Ruth sitzt in Nelsons Büro, einen Becher mit ungenießbarem Kaffee vor sich. Es ist kalt in dem hohen Zimmer. Sie trägt noch immer die weite Armeehose, die sie für die Ausgrabung angezogen hat, doch den dicken Pulli hat sie dummerweise ausgezogen, als sie nach Hause kam. Das alles scheint ihr inzwischen Tage zurückzuliegen. Ihr Mantel ist tropfnass und außerdem viel zu dünn. Hätte sie doch bloß ihren Südwester aufgesetzt oder einen Anorak angezogen! Sie legt die Hände um den Plastikbecher. Immerhin ist er warm.
Nelson ist verschwunden, um ein paar Beamte zusammenzutrommeln, die Erik verhaften sollen. Erik verhaften. Das hat den Klang des Unmöglichen: Wie kann es sein, dass Erik der Verdächtige in einem Mordfall ist und Ruth diejenige, die ihm die Polizei auf den Hals hetzt? Das alles ist völlig verrückt, ein Albtraum. Eben saß sie noch in ihrem kleinen Haus am Salzmoor, bereitete ihre Vorlesungen vor, ärgerte sich über ihre Mutter und hörte Kulturradio, und jetzt steckt sie plötzlich mittendrin in diesem Drama aus Mord und Verrat. Es kommt ihr vor, als hätte sie versehentlich die falsche Taste auf der Fernbedienung gedrückt und würde jetzt nichts lieber tun, als wieder zu der langweiligen Sendung über Mischkulturen und Fruchtwechsel zurückzuschalten.
Nelson kommt zurück ins Zimmer. Er hat Judy im Schlepptau, die Polizistin, die Ruth bei der Beerdigung kennengelernt hat.
«Also gut», sagt er und greift nach seiner Jacke. «Auf geht’s. Ich fahre mit Cloughie im ersten Wagen. Ruth, Sie kommen mit Judy im zweiten. Aber steigen Sie auf keinen Fall aus dem Wagen. Ist das klar?»
«Ja», antwortet Ruth beleidigt. Sie würde ihn gern daran erinnern, dass sie nicht zu seinen Untergebenen gehört.
Die Wagen fahren in die Dunkelheit. Es regnet immer noch: Sanfter, aber stetiger Nieselregen glitzert im Licht der Scheinwerfer. Sie lassen King’s Lynn hinter sich und folgen der Küstenstraße, vorbei an verlassenen Campingplätzen und verbarrikadierten Familienhotels. Ruth lehnt die Stirn an das kalte Fenster und denkt daran, wie Norfolk beim ersten Mal auf sie gewirkt hat, in jenem Sommer, als sie mit Zelt und Schlafsack im Gepäck zusammen mit Erik und Magda vom Bahnhof in Norwich hierherkam und das Salzmoor in seiner ganzen abendlichen Pracht vor ihnen lag: der Sandstrand, der sich über Kilometer zu erstrecken schien, das Meer als schwache bläuliche Linie am Horizont. Wie hätte sie damals ahnen können, dass es einmal so endet? In einem dahinrasenden Polizeiwagen, auf dem Weg, ihren einstigen Mentor des Mordes zu beschuldigen …
Nelsons Wagen hält vor der harmlosen Strandpension, die sich Sandringham nennt, obwohl Ähnlichkeiten mit dem Landsitz der Queen wohl nur in den hochfliegenden Träumen der Inhaber existieren. Stilistisch ist der traditionelle Kitsch vertreten: Spitzengardinen, Gartenzwerge vor der Tür, ein Buntglaseinsatz darüber. Nelson und Sergeant Clough steigen die mosaikverzierten Stufen hinauf, und Clough klingelt Sturm. Gästehaus Sandringham, steht auf dem Schild. Bed & Breakfast, Zimmer mit Bad & Farbfernseher, gutbürgerliche Küche. Zimmer frei.
Im zweiten Wagen sinkt Ruth immer mehr in sich zusammen. Was wird Erik denken, wenn er in den Wagen schaut und sie dort sitzen sieht? Wird ihm klar sein, dass sie ihn verraten hat? Denn trotz allem hat sie noch das Gefühl, sich des Verrats schuldig gemacht zu haben. Sie hat Erik an Nelson ausgeliefert. Sie kommt sich vor wie ein Judas.
Es ist bereits kurz vor zehn, und in der Pension brennt nur noch ein Licht, oben, gleich über der Eingangstür. Ruth erinnert sich, dass Erik ihr erzählt hat, er sei der einzige Gast – im Februar herrscht nicht gerade Hochsaison. Ist das also seine Lampe? Sitzt er dort drinnen und arbeitet seelenruhig an einem wissenschaftlichen Aufsatz über Ackersysteme in der Bronzezeit?
Ruth sieht, wie die Eingangstür aufgeht, wie Nelson sich vorbeugt und mit dem unsichtbaren Menschen spricht, der ihm geöffnet hat. Vermutlich wird er jetzt seinen Polizeiausweis zücken, so wie im Film, und anschließend mit den Worten: «Polizei! Keine Bewegung!» das Haus stürmen. Doch Ruths Erwartungen werden enttäuscht. Die Tür schließt sich wieder, und Nelson und Clough kommen langsam zu den Wagen zurück.
Nelson beugt sich durchs Beifahrerfenster herein. Sein Unterarm ruht auf dem Rahmen, nur wenige Zentimeter von Ruth entfernt, und sie muss dem dummen Impuls widerstehen, ihn zu berühren.
«Er ist weg», sagt Nelson.
«Geflüchtet?» Judy dreht sich auf dem Fahrersitz zu ihm um.
«Sieht so aus. Sein Zimmer ist leer, und er hat einen Scheck dagelassen, um die Rechnung zu begleichen.»
Einen Moment lang ist Ruth seltsam erleichtert, dass Erik nicht einfach getürmt ist, ohne zu bezahlen. Dann denkt sie: Er ist möglicherweise ein Mörder – das ist ja wohl ein bisschen schlimmer, als seine Hotelrechnung nicht zu begleichen.
«Und jetzt?», fragt Judy.
Nelson sieht Ruth an. «Was meinen Sie dazu, Doktor Galloway?»
Ruth weicht seinem Blick aus. «Vielleicht ist er ja bei Shona.»
Bei Shona ist alles dunkel. Anfangs vermutet Ruth, dass sie unterwegs ist (womöglich mit Erik?), doch nach ein paar Minuten öffnet Shona im Morgenmantel die Tür. Sie wirkt etwas zerzaust, und Ruth sieht selbst auf diese Entfernung, dass sie leicht angetrunken ist.
Diesmal haben sie Judy geschickt. Vielleicht gehört auch das zu den Aufgaben, die man lieber Frauen überlässt, so wie das Überbringen schlechter Nachrichten. Die Polizei scheint in dieser Hinsicht kaum fortschrittlicher zu sein als die Neandertaler.
Shona tritt beiseite, um Judy ins Haus zu lassen. Ruth bleibt allein im Auto sitzen und zittert plötzlich vor Kälte. Als sich die Beifahrertür öffnet, zuckt sie zusammen. Nelson beugt sich zu ihr herein.
«Alles klar?»
«Alles bestens», sagt sie und spannt die Kiefermuskeln an, damit ihre Zähne nicht zu sehr klappern.
«Du bist ja ganz durchgefroren. Warte mal.»
Er zieht seine schwere Polizeijacke aus und gibt sie ihr. «Hier, zieh die über.»
«Aber das ist doch deine.»
Er zuckt die Achseln. «Mir ist nicht kalt. Behalt sie ruhig.»
Ruth schlüpft dankbar in die Jacke. Sie riecht nach Autowerkstatt und ganz leicht nach Nelsons Rasierwasser. Und er scheint in seinen Hemdsärmeln tatsächlich nicht zu frieren. Er tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und wartet darauf, dass Judy zurückkommt. Ruth denkt an ihre erste Begegnung, als Nelson den Hang praktisch hochgerannt ist, um zu den vergrabenen Knochen zu gelangen.
Schließlich kommt Judy wieder nach draußen, und Nelson geht ihr entgegen. Sie wechseln ein paar Worte, dann steigt Judy wieder in den Wagen.
«Er ist nicht bei ihr», erzählt sie. «Und angeblich hat sie ihn auch nicht gesehen. Ich gebe eine Fahndungsmeldung an alle Einheiten heraus. Der Boss sagt, ich soll Sie an einen sicheren Ort bringen.»
Ruth sieht zu, wie Nelson in den anderen Wagen steigt. Erst gibt er mir seine Jacke, denkt sie, und dann kann er sich nicht mal von mir verabschieden. Mit einem Mal ist sie ungeheuer müde.
«Gibt es irgendwen, bei dem Sie bleiben können?», fragt Judy.
Ruth schaut zu Shonas Haus hinüber. Das Licht ist wieder aus. Dort wird sie wohl so schnell keinen weiteren Frauenabend verbringen.
«Vielleicht eine Freundin?», drängt Judy. «Oder Verwandte?»
«Es gäbe da schon jemanden», sagt Ruth.
Das Haus gehört zu einer Reihe von Fischerhäuschen an der Küste bei Burnham Ovary. Es ist quadratisch und weiß gestrichen und scheint daran gewöhnt, Wind, Regen und Meer zu trotzen. Ruth steht unentschlossen vor der Tür und lauscht auf die Wellen, die sich an der Kaimauer brechen. Was, wenn er nun nicht da ist? Wird sie dann unter ihrem Schreibtisch in der Uni schlafen müssen, um sich morgen um neun von Mr. Tan oder einem anderen Studenten wecken zu lassen? In der aktuellen Lage erscheint ihr diese Aussicht gar nicht mal so schlecht.
Sie schaut zu dem Polizeiwagen zurück, der diskret am Anfang der Straße wartet. Ob die Nachbarn wohl schon hinter den Vorhängen hervorspähen?
«Ruth!» Sie dreht sich um und sieht Peter als Umriss vor einem Rechteck aus Licht. Ruth setzt dazu an, ihm von Erik und Shona zu erzählen und ihn zu fragen, ob sie bei ihm übernachten kann, bricht dann aber zu ihrem eigenen blanken Entsetzen in Tränen aus. In lautes, atemloses, unromantisches Schluchzen.
Peter legt den Arm um sie und zieht sie ins Haus. «Schon gut», sagt er. «Es ist ja alles gut.»
Dann schließt er die Tür hinter sich.