3
Eine leichte Morgenröte zog am Himmel auf, als Aimee in die Gasse hinter ihrem Wohnhaus einbog und vor der vergitterten Garageneinfahrt hielt. Sie drückte auf den Knopf des Handsenders. Während das Tor ächzend nach oben glitt, ließ sie den Kopf zurück an die Nackenstütze sinken. Jetzt erst merkte sie, wie erschöpft sie eigentlich war.
Sie fuhr durchs Tor, parkte auf dem für sie reservierten Parkplatz und zog den Schlüssel ab. Jede ihrer Bewegungen war träge wie die eines Tauchers unter Wasser. Sie hatte das Gefühl, dass diese albtraumhafte Nacht sie immer weiter in die Tiefe zog.
Seufzend schloss sie den Wagen ab und ging zum Fahrstuhl, dabei schwebte eine Hand vorsorglich dicht über dem Pfefferspray in ihrer Tasche. Ihr kam die erste Begegnung mit den Dawkins in den Sinn. Stacey hatte ihre Angst und Abscheu dem Verhalten ihrer Tochter gegenüber sehr deutlich gemacht.
»Sie ritzt sich die Haut mit einer Rasierklinge auf«, hatte Mrs Dawkin mit bebender Stimme berichtet und dabei angewidert das Gesicht verzogen. »Absichtlich.«
»Tiefe Schnitte?«, hatte Aimee gefragt. Es war wichtig, zu unterscheiden, ob es sich um die Wunden eines gescheiterten Selbstmordversuchs oder um eher oberflächliche Schnitte handelte, wie sie unter weiblichen Teenagern heutzutage schon fast epidemieartig auftraten.
»Nicht tief. Gerade so, dass Blut fließt. Bitte, Dr. Gannon, erklären Sie mir, warum mein kleines Mädchen sich so verletzt«, hatte Mrs Dawkin sie bestürmt.
Wenn es doch bloß so einfach wäre! Nicht mal bei der Hälfte der Fälle verfügten die Eltern über die nötigen Informationen, um selbst zu verstehen, warum ihr »kleines Kind« sich auf diese Art und Weise verwundete.
Hatte mehr dahintergesteckt, als von Aimee ursprünglich vermutet? Hatte Stacey Dawkin mehr gewusst, als Aimee klar gewesen war? Hatte sie dieses Wissen umgebracht?
Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Aimee stieg jedoch erst ein, nachdem sie sich mit einem raschen Blick vergewissert hatte, dass er leer war. Sie drückte auf die Zwei und lehnte sich an die Wand, während der Aufzug nach oben glitt.
Neben dem Ritzen hatte Taylor auch mit Alkohol und Marihuana herumexperimentiert, die Schule geschwänzt und sich mehr und mehr von allen abgeschottet, die ihr noch wenige Monate zuvor als enge Freunde viel bedeutet hatten. Dafür geriet sie an eine neue Gruppe mit keinem besonders guten Einfluss. Taylor war immer weiter abgestürzt.
Zunächst hatten ihre Eltern das alles nur für eine Phase gehalten, wie damals bei den Spielzeugponys oder den Backstreet Boys. Eines Tages hatte Stacey ihre Tochter jedoch im Bad überrascht, die Schnittwunden auf Taylors Oberschenkeln und Brüsten gesehen und war in Panik geraten.
Orrin Dawkin hatte sich zwar besorgt gezeigt, war aber ruhig geblieben, wenn nicht sogar ein wenig distanziert. Einigen Vätern fiel es schwer, mit ihren pubertierenden Töchtern eine enge Verbindung aufrechtzuerhalten. All diese übersprudelnden Hormone, die aufblühende Sexualität. Das veränderte alles.
Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Aimee sah nach rechts und links, während sie hinaus in den Flur trat. Leer. Kein Wunder, es war ja erst halb sechs morgens. In ihrer Wohnung angekommen, schloss sie die Tür hinter sich ab und legte die Kette vor. Sie war froh darüber, wieder sicher zurück in ihrem Kokon zu sein, und bemerkte, dass die Anspannung im Schulterbereich und im Nacken sofort nachließ, als sie gegen die Tür sackte.
Sich jetzt hinzulegen wäre jedoch sinnlos. Einschlafen konnte sie auf keinen Fall, obwohl sie hundemüde war. Aimee legte ihren Schlüsselbund auf dem kleinen Beistelltischchen neben der Haustür ab und steuerte die Küche an. Ihr Magen war übersäuert, deswegen wurde ihr schon beim Gedanken an Kaffee ganz schlecht. Dann eben Toastbrot, entschied sie. Futter für die Seele. Sie hatte eine Patientin im mittleren Alter, die sich an der für die Sandwich-Generation typischen Doppelbelastung von pflegebedürftigen Eltern und finanziell abhängigen Kindern aufrieb. Diese Frau hatte ihr einmal erzählt, dass sie über ein Dutzend Toasties auf einen Schlag verputzt hatte, nachdem sie ihre Mutter zum wiederholten Male zur Chemotherapie hatte fahren müssen. Die Art, wie sie über die geschmolzene Butter gesprochen hatte, hatte Aimee an Drogenabhängige erinnert, die von Heroin schwärmten.
Einen solchen Butterkick erlebte Aimee zwar nicht, dennoch beruhigte das Weißbrot ihren Magen. Sie setzte Kaffee auf.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie auffahren. Sie schaute durch den Spion. Verdammt, sie hatte vergessen, Simone abzusagen! Aber sie konnte heute unmöglich joggen gehen.
Aimee löste die Kette, den Riegel und ließ ihre Freundin herein.
»Du bist nicht angezogen«, stellte Simone entgeistert fest. Sie selbst trug enge Sporthosen, ein Trägeroberteil und wippte unruhig auf den Zehenspitzen vor und zurück. »Also, ich meine angezogen schon. Aber nicht richtig.«
Aimee lächelte. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Sind Cormac McCarthys Romane selbstgefällig und frauenfeindlich?«, fragte Simone zurück und folgte Aimee in die Küche.
»Du musst endlich darüber hinwegkommen, dass er den Pulitzer gewonnen hat.« Aimee nahm zwei Becher aus dem Küchenschrank.
»Nein, muss ich nicht! Daran werde ich für den Rest meines irdischen Daseins zu knabbern haben.« Simone ließ sich seufzend an dem glänzenden Steintresen der Kücheninsel nieder und blickte sich in dem offenen Loft um. »Bei dir ist es immer so aufgeräumt. Ich wünschte, mein Haus wäre so ordentlich und friedlich.«
»Da hättest du wohl besser dran denken sollen, ehe du drei Kinder bekommen und die zwei Hunde bei dir aufgenommen hast.« Aimee goss Kaffee in die Becher und nahm die mit Sahne angereicherte Milch aus dem Kühlschrank.
»Ich wünschte auch, ich hätte deinen Stoffwechsel, sodass ich mir das in den Kaffee schütten könnte, ohne zuzunehmen.« Simone nahm sich dennoch einen großzügigen Schuss von dem Sahne-Milch-Gemisch. Sie war ein gutes Stück kleiner als Aimee und ungefähr fünf Kilo schwerer, doch die befanden sich genau an den richtigen Stellen.
»Ich nehme auch zu.« Aimee setzte sich zu ihr, stützte die Ellbogen auf und legte die Hände über die plötzlich unangenehm trockenen Augen.
»Harte Nacht gehabt?«, fragte Simone.
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Aimee, doch ihre Antwort wurde von den Händen vor ihrem Gesicht gedämpft. »Ein Anruf um zwei Uhr nachts wegen einer Patientin …«
Simone zog die Nase kraus. »So ein Ärger! Ich könnte dir zwar auch eine Menge von den Übeln erzählen, die es mit sich bringt, Manuskripte für den Newsletter des Biologie-Instituts gegenzulesen, aber zumindest gibt es da keine Notfälle mitten in der Nacht. War es sehr schlimm?«
Aimee nickte. »Und wahrscheinlich wird es noch viel schlimmer werden.«
Simone tätschelte ihr den Rücken. »Tut mir leid.« Sie hatte gelernt, nicht nach Details über Aimees Patienten zu fragen, dafür hörte sie sich immer verständnisvoll an, was Aimee bereit war, preiszugeben. Eine Freundin wie sie zu haben war Gold wert. »Wird es dann wenigstens bald vorbei sein?«
»Ich schätze, ab morgen bin ich aus der Sache raus. Meine Patientin wird eingewiesen werden müssen – zumindest vorerst. Und wenn jemand erst mal in einer Klinik gelandet ist, wird die bis dahin zuständige Psychologin nicht länger gebraucht.« Der Arzt dort würde vermutlich seine oder ihre eigene Diagnose und einen neuen Behandlungsplan erstellen.
Wer auch immer den Fall übernahm, würde bei null beginnen, ohne all die Kenntnisse, die Aimee in ihrer Zeit mit Taylor gewonnen hatte. Aber vielleicht würde das sogar besser für das Mädchen sein. Schließlich war in den letzten vierundzwanzig Stunden sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden.
»Ich kann heute unmöglich laufen gehen. Warum joggst du heute nicht einfach allein und ich begleite dich dann morgen wieder, einverstanden?«
Simone sprang auf und drückte Aimee einmal kurz zum Abschied. »Klar. Lass mich wissen, falls du irgendwas brauchst. Ich melde mich am Abend noch mal, um zu sehen, wie es dir geht.«
Aimee verriegelte die Tür hinter ihrer Freundin und legte die Kette vor. Großartig – Simone würde sich melden, um nachzufragen, ob es ihr gut ging. Aimee wurde nicht gern wie ein zerbrechliches Wesen behandelt, denn das war sie gar nicht mehr. Außerdem konnte sie es nicht ausstehen, wenn sie sich wie einer der vielen Punkte auf der Liste der zu erledigenden Aufgaben vorkam: Hühnchen fürs Abendessen auftauen. Bei Aimee anrufen. Sachen aus der Reinigung holen.
Sie schenkte sich Kaffee nach. Sie konnte genauso gut noch einmal in Taylors Akte schauen, ehe sie ihre Patientin einem neuen Arzt übergab. Vielleicht fand sich ja ein Detail, das für die Ermittlungen wichtig war. Irgendetwas, dessen Bedeutsamkeit sie zuvor übersehen hatte.
Josh und Elise hatten dem Polizeipressesprecher ausreichend Informationen an die Hand gegeben, dass sich daraus ein zwei Absätze langer Artikel für den Regionalteil der Sacramento Bee stricken ließ. Auch für die Nachrichtenredaktionen des Frühstücksfernsehens hatten sie einige Fakten zur Verfügung gestellt, die zusammen mit dem Filmmaterial vom Haus der Taylors verwendet werden konnten. Die Presse würde bald mehr fordern, aber Elder ging davon aus, dass er sie damit noch eine Weile hinhalten könne. Glücklicherweise, denn viel mehr hatten sie im Moment gar nicht vorzuweisen.
Der Chief wiederum hatte deutlich gemacht, dass er eher heute als morgen neue Ergebnisse sehen wollte. Josh hatte mit Druck von oben gerechnet, aber nicht damit, dass er so schnell kommen würde.
Nach dem Treffen mit dem Chief waren Josh und Elise beide kurz nach Hause gefahren. Josh hatte geduscht, sich umgezogen und Dean, seinem Gecko, ein paar Grillen ins Terrarium geworfen. Die Echse war so ziemlich das einzige Haustier, das seine oftmals unerwartete und längere Abwesenheit aushielt. Wenn Dean ihn auch nicht freudestrahlend an der Haustür empfing, zischte er doch zumindest dankbar, ehe er mit einem lauten Schlurps die Grille verschlang. Wenn das nicht Liebe war, was dann? An den meisten Abenden war der Gecko der Einzige, der Josh Gesellschaft leistete. Mochte Dean auch ein wenig griesgrämig sein, quatschte er ihm doch zumindest nie während eines Spiels dazwischen oder trank ihm das letzte Bier weg.
Wieder zurück im Hauptquartier an der Freeport wartete bereits die Nachricht des Gerichtsmediziners auf Josh und Elise, dass vorläufige Obduktionsergebnisse der Dawkin-Leichen vorlagen. Der Kerl musste verflucht schnell gearbeitet haben. Offenbar hatte man auch ihm die Daumenschrauben angelegt.
Also stiegen sie wieder in ihren weißen Dienstwagen – einen Sedan – und fuhren die Freeport hoch zum Leichenschauhaus, vorbei an den vielen Einkaufszentren der Hauptgeschäftsstraße mit ihren Wechselstuben, den Nagelstudios und dem obligatorischen Fast-Food-Restaurant.
»Wir sind schneller da, wenn du die Abkürzung über die Sutterville auf die King nimmst«, sagte Elise.
»Rede ich dir ungefragt rein, wenn du fährst?« Josh warf ihr einen ungehaltenen Blick zu.
»Nein, aber du seufzt ziemlich häufig, und das laut.«
»Na schön. Dann nehme ich eben die King.« Er bog erst rechts und dann gleich wieder links ab.
Im Leichenschauhaus zeigten sie ihre Marken vor und wurden eingelassen. Der Rechtsmediziner wartete im Obduktionsraum auf sie.
»Na, Doc, was haben Sie für uns?«, fragte Elise und ließ eine Kaugummiblase platzen, als sei sie noch ein junges Mädchen.
Dr. Halpern lächelte und entblößte dabei seine viel zu weißen Zähne. »Was könnte Sie denn überzeugen, ein paar schöne Momente hier bei mir zu verbringen?«
Josh wiegte den Kopf hin und her. Halpern hatte bereits seit Elises Zeit als Polizeischülerin eine Schwäche für sie und flirtete mit ihr, wann immer sie sich hier sahen. Elise machte das entweder nichts aus oder aber sie hatte entschieden, dass es sich lohnte mitzuspielen, wenn sie dadurch schneller an die Obduktionsergebnisse kamen.
Elise klimperte mit den Wimpern. »Nun, die Todesursache für den Doppelmord, der gestern Nacht reingekommen ist, könnte mein Herz vielleicht ein klein wenig erweichen.«
Josh rollte mit den Augen.
Halpern hingegen winkte ab. »Sie setzen die Latte viel zu niedrig an, meine Liebe. Sie sind so viel mehr wert.«
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Elise und ließ sich auf den Klappstuhl neben Halperns Schreibtisch fallen.
»Nun, euer siebenundvierzig Jahre alter männlicher Toter starb gestern Abend zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr an den Folgen einer Gehirnblutung, die durch Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand auf den Schädel ausgelöst wurde. Die am Tatort gefundene Lampe ist zweifellos die Mordwaffe. Ich habe Splitter der Kupferlegierung vom Sockel der Lampe in der Wunde am Kopf gefunden.«
Josh nickte. Das war keine Überraschung.
»Bei eurem weiblichen Opfer ist es jedoch eine kompliziertere Geschichte.«
Josh machte es sich in dem Stuhl Halpern gegenüber gemütlich, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und verschränkte die Finger ineinander. »Erzählen Sie.«
»Die Frau wurde erwürgt. Schätze, mit einer Art Kabel, vielleicht sogar dem von der Lampe, mit der ihr Ehemann ermordet wurde. Denn das wurde ja nicht gefunden.« Halpern lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück.
Elise warf Josh einen erstaunten Blick zu. Auch Josh war verblüfft und wiegte den Kopf hin und her. Warum das Kabel mitnehmen? Was machte es erforderlich, es einzustecken und wog gleichzeitig die Gefahr auf, möglicherweise damit erwischt zu werden?
»Aber jetzt kommt erst der wirklich interessante Teil. Das männliche Opfer wurde ruck, zuck kaltgemacht. Aber die Frau? Bei der hat er sich Zeit gelassen.« Halpern stand auf und bedeutete ihnen, ihm zu der kalten Metallbahre zu folgen, auf der Stacey Dawkins Leiche lag. »Sehen Sie die vielen Würgemale am Hals? Ich vermute, er hat mit ihr gespielt. Sie fast bis zur Bewusstlosigkeit stranguliert, dann wieder locker gelassen, sodass sie Hoffnung schöpfte, und dann erneut zugezogen. Ausgehend von dem, was ich hier sehe, hat er diesen Zyklus ungefähr drei oder vier Mal wiederholt.«
Josh war eigentlich für seine Dickfelligkeit bekannt: Er war einer, der selbst direkt nach einem Besuch im Leichenschauhaus Gyros bestellte. Bei dieser Aussage des Docs wurde ihm jedoch ein wenig flau im Magen.
»Sie hat sich gewehrt«, fuhr Halpern fort. »Da sind Gewebereste unter ihren Fingernägeln. Wir schicken die Proben für eine genauere Analyse ein. Clyde wird dann später detailliertere Ergebnisse für euch haben.«
Josh war lange genug in der Mordkommission, um zu verstehen, dass es Gründe gab, die einen Menschen dazu brachten, jemanden umzubringen. Aber sich daran zu erfreuen? Den Mord hinauszuzögern und ihn auf diese Art und Weise zu genießen? »Sadistischer Scheißkerl«, murmelte er vor sich hin.
»Absolut.« Halpern hob das Laken, das Mrs Dawkin bedeckte, am unteren Ende an. »Schauen Sie sich mal ihre Knie an.« Sie waren rot und aufgeschrammt. »Das kommt vom Teppich«, erklärte er. »Ich denke, der Mistkerl hat sie kriechen lassen, nachdem er sie an den Händen gefesselt und ihr einen Klebeknebel angelegt hatte.«
»Er hat sie auf Knien kriechen lassen?« Elise erhob aufgebracht die Stimme. Dann zeichnete sich eine Erkenntnis auf ihrem Gesicht ab. »Diese Druckstellen auf dem Teppich – die für Schleifspuren zu kurz waren. Der Schweinehund hat sie zu ihrer eigenen Hinrichtung kriechen lassen.«
»Wir wissen noch nicht, ob es ein Er ist, Elise«, sagte Josh mit fester Stimme. Er konnte ihren Ärger nachvollziehen, aber dem Raum zu geben, würde sie nicht weiterbringen.
Elise warf ihm einen scharfen Blick zu. »Strangulation ist ein typisch männliches Verbrechen. Und dieses krankhafte Machtspielchen, das er mit ihr getrieben hat? Du weißt, dass das ebenfalls auf einen männlichen Täter hinweist!« Dann wandte sie sich wieder an den Doc. »Irgendwelche Anzeichen für ein Sexualverbrechen? Bei der männlichen oder der weiblichen Leiche?«
Josh wusste, weshalb sie danach fragte. Bei sexueller Gewalt ging es in den seltensten Fällen um Lust. Sondern darum, die Oberhand über jemanden zu gewinnen, zu geben und wieder zu nehmen – es ging um Macht. Und jemanden auf diese Art und Weise zu würgen, bis das Opfer halb ohnmächtig war, sein Leben dann wieder um einige Sekunden zu verlängern, und das wieder und wieder, war ein Machtspiel. Wer auch immer das getan hatte, hatte dieselben Vorlieben wie ein Sexualtäter.
»Nein. Nichts dergleichen«, erwiderte Halper.
Elise schüttelte den Kopf. »Das kleine Mädchen dort im Krankenhaus kann das hier unmöglich getan haben, Josh.«
»Kleines Mädchen?«, fragte Halpern.
»Die Tochter der Opfer«, antwortete Josh. »Sie ist am Tatort aufgefunden worden. Uns will es allerdings nicht gelingen, sie zum Reden zu bringen, sie hat einfach vollkommen dichtgemacht.«
»Ich sollte mehr über die Größe des Täters sagen können, sobald ich alles genauer berechnet habe. Bislang kann ich noch nichts ausschließen«, sagte Halper. »Doch es müsste schon ein verdammt wütendes kleines Mädchen gewesen sein. Und ich stimme Elise in dieser Hinsicht völlig zu: Strangulation ist eine Männerdomäne.«
Josh seufzte erleichtert. Keiner von ihnen hatte sich die Kleine als Mörderin vorstellen wollen. Das Einzige, was noch schlimmer war als jugendliche Straftäter, waren jugendliche Opfer oder Kinder, denen etwas derart Schlimmes passiert war. Dieser Ausdruck in ihren Augen. Die Enttäuschung. Die Schmach. Die Verwirrung. Der Schmerz. Für sie war die Welt nicht mehr dieselbe. Sie würden nie wieder leicht zu einem anderen Menschen Vertrauen fassen, die Wunden ihrer Seelen würden niemals heilen. Das waren die Fälle, die Josh das Herz brachen.
»Übrigens hat das männliche Opfer ebenfalls aufgescheuerte Knie«, fuhr Halpern fort. »Mag er auch schneller umgebracht worden sein als seine Ehefrau, unser Täter hat ihn jedoch ebenfalls auf seinen Tod zukriechen lassen.«
»Also, wieso wurde das männliche Opfer kurz und schmerzlos erledigt, das weibliche aber derartig gequält?«, fragte Elise. Sie war offensichtlich immer noch verstimmt.
»Ein Mann stellt eher eine körperliche Bedrohung dar«, sagte Josh und schnallte sich an. »Er oder sie war möglicherweise davon überzeugt, Mrs Dawkin leichter dominieren zu können als ihren Ehemann. Besser, ihn rasch aus dem Weg schaffen, um sich dann bei ihr Zeit lassen zu können.«
»Verfluchtes sadistisches Arschloch«, murmelte Elise.
»Absolut«, stimmte Josh ihr zu. »Vielleicht hat der Mord an dem Ehemann den Täter auch in einen Rausch versetzt, sodass er sich entschied, dieses Vergnügen bei der Dame des Hauses hinauszuzögern.«
»Kranker perverser Mistkerl«, presste Elise hervor, ehe sie den Wagen anließ.
»Wohl wahr«, sagte Josh.
Elise warf ihm einen bösen Blick zu, ehe sie rückwärts ausparkte. »Sei bloß nicht so übertrieben rücksichtsvoll!«
Josh hob abwehrend die Hände. »Du fährst. Ich versuche nur, lebend aus der Sache rauszukommen.«
Während sie ruckartig von Rückwärts auf Automatik schaltete und sich in den Verkehr einfädelte, klingelte Joshs Handy in seiner Tasche. »Wolf.«
»Hallo Wolf, hier ist Reed.« Reed hatte Smitty heute Morgen um sieben im Krankenhaus abgelöst. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, dass die Tante inzwischen hier eingetroffen ist.«
»Danke. Wir sind gleich da.« Josh legte auf und wandte sich an Elise: »Marian Phillips ist im Mercy General angekommen.«
»Jemand sollte die Seelenklempnerin anrufen und ihr Bescheid sagen. Du weißt schon, damit sie die Erlaubnis für unsere Einsichtnahme in die Patientenakte einholen kann.« Elise hielt das Gesicht abgewandt, dennoch erkannte Josh den Anflug eines Lächelns darauf.
»Tu dir keinen Zwang an«, sagte er.
»Aber es wäre nicht sicher, beim Fahren zu telefonieren«, gab Elise mit zuckersüßer Stimme zurück.
»Ach, komm. Ich hab schon gesehen, wie du gleichzeitig telefonierst, CDs wechselst und Kaffee schlürfst – und das alles, während du hinterm Steuer sitzt. Willst du mir erzählen, du seist urplötzlich nicht mehr multitaskingfähig?«
Elises Lächeln wurde breiter. »Ich habe neulich einen Bericht darüber gelesen. Multitasking ist schlecht für das Gehirn. Also zeige ich mich einsichtig und bin bestrebt, mich zu bessern. Ich finde, du solltest sie anrufen, während ich fahre – quasi als Unterstützung auf meiner Reise, zu einem besseren Menschen zu werden. Das ist doch das Mindeste, was du als Freund und Partner für mich tun kannst.«
»Du weißt schon, dass Sarkasmus immer seinesgleichen sucht?« Josh rief die Liste seiner letzten Gespräche auf.
»Nur einer der vielen Gründe, warum du mich liebst«, erwiderte Elise.
Er musste unfreiwillig lachen. Sie hatte recht. »Also, dann verrate mir mal, warum du so scharf drauf bist, mich mit dem Fräulein Doktor zusammenzubringen. Bist du der Meinung, ich könnte einige kostenlose Dienste von ihr gebrauchen?«
»Ich hab einfach ein gutes Gefühl bei ihr.«
»Ein gutes Gefühl? Das ist alles?«
»Ja.«
»Ich soll sie anrufen, weil du ein gutes Gefühl hast?«, wiederholte er. »Das ist so was von typisch Frau, Jacobs! Ich kann nicht fassen, dass du das wirklich gesagt hast!«
»Tja, ich bin übrigens eine Frau, falls es dir noch nicht aufgefallen ist«, antwortete Elise. »Also, ruf sie an.«
»Na schön«, gab sich Josh murrend geschlagen. »Aber zuerst melde ich mich beim Revier zurück.«
»Demonstriere deine Männlichkeit so, wie du es für angebracht hältst.« Elise wechselte auf die linke Spur. »Kommt dir Dr. Gannon eigentlich auch irgendwie bekannt vor? Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich sie nicht schon mal irgendwo gesehen oder von ihr gehört habe.«
»Nein«, sagte Josh und wählte eine Nummer. »Und ich bin mir sicher, dass ich mich an sie erinnern könnte.«
Elise grinste. »Also findest du sie doch niedlich.«
Niedlich passte nicht zu Dr. Aimee Gannon. Außerdem brachte ihn »niedlich« nicht besonders in Wallungen. Aber Dr. Gannon? Die schon, und wie. Er wünschte nur, sie würde verdammt noch mal damit aufhören. Denn er konnte im Moment wirklich keine Ablenkung gebrauchen.
Elises Handy summte. »Jacobs«, meldete sie sich und hörte dann kurz zu. »Wir werden so schnell wie möglich da sein.« Sie klappte das Telefon zu und lächelte Josh an. »Nachdem wir uns um die Tante und die Therapeutin gekümmert haben, schauen wir uns an, was unser Computergenie Maribel auf Taylor Dawkins Laptop gefunden hat.«
Sean Walters Vater überbrachte ihm die Nachricht zuerst, bevor er die anderen Büromitarbeiter der Dawkin-Walter Web Consultants GmbH in den Konferenzraum bestellte. Carl Walter hatte die Firma vor über zehn Jahren gemeinsam mit Orrin Dawkin gegründet. Er wollte Sean etwas Zeit geben, sich zu sammeln, bevor hier alles drunter und drüber ging. Als wäre das nicht schon längst geschehen.
Verdammt, wie sehr sich Sean wünschte, es würde ihn nicht derartig stolz machen, dass sich sein Vater zuerst ihm anvertraut hatte. Es hatte ihm geschmeichelt und ihn gleichzeitig ein wenig beunruhigt. Er musterte seinen Vater prüfend. Wusste er vielleicht mehr, als er durchblicken ließ?
Sein Vater wusste immer mehr, als er durchblicken ließ. Carl war stets über jedes Geheimnis, jeden Makel, jeden Fehltritt im Bilde. Warum sollte es in diesem Fall anders sein?
»Was ist mit Taylor?« Sean sprach betont ruhig, was nicht einfach war, weil ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er wusste, wie er klingen sollte. Besorgt. Mitfühlend. Er hatte sich selbst die richtige Tonlage und die entsprechende Mimik beigebracht. Leichtes Stirnrunzeln. Den Kopf unmerklich zur Seite neigen. Er hatte andere Menschen beobachtet und stundenlang vor dem Spiegel geübt, so wie sie auszusehen.
Carl setzte ebenfalls eine besorgte Miene auf, fast war es, als ob Sean in den Spiegel schauen würde. Dieselben Sorgenfalten auf der Stirn. Die leichte Schräglage des Kopfes. Derselbe dichte, hellbraune Haarschopf. Er fragte sich, ob sein Vater ebenfalls vor dem Spiegel geübt hatte, so wie er selbst.
»Marian sagt, sie stünde immer noch unter Schock. Sie spricht mit niemandem. Wahrscheinlich wird sie in einer Anstalt untergebracht werden, zumindest vorläufig.«
Sean konnte nur nicken, so erleichtert war er. Dann kam die Scham, so wie immer.
Als Nächstes stürzten bange Fragen auf ihn ein. Würde Taylor doch wieder sprechen? Wann? Was würde sie sagen?
Sean folgte seinem Vater in den Konferenzraum, in dem sich die Belegschaft von Dawkin-Walter-Consulting versammelt hatte, und beobachtete jede Bewegung von Carl. Wie professionell er doch war! Erneut wurde er von Stolz erfüllt, während sein Vater genau den richtigen Tonfall traf, als er Orrins Angestellten die schreckliche Nachricht von dessen Tod überbrachte. Er registrierte, wie geschickt Carl jeder Frage nach der Zukunft der Firma auswich, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Und wie er Orrins persönliche Assistentin tröstete, die in Tränen aufgelöst war – wahrhaft meisterlich! Sean konnte immer noch eine Menge von ihm lernen.
Vielleicht würde doch noch genügend Zeit dafür bleiben. Vielleicht konnte alles so weitergehen wie bisher – doch Sean zweifelte daran. Geheimnisse drangen immer irgendwann an die Oberfläche, und sobald seine erst ans Licht gekommen waren, würde nichts mehr so sein wie zuvor.