortet Ruth. «Vielleicht.»
«Dann ist ja zumindest einer glücklich.» Er fährt los, als Ruth ausgestiegen ist, ohne sich noch einmal zu verabschieden. Sie rechnet nicht damit, ihn jemals wiederzusehen.