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Packung Taschentücher«, meinte Suzanne am Samstagabend. »Bedient euch, Mädels. Und ein großes Blech Brownies.«

»Warum stellst du uns die Taschentücher hin und dir die Brownies?«, wollte Ivy wissen. Suzanne, Beth und sie lagen in der Mitte ihres Zimmers auf dem Boden.

Beth zog die Brownies näher an ihren Schlafsack heran. »Keine Sorge. Ich hab das Messer.«

»Suzanne benutzt notfalls ihre Fingernägel«, erwiderte Ivy. »Stell das Blech lieber zwischen uns.«

»Moment mal«, mischte sich Suzanne ein und zog eine Schnute. Ihre Lippen waren nicht wie sonst knallrot geschminkt. »Die letzten vier Tage war ich aufmerksam, einfühlsam, höflich -«

»Und allmählich geht es mir echt auf die Nerven«, stellte Ivy fest. »Mir fehlt die alte Suzanne ... sie fehlt mir schon länger als die letzten vier Tage«, fügte sie leise hinzu.

Suzannes Schmollmund begann zu zittern und Ivy streckte schnell die Hand nach ihrer Freundin aus.

»Oh, oh, Zeit für Taschentücher«, kommentierte Beth.

Jede von ihnen schnappte sich eines.

»Was hab ich in den letzten vier Tagen an Wimperntusche weggeheult«, jammerte Suzanne.

»Los, jetzt müssen die Brownies dran glauben«, schlug Ivy vor. Sie nahm Beth das Messer aus der Hand und schnitt drei große Stücke ab.

Beth fuhr mit dem Finger über das Blech und sicherte sich sowohl große Krümel als auch ihren Brownie, dann grinste sie Suzanne an. »Ich war schon ewig auf keiner Übernachtungsparty mehr.«

»Ich auch nicht«, stimmte Ivy zu.

»Wann hast du überhaupt das letzte Mal richtig geschlafen?«, fragte Suzanne Ivy, sie hatte immer noch Tränen in den Augen.

Ivy rückte näher heran und legte den Arm um sie. »Letzte Nacht habe ich wie ein Stein geschlafen.«

Die Nächte davor waren schwierig für Ivy gewesen, aber sie hatte keine Albträume mehr gehabt. Sie wachte zu seltsamen Zeiten mitten in der Nacht auf und sah sich im Zimmer um. Als würde ihr Körper, der so lange in Alarmbereitschaft gewesen war, immer noch automatisch überprüfen, ob alles in Ordnung war. Doch die Angst, die sie Tag und Nacht verfolgt hatte, war vorüber und damit auch die Träume.

Die Polizei war am Dienstag wenig später bei den Brücken eingetroffen; Lieutenant Donnelly hatte auf Ivys Nachricht und einen Notruf von Andrew umgehend reagiert. Sie fanden Gregory auf den Felsen im Fluss und erklärten ihn noch am Unfallort für tot. Wenig später wurde Philip aus der Hütte befreit.

»Wie geht es Philip?«, erkundigte sich Beth.

»Er sieht ganz gut aus«, bemerkte Suzanne.

»Philip betrachtet die Welt eben wie ein Neunjähriger«, erklärte ihnen Ivy. »Solange er sich etwas mit einer Geschichte erklären kann, ist für ihn alles in Ordnung. Er hat Gregory in einen schlechten Engel verwandelt, und er glaubt, dass ihn die guten Engel immer vor den schlechten beschützen werden, und damit ist er zufrieden - im Moment.«

Aber Ivy wusste, früher oder später würde ihr Bruder viele schwierige Fragen darüber stellen, wie es bloß sein konnte, dass jemand, der sich ihm gegenüber nett benahm, ihm trotzdem etwas antun wollte.

Als Ivy und Andrew die Polizeiwache am Dienstagabend verließen, waren die Tatsachen mehr oder weniger geklärt. Der Lieutenant versicherte, die Polizei würde die Familie des Mädchens in Ridgefield über den weiteren Verlauf der Ermittlungen informieren, ebenso wie die Eltern von Eric und Tristan.

Später an jenem Abend kam Pfarrer Carruthers, Tristans Vater, vorbei. Er verbrachte mehrere Stunden bei Ivy und ihrer Familie und blieb auch bis zum Gedenkgottesdienst, der drei Tage später unter seiner Leitung stattfand, mit ihnen in Verbindung. Für Ivy wirkten Andrew und Maggie, nun, da alles überstanden war, zerbrechlich und erschöpft - gequält.

»Das ist doch klar«, sagte Beth, als hätte sie Ivys Gedanken erraten. »Sie haben eine Seite von Gregory kennengelernt, von der sie nichts geahnt haben, und das ist grauenhaft. Sie fangen erst allmählich an zu begreifen, was du durchgemacht hast. Es wird einige Zeit dauern.«

»Wir werden alle einige Zeit brauchen«, stimmte Suzanne zu und unterdrückte die Tränen. Dann griff sie nach dem Küchenmesser. »Meint ihr, wir haben genug Taschentücher und Brownies?«

 

Irgendetwas ist heute Nacht anders an ihr, dachte Tristan, als er am Samstagabend auf Lacey hinuntersah. Er hatte sie an derselben Stelle gefunden, wo er sie zum ersten Mal getroffen hatte: auf seinem Grab liegend, ein Bein aufgestellt, das andere vor ihr ausgestreckt. Ihre lila Igelfrisur leuchtete im Mondschein und ihre Haut sah so bleich aus wie der Marmor, an den sie sich lehnte. Ihre langen Nägel glänzten dunkellila. Trotzdem war irgendetwas anders an ihr.

Tristan bemerkte eine Wehmut auf Laceys Gesicht, die ihn zögern ließ, sie anzusprechen, eine Traurigkeit, die er nicht an ihr kannte oder die sie sonst verbarg.

»Lacey.«

Sie sah zu Tristan hoch und blinzelte zweimal.

»Was ist los?«, fragte er und setzte sich neben sie.

Sie starrte ihn an und erwiderte nichts.

»Worüber hast du gerade nachgedacht?«, fragte er sanft.

Lacey sah schnell auf ihre Hände, legte die Fingerspitzen gegeneinander und runzelte die Stirn. Als sie wieder aufsah, schien sie durch ihn hindurchzusehen.

Er fühlte sich unbehaglich. »Hast du irgendetwas auf dem Herzen?«

»Warst du an Gregorys Grab?«, fragte sie.

»Ich komme gerade -«

»Bitte sag mir nicht, dass er hier herumflattert«, unterbrach sie ihn und wedelte dramatisch mit den Händen. »Ich weiß, der Oberregisseur sucht sich immer die abwegigsten Kandidaten aus, aber das wäre echt zu viel.«

Tristan lachte und war froh, dass sie wieder sie selbst war. »Ich hab nichts von Gregory gesehen«, beruhigte er sie. »Bei seinem Grab ist alles still.«

Sie ließ die Hände sinken. »Du warst bei Ivy.«

»Ich war dort, aber ich kann keinen Kontakt mehr zu ihr aufnehmen«, erklärte er. »Weder sie noch Philip sehen mich, und ich schaffe es in keinen ihrer Köpfe. Ich brauche deine Hilfe, Lacey. Wahrscheinlich kannst du das schon nicht mehr hören, aber ich brauche dich wirklich dringender als je zuvor.«

Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Da gibt es etwas, was ich dir sagen sollte, Tristan.«

»Was?«, fragte er.

»Ich kann dich auch nicht sehen.«

»Was!«

»Ich sehe bloß einen goldenen Schimmer«, erklärte Lacey und stand auf. »Das, was alle sehen, wenn sie dich anschauen.« Sie seufzte. »Das heißt, entweder bin ich wieder lebendig ... brrrrr!« Sie machte wieder dieses Buzzergeräusch wie in einer Quizshow, allerdings war es nur ein halbherziger Versuch. »Oder du hast ein höheres Stadium des Engelseins erreicht als ich.«

»Aber das will ich nicht!«, protestierte er. »Ich will Ivy nur sagen -«

»Ich liebe dich«, sagte Lacey schnell. »Ich liebe dich.«

Tristan nickte. »Genau. Und weil ich sie so sehr liebe, möchte ich, dass sie die Liebe findet, für die sie bestimmt ist.«

Lacey wandte sich von Tristan ab.

»Was kann ich tun?«, wollte er wissen.

»Keine Ahnung«, murmelte sie.

Er streckte die Hand nach ihr aus, doch seine Hand griff durch ihren Arm.

Lacey berührte ihren Arm an der Stelle, wo er sie festzuhalten versucht hatte. »Du bist jetzt weiter als ich«, stellte sie fest. »Ich kann nicht mal raten, was mit dir passiert. Verfügst du noch über deine alten Kräfte?«

»Als ich das letzte Mal aus der Dunkelheit auftauchte, war ich stärker als je zuvor«, antwortete Tristan. »Ich konnte wie du meine Stimme hörbar machen. Ich konnte ohne Hilfe schreiben. Ich war stark genug, um Ivy und Will abzustützen. Jetzt habe ich nicht mal Kraft für einfache Dinge. Wie kann ich sie erreichen?«

»Bete. Bitte um eine weitere Chance«, schlug Lacey vor, »aber vielleicht kostet es dich deine letzten Kräfte, noch einmal Kontakt zu ihr aufzunehmen.«

»Und so geht es dann zu Ende?«, fragte Tristan.

»Ich weiß auch nicht mehr als du!«, fuhr Lacey ihn an. »Und du weißt genau, dass ich das nicht gern zugebe«, fügte sie sanfter hinzu. »Du kannst bloß beten und es versuchen. Falls - falls du nicht durchkommst, sag ich ihr Bescheid, dass du es zumindest vorhattest. Ich überbringe deine Nachricht. Und ich schaue ab und zu nach ihr - geb ihr ein paar Engelratschläge und so.«

Als Tristan nichts darauf erwiderte, meinte Lacey: »Gut, du willst also nicht, dass ich deiner Tussi Ratschläge gebe. Dann lass ich es eben!«

»Bitte, schau nach ihr«, bat er, »und gib ihr so viele Ratschläge, wie du willst. Ich vertrau dir.«

»Du vertraust mir - selbst wenn ich ihr Ratschläge in Liebesdingen gebe?«, bohrte Lacey, um zu sehen, wie er reagierte.

»Selbst in Liebesdingen«, stimmte er lächelnd zu.

»Nicht, dass ich Ahnung davon habe ... von der Liebe«, fügte sie hinzu.

Tristan betrachtete sie neugierig. Er ging näher an sie heran und musterte sie eindringlich.

»Was?«, fragte Lacey. »Was?« Sie wich vor seinem forschenden Licht zurück.

»Das ist es, oder?«, fragte er mit stiller Verwunderung. »Darüber hast du gebrütet, als ich dich gefunden habe. Du hast dich verliebt! Streit es nicht ab. Engel sollten sich doch nicht gegenseitig belügen, ebenso wenig wie Freunde. Du bist verliebt, Lacey.«

»Okay, es ist blöd, sich als Tote zu verlieben. Aber besser als gar nicht, oder?«, entgegnete sie. »Nun hat sich dein Wunsch erfüllt und du kannst weitergehen.«

»Wer ist es denn?«, erkundigte Tristan sich neugierig.

Sie gab ihm keine Antwort.

»Wer ist es?«, bohrte er. »Erzähl’s mir. Vielleicht kann ich dir helfen. Ich weiß, dass du leidest, Lacey. Ich kann es sehen. Lass mich dir helfen.«

»Oh Mann!« Lacey lief um das Grab. »Sieh einer an, man bewegt sich jetzt in höheren Sphären.«

Er überhörte ihre Bemerkung. »Wer ist es? Weiß er, dass du seinetwegen hier bist?«

Sie lachte, dann sah sie nach unten und schüttelte den Kopf.

»Sieh mich an«, bat er sanft. »Ich kann dein Gesicht nicht sehen.«

»Dann sind wir ja quitt«, erwiderte sie ruhig.

»Ich würde dich gern wieder berühren können«, sagte Tristan zu ihr. »Ich würde dich gern in den Arm nehmen. Ich will dich nicht so traurig zurücklassen.«

Lacey schnitt ihm eine Grimasse. »Du kannst mich aber nur so verlassen«, antwortete sie leise und begegnete ruhig seinem Blick, in ihren dunklen Augen schimmerte sein goldenes Licht. »Es sei denn ...«, fuhr sie fort, »es sei denn, ich gehe vor dir. Gute Idee. Kein Geseufze, kein Geheule«, sagte sie entschieden.

Sie drehte sich um und lief die lange Friedhofsstraße hinunter.

»Lacey?«, rief Tristan hinter ihr her.

Sie lief weiter.

»Lacey? Wo gehst du hin?«, schrie Tristan. »Hey, Lacey, verabschiedest du dich nicht mal?«

Ohne sich umzudrehen, hob sie die Hand und verabschiedete sich mit einem leuchtend lila Winken. Dann verschwand sie hinter den Bäumen.

 

Alles war dunkel. Die Fenster der schlafenden Stadt, an denen Tristan auf seinem Weg vorbeigekommen war; weder die Fenster im Haus seiner Eltern, durch die er ein letztes Mal gesehen hatte, noch die Fenster des großen Hauses auf dem Berg waren erleuchtet gewesen. Tristan fand die drei Mädchen schlafend auf dem Boden von Ivys Zimmer: Beths rundes, sanftes Gesicht war in Mondschein getaucht, Suzannes dichte schwarze Haare waren über das Kissen ausgebreitet. Ivy lag zwischen ihren Freundinnen und war endlich sicher.

Was die Mädchen nicht wussten - oder zumindest Vorgaben, nicht zu bemerken: Philip hatte sich in Ivys Zimmer geschlichen und schlief nun in ihrem Bett, mit dem Kopf am Fußende, damit er ihre Geheimnisse besser belauschen konnte. Tristan berührte ihn mit seinem goldenen Licht. Bloß Ella fehlte in der friedlichen Szene.

Er saß lange Zeit dort, nahm den Frieden des Zimmers in sich auf und zögerte, Ivys Schlaf zu stören, zögerte, der verbleibenden Zeit nun ein Ende zu setzen. Doch sie würde enden, das wusste er, und als der Himmel hell wurde, betete er.

»Schenk mir noch einen Augenblick mit ihr«, bat er und kniete sich neben Ivy. Er konzentrierte sich auf seine Fingerspitze und strich über ihre Wange.

Er spürte ihre weiche Haut. Er konnte sie wieder fühlen! Er nahm ihre Wärme wahr! Ivy öffnete blinzelnd die Augen. Sie sah sich fragend im Zimmer um. Er streichelte über ihre Hand.

»Tristan?«

Sie setzte sich auf und er strich ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln und sie fasste an die Haarsträhne, die er berührt hatte. »Tristan, bist du das?«

Er dachte dasselbe und schlüpfte in ihre Gedanken.

»Ivy.«

Sie erhob sich schnell, lief zum Fenster und schlang die Arme um sich. »Ich dachte, ich würde deine Stimme nie wieder hören«, sagte sie unhörbar. »Ich dachte, du wärst für immer gegangen. Nach dem Augenblick auf der Brücke habe ich dein Licht nicht mehr gesehen. Ich kann es auch jetzt nicht sehen«, erklärte sie und sah fragend auf ihre Hand.

»Ich weiß. Ich verstehe auch nicht, was passiert, Ivy. Ich weiß bloß, dass ich mich verändere. Und dass ich nicht zurückkommen werde.«

Sie nickte und nahm, was er ihr sagte, mit einer Ruhe hin, die ihn überraschte. Doch ihr Mund bebte. Sie zitterte und sah aus, als würde sie gleich laut aufschluchzen, doch sie sagte nichts.

»Ich liebe dich, Ivy. Ich werde nie aufhören, dich zu lieben.«

Sie lehnte sich gegen das Fenster und sah durch einen Tränenschleier hinaus in die blasse, funkelnde Nacht.

»Ich hab gebetet, dass ich noch einmal mit dir reden kann«, erzählte er ihr, »um dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe und dass du auch in Zukunft lieben sollst. Jemand anderes ist für dich bestimmt, Ivy, und du bist für jemand anderen bestimmt.«

Sie richtete sich auf. »Nein.«

»Doch, Liebste«, sagte er sanft, aber nachdrücklich.

»Nein!«

»Versprich mir, Ivy -«

»Ich verspreche dir bloß, dass ich dich liebe«, rief sie.

»Hör mir zu«, bettelte Tristan. »Du weißt, dass ich nicht länger bleiben kann.«

Draußen hatte es zu regnen begonnen, auf ihren Wangen glänzten frische Tränen, doch er musste gehen.

»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich. Liebe ihn.«

Damit schlüpfte Tristan aus ihrem Kopf und sah sie im frühen Morgenlicht am Fenster stehen. Er trat einen Schritt zurück und beobachtete sie, wie sie sich hinkniete und ihre Arme und ihren Kopf auf die Fensterbank legte. Er trat noch weiter zurück und sah, wie ihre Tränen trockneten und ihre Augen sich schlossen. Als er ein drittes Mal einen Schritt zurücktrat, dachte Tristan, die Sonne wäre hinter ihm aufgegangen und hätte die blasse Nacht in tausend silbrig glänzende Bruchstücke zerschlagen.

Er wandte sich nach Osten, doch der strahlende Lichtkreis war nicht die Sonne. Er konnte nicht ausmachen, was es war, doch er wusste, dass das Licht für ihn leuchtete, und Tristan eilte darauf zu.