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Hallo! Romeo! Wo bist du? Roooo-me-ooo!«, rief Lacey.

Tristan, der Ivy die breite Haupttreppe im Haus der Baines hinunter gefolgt war, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und steckte den Kopf suchend aus einem offenen Fenster.

Aus einem Blumenbeet lächelte ihm Lacey entgegen, es war der einzige Fleck auf Andrew Baines’ Grundstück, wo sich nicht Hunderte von Gästen mit Picknickdecken und Körben tummelten. Auf der Terrasse spielte sich eine karibische Steelband ein. In den Pinien um den Tennisplatz hingen Papierlaternen, darunter war das Buffet aufgebaut.

Lange bevor Tristan Ivy kennengelernt hatte, lange bevor Andrew alle damit überrascht hatte, dass er Ivys Mutter Maggie heiratete, war Tristan regelmäßig zu dieser jährlichen Party gekommen. Er erinnerte sich daran, wie imposant ihm als kleiner Junge das weiße holzverkleidete Haus immer vorgekommen war, mit seinem Ost-und Westflügel und Doppelschornsteinen und den vielen schwarzen Fensterläden - es sah wie eines der Häuser im New-England-Kalender seiner Mutter aus.

»Vergiss die Tussi, Romeo«, rief ihm Lacey zu. »Du verpasst eine tolle Party. Vor allem verpasst du, was hinter manchen Büschen abgeht.«

Selbst jetzt, nach zweieinhalb Monaten als Engel, war Tristans erster Impuls immer, sie irgendwie zum Schweigen zu bringen - auch wenn niemand außer ihm Lacey hören konnte. Hören konnten andere sie nur, wenn sie beschloss, ihre Stimme hörbar zu machen. Eine Fähigkeit, die er noch nicht beherrschte. Er lächelte sie schief an, dann trat er vom Fenster zurück. Im gleichen Augenblick, als Tristan sich wieder zur Treppe wandte, blieb Ivy stehen und ging zum Fenster.

Sofort schöpfte er Hoffnung. Sie spürt etwas, dachte er.

Doch Ivy sah einfach durch ihn hindurch, dann lief sie ohne zu zögern an ihm vorbei. Sie stützte sich auf die Fensterbank und beobachtete sehnsüchtig das Treiben im Garten. Tristan stand neben ihr und sah zu, wie Fackeln angezündet wurden und plötzlich im Sommerdämmerlicht aufflammten.

Als Ivy den Kopf wandte, tat Tristan unwillkürlich dasselbe und folgte ihrem Blick zu Will, der am Rand der Menge stand und alles beobachtete. Plötzlich schaute Will nach oben und begegnete Ivys Blick. Tristan wusste, was Will sah: leuchtend grüne Augen und wirre blonde Haare, die Ivy über die Schulter fielen.

Ivy sah Will eine gefühlte Ewigkeit lang an, dann trat sie unvermittelt zurück und hielt sich die Hände an die Wangen. Auch Tristan zog sich schnell zurück. Mach ein Foto, Will, davon hast du länger was, dachte er und stieg schnell die Treppe hinunter.

Auf der Terrasse wartete Lacey und machte sich einen Spaß daraus, jedes Mal, wenn der Schlagzeuger sich umdrehte, auf das Becken zu schlagen. Er sah sie natürlich nicht, noch nicht einmal den purpurfarbenen Schimmer, den man, wenn man an Engel glaubte, wahrnehmen konnte. Sie zwinkerte Tristan zu.

»Ich bin nicht hier, um Quatsch zu machen«, sagte er.

»Gut, Schätzchen, dann mal ran an die Arbeit«, meinte Lacey und versetzte ihm einen leichten Stoß. Obwohl sie durch die Körper von Menschen hindurchschlüpfen konnten, hatten sie für einander richtige Körper, die sie auch fühlen konnten.

»Ich will dir jemand zeigen, der sich beim Tennisplatz die Kante gibt«, erklärte ihm Lacey, steuerte jedoch zunächst auf Philips Baumhaus zu. Der Versuchung, die Baumschaukel genau in dem Moment wegzustoßen, als sich ein Mädchen im rosa Sommerkleid daraufsetzen wollte, konnte sie einfach nicht widerstehen.

»Lacey, benimm dich deinem Alter entsprechend!«

»Werd ich«, versprach sie, »und zwar sobald du dich wie ein Engel benimmst.«

»Mach ich doch schon«, erwiderte er.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre lila Igelfrisur bewegte sich ebenso wenig im Wind wie Tristans dichten braunen Haare. »Sprich mir nach«, wies ihn Lacey mit nerviger Lehrerinnenstimme an. »Ivy atmet, Will atmet. Ich atme nicht.«

»Aber auf dem Bahnhof hat sie mich angesehen«, be-harrte Tristan. »Ich bin mir sicher, dass sie ihren Glauben an Engel wiedergefunden hat. Als ich sie und Philip zurückgerissen habe, hat Ivy mich hundertprozentig gesehen.«

»Selbst wenn es so ist, erinnert sie sich nicht mehr daran«, wandte Lacey ein.

»Ich muss es irgendwie schaffen, dass sie sich daran erinnert. Beth -«

»Ist viel zu verunsichert, um dir zu helfen«, unterbrach ihn Lacey. »Sie hat den Einbruch vorhergesagt, dann hat sie die Gefahr in der Nacht am Bahnhof vorhergesehen. Sie hat eine besondere Gabe, aber sie hat zu viel Angst, um weiter ein offener Kanal zu sein.«

»Dann eben Philip.«

»Philip! Ich bitte dich. Was glaubst du, wie lange Gregory sich noch mit einem Kind herumärgert, das ständig über Engel Tristan redet?«

Tristan musste ihr recht geben.

»Damit bleibt nur Will übrig«, stellte Lacey fest. Sie lief rückwärts und deutete mit einem langen lila Nagel auf ihn. »Also. Wie eifersüchtig bist du eigentlich?«

»Sehr«, gab er ehrlich zu und seufzte. »Dir geht es doch mit der Schauspielerin, die deine Rolle in dem Film übernommen hat und deiner Meinung nach grottenschlecht spielt, auch nicht anders.«

»Sie ist grottenschlecht«, erwiderte Lacey schnell.

»Dann multiplizier dieses Gefühl mal tausend. Es ist ja nicht so, dass Will nicht nett wäre. Er würde Ivy guttun und ich will nur ihr Bestes. Ich liebe sie. Ich würde alles für sie tun -«

»Zum Beispiel sterben«, meinte Lacey. »Aber das hast du ja schon versucht und schau dir an, was es dir gebracht hat.«

Tristan schnitt eine Grimasse. »Zeit mit dir.«

Sie grinste, dann schubste sie ihn an. »Schau mal da rüber. Dort, neben der Tante, die aussieht, als hätte sie sich die Haare beim Pudelfrisör machen lassen. Erkennst du ihn?«

»Das ist Carolines Freund«, stellte Tristan fest und beobachtete den großen dunkelhaarigen Mann. »Der ihr manchmal Rosen aufs Grab legt.«

»Er hat Andrew beim Tennis geschlagen und scheint jede Minute davon genossen zu haben.«

»Weißt du, wie er heißt?«, erkundigte sich Tristan.

»Tom Stetson. Er unterrichtet an Andrews College. Wer braucht schon Seifenopern, wenn man in Stonehill leben kann? Glaubst du, es war eine lange, heiße, heimliche Liebesgeschichte? Glaubst du, Andrew wusste davon? Hey, Tristan!«

»Ich hör dich«, sagte er, starrte aber zu Ivy, Will und Beth, die sich ein paar Meter weiter unterhielten.

»Ach, die Pfeile der Liebe«, sang Lacey schmachtend. Tristan hasste es, wenn sie so überkandidelt redete. »Wirklich, Tristan, dieses Mädchen hat so viele Löcher in dich gebohrt, dass du irgendwann wie eine Scheibe Schweizer Käse zusammenfallst.«

Er schnitt eine Grimasse.

»Es ist echt jämmerlich, wie du sie mit großen Hundeaugen anstarrst. Sie nimmt dich nicht mal wahr. Ich hoffe, eines Tages-«

»Weißt du, was ich hoffe, Lacey«, fiel ihr Tristan ins Wort und drehte sich zu ihr um. »Ich hoffe, du verliebst dich.«

Lacey sah ihn überrascht an.

»Ich hoffe, du verliebst dich in einen Typen, für den du Luft bist.«

Lacey sah weg.

»Und zwar hoffentlich bald, bevor ich meinen Auftrag erfülle«, fuhr Tristan fort. »Ich will dabei sein und von morgens bis abends Witze über dich reißen.«

Er wartete auf eine schnippische Bemerkung von ihr, aber Lacey sah ihn nicht an, sondern beobachtete Ivys Katze, Ella, die ihnen durch die Menge gefolgt war.

»Ich kann es kaum erwarten«, redete Tristan weiter, »dass sich Lacey Lovitt in einen Typen verliebt, den sie nicht kriegen kann.«

»Wie kommst du eigentlich darauf, dass mir das noch nicht passiert ist?«, murmelte sie und ging in die Hocke, um Ella zu streicheln.

Sie täschtelte die Katze eine Weile.

Nachdem sie bei ihrem eigenen Auftrag zwei Jahre lang herumgetrödelt hatte, verfügte Lacey über größeres Durchhaltevermögen und mehr Fertigkeiten als Tristan. Er wusste, dass sie ihre Fingerspitzen viel länger Gestalt annehmen lassen konnte als er, um die Katze zu streicheln.

»Na los, Ella«, flüsterte Lacey, und Tristan sah, wie die Katze die Ohren spitzte. Lacey sprach jetzt mit hörbarer Stimme.

Ella lief Lacey hinterher und Tristan folgte im Schlepptau zum Buffet. Dort standen Eric und Gregory. Eric diskutierte heftig mit Gregory und dem Barkeeper und versuchte, sie davon zu überzeugen, ihm noch ein Bier zu geben.

Lacey schubste Ella ein wenig an und die Katze sprang leichtfüßig auf die Tafel. Die drei Jungs bemerkten sie nicht.

»Eine Schale Milch, bitte.«

»Einen Moment, Miss«, erwiderte der Barkeeper und wandte sich von Gregory und Eric ab. Als er Ella erblickte, bekam er große Augen.

Ella starrte ihn ausdruckslos an.

Der Barkeeper drehte sich wieder zu den beiden Jungen. »Habt ihr das gehört?«

»Milch, und wenn’s geht heute noch.«

Jetzt stierten Eric und der Barkeeper die Katze an. Gregory verdrehte sich den Hals, um hinter Eric zu sehen. »Wo ist das Problem?«, fragte er ungeduldig. »Machen Sie einfach einen Eistee.«

»Ich möchte lieber Milch.«

Der Barkeeper beugte sich zu Ella hinunter. Sie miaute und sprang vom Tisch. Lacey kicherte, aber das war nur noch für Tristan hörbar.

Noch immer stirnrunzelnd schenkte der erstaunte Barkeeper Eric einen Eistee ein. Dann deutete Gregory plötzlich mit einem Kopfnicken nach rechts und Eric und er gingen davon. Tristan trottete hinter den beiden her, als sie sich durch die Menge schlängelten und anschließend bis zu der Steinmauer weiterliefen, die das Grundstück umgab.

Tief unter ihnen lagen der kleine Bahnhof und die Gleise, die dem Flusslauf folgten. Selbst Tristan konnte kaum glauben, dass Philip und er es an dieser Seite des Berges hinunter geschafft hatten. Der Hang fiel steil ab und war voller Steinbrocken; bis auf einige schmale Felsvorsprünge und vereinzelte Büsche und verkrüppelte Bäume gab es nichts, woran man sich festhalten konnte.

»Unmöglich«, brummte Gregory. »Dieses Kind lügt mich an und versteckt irgendwas vor mir. Wer wohl mit ihm unter einer Decke steckt?«

»Sag einfach Bescheid, wenn du mit mir redest«, meinte Eric fröhlich.

Gregory warf ihm einen Blick zu.

»Du redest in letzter Zeit ziemlich oft laut mit dir selbst« - Eric grinste - »oder mit den Engeln.«

»Scheiß auf die Engel«, erwiderte Gregory.

Eric lachte. »Na ja, vielleicht fängst du besser an, zu ihnen zu beten. Dir steht das Wasser bis zum Hals, Gregory.« Sein Gesicht wurde ernst, er kniff die Augen zusammen. »Wirklich bis zum Hals. Und du ziehst mich mit rein.«

»Du Depp! Du ziehst dich selbst mit rein. Ständig bist du dicht - und vermasselst es jedes Mal. Ich frag dich zum letzten Mal, wo sind die Klamotten?«

»Und ich sag’s dir zum letzten Mal: Ich hab sie nicht.«

»Ich will die Mütze und die Jacke«, forderte Gregory. »Und du wirst sie für mich finden - und falls nicht, kriegt Jimmy das Geld nicht, das du ihm schuldest.« Gregory warf den Kopf zurück. »Und du weißt, was das bedeutet. Du weißt, wie komisch Dealer reagieren können, wenn sie ihre Kohle nicht bekommen.«

Erics Mund zuckte. Ohne Alkohol war er Gregory nicht gewachsen. »Ich hab die Schnauze voll«, jammerte er. »Ich hab die Schnauze voll davon, die Drecksarbeit für dich zu erledigen.«

Er wollte Weggehen, aber Gregory hielt ihn am Arm zurück. »Aber du wirst es machen, oder? Und du wirst die Klappe halten, weil du mich brauchst. Du brauchst deinen Stoff.«

Eric versuchte, sich loszumachen. »Lass mich los. Jemand beobachtet uns.«

Gregory lockerte seinen Griff und sah sich um. Eric machte, dass er wegkam. »Sei vorsichtig, Gregory«, warnte er. »Ich spüre, wie sie uns beobachten.«

Gregory zog die Augenbrauen hoch und ließ ein drohendes Lachen hören. Selbst nachdem Eric verschwunden war, konnte er sich nicht mehr beruhigen.

Lacey schüttelte sich. »Was für ein gruseliger Typ.«

Sie beobachteten, wie Gregory sich wieder unter die Partygäste mischte, sich unterhielt und lächelte.

»Welche Dreckarbeit hat Eric wohl erledigt?«, fragte Lacey Tristan. »Caroline umgelegt? Deine Bremsschläuche durchgeschnitten? Ivy in Andrews Office überfallen?« Sie ließ ihre Finger Gestalt annehmen und schleuderte einen Stein so weit sie konnte den Abhang hinunter. »Wir wissen natürlich noch nicht mal sicher, ob Caroline umgebracht wurde oder ob deine Bremsleitungen absichtlich durchtrennt wurden.«

Tristan nickte. »Ich werde wohl wieder in Erics Erinnerungen in die Vergangenheit zurückreisen müssen.«

Lacey hatte noch einen Stein aufgehoben, den sie nun neben sich fallen ließ. »Du willst ausgerechnet in Erics Kopf die Reise in die Vergangenheit antreten? Du bist verrückt, Tristan! Ich dachte, du hast aus deiner ersten Lektion was gelernt. Bei dem sind sämtliche Sicherungen durchgeschmort, es ist zu gefährlich, außerdem sind seine Erinnerungen kein Beweis.«

»Sobald ich weiß, was hier vor sich geht, finde ich auch den Beweis«, wandte er ein.

Lacey schüttelte den Kopf.

»Im Moment«, sagte Tristan, »ist es nur wichtig, Ivy so weit zu bekommen, dass sie sich an das erinnert, was auf dem Bahnhof passiert ist. Ich muss Will finden und ihn davon überzeugen, mir zu helfen.«

»Mann, tolle Idee!«, erwiderte Lacey. »Aber hat das nicht schon jemand anderes vor einer Viertelstunde vorgeschlagen?«

Tristan zuckte mit den Achseln.

»Dieser Jemand wird dich begleiten, falls du noch mehr Hilfe brauchst«, fügte sie hinzu.

»Keine Streiche, Lacey«, warnte er sie.

»Keine Versprechungen, Tristan.«

Sie fanden Will auf der Terrasse, wo er mit Beth tanzte. Ivy und Suzanne saßen bei Ivys Mutter und sahen ihren Mitschülern zu, die sich im Takt der Reggaemusik wiegten. Auch Lacey fing zu tanzen an, schwang die Hüften, hob die Hände über den Kopf und ließ sie wieder sinken. Sie ist gut, dachte Tristan, als er ihr zusah, wie sie sich auf der Terrasse drehte. Als Ella Laceys Licht sah, lief sie ihr hinterher. Jemand machte einen Schritt rückwärts, stolperte über Ella und landete neben der Katze auf dem Hinterteil.

»Wollen wir tanzen?« Das war Lacey, die ihre Stimme hörbar gemacht hatte.

Der Typ starrte Ella einen Augenblick an, dann rappelte er sich hoch.

»Komm her, Ella«, rief Maggie und die Katze schlenderte gemächlich in ihre Richtung, Lacey folgte ihr auf dem Fuße. Ella sprang auf Maggies Schoß und Ivys Mutter lehnte sich zurück, um den Tänzern zuzuschauen.

»Keiner will mit mir tanzen, Maggie.« Wieder Lacey!

Maggie drehte die Katze ein wenig und hob mit makellos manikürter Hand Ellas Kinn. Sie starrte die Katze an, als erwarte sie weitere Worte aus ihrem Mund.

»Mädels, habt ihr das gehört?«, fragte Maggie, erhielt aber keine Antwort. Suzanne lieferte Ivy gerade eine detaillierte Analyse, wie es um die Beziehungen der Paare auf der Terrasse bestellt war.

Tristan überließ Lacey ihren Spielchen und ging durch die Menge zu Beth und Will. Wie sie mit eng aneinandergeschmiegten Köpfen tanzten, hätte man sie für ein Liebespaar halten können, aber er wusste ja, warum Beth und Will wirklich zusammen waren - wegen Ivy.

»Ich befürchte«, meinte Beth, »dass ich Sachen weiß, die ich eigentlich nicht wissen will - ich weiß sie, bevor sie passieren, Will. Und ich schreibe Dinge, die ich überhaupt nicht schreiben will.«

»Ich male Bilder, die ich überhaupt nicht malen will«, erwiderte Will.

»Wenn uns doch jemand sagen könnte, was eigentlich los ist. Was es auch ist - es ist noch nicht vorbei. Da bin ich absolut sicher. Ich hab das Gefühl, dass etwas richtig faul ist und dass es noch schlimmer wird. Ich schrecke nachts auf, weil ich eine Heidenangst um Ivy habe. Manchmal denke ich, ich dreh durch.«

Will zog sie näher an sich. Tristan sah zu Ivy und bemerkte, dass sie schnell den Kopf abwandte.

»Du drehst nicht durch, Beth. Du hast nur eine Gabe, die-«

»Ich will diese Gabe nicht haben!«, rief sie.

»Psst. Psst.« Er strich Beth besänftigend übers Haar.

»Sie beobachtet uns«, stellte Beth fest. »Sie wird falsche Schlüsse ziehen. Fordere sie lieber zum Tanzen auf.«

Tristan wusste genau, was in Wills Kopf gerade vor sich ging: Er sah zu Ivy und überlegte, wie es sich anfühlen würde, die Arme um sie zu legen, sie an sich zu ziehen und ihre hellen Haare um seine Finger zu wickeln. Und weil das derselbe Gedanke war, dem auch Will nachhing, konnte Tristan in Will schlüpfen.

Plötzlich sackte Will gegen Beth. »Ich hab wieder dieses Gefühl. Ich hasse das.«

»Ich muss mit Ivy reden«, erklärte ihm Tristan und Will sprach die Worte aus.

»Was wirst du ihr sagen?«, wollte Beth wissen.

Will schüttelte verwirrt den Kopf.

»Dass ich mit ihr tanzen will«, schlug Tristan vor, und wieder sprach Will die Worte, als wären es seine eigenen.

»Ja, fordere sie auf«, antwortete Beth.

Wills Kinn schob sich trotzig vor. Tristan konnte spüren, wie er mit sich kämpfte. Instinktiv wollte Will den Eindringling aus seinen Gedanken verbannen, seine Neugier kämpfte jedoch dagegen an. Wer bist du?, fragte Will lautlos.

»Hier ist Tristan. Tristan. Du musst mir jetzt glauben.«

»Ich kann nicht glauben«, sagte Beth.

Will und Beth hatten zu tanzen aufgehört. Sie standen sich gegenüber, sahen sich an und versuchten zu verstehen, was los war.

»Er ist in deinem Kopf, oder?«, fragte Beth mit bebender Stimme. »Du sprichst seine Worte aus.«

Will nickte.

»Kannst du ihn rauswerfen?«, wollte sie wissen.

»Tu es nicht!«

»Warum lässt du uns nicht in Frieden?«, rief Beth.

»Ich kann nicht. Um Ivys Willen kann ich nicht.«

Will und Beth klammerten sich aneinander. Dann führte Will Beth zum Rand der Terrasse, wo Ivy saß. »Hast du Lust zu tanzen?«, fragte er Ivy.

Sie sah Beth unsicher an.

»Ich bin platt«, erwiderte Beth, zog Ivy von ihrem Stuhl hoch und ließ sich darauffallen. »Geh ruhig. Ich muss diesen zierlichen Füßchen Größe zweiundvierzig eine Pause gönnen.«

Will führte Ivy zu der Ecke der Terrasse, wo am wenigsten los war. Tristan fühlte, wie er zitterte, als er die Arme um sie legte. Er spürte jeden unbeholfenen Schritt und erinnerte sich daran, wie er sich im letzten Frühling gefühlt hatte, als er sich um Ivy bemüht hatte. Wenn er ihr gegenübergestanden hatte, brachte er keinen Satz mit mehr als vier Wörtern heraus.

»Wie geht’s dir?«, fragte Will.

»Gut.«

»Schön.«

Es folgte ein langes Schweigen. Tristan konnte spüren, wie sich in Wills Kopf Fragen formten. Wenn du da bist, sagte Will in Gedanken zu Tristan, warum sagst du mir dann nicht, was ich tun soll?

»Ich bin nicht so zerbrechlich«, erklärte ihm Ivy.

»Was?«

»Du tanzt mit mir, als könnte ich jeden Moment auseinanderfallen.« Ihre grünen Augen blitzten.

Will sah sie überrascht an. »Du bist sauer.«

»Ist dir das auch schon aufgefallen«, meinte sie spitz. »Ich bin es einfach leid, wie sich die Leute benehmen - alle um mich herum sind so übervorsichtig! Sie gehen auf Zehenspitzen, als hätten sie Angst, etwas zu tun, das mich durcheinanderbringt. Soll ich dir was erzählen, Will, dir und allen anderen? Ich bin nicht aus Glas und ich werde nicht zerbrechen. Kapiert?«

»Vermutlich«, erwiderte Will und wirbelte sie plötzlich zweimal ohne Vorwarnung herum, stieß sie von sich weg und zog sie wie ein JoJo wieder zu sich heran. Er zog seinen Arm weg, sodass sie nach hinten fiel, anschließend fing er sie in letzter Sekunde doch noch auf, beugte sich über sie und zog sie wieder hoch.

»Besser so?«

Ivy warf ihr Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war und lachte atemlos. »Ein bisschen.«

Will grinste. Nun waren beide entspannter - der richtige Zeitpunkt, um mit ihr zu reden, entschied Tristan. Doch was konnte er sagen, was sie nicht wieder wütend machte oder verschreckte?

»Es gibt da was, worüber ich mit dir reden will«, sagte Will - es waren Tristans Worte.

Ivy rückte ein wenig ab, um ihm in die Augen zu sehen, dann wandte sie schnell den Blick von ihm ab. Augen, in denen ein Mädchen versinken kann - so hatte Lacey Wills Augen beschrieben. Wahrscheinlich sah Ivy deshalb weg, dachte Tristan und versuchte, seine Eifersucht zu unterdrücken.

»Es ist wegen ... Beth. Sie ist ziemlich durcheinander«, sagte Will an Tristans Stelle. »Du weißt, sie hat diese Vorahnungen.«

»Ich weiß, ich hab ihr vor ein paar Wochen einen ziemlichen Schreck eingejagt«, räumte Ivy ein, »aber das war nur ein-«

Will schüttelte ebenso schnell wie Tristan den Kopf. »Die Zukunft macht Beth mehr Angst als das, was damals passiert ist.«

»Was meinst du damit?«, fragte Ivy. Ihre Stimme klang verärgert, aber Tristan hörte das leichte Zittern heraus. »Es wird nichts mehr passieren«, beharrte sie. »Was muss ich denn noch tun, um alle davon zu überzeugen, dass es mir gut geht?«

»Du musst dich erinnern, Ivy.«

»An was denn?«, wollte sie wissen.

»An den Abend des Unfalls.«

Tristan konnte fühlen, wie Will versuchte, einen Rückzieher zu machen, und fragte sich, was seine Worte bewirken würden. Welcher Unfall?, fragte Will Tristan unhörbar. Der, bei dem du gestorben bist?

»An den Abend des Unfalls?«, wiederholte Ivy. »Ist das die nette, höfliche Art, über meinen Selbstmordversuch zu reden?«

»Ivy, das ist doch nicht dein Ernst! Du weißt, dass es kein Selbstmordversuch war«, sagte Will und wiederholte hitzig jedes Wort, das Tristan ihm vorsprach.

»Ich weiß gar nichts mehr«, erwiderte sie matt.

»Versuch dich zu erinnern«, bettelte Will in Tristans Auftrag. »Du hast mich auf dem Bahnhof gesehen.«

»Du warst dort?«, fragte sie überrascht.

»Ich war immer für dich da. Ich liebe dich!«

Ivy starrte Will an. Zu spät erkannte Tristan, dass es ein Fehler gewesen war, Will seine Worte in den Mund zu legen.

»Das darfst du nicht, Will.«

Will schluckte mehrmals.

»Du solltest jemand anderen lieben. Ich - ich werde dich niemals lieben.«

Tristan spürte, wie Will den Schlag einsteckte.

»Ich werde überhaupt nie wieder jemanden lieben«, sagte Ivy und trat einen Schritt zurück, »nicht so, wie ich Tristan geliebt habe.«

Erklär ihr, dass du aussprichst, was ich dir vorsage, drängte Tristan.

Doch Will stand einfach nur da und sagte nichts. Andere Paare stießen sie an, lachten und tanzten um sie herum. Will hielt Ivy auf Armeslänge; sie wich seinem Blick aus. Plötzlich drehte sie sich um und Will ließ sie gehen.

Lauf ihr hinterher, befahl Tristan. Wir sind noch nicht fertig.

»Lass mich in Frieden«, murmelte Will und lief mit gesenktem Kopf in die entgegengesetzte Richtung.

Gregory, der Suzanne auf die Tanzfläche führte, hielt Will am Arm fest. »Du gibst doch nicht etwa auf, oder?«

»Aufgeben?«, wiederholte Will mit tonloser Stimme.

»Mit Ivy«, mischte sich Suzanne ein.

»Die Jagd«, meinte Gregory und grinste Will an.

»Ich glaube nicht, dass Ivy gejagt werden will.«

»Mann, stell dich nicht so an«, schalt ihn Gregory. »Meine süße und unschuldige Stiefschwester steht auf Spielchen. Und glaub mir, sie weiß, wie sie es anstellen muss.«

Sie weiß, wie sie dir entkommt, dachte Tristan, als er aus Will herausschlüpfte.

»Ich würde niemals aufgeben«, prahlte Gregory und sah zu Ivy, die am Rand der Terrasse stand. Sein versonnener Blick bewirkte, dass sowohl Suzanne als auch Tristan sich peinlich berührt nach Ivy umdrehten. »Ich steh total auf diese Mädchen, die nicht so leicht zu kriegen sind.«