8

 

 

 

 

 

 

Ivy parkte ihren Wagen in der Nähe der Eisenbahnbrücken. Sie stand auf derselben Lichtung, auf der auch schon Gregory vor ein paar Monaten gehalten hatte - in jener Nacht, als Eric sie zu einer Mutprobe herausgefordert hatte. Sie stieg aus und lief das kurze Stück bis zur Doppelbrücke. Die Schienen der neuen Brücke funkelten im späten Nachmittagslicht. Die alte Brücke daneben war eine verrostete orangefarbene Stahlkonstruktion, die in der Mitte zusammengebrochen war. Vom gegenüberliegenden Ufer streckten sich scharfkantige Finger aus Metall und fauligem Holz entgegen, doch die beiden Brückenhälften fanden ebenso wenig zueinander wie die Königskinder.

Als Ivy die nebeneinander verlaufenden Brücken nun deutlich im Sonnenlicht sah, als sie die zwei Meter breite Lücke dazwischen wahrnahm und wie groß der Abstand zum Wasser und den Felsen darunter war, wurde ihr erst klar, welches Risiko Eric eingegangen war, als er vorgab, sich von der Brücke zu stürzen. Was ist damals in Erics Kopf vorgegangen? Entweder war er wahnsinnig oder es war ihm einfach egal, ob er tot oder lebendig war.

Erics Harley war nicht zu sehen, aber es gab genug Bäume und Büsche, hinter denen er sie versteckt haben konnte. Ivy sah sich um, dann kletterte sie vorsichtig die Böschung neben den Brücken hinunter. Einen großen Teil der Strecke ließ sie sich hinunterrutschen, bis sie schließlich einen schmalen Pfad erreichte, der am Fluss entlangführte. Sie versuchte, möglichst leise aufzutreten und lauschte auf jedes Geräusch. Als die Bäume raschelten, sah sie schnell auf und erwartete fast, Eric und Gregory zu sehen - bereit, sich auf ihre Beute zu stürzen.

»Reiß dich zusammen, Ivy«, schalt sie sich, schlich aber trotzdem leise vorwärts. Wenn es ihr gelang, Eric zu überraschen, würde sie vielleicht erkennen, was er vorhatte, und nicht in die Falle tappen.

Ivy sah ein paarmal auf die Uhr. Um fünf nach fünf fragte sie sich, ob sie an dem Wagen vorbeigelaufen war. Doch nach ein paar Metern blitzte etwas vor ihren Augen auf - Metall, das im Sonnenlicht glitzerte. Fünf Meter weiter erkannte sie einen überwachsenen Pfad, der vom Fluss hoch zu einem Metallhaufen führte.

Ivy kämpfte sich durch das Gebüsch und duckte sich, während sie sich heranpirschte. Einmal meinte sie, ein Geräusch hinter sich zu hören, es klang, als würde jemand durch Laub laufen. Sie drehte sich schnell um. Nichts. Nur ein paar Blätter, die im Wind raschelten.

Ivy schob einige lange Zweige zur Seite, machte zwei Schritte nach vorn - und holte tief Luft. Der Wagen sah genauso aus, wie Beth ihn beschrieben hatte: die Achsen waren im Boden versunken, der hintere Teil war mit Ranken überwuchert. Die Kühlerhaube fehlte und das Kunststoffverdeck war zu papierartigen schwarzen Flocken verrottet. Die Türen schimmerten blau - selbst die Farbe hatte Beth in ihrem Traum gesehen.

Die hintere Tür stand offen. Lag eine Decke auf dem Sitz? Was verbarg sich unter der Decke?

Wieder hörte sie ein Rascheln hinter sich. Sie drehte sich schnell um und suchte die Bäume ab. Ihr taten schon die Augen weh, weil sie sich ständig auf jeden Schatten und jedes herumflatternde Blatt konzentrierte und nach dem Umriss von jemandem Ausschau hielt, der sie beobachtete. Doch es war niemand zu sehen.

Sie schaute auf die Uhr. Zehn nach fünf. Eric hätte nicht so schnell aufgegeben. Entweder ist er spät dran oder er wartet darauf, dass ich den ersten Schritt mache. Nun gut, das Wartespielchen können auch zwei spielen, dachte sich Ivy und kauerte sich leise auf den Boden.

Nach ein paar Minuten schmerzten ihre Beine vom Stillsitzen. Sie massierte sie und sah noch einmal auf die Uhr: Viertel nach. Sie wartete weitere fünf Minuten. Vielleicht hatte Eric den Mut verloren.

Ivy stand langsam auf, doch etwas hielt sie davon ab, näher heranzugehen. Sie hörte Beths Warnung so deutlich, als stünde ihre Freundin neben ihr.

»Engel, helft mir«, betete Ivy. Ein Teil von ihr wollte herausfinden, was sich in dem Auto verbarg. Ein anderer Teil wollte jedoch davonlaufen. »Engel, seid ihr da? Tristan, ich brauche dich. Ich brauche dich jetzt!«

Sie ging zögernd auf das Auto zu. Als sie auf die Lichtung kam, blieb sie einen Moment stehen, um zu sehen, ob ihr jemand gefolgt war. Dann beugte sie sich hinunter und warf einen Blick auf den Rücksitz.

Ivy sah noch einmal hin. War das, was sie gesehen hatte, real - oder wieder nur ein Albtraum, wieder einer von Erics Scherzen?

Dann schrie sie; sie schrie, bis sie heiser war. Sie brauchte ihn nicht zu berühren, sie wusste es auch so - er war zu bleich, zu reglos, seine blauen Augen starrten ins Nichts - Eric war tot.

Ivy machte einen Satz, als jemand sie von hinten berührte. Sie fing wieder an zu schreien. Arme schlangen sich um sie, zogen sie von dem Wrack weg, hielten sie fest. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu schreien. Er unternahm keinen Versuch, sie zu beruhigen, er hielt sie einfach, bis sie schlaff in seinem Arm zusammensackte. Sein Gesicht streifte ihres.

»Will«, sagte sie. Sie spürte, wie sein Körper zitterte.

Er drehte sie zu sich, drückte ihren Kopf an seine Brust. Seine Hand hielt er schützend vor ihre Augen. Doch Ivy sah immer noch Erics weit aufgerissene Augen vor sich, die nach oben starrten, als wäre er erstaunt über das, was passiert war.

Will verlagerte sein Gewicht, und Ivy wusste, dass er über ihre Schulter zu Eric sah. »Ich - ich sehe kein Anzeichen für Gewalt«, meinte er. »Keine Verletzungen. Und kein Blut.«

Ivy spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Sie biss die Zähne zusammen und schluckte. »Vielleicht Drogen«, erwiderte sie. »Eine Überdosis.«

Will nickte. Sie spürte seine kurzen schnellen Atemzüge auf ihrer Wange. »Wir müssen die Polizei rufen.«

Plötzlich machte sich Ivy von ihm los. Sie beugte sich hinunter und zwang sich, Eric lange und eindringlich anzusehen. Sie musste sich das Bild unbedingt einprägen. Sie musste Hinweise sammeln. Was mit ihm geschehen war, könnte eine Warnung an sie sein. Doch als sie Eric ansah, empfand sie nur Verlust; sie sah bloß ein vergeudetes Leben.

Ivy streckte die Hand aus. Will hielt sie fest. »Nicht. Fass ihn nicht an«, sagte er. »Lass seinen Körper, wie er ist, damit die Polizei alles aufnehmen kann.«

Ivy nickte, dann hob sie eine alte Decke vom Boden des Wagens auf und breitete sie vorsichtig über Eric. »Engel -«, begann sie und beließ es dabei. Als sie davonging, wusste sie, dass unter den Toten ein gnädiger Engel wäre, der über Eric wachen und weinen würde - genau, wie Beth gesagt hatte.

»Egal, was du behauptest, Lacey, ich bin froh, dass ich meine Beerdigung verpasst habe.« Tristan beobachtete die Trauergäste, die sich um Erics Grab versammelt hatten. Einige standen vereinzelt und steif wie Soldaten; andere klammerten sich aneinander, um sich Beistand und Trost zu spenden.

Der Freitagmorgen war grau und es nieselte. Einige Trauergäste spannten nun Schirme auf, die wie bunte Nylonblumen vor den grauen Steinen und nebelverhangenen Bäumen aufblühten. Mit bloßem Kopf standen Ivy und Beth links und rechts von Will und ließen Regen und Tränen ineinanderfließen. Suzanne hatte einen Arm um Gregory gelegt und starrte auf das kurz geschnittene Gras.

Dreimal in fünf Monaten hatten die vier zusammen auf dem Riverstone-Rise-Friedhof gestanden und trotzdem stellte die Polizei zu den Todesfällen nur Routinefragen.

»Klappt’s nicht?«, rief Lacey oben vom Baum.

Tristan knurrte. »Gregory hat eine Mauer um sich hochgezogen«, antwortete er und drehte frustriert seine Runden um die Ulme. Er hatte während des Gottesdienstes mehrmals versucht, in Gregorys Kopf einzudringen. »Manchmal denke ich, er ahnt es schon vorher, dass ich seine Gedanken lesen will. Vermutlich merkt er genau in dem Moment, wenn ich mich ihm nähere, dass er aufpassen muss.«

»Kann schon sein«, erwiderte Lacey. Sie ließ ihre Finger Gestalt annehmen, schwang sich von einem Ast und landete direkt neben ihm. »Für Engelangelegenheiten hast du nicht gerade ein Händchen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich sag mal so: Wenn du versuchen würdest, statt Gedanken Fernseher zu klauen, hätte dich selbst ein halb tauber, fast blinder fünfzehn Jahre alter Hund schon vor drei Raubzügen geschnappt.«

Das traf Tristan. »Warte, bis ich zwei Jahre rumgetrödelt habe«, konterte er, »Entschuldige, ich wollte sagen, geübt habe, dann bin ich auch so gut wie du.«

»Vielleicht«, erwiderte Lacey, dann fügte sie mit einem Lächeln hinzu: »Ich hab auch versucht, in ihn zu schlüpfen. Unmöglich.«

Tristan betrachtete Gregorys Gesicht. Es zeigte keine Regung, sein Mund war ein gerader Strich, seine Augen starrten ins Leere.

»Weißt du«, sagte Lacey und ließ ihre Handfläche Gestalt annehmen, um Regentropfen aufzufangen, »Gregory muss nicht für alles Schlimme verantwortlich sein, was passiert. Du hast den Bericht gelesen. Die Polizei fand keine Anzeichen für einen Kampf.«

Als Todesursache hatte der Gerichtsmediziner eine Überdosis angegeben. Erics Eltern beharrten jedoch darauf, dass es ein Unfall gewesen sei. An der Schule kursierten Selbstmordgerüchte. Tristan hielt es für Mord.

»Der Bericht beweist überhaupt nichts«, argumentierte er, während er auf und ab ging. »Gregory muss es Eric ja nicht mit Gewalt reingezwungen haben. Vielleicht hat er ihm eine große Dosis verpasst und nicht gesagt, wie stark sie ist. Danach brauchte er nur zu warten, bis Eric so weggetreten war, dass er nichts mehr gepeilt hat, und dann konnte Gregory ihm noch mehr verabreichen. Die Polizei hält es nur deshalb nicht für einen Mord, Lacey, weil sie kein Motiv erkennen können.«

»Du aber.«

»Eric war bereit zu reden. Er war bereit, Ivy etwas zu erzählen.«

»Ach so! Dann hatte die Tussi also doch recht«, stichelte Lacey,

»Sie hatte recht«, räumte er ein, auch wenn er immer noch wütend auf Ivy war, dass sie versucht hatte, sich am Montagnachmittag mit Eric zu treffen. Sie hatte in allerletzter Minute nach ihm gerufen - als es viel zu spät gewesen wäre, um sie zu retten. Als er ihr zu Hilfe eilte, hatte Tristan sie mit Will von dem gefährlichen Ort Weggehen sehen. Will behauptete, er sei Ivy einer plötzlichen Eingebung folgend hinterhergefahren.

»Fühlst du dich immer noch ausgeschlossen?«, wollte Lacey wissen.

Er gab keine Antwort.

»Tristan, wann wirst du es endlich kapieren? Wir sind tot«, schalt ihn Lacey. »Und das passiert nun mal, wenn man tot ist. Man gehört nicht mehr dazu.«

Tristan betrachtete weiterhin Ivy. Er wollte bei ihr sein, ihre Hand halten.

»Wir sind hier, um zu helfen und dann loszulassen«, erklärte ihm Lacey. »Wir helfen - und danach heißt es tschüs.« Sie winkte ihm mit beiden Händen zu.

»Wie ich schon gesagt habe, Lacey, ich wünsch dir, dass du dich irgendwann verliebst. Bevor du deinen Auftrag erfüllst, hoffe ich, dass dir irgendein Typ beibringt, wie mies man sich fühlt, wenn man jemanden liebt und ihm dann dabei zusehen muss, wie er sich nach jemand anderem umschaut.«

Lacey trat einen Schritt zurück.

»Ich hoffe, du lernst, wie es ist, wenn man sich von jemandem verabschieden muss, den man mehr liebt, als derjenige jemals ahnen wird.«

Sie drehte sich weg. »Dein Wunsch geht möglicherweise in Erfüllung«, erwiderte sie.

Er warf ihr einen Blick zu, der Ton ihrer Stimme überraschte ihn. Normalerweise brauchte er sich keine Gedanken darüber zu machen, Laceys Gefühle zu verletzen. »Hab ich was nicht mitgekriegt?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Was?«, bohrte er. »Was ist denn?« Er wollte ihr Gesicht berühren. Doch Lacey wandte sich ab.

»Du verpasst das Schlussgebet«, sagte sie. »Wir sollten wie die anderen für Eric beten.« Lacey faltete die Hände und sah auf einmal sehr engelhaft aus.

Tristan seufzte. »Bete du an meiner Stelle«, meinte er. »Ich hab nicht gerade überschäumende Gefühle für Eric.«

»Noch ein Grund mehr, zu beten«, antwortete sie. »Wenn er nicht in Frieden ruht, hängt er vielleicht bei uns ab.«

»Engel, nehmt euch seiner an. Lasst ihn in Frieden ruhen«, betete Ivy. »Helft Erics Familie«, bat sie lautlos und erwiderte den Blick von Christine, Erics älterer Schwester. Sie stand mit ihren Eltern und Brüdern auf der anderen Seite des Sargs.

Während des Gottesdienstes hatte Christine mehrmals zu Ivy hinübergesehen. Als sich ihr Blick traf, zitterte der Mund des Mädchens zunächst ein wenig, wurde aber rasch wieder zu einer langen weichen Linie. Christine hatte Erics hellblonde Haare und die Porzellanhaut, ihre Augen jedoch waren leuchtend blau. Sie war schön - eine traurige Mahnung, was Eric hätte sein können, wenn Drogen und Alkohol seinen Körper und Geist nicht zerstört hätten.

»Engel, nehmt euch bitte seiner an«, Ivy wiederholte ihr Gebet.

Der Pfarrer sprach das Schlusswort und alle wandten sich gleichzeitig zum Gehen. Gregorys Finger streiften Ivys. Seine Hand war eiskalt. Ihr fiel ein, wie kalt sie an dem Abend gewesen war, als die Polizei die Nachricht von Carolines Tod überbracht hatte.

»Wie geht’s dir?«, erkundigte sie sich.

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. An dem Abend von Carolines Tod hatte er das auch getan und sie hatte geglaubt, er gäbe endlich seine Feindseligkeit auf.

»Alles bestens«, sagte er. »Und du?«

»Ich bin froh, dass es vorbei ist«, erwiderte sie ehrlich.

Er betrachtete eindringlich ihr Gesicht. Sie hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen - seine Hand hielt sie fest, seine Augen durchbohrten sie und lasen ihre Gedanken.

»Es tut mir leid, Gregory. Eric und du, ihr wart so lange befreundet«, sagte sie. »Ich weiß, für dich ist es so viel härter als für alle anderen.«

Gregory hörte nicht auf, sie zu mustern.

»Du hast versucht, ihm zu helfen, Gregory. Du hast alles getan, was du konntest«, fuhr sie fort. »Das wissen wir beide.«

Gregory senkte den Kopf und kam näher. Ivy überlief ein Schauer. Für einen Unbeteiligten, für Maggie und Andrew, die aus der Entfernung zusahen, wirkte es, als würden sie für einen Augenblick ihren Schmerz teilen. Ivy hatte allerdings das Gefühl, dass sich ihr ein Tier näherte, dem sie nicht trauen konnte, ein Hund, der sie zwar nicht biss, aber einschüchterte, indem er ihre bloße Haut mit den Zähnen streifte.

»Gregory!«

Er war so mit Ivy beschäftigt, dass er zusammenzuckte, als Suzanne seinen Nacken berührte. Ivy wich rasch einen Schritt zurück und Gregory ließ sie los.

Seine Nerven liegen genauso blank wie meine, dachte Ivy, als sie beobachtete, wie Suzanne und Gregory zu den Autos liefen, die entlang des Friedhofswegs geparkt waren. Beth und Will machten sich ebenfalls auf den Weg und Ivy lief langsam hinter ihnen her. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Erics Schwester ihr mit großen Schritten folgte.

Ivy hatte der Polizei erzählt, Will und sie wären nach der Schule spazieren gegangen und dabei auf Eric im Auto gestoßen. Nachdem Dr. Ghent und seine Frau über Erics Tod informiert worden waren, hatten sie Ivy angerufen, um deren Aussage bei der Polizei mit ihr durchzusprechen und noch mehr Details herauszufinden. Nun wappnete sie sich für die nächste Fragerunde.

»Du bist doch Ivy Lyons, oder?«, fragte das Mädchen. Ihre Wangen waren glatt und rosig, ihr dichtes blondes Haar glänzte im Regen. Es war irritierend, einer so gesunden Version von Eric gegenüberzustehen.

»Ja«, erwiderte Ivy. »Es tut mir leid, Christine. Es ist sicher schwer für dich und deine Familie.«

Das Mädchen nahm Ivys Mitgefühl mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. »Du - du warst anscheinend eng mit Eric befreundet?«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Du scheinst ihm wichtig gewesen zu sein.«

Ivy sah sie verdutzt an.

»Er hat dir nämlich was hinterlassen. Als - als Eric und ich Kinder waren«, fing Christine an, ihre Stimme bebte ein wenig, »haben wir an einer geheimen Stelle auf dem Dachboden Nachrichten füreinander hinterlassen, die wir in eine alte Pappschachtel gelegt haben. Auf der Schachtel stand: >»Vorsicht! Frösche! Nicht öffnen!«<

Christine lachte, doch dann hatte sie plötzlich Tränen in den Augen. Ivy wartete geduldig und fragte sich, wohin das Gespräch führen würde.

»Als ich - zur Beerdigung nach Hause kam, hab ich in der Schachtel nachgeschaut, einfach so«, fuhr Christine fort, »eigentlich hab ich gar nicht erwartet, etwas zu finden - wir hatten sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Aber ich fand eine Nachricht. Und das hier.«

Sie zog einen grauen Umschlag aus ihrer Handtasche. »In der Nachricht stand: >Falls mir etwas passiert, gib das Ivy Lyons.<«

Ivy bekam große Augen.

»Damit hast du nicht gerechnet«, bemerkte Christine. »Ich weiß nicht, was darin ist.«

»Nein«, erwiderte Ivy, dann nahm sie den verschlossenen Umschlag entgegen. Sie konnte ein kleines Päckchen darin fühlen, es fühlte sich an, als wäre etwas Hartes mit Polstermaterial umwickelt worden. Der Umschlag machte Ivy noch neugieriger. Erics Adresse stand säuberlich getippt auf einem Adressaufkleber, quer darüber war in Großbuchstaben ihr eigener Name geschrieben. Als Absender war Caroline Baines angegeben.

»Ach, das«, meinte Christine, als Ivy den Absender studierte. »Das ist vermutlich ein alter Umschlag, der bei Eric herumlag.«

Aber es war nicht einfach nur ein alter Umschlag. Ivy prüfte den Poststempel: 28.Mai, Philips Geburtstag. Der Tag, an dem Caroline gestorben war.

»Vielleicht weißt du das nicht«, fuhr Christine fort. »Eric hing sehr an Caroline. Sie war so etwas wie eine zweite Mutter für ihn.«

Ivy sah überrascht auf. »War sie das?«

»Schon als er ein Kind war, kamen Eric und meine Mutter nicht miteinander klar«, erklärte Christine. »Ich bin sechs Jahre älter, manchmal hab ich auf ihn auf gepasst, wenn meine Mutter lange in New York arbeiten musste. Doch normalerweise war er bei den Baines und Caroline stand ihm näher als irgendjemand von uns. Selbst als sie sich scheiden ließ und Gregory nicht mehr bei ihr lebte, ging Eric sie oft besuchen.«

»Das wusste ich nicht«, meinte Ivy.

»Machst du ihn auf?«, wollte Christine wissen und betrachtete neugierig den Umschlag.

Ivy riss eine Ecke ab und öffnete den Umschlag mit einem Finger. »Wenn es eine persönliche Nachricht ist«, warnte sie Christine vor, »zeig ich sie dir wahrscheinlich nicht.«

Christine nickte.

Doch der Umschlag enthielt keine Nachricht, nur ein Papiertaschentuch, in das etwas Hartes eingeschlagen war. Ivy wickelte es auf und zog einen Schlüssel heraus. Er war ungefähr fünf Zentimeter lang. Ein Ende war oval, in das Metall war ein spitzenähnliches Muster gestanzt. Das andere Ende, das ins Schloss gehörte, war ein einfacher Hohlzylinder mit zwei kleinen Schlüsselzähnen.

»Weißt du, wofür der ist?«, fragte Christine.

»Nein«, erwiderte Ivy. »Und es ist auch kein Zettel dabei.«

Christine biss sich auf die Lippe, schließlich meinte sie: »Na ja, vielleicht war es ja doch ein Unfall.« Ivy konnte die Hoffnung in ihrer Stimme hören. »Wenn Eric vorgehabt hätte, sich umzubringen, dann hätte er einen Zettel zur Erklärung dazugelegt - oder nicht?«

Es sei denn, er wurde umgebracht, bevor er Gelegenheit dazu hatte, dachte Ivy, dann nickte sie zustimmend.

»Eric hat nicht Selbstmord begangen«, sagte Ivy mit Nachdruck. Sie sah die Dankbarkeit in Christines Augen und wurde rot. Wenn Christine wüsste, dass ich vielleicht der Grund für den Tod ihres Bruders war!, dachte Ivy.

Ivy ließ den Schlüssel in den Umschlag fallen, steckte die Lasche hinein und faltete ihn zusammen. Als sie ihn in die Tasche ihres Regenmantels schob, versprach sie Christine, ihr Bescheid zu geben, wenn sie die Bestimmung des Schlüssels herausgefunden hatte.

Christine bedankte sich bei Ivy, dass sie Eric eine gute Freundin gewesen war, was Ivy noch mehr erröten ließ.

Ihr Gesicht glühte noch immer, als sie zu Will und Beth ging, die sie, unter einem Regenschirm zusammengedrängt, aus einigen Metern Entfernung beobachtet hatten.

»Was wollte sie von dir?«, fragte Will und zog Ivy mit unter den Regenschirm.

»Sie - ähm - hat sich bei mir bedankt, dass ich eine gute Freundin für Eric gewesen bin.«

»Oh Mann«, sagte Beth leise.

»Das war alles?«, wollte Will wissen.

Es klang bohrend, Ivy kannte solche Fragen eigentlich nur von Gregory.

»Ihr habt ganz schön lange geredet«, bemerkte Will. »Mehr hat sie nicht gesagt?«

»Nein«, log Ivy.

Wills Blick fiel auf die Manteltasche, in die sie den Umschlag geschoben hatte. Er hatte den Austausch sicher gesehen, und ganz sicher sah er jetzt die Ecke herausragen, er fragte sie jedoch nicht weiter aus.

Da sie an diesem Tag vom Unterricht freigestellt worden waren, fuhren sie schweigend für ein spätes Mittagessen zu Celentano’s. Während sie die Speisekarte studierten, überlegte Ivy, was wohl in Wills Kopf vor sich ging und ob er Gregory in Verdacht hatte. Am Montag auf der Wache hatte Will sie reden lassen und anschließend ihre Geschichte bestätigt, keiner von ihnen hatte Erics Wunsch nach einem geheimen Treffen erwähnt. Nun hätte Ivy Will gern alles erzählt. Wenn sie ihm zu lange in die Augen sah, machte sie es bestimmt auch.

»Wie geht es euch so?«, begrüßte sie Pat Celentano, die an ihren Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen. Die meisten Mittagsgäste hatten die Pizzeria verlassen und die Besitzerin redete etwas leiser als sonst. »Ziemlich harter Morgen für euch.«

Sie nahm die Bestellung auf, dann stellte sie ein zusätzliches Körbchen mit Stiften und Wachsmalkreiden auf die Papiertischdecke.

Will, von dem bereits eine ganze Reihe Tischdeckenbilder an den Wänden des Gelentano’s hingen, fing sofort zu zeichnen an. Ivy malte Männchen. Beth bildete lange Reihen mit Reimwörtern und murmelte vor sich hin, während die Reihen immer länger wurden. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich, als ihre Wortreihen Wills Zeichnung in die Quere kamen.

Er illustrierte Witze, die er zuvor aufgeschrieben hatte. Ivy und Beth beugten sich über die Tischdecke, um sie sich anzusehen und kicherten. Dann zeichnete Will die Mädchen in den Old-West-Kostümen, die sie damals auf dem Kunstfestival anprobiert hatten. »Die Schönen aus Virginia City« betitelte er das Bild.

Beth deutete auf die Zeichnung. »Ich glaube, du hast da ein paar Rundungen vergessen«, meinte sie. »Ivys Kleid war damals wesentlich enger als hier auf dem Bild. Natürlich nicht so eng wie die Lederhosen, die du getragen hast...«

Ivy lächelte und erinnerte sich an die Stimme, die sie damals den ganzen Tag durcheinandergebracht hatte, eine Stimme aus dem Nichts - es war Lacey, die sich ein paar Scherze erlaubte.

»Knackiger Hintern«, sagten Ivy und Beth wie aus der Pistole geschossen, dieses Mal fingen sie lauthals zu lachen an.

Mit dem plötzlichen Lachen kamen die Tränen. Ivy hielt eine Hand vors Gesicht.

Will und Beth saßen schweigen daneben und ließen sie einfach ihren Schmerz herausweinen. Nach einer Weile nahm Will ihre Hand, legte sie sanft auf den Tisch und zeichnete ihren Umriss nach. Der Stift fuhr immer wieder um ihre Finger, die leichte Berührung beruhigte sie. Will legte seine Hand neben ihre und zeichnete auch sie nach.

Als sie die Hände wegzogen, sah sich Ivy das Ergebnis an. »Flügel«, stellte sie fest und ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ein Schmetterling oder ein Engel.«

Ivy wäre gern näher an Will herangerückt, um sich an ihn zu lehnen. Sie wollte ihm alles erzählen, was sie wusste, und ihn um Hilfe bitten. Aber sie durfte ihn nicht in Gefahr bringen. Ihretwegen war schon ein Junge, den sie von ganzem Herzen geliebt hatte, umgebracht worden. Sie würde nicht zulassen, dass es - Ivy hielt inne. Dem anderen Jungen passierte, den sie ... liebte?