18

Um zwei Uhr morgens schläft Ruth vor lauter Erschöpfung schließlich doch noch ein. Eine Ewigkeit hat sie einfach nur im Bett gesessen, ihrem hämmernden Herzen gelauscht und auf die SMS gestarrt. Diese wenigen, markerschütternden Worte. Wer kann sie ihr geschickt haben? War ER es? Der Briefschreiber? Der Mörder? Wer weiß denn überhaupt, wo sie ist? Und wer hat ihre Handynummer? Muss es – ihr Magen krampft sich zusammen, dass ihr fast übel wird –, muss es dann nicht jemand sein, den sie kennt?

Sie weiß, dass sie Nelson anrufen sollte, doch irgendwie will sie das nicht mitten in der Nacht tun. Der Abend zuvor hat alles kompliziert gemacht. Sie will nicht, dass Nelson sich von ihr bedrängt fühlt. Was ist wichtiger, ruft sie sich streng zur Ordnung, Gefahr zu laufen, im Schlaf ermordet zu werden, oder sicherzugehen, dass ein Mann nicht auf falsche Gedanken kommt? Warum kann ihr Unterbewusstsein nicht ein bisschen emanzipierter denken?

Schließlich schläft sie ein und wacht einige Zeit später auf, immer noch im Sitzen und verspannt am ganzen Körper. Das Handy ist zu Boden gefallen; ihre Hand zittert, als sie es aufhebt. Keine weiteren Nachrichten. Seufzend rollt Ruth sich im Bett zusammen. So müde, wie sie im Moment ist, erscheint ihr der Tod gar keine schlechte Option: einfach einschlafen und nie mehr aufwachen.

Als sie das nächste Mal wach wird, fällt gelbliches Tageslicht durchs Fenster, und Shona steht mit einer Tasse Tee an ihrem Bett.

«Du scheinst ja gut geschlafen zu haben», ruft sie fröhlich. «Es ist schon nach neun.»

Ruth trinkt dankbar ihren Tee. Es ist Ewigkeiten her, dass ihr jemand einen Tee ans Bett gebracht hat. Jetzt, am hellen Tag, in Shonas sonnigem, hübsch möbliertem Gästezimmer, hat sie auch nicht mehr das Gefühl, dass ihr ein gewaltsamer Tod drohen könnte. Genau genommen fühlt sie sich sogar recht kampflustig. Sie steht auf, duscht und entscheidet sich für ein möglichst strenges, kompromissloses Outfit: schwarzer Hosenanzug, weiße Bluse, offensive Ohrringe. Dann geht sie nach unten, wild entschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen.

Sie ist gerade ins Auto gestiegen, um zur Arbeit zu fahren, als ihr Handy klingelt. Trotz der offensiven Ohrringe stirbt sie fast vor Angst, ihr Atem geht schneller, die Handflächen werden feucht.

«Hallo, Ruth. Hier ist Nelson.»

«Oh. Nelson. Hallo.» Aus irgendeinem Grund klopft ihr Herz weiter wie wild.

«Ich wollte dir nur sagen, dass wir Malone morgen wieder auf freien Fuß setzen.»

«Tatsächlich? Warum denn?»

«Der Obduktionsbericht ist da. Die DNA-Spuren, die bei Scarlet gefunden wurden, sind nicht von ihm. Wir können ihm also nur die Briefe vorwerfen, sonst nichts. Morgen hat er seinen Gerichtstermin, und ich rechne damit, dass er gegen Kaution freigelassen wird.»

«Aber er steht weiter unter Verdacht?»

Nelson lacht freudlos. «Na ja, wir haben gerade keinen anderen Verdächtigen zur Hand. Trotzdem gibt es nichts, was ihn mit dem Mord in Verbindung bringen würde. Wir haben schlicht und einfach keinen Grund, ihn weiter festzuhalten.»

«Was wird er denn jetzt tun?»

«Er darf die Stadt nicht verlassen, und ich nehme an, er wird den Ball auch selbst erst mal flachhalten wollen. Möglicherweise müssen wir ihn sogar unter Polizeischutz stellen, bei dem ganzen Medienrummel.» Nelsons Stimme klingt so verächtlich, dass Ruth wider Willen lächeln muss.

«Und was sagt der … der Obduktionsbericht?»

«Tod durch Ersticken. Offenbar wurde ihr etwas in den Mund gestopft, sodass sie keine Luft mehr bekommen hat. An den Händen war sie übrigens mit irgendwelchen Pflanzenschnüren gefesselt.»

«Pflanzenschnüre?»

«Genau. Geißblatt, wie’s aussieht, und … das wird dir gefallen … Mistelzweige.»

Ruth denkt an die Briefe, an die Misteln, die darin erwähnt wurden. Heißt das, dass der Briefschreiber auch der Mörder ist? Dass es doch Cathbad war? Dann denkt sie an die Seile, mit denen die Holzpfähle des Henge gehalten wurden. Sie waren auch aus Mistelzweigen. Selbst Peter hat sich daran erinnert.

«Die Leiche lag etwa sechs Wochen im Boden», fährt Nelson fort. «Genauer ist das wegen dem Torf wohl nicht zu sagen. Keine Anzeichen für sexuellen Missbrauch.»

«Das ist ja immerhin etwas», sagt Ruth zögernd.

«Ja», bestätigt Nelson verbittert. «Das ist immerhin etwas. Und wir können der Familie eine Leiche bieten, die sie beerdigen können. Das ist sehr wichtig für sie.» Er seufzt. Ruth stellt sich vor, wie er mit finsterer Miene an seinem Schreibtisch sitzt, Akten wälzt, Listen erstellt und ganz bewusst nicht zu dem Foto von Scarlet Henderson hinüberschaut.

«Aber egal …» Sein Ton schaltet etwas abrupt um. «Wie geht’s dir? Keine weiteren Anrufe von irgendwelchen Zeitungsfritzen, hoffe ich?»

«Nein, aber gestern Abend habe ich noch eine seltsame Nachricht bekommen.» Ruth erzählt ihm von der SMS. Im Geiste sieht sie Nelson die Augen verdrehen. Wie viel Ärger will die Frau denn noch machen?

«Ich setze jemanden darauf an», sagt er. «Wie ist die Nummer?»

Ruth gibt sie ihm durch. «Kann man Handynummern denn überhaupt zurückverfolgen?»

«Klar. Jedes Handy hat eine ganz spezielle Kennung, die es jedes Mal mit aussendet, wenn es eine Verbindung herstellt. Damit meldet es sich sozusagen bei der Basisstation an. Wenn wir diese Kennung haben, ist es nicht weiter schwierig, den Anruf zurückzuverfolgen. Wenn er allerdings schlau war, hat er das Handy anschließend vernichtet.»

«Glaubst du, das war … er?»

«Weiß der Himmel. Auf jeden Fall müssen wir auf dich aufpassen. Wie lange wirst du denn noch bei deiner Freundin bleiben?»

«Keine Ahnung.» Noch während sie das sagt, überkommt sie plötzlich schreckliches Heimweh. Heimweh nach ihrem Bett, ihrem Kater und dem Blick auf das unselige Moor.

«Ich schicke ein paar Leute, die das Haus deiner Freundin bewachen und auch deins unter Beobachtung halten. Mach dir nicht allzu große Sorgen. Ich rechne eigentlich nicht damit, dass er sich so offen zeigen wird. Dafür ist er viel zu schlau.»

«Glaubst du?»

«Na, immerhin war er bisher zu schlau für mich, oder?»

«Du wirst ihn schon noch erwischen.» Ruth gibt sich Mühe, zuversichtlicher zu klingen, als ihr zumute ist.

«Ich wünschte, die Öffentlichkeit wäre auch dieser Meinung. Pass auf dich auf, Süße.»

Ruth klappt das Handy zu und denkt: Süße?

 

Der erste Mensch, der ihr in der Uni begegnet, ist Peter. Er wartet vor ihrem Büro, und sie muss sofort daran denken, wie sie Nelson zum ersten Mal dort gesehen hat, schroff und unnachgiebig neben dem verbindlichen Phil. Im Gegensatz zu Nelson, der hier ganz großspurig anrückte, wirkt Peter geradezu übertrieben zurückhaltend. Er drückt sich jedes Mal verlegen an die Wand, wenn ein Student vorbeikommt, was allerdings zu so früher Stunde nicht allzu oft der Fall ist.

«Ruth!» Er macht einen Schritt auf sie zu, um sie zu begrüßen.

«Hallo, Peter. Was machst du denn hier?»

«Ich wollte dich sehen.»

Ruth seufzt innerlich auf. Einen nostalgischen Peter, der über seine Ehe jammert und in Erinnerungen an die Henge-Grabung schwelgt, kann sie heute eigentlich nicht gebrauchen.

«Dann komm mal rein», sagt sie ohne große Begeisterung.

Im Büro entdeckt Peter gleich den Katzen-Türstopper. «Den habe ich dir doch damals geschenkt. Ich kann gar nicht glauben, dass du ihn noch hast.»

«Er ist eben nützlich», erwidert Ruth knapp. Auf keinen Fall wird sie ihm erzählen, dass sie sich aus sentimentalen Gründen nicht davon trennen wollte. Was ja auch nicht stimmt. Zumindest nicht ganz.

Peter lässt sich auf den Besucherstuhl fallen und schaut sich aufmerksam um. «Schönes Büro», sagt er mit einem Seitenblick auf Indiana Jones. Vor zehn Jahren, als Peter und sie sich kennenlernten, war Ruth noch nicht in der Position, ein eigenes Büro zu haben.

«Es könnte größer sein», bemerkt sie jetzt.

«Du solltest mal meins am UCL sehen. Ich muss es mit einem Archivar teilen, der es nicht so mit der Körperhygiene hat, und darf überhaupt nur montags und donnerstags an den Schreibtisch.»

Ruth muss trotz allem lachen. Peter konnte sie immer schon zum Lachen bringen.

Auch Peter lächelt und sieht dabei fast aus wie früher, doch dann wird seine Miene rasch wieder ernst.

«Schreckliche Geschichte da im Salzmoor», sagt er. «Und du hast also tatsächlich die Leiche der Kleinen gefunden?»

«Ja.»

«Woher wusstest du denn, dass sie dort ist?»

Ruth hebt abrupt den Kopf. Das ist eine merkwürdige Frage. Woher will Peter denn wissen, dass nicht die Polizei die Stelle entdeckt hat?

Dann antwortet sie: «Es war so eine Art Ahnung. Ich habe mir die Karte angeschaut und eine Gerade entdeckt, die von den Knochen in Spenwell über die Eisenzeitleiche bis zum Henge führt. Diese Pfähle, die ich dir gezeigt habe und die den Dammweg bilden, schienen die Strecke genau zu markieren. Dann sind mir die Cursus wieder eingefallen, die unterirdischen Gräben, die auf wichtige Stellen in der Landschaft hinweisen. Und plötzlich ist mir klargeworden, dass der Dammweg eigentlich ein Cursus ist.»

«Und der hat direkt zu der Leiche geführt?»

«Ja.»

«Willst du damit sagen, dass es Absicht war? Dass derjenige, der sie dort begraben hat, über Dammwege und … Cur-dingsbumse Bescheid wusste?»

«Cursus. Singular und Plural sind gleich. Ich weiß es nicht. Aber die Polizei glaubt, dass der Mörder möglicherweise etwas von Archäologie versteht.»

«Ach, wirklich?» Peter denkt einen Moment lang schweigend darüber nach. Dann schaut er wieder auf und sagt: «Da fällt mir ein, Erik hat für nächste Woche eine Ausgrabung angesetzt, um sich den Dammweg genauer anzusehen.»

«Hat er denn eine polizeiliche Genehmigung dafür?»

«Sieht so aus. Er hat sich mit deinem Kumpel Nelson unterhalten, und der sagt, sie dürfen graben, solange sie dem Henge-Ring nicht zu nahe kommen. Und außerdem müssen sie der Polizei alles zeigen, was sie finden.»

Dann hat Erik sich also mit Nelson unterhalten, den er doch so unsympathisch und wenig vertrauenswürdig findet. Und Nelson hat ihm die Grabungserlaubnis erteilt. Ruths Gedanken sind plötzlich ein einziger Morast aus Widersprüchen, Loyalitätskonflikten und Erinnerungen.

«Wann hast du Erik denn gesehen?», fragt sie schließlich.

«Gestern. Wir waren zusammen Mittag essen.»

«Ach?» Ruth versucht, sich die Situation vorzustellen. Erik hat Peter immer gemocht, weil er ihn von Anfang an für einen geeigneten Partner für Ruth hielt, aber trotzdem kann sie sich nur schwer vorstellen, dass die beiden gemütlich zusammen Pizza essen.

«Wo wart ihr denn?»

«In so einem Sushi-Laden, den er kannte.»

Also doch keine Pizza. «Hat er Cathbad erwähnt? Michael Malone?»

«Er sagte nur, die Polizei hätte den Falschen verhaftet. Das hat ihn ziemlich in Rage versetzt. Er hat gar nicht mehr aufgehört, über den Polizeistaat zu wettern … na, du kennst ihn ja, er ist ein unverbesserlicher Hippie.»

Und trotzdem hatte Erik offenbar kein Problem damit, sich bei Nelson eine Grabungserlaubnis zu holen, denkt Ruth. Nichts, aber auch gar nichts, darf sich der Archäologie in den Weg stellen.

«Cathbad wird wieder freigelassen», sagt sie. «Vermutlich kommt es heute noch in den Nachrichten.» Nelson hat schließlich mit keinem Wort erwähnt, dass sie diese Information für sich behalten soll.

«Tatsächlich?», fragt Peter interessiert. «Sie lassen ihn also ganz ohne Anklage wieder frei?»

«Irgendeine Anklage gibt es sicher, das weiß ich nicht so genau.»

«Ach, komm schon, Ruth, du weißt doch alles.»

«Gar nichts weiß ich», faucht Ruth, grundlos gereizt.

«Entschuldige.» Peter setzt eine schuldbewusste Miene auf, die ihm gar nicht steht. Dann fährt er betont munter fort: «Und? Wie geht’s Shona?»

«Gut. Alles beim Alten. Sie redet immer noch die ganze Zeit davon, dass sie den Männern endgültig abschwören und ins Kloster gehen wird.»

«Wer ist es denn diesmal?»

«Ein Kollege. Verheiratet.»

«Verspricht er ihr, dass er seine Frau verlassen wird?»

«Natürlich.»

Peter seufzt. «Arme Shona.» Vielleicht denkt er ja an seine eigene Ehe, denn er scheint auf dem Stuhl in sich zusammenzusinken, und sogar sein Haar verliert an Leuchtkraft. «Ich dachte eigentlich immer, dass sie irgendwann heiratet und mindestens zehn Kinder kriegt. Die katholische Kindheit, du weißt schon.»

Ruth denkt an Shonas Abtreibungen, an die trotzigen Unabhängigkeitserklärungen im Vorfeld und die endlosen Tränen hinterher. «Nein», sagt sie. «Kinder hat sie keine.»

«Arme Shona», wiederholt Peter und sinkt noch tiefer in seinen Stuhl. Anscheinend kann ihn nur ein Schleudersitz wieder aus dem Büro befördern.

«Peter», sagt Ruth, «hattest du etwas Bestimmtes auf dem Herzen? Ich fürchte, ich muss mich langsam an die Arbeit machen.»

Er sieht sie gekränkt an. «Ich wollte nur sehen, wie es dir geht. Und ich dachte, vielleicht hast du ja Lust, heute Abend was trinken zu gehen?»

Ruth malt sich einen weiteren Frauenabend zu Hause aus: Pinot grigio, Liam, Heimservice, rätselhafte SMS.

«Ja», sagt sie. «Das wäre schön.»

 

Sie gehen in ein Restaurant in King’s Lynn, ganz in der Nähe des Pubs, in dem Ruth mit Nelson zu Mittag gegessen hat. Dieses Lokal fühlt sich allerdings zu Höherem berufen: eine Speisekarte ganz in Kleinbuchstaben, helle Bodendielen, quadratische Teller und Reihen flackernder Kerzen. Während Ruth eine einsame Jakobsmuschel über die endlosen weißen Weiten ihres Tellers schiebt, fragt sie: «Wie bist du denn auf dieses Restaurant gekommen?» Und setzt dann hastig hinzu: «Es ist toll.»

«Phil hat es mir empfohlen.» Das erklärt manches.

Es ist noch früh am Abend, und an den Nebentischen sitzen nur vier weitere Gäste: zwei Mittdreißiger, die es offensichtlich kaum erwarten können, miteinander ins Bett zu gehen, und ein älteres Paar, das den ganzen Abend kein Wort miteinander wechselt.

«Meine Güte, haben die kein Zuhause?», brummt Ruth, als die Mittdreißigerin anfängt, ihrem Begleiter Wein von den Fingern zu lecken.

«Wahrscheinlich sind sie beide anderweitig verheiratet.»

«Wie kommst du denn darauf?»

«Wenn sie miteinander verheiratet wären, würden sie sich nicht mal unterhalten, geschweige denn sich in der Öffentlichkeit zu sexuellen Handlungen hinreißen lassen», erwidert Peter leise. «Schau dir die zwei alten Herrschaften da drüben an. Fünfzig glückliche Ehejahre, und sie haben sich absolut nichts mehr zu sagen.»

Ruth würde gern wissen, ob seine Ehe auch so war. Einfach abwarten, ermahnt sie sich, dann wird er schon von selbst damit herausrücken. Schweigen konnte Peter nie gut ertragen.

Da seufzt er auch schon und nimmt einen großen Schluck von dem überteuerten Rotwein. «So wie Victoria und ich. Wir haben uns einfach … auseinandergelebt. Mir ist völlig klar, dass das ein Klischee ist, aber es stimmt. Irgendwann hatten wir uns schlicht nichts mehr zu sagen. Eines Morgens sind wir aufgewacht und mussten feststellen, dass wir bis auf Daniel nicht mehr viel gemeinsam haben. Natürlich mögen wir uns noch, wir gehen auch sehr freundschaftlich miteinander um, aber das Wesentliche, das ist verlorengegangen.»

Ruth liegt es schon auf der Zunge zu sagen: «Aber genau das ist doch auch mit uns passiert.» Sie weiß noch, wie sie Peter – den klugen, reizenden, gutaussehenden Peter – damals angeschaut und sich gefragt hat: «Ist das alles? Muss ich mich jetzt mit diesem netten Mann zufriedengeben, dessen Berührungen ich manchmal gar nicht mehr spüre?»

Doch Peter hat wieder seine rosarote Brille auf. «Wir beide, wir hatten so viel gemeinsam», sagt er versonnen. «Archäologie, Geschichte, Bücher. Victoria ist einfach keine Intellektuelle. Das Einzige, was sie liest, ist die Hello

«Das klingt jetzt aber sehr herablassend», sagt Ruth.

«Versteh das bitte nicht falsch», fährt Peter hastig fort. «Victoria ist eine wunderbare Frau. Sehr warmherzig und liebevoll.» (Dann hat sie also zugenommen, denkt Ruth.) «Ich habe sie wirklich gern, und Daniel lieben wir beide sehr, aber wir führen einfach keine Ehe mehr. Im Grunde leben wir wie in einer WG zusammen, kümmern uns gemeinsam um das Kind und um den Haushalt und reden nur noch darüber, wer Daniel am nächsten Tag abholt und wann die nächste Lieferung von Tesco kommt.»

«Was hast du denn geglaubt, worüber ihr reden würdet? Renaissancebauwerke? Die Werke von Robert Browning?»

Peter grinst. «So was in der Art, ja. Wir haben doch auch geredet, oder? Weißt du noch, die Nächte am Lagerfeuer, als wir darüber diskutiert haben, ob die Jungsteinzeitmenschen nun Jäger und Sammler oder Bauern waren? Du hast immer behauptet, die Frauen müssten die Jägerinnen gewesen sein, und dann hast du dich an dieses Schaf herangeschlichen, um uns zu zeigen, wie sie es gemacht haben.»

«Und bin der Länge nach im Schafmist gelandet», setzt Ruth ungerührt hinzu. Sie beugt sich vor. Plötzlich scheint es enorm wichtig, dass Peter begreift. «Hör mal, Peter, die Ausgrabung ist zehn Jahre her. Damals war es so, wie du sagst, aber heute ist es anders. Wir haben uns verändert. Wir hatten eine Beziehung, und die war wunderbar, aber sie ist Vergangenheit. Es führt kein Weg mehr dorthin zurück.»

«Wirklich nicht?» Peter sieht sie eindringlich an. Seine Augen wirken dunkel, fast schwarz im Kerzenlicht.

«Wirklich nicht», antwortet Ruth sanft.

Peter mustert sie ein paar Minuten lang schweigend, dann lächelt er. Es ist ein anderes Lächeln, zarter und sehr viel trauriger. «Na, dann besaufen wir uns eben», sagt er und beugt sich vor, um ihr Wein nachzuschenken.

 

Als Ruth später ins Auto steigt, ist sie zwar nicht betrunken, aber eigentlich auch nicht mehr so recht fahrtüchtig.

«Fahr vorsichtig», sagt Peter, der seinerseits auf einen recht neu aussehenden Alfa Romeo zusteuert. Ein Midlifecrisis-Symptom?

«Mach ich.» Ruth ist froh, dass sie jetzt nicht mehr die tückische New Road mit dem stockdunklen Sumpfland ringsum vor sich hat. Bis zu Shonas Haus sind es nur ein paar Minuten, das wird sie schon hinkriegen. Sie fährt langsam, hält sich hinter anderen, weniger unsicheren Fahrern. Im Radio redet jemand über Gordon Brown: «Er möchte, dass alles wieder so wird wie früher.» Geht uns das nicht allen so?, denkt Ruth, während sie nach links in Shonas Straße einbiegt. Trotz ihrer klaren Worte hat sie doch Verständnis für Peter und seine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Es ist ein verlockender Gedanke, zu Peter zurückzugehen und endlich zu akzeptieren, dass der namenlose perfekte Mann niemals auftauchen wird, dass Peter das Beste ist, was sie kriegen kann, etwas sehr viel Besseres sogar, als sie eigentlich verdient. Was hält sie also ab? Die Schatten von Victoria und Daniel? Oder etwa Nelson? Sie weiß, dass aus der Nacht mit Nelson nichts Ernstes werden kann. Und doch ist die Vorstellung, mit Peter ins Bett zu gehen, vor allem tröstlich und vertraut – aber kein bisschen aufregend.

Sie findet einen Parkplatz vor dem indischen Schnellimbiss, geht zu Fuß zu Shonas Haus und wirft aus reiner Gewohnheit einen Blick auf ihr Handy. Nur eine SMS:

ICH WEISS, WO DU BIST.