16

Sie warten die Ebbe ab und brechen auf, als es hell wird. Nachdem sie den Henge-Ring wieder verlassen haben, mit der toten Scarlet in einem Leichensack der Polizei, wird Ruth nach Hause gebracht. Sie lässt Nelson auf dem Parkplatz zurück, dort, wo sie die ersten Knochen gefunden haben. Er wartet auf eine Kollegin, die ihn zu Scarlets Eltern begleiten soll, um ihnen die Nachricht zu überbringen. Ruth bietet nicht an mitzukommen. Natürlich ist das reine Feigheit, doch im Augenblick würde sie sich eindeutig lieber in die Fluten stürzen und ertrinken, als Delilah Henderson unter die Augen zu treten. Nelson geht es vermutlich ähnlich, aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Er spricht weder mit Ruth noch mit den Tatortbeamten, die nun in ihren weißen Overalls eintreffen. Er hält sich abseits und blickt so finster und abweisend, dass ihm keiner zu nahe kommt.

Auf dem Heimweg bittet Ruth den Fahrer anzuhalten, weil sie sich übergeben muss. Zu Hause, als sie die Radionachrichten hört, muss sie sich gleich noch einmal übergeben. «Auf der Suche nach der vierjährigen Scarlet Henderson hat die Polizei eine Leiche gefunden, bei der es sich vermutlich um das vermisste Mädchen handelt. Unbestätigten Berichten zufolge …» Das vermisste Mädchen. Wie können diese wenigen Worte die schmerzliche, schreckliche Wahrheit ausdrücken, den Anblick dieses kleinen Arms mit dem silbernen Taufarmband um das Handgelenk beschreiben? Ein kleines Mädchen, das den Menschen, die es geliebt haben, entrissen wurde: ermordet, im Sand verscharrt, verborgen unter dem Meer. Wann hat er sie dort begraben? Nachts? Wenn Ruth aus dem Fenster geschaut hätte, hätte sie dann den Lichtschein gesehen, der sie wie ein Irrlicht zu dem toten Kind geführt hätte?

Sie ruft Phil an und sagt ihm, dass sie heute nicht kommen wird. Er platzt fast vor Neugier, denkt aber immerhin noch daran, Mitgefühl für Scarlets Eltern zu äußern: «Die armen Leute, man will es sich gar nicht vorstellen.» Doch Ruth muss es sich vorstellen, den ganzen Tag über. Zehn Minuten später ruft Peter an. Ob er vorbeikommen soll? Sie lehnt ab, sagt, es gehe ihr gut. Sie will Peter nicht sehen – sie will überhaupt niemanden sehen.

Gegen Mittag wimmelt es auf dem Salzmoor von Menschen. Es hat wieder angefangen zu regnen, trotzdem sieht Ruth die kleinen Gestalten über den Sand krabbeln und in der Ferne die Scheinwerfer der Polizeischiffe auf dem Meer. Ein Schwarm Journalisten zieht draußen vorbei, schnatternd und kreischend wie die Zugvögel. Ruth sieht David vor seinem Haus stehen, mit finsterer Miene und einem Fernglas in der Hand. Vermutlich findet er diese Invasion seines Salzmoors furchtbar. Die Vögel haben sich ängstlich verzogen, der Himmel dräut düster und wolkenverhangen. Zum Glück sind Sammy und Ed wieder in London, sodass Ruth ihre neugierigen Fragen nicht auch noch ertragen muss. Sie zieht die Vorhänge zu. Sie kann von Glück sagen, dass die Journalisten noch nicht auf sie gekommen sind.

Dann ruft Erik an. Er klingt versöhnlich und besorgt, doch Ruth wäre wohler, wenn sie nicht die ganze Zeit denken müsste, dass ihm die Ausgrabungsstätte mindestens so wichtig ist wie Scarlets Schicksal. Immerhin führt die Polizei ihre undisziplinierten Grabungen jetzt mitten im Henge-Ring durch. Für Erik (ganz ähnlich wie für David) ist der Ort damit dauerhaft ruiniert. Das kann er Ruth natürlich schlecht sagen, und so legt er rasch wieder auf, nachdem er ein paar Gemeinplätze über die «schreckliche Geschichte» abgesondert hat.

Trotz alledem ist sie immer noch geschockt, als sie den Fernseher einschaltet, um Nachrichten zu sehen, und ihr regendurchweichtes, graues Salzmoor auf dem Bildschirm sieht. «An diesem gottverlassenen Ort», kommentiert der Nachrichtensprecher mit Grabesstimme, «hat die Polizei heute am frühen Morgen ihre traurige Entdeckung gemacht …» Ruth wird auch hier nicht erwähnt. Danke, lieber Gott.

Das Telefon klingelt. Ruths Mutter. Keine gute Idee, lieber Gott.

«Ruth! Dieser schreckliche Ort, wo du wohnst, ist im Fernsehen!»

«Ich weiß, Mum.»

«Jetzt haben sie das arme kleine Mädchen also gefunden. Wir haben in der Bibelgruppe jeden Abend für es gebetet.»

«Ja, das kann ich mir denken.»

«Vater sagt, auf TV AM hätten sie auch dein Haus gezeigt.»

«Bestimmt.»

«Ist das nicht eine furchtbare Geschichte? Vater sagt, du sollst unbedingt alle Türen und Fenster gut verschließen.»

«Mach ich.»

«Das arme Kind. So ein hübsches kleines Ding. Hast du das Foto in den Nachrichten gesehen?»

Soll Ruth ihrer Mutter erzählen, dass sie die Leiche selbst gefunden hat? Dass sie den kleinen, vom Torfboden bewahrten Arm aus dem Boden geborgen und das silberne Armband mit den ineinander verschlungenen Herzen betrachtet hat? Soll sie ihrer Mutter erzählen, dass ihr das gleiche Armband an Delilah Hendersons Handgelenk aufgefallen war, als sie bei ihr in der Küche saß? Soll sie ihr sagen, dass sie zugeschaut hat, als der kleine, tote Körper aus seinem Grab gehoben wurde, dass sie gesehen hat, wie die kleine Hand herabbaumelte, als wollte sie ihr zum Abschied zuwinken? Soll sie ihrer Mutter erzählen, dass sie den Mörder kennt, auch wenn sie seinen Namen nicht weiß, dass seine Stimme sie bis in ihre Träume verfolgt? Soll sie ihr von Sparky erzählen, die blutüberströmt vor der Haustür lag, eine Drohung oder eine Warnung?

Nein, sie wird ihr nichts davon erzählen. Stattdessen verspricht sie, ihre Tür gut abzuschließen und morgen wieder anzurufen. Sie ist sogar zu erschöpft, um noch eine Diskussion anzufangen, als ihre Mutter die Hoffnung äußert, dass die Kleine getauft sei und jetzt in den Himmel kommen könne.

Sonst lautet Ruths Standardantwort auf solche Bemerkungen immer: «Wer will schon in den Himmel? Da sind doch lauter Christen.» Aber jetzt muss sie an Alan und Delilah Henderson denken. Ob sie wohl glauben, dass sie Scarlet wiedersehen, an einem besseren Ort wieder bei ihr sein werden? Ruth hofft es für sie. Sie hofft es wirklich sehr.

Es regnet ununterbrochen, sehr zum Leidwesen der Reporter, die jetzt über die New Road zurückgestapft kommen und frustriert ihre Handys zuklappen. Ruth hat den ganzen Tag noch nichts gegessen; jetzt holt sie sich ein Glas Wein und schaltet das Radio ein. «Was sagt der Tod der kleinen Scarlet Henderson über unsere Gesellschaft aus …» Ruth schaltet das Radio wieder aus. Sie hat keine Lust, sich anzuhören, wie irgendwelche Leute, die Scarlet nicht einmal kannten, etwas über Lektionen labern, die daraus zu ziehen sind, über den Verfall der Sitten oder die Gründe, warum Kinder nicht mehr gefahrlos draußen spielen können. Scarlet ist der Gefahr zum Opfer gefallen: Sie wurde aus dem Garten ihrer Eltern geraubt, wo sie mit ihren Brüdern, den Zwillingen, auf dem improvisierten Klettergerüst spielte. Keiner der beiden Jungen hat etwas bemerkt. Im einen Moment war Scarlet noch da, im nächsten war sie verschwunden. Delilah, die drinnen mit der knatschigen Ocean beschäftigt war, hat erst bemerkt, dass ihre Tochter verschwunden ist, als sie die Kinder zum Abendessen hereinrief. Zwei Stunden später. Die Obduktion wird ergeben, wann Scarlet tatsächlich getötet wurde, doch Ruth betet, dass es bald geschehen ist, als sie noch fröhlich war vom Spiel mit ihren Brüdern, als sie noch nichts ahnte.

Draußen ist es inzwischen ganz dunkel. Ruth gießt sich ein weiteres Glas Wein ein. Das Telefon klingelt, sie greift seufzend nach dem Hörer. Peter? Erik? Ihre Mutter?

«Spreche ich mit Doktor Ruth Galloway?» Eine fremde, leicht atemlose Stimme.

«Ja.»

«Ich schreibe für den Chronicle.» Die örtliche Tageszeitung. «Wie ich höre, waren Sie am Auffinden der Leiche von Scarlet Henderson beteiligt?»

«Ich habe nichts dazu zu sagen.» Mit zitternden Händen knallt Ruth den Hörer auf die Gabel. Als es gleich darauf erneut klingelt, steckt sie das Telefon aus.

Flint kommt geräuschvoll durch die Katzenklappe herein und erschreckt Ruth zu Tode. Sie gibt ihm sein Futter und versucht danach, ihn dazu zu bringen, auf ihrem Schoß liegen zu bleiben. Doch er wirkt ebenso nervös wie sie und schleicht mit gesenktem Kopf und bebenden Schnurrhaaren durchs Zimmer.

Inzwischen ist es neun Uhr. Ruth ist seit vier auf den Beinen, sie fühlt sich völlig erschöpft, ist aber zu unruhig, um ins Bett zu gehen. Sie möchte auch nicht lesen oder fernsehen. So bleibt sie einfach im Dunkeln sitzen, beobachtet Flint bei seinen Streifzügen durch den Raum und lauscht dem Regen, der an die Scheiben hämmert.

Gegen zehn klopft es vernehmlich an die Tür. Flint flüchtet erschrocken nach oben, und Ruth zittert am ganzen Körper, obwohl sie gar nicht recht weiß, warum. Sie macht Licht und geht auf Zehenspitzen zur Tür. Die besonnene Archäologin in ihr weiß, dass es vermutlich nur Peter ist oder Erik oder Shona (die sich erstaunlicherweise bisher noch nicht gemeldet hat). Doch weil sie schon den ganzen Tag nervös und unruhig ist, glaubt sie jetzt fest daran, dass da draußen vor der Tür etwas Furchtbares lauert, irgendein dem Schlamm und dem Sand entstiegenes Grauen. Was der Sand packt, behält er für immer.

«Wer ist da?», ruft sie und bemüht sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen.

«Ich bin’s. Nelson.»

Ruth öffnet die Tür.

Nelson sieht furchtbar aus, er ist unrasiert, hat gerötete Augen, und seine Kleider sind vom Regen durchweicht. Ohne ein Wort kommt er ins Wohnzimmer und setzt sich auf das Sofa. Es erscheint Ruth ganz selbstverständlich, dass er da ist.

«Wollen Sie etwas trinken?», fragt Ruth. «Tee? Kaffee? Wein?»

«Einen Kaffee, bitte.»

Als sie mit dem Kaffee zurückkommt, sitzt Nelson vorgebeugt auf dem Sofa und hat das Gesicht in den Händen vergraben. Ruth bemerkt das Grau in seinem dichten, dunklen Haar. Er kann doch unmöglich in den paar Wochen so gealtert sein?

Sie stellt die Kaffeetasse vor ihm auf den Tisch. «War’s schlimm?», fragt sie behutsam.

Nelson stöhnt und reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. Dann sagt er: «Ja, sehr schlimm. Delilah … sie ist … einfach zusammengeklappt, als hätte man alles Leben aus ihr rausgequetscht. Sie ist einfach zusammengebrochen, und dann lag sie da, ganz zusammengerollt, und hat geweint und Scarlets Namen gerufen. Nichts, was wir sagen konnten, hat etwas geholfen. Wie auch? Ihr Mann hat versucht, sie in den Arm zu nehmen, aber sie hat ihn abgewehrt. Judy, meine Kollegin, hat sich große Mühe gegeben, aber was konnte sie schon tun? Großer Gott. Ich habe wirklich schon viele schlechte Nachrichten überbracht in meinem Leben, aber so was habe ich noch nicht erlebt. Wenn ich morgen zur Hölle fahre, kann es kaum schlimmer sein.»

Er schweigt und starrt stirnrunzelnd in die Kaffeetasse. Ruth legt ihm die Hand auf den Arm, sagt aber nichts. Was soll man auch sagen?

Schließlich spricht Nelson weiter. «Ich weiß nicht, wie sie überhaupt glauben konnte, dass Scarlet noch am Leben ist. Nach zwei Monaten … wir haben doch alle gewusst, dass sie tot sein muss. So wie bei Lucy. Man gibt einfach nach und nach die Hoffnung auf. Aber Delilah, das arme Ding … sie hat tatsächlich geglaubt, ihr Kind kommt eines Tages wieder zur Tür hereinspaziert. Anfangs hat sie immer wiederholt: ‹Sie kann nicht tot sein, sie kann doch nicht tot sein.› Ich musste ihr sagen, dass ich sie selbst gesehen habe. Und dann musste ich sie auch noch bitten, die Leiche zu identifizieren.»

«Alle beide?»

«Ich wollte, dass Alan allein geht, aber Delilah wollte unbedingt mitkommen. Ich glaube, sie hat noch bis zum letzten Moment gehofft, dass es doch nicht Scarlet ist. Und als sie dann die Leiche gesehen hat, da ist sie wieder zusammengebrochen.»

«Weiß man schon, wie lange … wie lange sie tot ist?»

«Nein. Dafür müssen wir den Obduktionsbericht abwarten.» Er reibt sich seufzend die Augen und findet dann, zum ersten Mal an diesem Abend, seinen professionellen Polizistenton wieder: «Sie sah ja zumindest nicht aus, als ob sie schon lange tot ist, oder?»

«Das ist der Torf», sagt Ruth. «Der ist gewissermaßen ein natürliches Konservierungsmittel.»

Wieder schweigen sie beide und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Ruth denkt an den Torfboden, der das Holz des Henge erhalten hat und nun ein weiteres Geheimnis preisgeben musste. Angenommen, sie hätten sie nie gefunden: Hätte Scarlet dann Hunderte, Tausende von Jahren dort gelegen, so wie das tote Mädchen aus der Eisenzeit, um irgendwann von ein paar Archäologen gefunden zu werden, die sie als akademische Sensation gewertet hätten, ohne ihre wahre Geschichte zu kennen?

Nelson bricht das Schweigen. «Ich habe wieder einen Brief bekommen», sagt er.

«Was?»

Statt einer Antwort zieht Nelson ein knittriges Blatt Papier aus der Tasche. «Das ist nur eine Kopie», sagt er. «Das Original ist bei der Spurensicherung.»

Ruth beugt sich vor und liest:

 

Nelson,

du suchst und findest doch nicht. Du siehst nur Knochen, wo du Fleisch zu finden hoffst. Alles Fleisch ist Gras, das habe ich dir schon einmal gesagt. Langsam habe ich genug von deiner Einfalt, deiner Unfähigkeit zu sehen. Muss ich dir etwa erst eine Karte zeichnen? Dir eine Linie ziehen, die dich zu Lucy und Scarlet führt?

Je näher dem Bein, je süßer das Fleisch. Vergiss die Knochen nicht.

In Trauer.

 

Ruth sieht Nelson an. «Wann haben Sie den bekommen?»

«Heute, mit der Post. Er wurde gestern eingeworfen.»

«Als Cathbad schon in Haft war.»

«Ja.» Nelson hebt den Kopf. «Das heißt aber nicht, dass er das nicht irgendwie arrangiert haben kann.»

«Glauben Sie das wirklich?»

«Es könnte zumindest sein. Oder aber dieser Brief stammt von jemand anderem.»

«Er liest sich wie die übrigen.» Ruth betrachtet das kopierte Blatt. «Das Bibelzitat, der ganze Ton, der Verweis auf die Fähigkeit zu sehen. Und hier steht ja sogar: ‹Das habe ich dir schon einmal gesagt.›»

«Ja, das ist mir auch aufgefallen. Klingt wie ein etwas sehr krampfhafter Versuch, eine Verbindung zu den anderen Briefen herzustellen.»

Ruth liest noch einmal den Satz: Dir eine Linie ziehen, die dich zu Lucy und Scarlet führt. Sie muss daran denken, wie sie selbst am Abend zuvor auf der Karte den Weg von den Knochen in Spenwell über die Leiche am Rand des Moors bis in die Mitte des Henge-Rings nachgezeichnet hat, und erschauert. Es ist fast, als hätte der Briefschreiber ihr über die Schulter geschaut und zugesehen, wie sie eine Linie zu Scarlet zog. Und dann die Knochen. Vergiss die Knochen nicht. Dieser Brief spricht auffallend viel von Knochen. Ihr Fachgebiet. Will der Verfasser ihr vielleicht etwas mitteilen?

«‹Je näher dem Bein, je süßer das Fleisch›», liest sie laut vor. «Das klingt richtig kannibalistisch.»

«Es ist ein Sprichwort», sagt Nelson. «Ich hab’s nachgeschlagen.»

«Sie glauben also immer noch, dass es Cathbad war?»

Nelson seufzt auf und fährt sich mit beiden Händen durchs Haar, sodass es wie ein Hahnenkamm zu Berge steht. «Ich weiß auch nicht. Für eine Anklage habe ich jedenfalls nicht genug in der Hand. Keine DNA-Spuren, kein Motiv, kein Geständnis. Wir haben seinen ganzen Wohnwagen durchsucht und absolut nichts gefunden. Ich halte ihn jetzt noch so lange fest, bis der Obduktionsbericht da ist. Wenn sich bei Scarlet DNA von ihm findet, ist er geliefert.»

Ruth betrachtet Nelson. Vielleicht ist es das zerzauste Haar, vielleicht auch die zerdrückte Kleidung – auf jeden Fall sieht er jünger aus, fast verletzlich.

«Aber eigentlich glauben Sie nicht, dass er es getan hat?»

Nelson sieht sie an. «Nein», sagt er. «Das glaube ich nicht.»

«Wer war es dann?»

«Wenn ich das nur wüsste.» Nelson seufzt wieder, und es wird fast ein Stöhnen daraus. «Das ist ja gerade das Schlimme, das, wofür ich mich am meisten schäme. All die Ermittlungsstunden, all die Einsatzzeit, die Durchsuchungen und Verhöre, und trotzdem habe ich immer noch keinen blassen Schimmer, wer die beiden kleinen Mädchen umgebracht hat. Kein Wunder, dass die Presse meinen Kopf fordert.»

«Bei mir hat vorhin jemand vom Chronicle angerufen.»

«Diese Schweine! Woher wissen die von Ihnen? Ich habe doch genau darauf geachtet, Ihren Namen aus allem rauszuhalten.»

«Es war aber doch klar, dass sie das irgendwann herausfinden.»

Trotzdem überlegt Ruth, wer sie verraten haben kann. Erik? Shona? Peter?

«Die werden Ihnen das Leben zur Hölle machen», warnt Nelson. «Können Sie sich ein paar Tage irgendwo verstecken?»

«Ich könnte bei meiner Freundin Shona unterkommen.» Noch während sie es sagt, denkt Ruth bereits mit Schrecken an die langen, gemütlichen Abende, an denen Shona versuchen wird, ihr Informationen zu entlocken. Sie wird immer möglichst lange im Büro bleiben müssen.

«Machen Sie das. Ich habe meine Frau und meine Töchter auch schon zu meiner Mutter geschickt. Nur so lange, bis das Schlimmste vorbei ist.»

«Wann wird das Schlimmste denn vorbei sein?»

«Keine Ahnung.» Nelson sieht sie wieder an, und in seinen dunklen Augen liegt ein verstörter Blick. Draußen hört sie den Regen und den Wind, doch sie scheinen aus weiter Ferne zu kommen, als gäbe es plötzlich nichts mehr auf der Welt als dieses Zimmer, diese kleine Höhle aus Licht.

Nelson sieht sie immer noch an. Schließlich sagt er: «Ich will nicht zurück nach Hause.»

Ruth greift nach seiner Hand. «Das musst du auch nicht», sagt sie.

 

Sie erwacht von der Stille. Wind und Regen schweigen, die Nacht ist völlig ruhig. Sie glaubt, eine Eule rufen zu hören und ganz in der Ferne das leise Seufzen der Wellen.

Der Mond schaut freundlich durch die offenen Vorhänge herein und bescheint das zerwühlte Bett, die verstreuten Kleider und DCI Harry Nelson, der schlafend und schwer atmend neben ihr liegt, einen Arm über Ruths Brust. Sie schiebt den Arm sanft beiseite und steht auf, um sich einen Schlafanzug anzuziehen. Sie kann gar nicht fassen, dass sie tatsächlich nackt ins Bett gegangen ist – das ist sogar noch schwerer zu glauben als der Umstand, dass sie mit Nelson ins Bett gegangen ist. Dass sie nach seiner Hand gegriffen, sich Sekunden später vorgebeugt und ihre Lippen sanft auf seine gedrückt hat. Sie erinnert sich an sein kurzes Zögern, den leisen Seufzer, ehe er die Hand an ihren Hinterkopf legte und sie an sich zog. Sie haben sich aneinander geklammert, sich verzweifelt und gierig geküsst, während draußen der Regen an die Fensterscheiben schlug. Sie denkt an seine raue Haut, seine erstaunlich weichen Lippen, an das Gefühl, seinen Körper an ihrem zu spüren.

Wie hat das überhaupt passieren können? Sie kennt Harry Nelson doch kaum. Vor zwei Monaten hielt sie ihn noch für den typischen ungehobelten Polizisten. Im Grunde weiß sie nur, dass sie am Abend zuvor etwas geteilt haben, und dieses Wissen schien sie vom Rest der Welt zu trennen. Sie hatten mitangesehen, wie Scarlets Leiche leblos aus dem Sand gehoben wurde. Sie kannten das Leid der Eltern. Sie hatten die Briefe gelesen, wussten, dass das Böse dort draußen im Dunkeln lauerte. Und sie wussten auch von Lucy Downey und fürchteten sich davor, bald ihre Leiche zu finden. Da fühlte es sich mit einem Mal so selbstverständlich an, einander in den Armen zu liegen und den Schmerz mit Berührungen zu mildern. Vielleicht würden sie nie wieder zusammenfinden, doch diese Nacht … diese eine Nacht war richtig gewesen.

Trotzdem, denkt Ruth, während sie ihren schönsten Schlafanzug überstreift (sie wird den Teufel tun und ihn den grauen mit den Füßen dran sehen lassen), trotzdem sollte er jetzt besser gehen. Ihr Name ist an die Öffentlichkeit gelangt, und sie können beide auf keinen Fall riskieren, dass die Presse den leitenden Ermittler im Fall Scarlet Henderson mit der Knochenexpertin im Bett erwischt. Sie schaut auf Nelson herunter. Im Schlaf sieht er jünger aus, die dunklen Wimpern ruhen auf den Wangen, der harte Mund wirkt weicher. Ruth fröstelt, wenn auch nicht von der Kälte.

«Nelson?» Sie legt ihm die Hand auf die Schulter.

Er ist sofort hellwach.

«Was ist los?»

«Du solltest gehen.»

Er stöhnt auf. «Wie spät ist es denn?»

«Fast vier.»

Einen Moment lang sieht er sie an, als würde er sich fragen, wer sie ist, dann lächelt er – das erstaunlich liebevolle Lächeln, das sie bisher nur ein- oder zweimal zu sehen bekommen hat.

«Guten Morgen, Doktor Galloway.»

«Guten Morgen, Detective Inspector Nelson», sagt Ruth. «Wie wär’s, wenn Sie sich jetzt anziehen?»

Während Nelson seine Kleider zusammensucht, entdeckt Ruth eine Tätowierung über seinem Schulterblatt: ein blaues Schriftband und eine Art Wappen.

«Was steht denn da?», fragt sie.

«Seasiders. Das ist der Spitzname meiner Mannschaft in Blackpool. Hab ich mit sechzehn machen lassen. Michelle kann es nicht ausstehen.»

Nun hat er also ihren Namen gesagt, und plötzlich ist es, als wäre Michelle, die perfekte Ehefrau, die die ganze Nacht über zwischen ihnen stand, mit im Zimmer. Nelson ist damit beschäftigt, seine Hose anzuziehen, und scheint gar nicht zu merken, was er gesagt hat. Vielleicht macht er so etwas ja häufiger, überlegt Ruth.

Angezogen ist er wieder ganz Polizist, ein Fremder. Er kommt zu ihr herüber, setzt sich auf den Bettrand und nimmt ihre Hand.

«Danke», sagt er.

«Wofür denn?»

«Dass du da warst.»

«Ich tue nur meine Bürgerpflicht.»

Nelson grinst. «Dafür hättest du einen Orden verdient.»

Ruth sieht ihm dabei zu, wie er sein Handy unter dem Bett herausfischt. Sie fühlt sich seltsam unbeteiligt, als würde sie das alles im Fernsehen anschauen. Dabei sieht sie solche Sendungen sonst gar nicht – sie interessiert sich mehr für Dokumentarfilme.

«Wirst du zu deiner Freundin gehen?», fragt Nelson, während er die Jacke überstreift.

«Ja. Ich denke schon.»

«Dann meld dich, ja? Und sag mir sofort Bescheid, falls dir die Pressefritzen nochmal Ärger machen.»

«Mach ich.»

An der Tür dreht er sich noch einmal um und lächelt sie an. «Wiedersehen, Doktor Galloway», sagt er.

Dann ist er fort.