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Die Psychologin wurde blass und starrte ihn mit weit aufgerissenen, riesig wirkenden Augen an. Wegen ihrer sanften, aber reifen Stimme am Telefon hatte er jemand Älteren erwartet, als ihre teeniemäßige Aufmachung mit Jeansjacke und Pferdeschwanz jetzt vermuten ließ. Zwar konnte er in dem grellen Neonlicht erste feine Fältchen um ihre Augen herum ausmachen, bei dieser Brachialbeleuchtung sahen jedoch sogar Neugeborene runzelig aus. Das Gesicht mit den aufregend blauen Augen, die trotz ihrer schwarz umrandeten Brille deutlich hervorstachen, wurde von ihrem dunklen Haar eingerahmt. Vollkommen unerwartet regte sich heftiges Verlangen in ihm – so etwas hatte er lange nicht mehr gefühlt … seit Holly, um genau zu sein.

Elise stieß von hinten mit dem Fuß gegen seinen Stuhl und machte ihn so darauf aufmerksam, dass er die Frau wortlos anstarrte. Er räusperte sich. »Taylor weigert sich, mit uns zu sprechen. Sie hat jede Menge Schnittwunden, aber wie es aussieht, könnte sie sich diese Verletzungen auch selbst zugefügt haben. Am Tatort lagen jede Mengen Scherben. Wir können noch nicht sagen, ob ihr jemand etwas angetan hat oder …«

»Oder was, Detective Wolf?« Dr. Gannon knetete nervös die Finger, an denen keinerlei Ring steckte. Obwohl sie sich gelassen gab, bemerkte Josh, dass ihre Hände zitterten.

»Oder ob sie selbst in irgendeiner Form am Blutvergießen beteiligt war«, sagte Elise, die hinter ihm stand.

Ihre Worte waren sorgfältig gewählt. Denn sie wussten weder, ob Taylor sich diese Schnitte selbst zugefügt hatte, noch, ob sie in irgendeiner Form an der Ermordung ihrer Eltern beteiligt war. Elises Aussage ließ offen, um welche von beiden Taten es ging. Deswegen würde die Antwort der Psychologin möglicherweise aufschlussreicher sein als Elises Antwort selbst – je nachdem, wie sie die eben gehörten Worte interpretierte.

Gannon atmete tief durch, dann rieb sie sich die Stirn. »Taylor hat sich nie nach außen hin gewalttätig gezeigt. Ihre Probleme waren mehr selbstzerstörerischer Natur, allerdings nicht in diesem Ausmaß.« Gannon warf einen Blick über die Schulter auf die verhangene Kabine. »Nicht einmal annähernd«, murmelte sie.

Also könnte sie sich die Schnittwunden selbst zugefügt haben. Das war nicht besonders schwer zu erraten gewesen bei all den Glasscherben, die um sie herum auf dem Boden verstreut gelegen hatten. Was Josh wirklich interessierte, war, um welche Art von Reaktion auf die Ermordung der Eltern es sich hier handelte. Schuld? Oder hatte sie aus Trauer und Entsetzen selbst Hand an sich gelegt? Jeder Mensch verhielt sich anders, wenn er sich mit Gewalt konfrontiert sah.

Oder steckte mehr dahinter? Etwas, das er nur herausfinden konnte, wenn ihm jemand dabei half, der Taylor in- und auswendig kannte? So wie ihre Therapeutin.

Und sollte Taylor zufällig zum Schauplatz des Verbrechens hinzugestoßen und deswegen durchgedreht sein, wollte er dafür sorgen, dass sie psychologische Hilfe bekam. Und zwar schnell.

»Welches Verhältnis hatte Taylor zu ihren Eltern?«, fragte Josh.

Gannon seufzte. »Welches siebzehnjährige Mädchen kommt schon gut mit seinen Eltern zurecht? Das ist ein schwieriges Alter. Ich jedenfalls hatte mit siebzehn kein besonders gutes Verhältnis zu meinen Eltern, Sie etwa, Detective?« Sie ließ die nun nicht mehr so stark zitternden Hände wieder in den Schoß zurückfallen.

»Also gab es von Taylors Seite nicht mehr Wut als die einer typischen Teenagertochter?«, fragte Elise. Ihre honigsüße Stimme und die gelassene Miene lenkten viele Menschen von dem messerscharfen Verstand ab, der sich dahinter versteckte.

Gannon runzelte die Stirn. »Das würde ich so auch nicht sagen. Tatsächlich bin ich mir nicht ganz sicher, was ich überhaupt sagen kann und was nicht. Schließlich muss ich meinen Patienten gegenüber die Schweigepflicht wahren.«

»Es geht hier um einen Doppelmord«, konterte Elise kühl. »Zwei Menschen sind tot! Ermordet in ihrem eigenen Zuhause!«

»Das ist mir durchaus bewusst.« Gannons Stimme zitterte ein wenig und Josh meinte, darin mehr als nur Entsetzen zu erkennen. Wovor genau hatte Aimee Gannon Angst? »Und ich möchte ja auch helfen«, fuhr sie fort. »Da gibt es eine Tante in Redding, die Taylor nahesteht. Ich kann nicht genau sagen, ob sie jetzt rechtlich gesehen die Vormundschaft besitzt, aber ich würde davon ausgehen. Wenn wir sie kontaktieren könnten und von ihr die Erlaubnis erhielten, meine Akten freizugeben …«

Wolf öffnete sein Notizbuch und überflog die Einträge. »Marian Phillips? In der Hummingbird Lane 2752?«

»Möglicherweise«, sagte Gannon. »Da müsste ich in meinen Akten nachsehen.«

»Nicht nötig«, antwortete er. »Wir haben bereits bei ihr angerufen. Sie wird im Verlauf des Vormittags hier eintreffen.«

Gannon nickte, schon wieder händeringend. »Also gut. Rufen Sie mich an, sobald sie hier eintrifft, und dann können wir uns weiter darüber unterhalten, warum Taylor mich aufgesucht hat.« Sie zögerte. »Dürfte ich mit Taylor sprechen?«

Josh warf Elise einen Blick zu, die kaum merklich nickte. Wenn sie Taylor dazu brachte, irgendetwas anderes als diese leisen unmenschlichen Laute von sich zu geben, dann würden sie eventuell etwas aus ihr herausbekommen. Es war durchaus möglich, dass das Mädchen der Schlüssel zu diesem Fall war. Wenn es die Morde auch nicht begangen hatte, dann hatte es vielleicht etwas Wichtiges beobachtet. »Selbstverständlich, nur zu.«

Der Aufpasser zog den Vorhang zur Seite und Gannon trat zu dem Mädchen.

»Taylor«, sagte sie betont ruhig. »Taylor, ich bin es, Dr. Gannon.«

Nichts wies darauf hin, dass Taylor sie wahrgenommen hatte, denn sie wiegte sich weiterhin vor und zurück und gab dabei weiterhin ständig dieses leise Wimmern von sich.

Gannon kniete sich neben Taylor und legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken. »Taylor, alles ist gut. Du bist jetzt in Sicherheit«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.

Taylor schaukelte schneller.

»Niemand hier wird dir wehtun«, sagte Gannon.

Taylor schaukelte weiter.

»Kannst du mir sagen, was passiert ist? Was deinen Eltern zugestoßen ist? Und dir, Taylor? Kannst du mir sagen, was dir passiert ist?« Gannons Stimme war nur mehr ein Flüstern, als hätte ihr jemand die Kehle abgeschnürt.

Taylor sah sie nicht einmal an.

Gannon richtete ihren intensiven Blick wieder auf Josh, der sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Seitenwand der Kabine gelehnt hatte. Langsam machte ihm seine Müdigkeit zu schaffen. Er war seit achtzehn Stunden im Einsatz, und alles, was in diesen ersten Stunden der Ermittlungen geschah, war entscheidend. Wenn er nicht höllisch aufpasste, würde er sich später eventuell in dieser Art von Schlamassel wiederfinden, der zu einem nicht gelösten Fall führte – und das wiederum würde seinen Ruf ruinieren. Er würde also durchhalten. Wäre ja nicht das erste Mal.

Bei Mordfällen verlangte die Öffentlichkeit immer eine rasche Aufklärung. Besonders wenn rechtschaffene, gerade friedlich zu Hause strickende Leute daheim überfallen, gefesselt und erwürgt wurden. Solche Fälle sollten blitzschnell gelöst werden.

»Sie steht unter Schock.«

»Ach was«, sagte Wolf. Hielt sie ihn für einen Vollidioten? Er hatte gehofft, mit ihrer Hilfe Taylor aus dieser Schockstarre befreien zu können, ohne dem Mädchen dafür eine Ohrfeige verpassen zu müssen.

Gannon kräuselte die Lippen und sah ihn aus schmalen Augen an. »Und wie hatten Sie geplant, damit umzugehen?«

Sie war wirklich süß, wenn sie wütend war – besonders mit dieser Brille auf der Nase, die sie wie eine sexy Bibliothekarin aussehen ließ. Nicht, dass ihm das aufgefallen wäre. »Was ich geplant hatte, war, Sie anzurufen.«

Sie setzte sich seufzend auf die Fersen, ließ die Hand jedoch weiterhin auf Taylors Rücken ruhen. »Ihr ist kalt. Sie braucht eine Decke und jemanden, der sich zu ihr auf den Boden setzt.«

»Auf der Trage wollte sie nicht bleiben«, rückte Smitty, der Aufpasser, mit der Sprache heraus. »Ist immer wieder auf den Boden geklettert. Nach einer Weile dachte ich, es wäre einfacher, sie dort sitzen zu lassen.«

Gannon warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Einfacher für wen?«

Smitty wurde rot.

»Und warum trägt sie Handschellen?« Gannons Stimme wurde ein wenig lauter.

Als Smitty sich hilfesuchend an Josh wandte, folgte Gannon seinem Blick.

»Weil … wir nicht wussten – nicht wissen –, womit wir es hier zu tun haben«, sagte er.

»Und das bedeutet?«, fragte Gannon, während sie sich wieder aufrichtete.

»Das bedeutet, dass ich nicht weiß, ob Taylor etwas mit dem Mord an ihren Eltern zu tun hat oder nicht.« Josh stieß sich von der Wand ab, um sich aufrecht vor sie hinzustellen.

»Ist Taylor eine Verdächtige?« Gannon baute sich mit in die Hüfte gestemmten Fäusten vor ihm auf und starrte ihn wütend an.

Ihm gefiel, dass sie sich deswegen mit ihm anlegte. Es gefiel ihm auch, dass sie groß genug war, um ihm beinahe direkt in die Augen schauen zu können. »Ja, was mich angeht, ist sie hier immer noch verdächtig, Dr. Gannon. Das Mädchen kann von Glück sagen, dass ich es nicht verhafte und rüber in die Krankenstation der Justizvollzugsanstalt schicke.«

»Taylor hat das nicht getan. Das könnte sie gar nicht.« Aimee reckte das Kinn.

»Können Sie ihr ein Alibi liefern? Haben Sie irgendwelche Beweise dafür, dass sie unschuldig ist?« Wenn die Seelenklempnerin ihre Behauptung auf mehr als nur ein schwammiges Gefühl stützte, musste er das wissen.

Die blauen Augen schlossen sich. »Nein«, sagte sie und atmete aus. »Nein. Ich habe nichts dergleichen.« Sie ließ den Kopf sinken.

Josh war enttäuscht und hätte nicht sagen können, ob es daran lag, dass sie keine weiteren Informationen besaß, die ihm weiterhalfen, oder dass er nicht länger in ihre Augen, diese großen blauen Seen, eintauchen konnte.

»Können wir sie wenigstens von den Handschellen befreien und ihr noch ein paar Decken besorgen?«, fragte Gannon, nun wieder hocherhobenen Hauptes. Es klang wie eine Kampfansage.

»Sicher.« Er war bereit, ihr ein wenig entgegenzukommen, besonders wenn ihm das später vielleicht etwas einbrachte. Er warf Smitty einen Blick zu, der sofort zu ihnen hinüberkam und Taylors Handschellen aufschloss. Das Mädchen schlang nun auch den anderen freien Arm fest um die Knie und schaukelte noch ein bisschen schneller vor und zurück.

»Ich werd mich mal darum kümmern, dass wir noch mehr Decken bekommen«, sagte Elise und machte sich auf den Weg zur Schwesternstation. Die meisten Mitarbeiter waren allerdings zu beschäftigt, um sich nach Decken umzusehen.

»Wo werden Sie Taylor unterbringen, bis ihre Tante eintrifft?«, fragte Gannon.

Josh zog den Vorhang beiseite und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Als sie draußen waren, erwiderte er: »Genau hier. Ihre Wunden sind nicht tief genug, um sie als Patientin aufzunehmen, sagt der Arzt. Wir können also froh sein, dass sie übergangsweise diese Kabine bekommen hat. Sie wird nicht allein sein. Wir werden ihr einen Aufpasser dalassen.«

Im Mercy gab es keine eigene psychiatrische Abteilung. Er schaute sich in der unterbesetzten Notaufnahme um. Sie würden das Mädchen entweder körperlich oder durch Medikamente ruhigstellen müssen, damit sie hierblieb. Gannon war das vermutlich ebenso klar wie ihm selbst.

»Hier?« Sie klang nicht erfreut.

»Haben Sie einen besseren Vorschlag? Ich könnte Taylor auch einweisen lassen, aber dann ist sie zwei Tage lang in den Mühlen des Systems gefangen. Jugendvollzug scheint mir im Moment auch nicht das Richtige für sie zu sein.«

Die Psychologin öffnete die Fäuste und nickte nachdenklich. »So kann ihre Tante sie wenigstens gleich morgen von hier wegbringen. Schätze, das ist das Beste, was wir vorerst tun können. Obwohl mir das nicht besonders gefällt.« Sie zog sich die Jacke enger um den Oberkörper und rieb sich über die Arme, um sich zu wärmen.

Elise kam mit zwei dünnen Decken zurück. »Das ist alles, was ich auftreiben konnte.«

Gannon nahm ihr die Decken ab. »Danke. Ich würde gern bei Taylor warten, bis sie sich ein wenig beruhigt hat.«

»Selbstverständlich. Irgendeine Ahnung, was sie zu einer solchen Reaktion veranlasst haben könnte?«, fragte Josh.

»Schätze, dass es so ziemlich jeden in einen Schockzustand versetzen würde, auf die Leichen der ermordeten Eltern zu stoßen«, antwortete Gannon. Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Schon klar. Selbst ich war erschüttert, und ich bin dergleichen gewohnt. Aber ein derartiger Schock, dass keinerlei Kommunikation mehr möglich ist? – Kommt selten vor.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Gibt es irgendetwas, das ich über dieses Mädchen wissen sollte?«

Die blauen Augen verengten sich für einen Moment, als würde Aimee etwas in Erwägung ziehen, dann atmete sie tief durch. »Ich ziehe es vor, auf die Tante zu warten, damit sie mir ganz offiziell die Erlaubnis gibt, Taylors Fall mit Ihnen zu besprechen.«

Verdammt, er hatte gedacht, sie wäre inzwischen auf seiner Seite! Möglicherweise ließ sich der Ärztin aber doch noch etwas entlocken, wenn er etwas Druck machte. »Die ersten vierundzwanzig Stunden einer Ermittlung sind entscheidend«, drängte er. »Wenn Sie mir und somit der Polizei Informationen vorenthalten, die zur Festnahme des Mörders von Taylors Eltern führen könnten, bezweifle ich, dass Ihnen noch jemand zur Wahrung ihrer Schweigepflicht gratulieren wird.«

Sie biss sich auf die Lippe und Josh konnte erkennen, dass sie innerlich wankte. Dann atmete sie hörbar ein und sagte: »Taylors Eltern brachten sie zu mir, weil ihr Verhalten sich vor etwa sechs Monaten drastisch geändert hatte. Sie hatte angefangen, sich zu ritzen, jedoch in keiner Weise so wie das, was ich hier gesehen habe. Ihre Noten wurden schlechter. Sie zog sich zurück. In unseren Sitzungen näherten wir uns langsam dem Punkt, an dem alles anfing, ganz war ich jedoch noch nicht zu ihr durchgedrungen. Ich vermute ein höchst traumatisches Ereignis, das Taylor verdrängt hat. In dieser Phase, kurz vor dem Durchbruch zur Erinnerung, ist ein Patient emotional ziemlich anfällig. Dann noch beide Elternteile tot auf dem Wohnzimmerboden zu finden, kann eine bereits derartig instabile Person tiefer erschüttern als jemanden, der innerlich gestärkt ist.«

»Welche Art traumatisches Ereignis?«, hakte Josh nach.

Gannon biss sich auf die Lippe und beugte sich zu ihm. Ihm stieg der blumige Duft ihres Shampoos in die Nase, er schluckte schwer. Sie richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf. »Da kann ich nicht sicher sein.«

Jetzt beugte sich Josh zu ihr. »Aber sie haben da eine Vermutung?«

»Nichts Konkretes.«

Josh löste seine verschränkten Arme, blieb jedoch gelassen. »Mehr wollen Sie nicht verraten?«

Sie rieb mit den Fingern den Bereich zwischen den Augenbrauen – dort, wo sich eine tiefe Falte eingegraben hatte – und Joshs Puls beschleunigte sich. Gleich hatte er sie so weit! Verdammt, er hatte keine Lust, auf die Tante zu warten! Er wollte jetzt erfahren, was Dr. Gannon über Taylor wusste.

Da klingelte sein Handy in der Tasche. Seufzend zog er es heraus. Wenn man während einer derartig heiklen Verhandlung auch nur kurz gestört wurde, war es vorbei. Er klappte es auf. »Wolf.«

»Wir haben vorläufige Ergebnisse der Fingerabdrücke vom Tatort hier, die Sie interessieren werden«, meldete Clyde am anderen Ende der Leitung. »Außerdem möchte der Pressesprecher Sie und Jacobs sehen, und zwar pronto. Diese Sache wird Topthema in jeder Morgensendung sein. Er muss wissen, was Sie bislang haben.«

»Wir sind in zwanzig Minuten da.« Er legte auf und sah die Psychologin an. »Detective Jacobs und ich müssen los.«

Aimee wickelte die Decken um Taylor und versuchte, es ihr auf dem Krankenbett so gemütlich wie möglich einzurichten. Anscheinend fror das Mädchen nicht mehr ganz so schlimm und schaukelte auch nicht mehr so stark vor und zurück. Stattdessen lag es auf der dünnen Matratze und starrte die Wand an, sein schwarz gefärbtes, langes Haar hob sich als deutlicher Kontrast von dem hellen Kissen ab. Es roch nach Desinfektionsmittel. Nicht gerade der Ort, an dem Aimee ihre traumatisierte Patientin für den Rest der Nacht wissen wollte. Sie würde sie lieber in weiche Wolldecken einschlagen und ihr ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, aber beides war im Moment schlicht unmöglich.

Die Polizei würde niemals erlauben, dass sie Taylor mit nach Hause nahm, selbst wenn sie es wagen würde. Also tätschelte sie weiterhin beruhigend Taylors Rücken, eine der wenigen Stellen ihres Körpers, die nicht von unzähligen Schnittwunden überzogen war. Wie viele körperliche Qualen hatte Taylor erdulden müssen? Und wie viel seelischer Schmerz verbarg sich wohl dahinter? Gab es irgendetwas, das Aimee tun konnte?

Monatelang hatten sie die Ursache für die Abwärtsspirale aus Selbstverstümmelung und Drogenkonsum eingekreist, wegen der die Dawkins ihre Tochter zu Aimee gebracht hatten. In den letzten Therapiestunden war Aimee dann zu der Überzeugung gelangt, dass sie zwar eine heftige emotionale Bruchlandung vor sich hatten, die jedoch den ersten Schritt von Taylors Heilungsprozess markieren könnte.

Aimee konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie weit Taylor nun in ihrer Therapie zurückgeworfen worden war. Als ob das jetzt noch irgendeine Rolle spielte.

Tränen der Verzweiflung brannten ihr hinter den Lidern. Ihr Verhältnis zu Orrin und Stacy war rein beruflicher Natur gewesen, besonders Orrin war ihr immer sehr kühl und reserviert erschienen. Doch jetzt waren sie tot, ihre beiden Leben unwiederbringlich und für immer ausgelöscht. Das war nicht richtig! Wie hatte das nur geschehen können? Und wie sollte es jetzt mit Taylor weitergehen?

Erst nachdem Josh sich darum gekümmert hatte, dass Smitty vor Taylors Behandlungsnische postiert wurde und versichert hatte, sich zu melden, sobald das Mädchen anfing zu reden, machte er sich mit Elise auf den Weg aus dem Krankenhaus. Erleichtert stellte er fest, dass ihnen noch keine Fernsehreporter auflauerten und mit Fragen bombardierten oder versuchten, das erste Bild von Taylor zu schießen. Das würde jedoch nicht lange auf sich warten lassen. Vor dem Haus der Dawkins hatte er schon mindestens zwei Teams gesehen. Ein unbescholtenes Ehepaar, das in seinem schicken Haus mitten in Pocket ermordet worden war? Blutspuren an den Wänden? Ein katatonischer Teenager? – Die Presse würde sich wie die Schmeißfliegen darauf stürzen und ebenso lästig werden. Wahrscheinlich hätte er Dr. Gannon vorwarnen sollen. Apropos …

»Was hältst du von der Seelenklempnerin?«, fragte Josh Elise. Sie besaß eine hervorragende Menschenkenntnis; er hatte schon vor langer Zeit gelernt, auf ihr Urteil zu vertrauen.

»Nun jaaa«, säuselte Elise, als sie beim Parkplatz ankamen. »Sieht auf jeden Fall super aus. Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen.«

Josh schnaubte verächtlich. »Versuch bloß nicht, so ein typisches Männergespräch mit mir anzufangen. Wo hast du überhaupt solche Sprüche her? Von deinen Kumpels auf dem Bau?«

Sie lachte. »Ich versuche ja nur, dir auf allen Ebenen ein richtiger Partner zu sein, mein Großer. Sie ist jedenfalls eindeutig dein Typ, bis hin zu der Oberlehrerinnenbrille.«

»Ich habe keinen Typ.« Und wenn, dann waren das schon gar nicht solche ruhigen, intelligenten Frauen. Holly war ganz anders gewesen, zumindest bis auf den Uniabschluss.

»Dann bin ich Paris Hilton«, grinste Elise, öffnete den Wagen und setzte sich hinters Steuer.

Josh schnaubte noch einmal, während er einstieg. »Da müsste Paris sich aber erst mal verdammt lange in die Sonne legen.«

»Geringschätzige Bemerkungen über meine ethnische Herkunft? Ich bin verletzt.«

Josh schaute auf die Uhr – beinahe vier Uhr morgens. »Nun, Paris, meinst du nicht, du solltest langsam zurück in dein Penthouse?«

»Sobald Clyde uns darüber ins Bild gesetzt hat, was er da herausgefunden hat.« Sie fuhr Richtung Broadway.

»Soll ich mich um den Pressesprecher kümmern?« Der Polizeibeauftragte für Öffentlichkeitsarbeit würde der Presse zumindest ein paar Brocken hinwerfen müssen und Josh machte es nichts aus, mit Mark Elder zusammenzuarbeiten. Der Kerl war ehrgeizig, aber kein Arsch.

»Von mir aus gern«, sagte Elise.

Als sie auf dem Parkplatz vor dem Büro des Leichenbeschauers ankamen, das zusammen mit dem Labor der Spurensicherung zwischen Kraftfahrzeugbehörde und dem UC Davis-Klinikgebäude gleich am Broadway untergekommen war, konnte Josh kaum noch die Augen offen halten. Sie liefen an der Metallskulptur vorbei, die Josh immer an ein in einen Felsblock gerammtes verlängertes Surfbrett erinnerte, und klingelten.

Clyde erwartete sie im ersten Stock und platzte förmlich vor Aufregung.

»Ganz ruhig, mein Lieber«, sagte Elise und ließ sich in einen Stuhl fallen. »Sie wollen doch keinen Herzinfarkt kriegen!«

»Das erraten Sie nie!«, entfuhr es dem Labortechniker. »Sie werden es nicht glauben.«

Josh lehnte sich an einen der Untersuchungstische. »Dann halten wir es doch kurz. Was gibt’s?«

»All das Zeug an den Wänden? Diese ganzen Rechtecke und Kreise?« Clyde schaute von einem zum anderen. »Das Mädchen hat sie gezeichnet. Es hat das alles mit seinem eigenen Blut an die Wand gemalt.«