13

»Wir haben einen Fußabdruck.« Clyde tänzelte aufgeregt vor Joshs Bürokabine hin und her. »Einen blutverschmierten.«

»Und er stammt nicht von uns? Wissen Sie das genau?« Das Haus der Dawkins war beim Eintreffen der Spurensicherung bereits mit Fußabdrücken übersät gewesen. Niemand war schuld daran: Die ersten Beamten am Tatort hatten nicht wissen können, in was sie da hineingeraten waren, bis sie mittendrin standen.

Clyde nickte. »Ja. Das hab ich schon überprüft.«

»Was ist mit dem Kerl, der die Dawkins gefunden hat, diesem Norchester? Ist der Abdruck auch sicher nicht von ihm?« Der Mann war so schnell wie möglich aus dem Haus gerast, weil er sich erst draußen hatte übergeben wollen. Er hatte ebenfalls nicht daran gedacht, dass er einen Tatort durcheinanderbrachte, und möglicherweise ebenfalls einen Abdruck hinterlassen.

»Nein, es sei denn, er hat Schuhe getragen, die ihm viel zu groß waren«, sagte Clyde, unverkennbar mit sich zufrieden. »Der Kerl hat Schuhgröße dreiundvierzig und obwohl es sich nur um einen Teilabdruck handelt – wir haben den Absatz und ein Stück Sohle –, ist es doch mindestens eine fünfundvierziger Größe. Ich würde sogar auf sechsundvierzig wetten.«

»Großartig!«, sagte Elise. Sie war von ihrem Schreibtisch aufgestanden, sobald Clyde zu reden begonnen hatte, und stand jetzt hinter ihm. »Irgendwas Besonderes an dem Schuh, das uns weiterhelfen könnte?«

»Ihr seid die Detectives«, erwiderte Clyde. »Ich schicke euch eine Kopie hoch. Vielleicht könnte ihr was damit anfangen.«

»Vielen Dank«, sagte Elise mit leicht zusammengekniffenen Augen.

Elise blieb noch vor Joshs Bürokabine stehen, als Clyde schon gegangen war, und trommelte mit den Fingern auf der Metallkante seiner Trennwand herum. »Ich hab dir doch gesagt, dass es ein Mann war! Gibt nicht viele Mädels da draußen, die Männerschuhe in Größe sechsundvierzig tragen.« Sie blickte auf ihre eigenen langen, schlanken Füße.

Josh lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Ein Fußabdruck macht noch keinen Mörder.«

»Aber er verrät uns, dass außer Taylor noch jemand dort durch die Blutlachen gelaufen ist. Und wenn es nicht unser Täter war, weiß er aber etwas, das er uns sagen sollte. Wer verlässt schon ein Haus, in dem es so aussieht, ohne die Polizei zu rufen?« Elise trommelte noch energischer.

Josh zielte mit einem Gummiband auf ihre Hand und traf einen Fingerknöchel. »Zweifellos. Ich sag ja auch nur, dass ich wegen eines Teilabdrucks nicht gleich vor Freude in die Luft springe. Allerdings könnte er das Mädchen entlasten.«

»Das wäre schön«, sagte Elise. »Hast du unsere Trickbetrügerin inzwischen schon entlastet?«

Josh seufzte. Das hatte er tatsächlich. Joanne Crawley hatte Lois Bradleys Alibi bestätigt. So viel zu einer raschen Aufklärung des Falls. »Sie hat von halb sieben bis halb neun einen Mathematikkurs am Community College besucht und sich anschließend bis zehn Uhr mit ihrer Lerngruppe getroffen. Nicht zu fassen!«

»Ist doch wirklich erstaunlich, was sich manche Menschen trauen. Einfach so ihr Leben umzukrempeln, und das auch noch gerade dann, wenn wir ihnen einen Doppelmord anhängen wollen.« Elise schüttelte den Kopf. »Ich habe mal versucht, den letzten Abend der Dawkins zu rekonstruieren. Soweit ich weiß, hat Orrin das Haus an dem Tag nicht verlassen. Stacey hat eingekauft, und zwar …«, Elise hielt inne und schaute kurz in ihrem Notizbuch nach, »Hühnerbrust, Couscous, Tiefkühlgemüse und zwei Flaschen Chardonnay. Das war gegen viertel nach drei im Supermarkt am Elk Grove Boulevard.«

»Zwei Flaschen?«, fragte Josh und dachte daran, was ihnen Lois Bradley über Stacey Dawkins Trinkgewohnheiten erzählt hatte.

Elise zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie den Wein auf Vorrat gekauft. Möglicherweise wollte sie sich auch in ihr Wohnzimmer setzen und sich damenhaft diskret einen hinter die Binde gießen. Vielleicht hatte sie vor, beide Flaschen in die Badewanne zu gießen und darin zu baden.«

Sie hatte recht – zwei Flaschen Chardonnay bewiesen gar nichts. »Ich kann da nichts erkennen«, sagte er. Nichts an Stacey und Orrins letztem Tag wies auf das entsetzliche Ende dieses Abends hin.

»Ich auch nicht«, sagte Elise. »Und noch etwas, wegen Dr. Gannon.«

»Ja?« So zurückhaltend kannte er seine Partnerin gar nicht.

»Ich habe herausgefunden, warum sie mir bekannt vorkam.«

»Ja? Warum?« Josh richtete sich auf.

»Erinnerst du dich an die Psychologin, die vor zwei Jahren von einem ihrer Patienten angegriffen wurde?«

»Ist nicht dein Ernst. Das war sie?« Josh ließ sich wieder in den Stuhl zurückfallen.

»Mmh. Der Kerl hat sie gestalkt. Herausgefunden, wann sie allein sein würde, sie überfallen und versucht, sie zu vergewaltigen.« Elise sprach gleichmäßig und mit ausdrucksloser Stimme.

»Wer hat ihn aufgehalten?«

»Laut Akte ein gewisser Danny Stannard, ihr Verlobter.«

Josh konnte nicht sagen, was ihn mehr ärgerte – die Tatsache, dass Aimee Gannon einen Verlobten hatte, oder das Ausmaß, wie sehr ihn das störte. Warum zum Teufel hatte sie ihn so leidenschaftlich geküsst, wenn sie einen Verlobten hatte?

»Offenbar hat er wiederholt versucht sie anzurufen, aber niemanden erreicht. Also ist er zu ihrem Büro gefahren. Die Vergewaltigung konnte er zwar noch verhindern, aber dieser Patient hatte sie bereits ziemlich übel zusammengeschlagen.«

Josh seufzte. »Was ist aus dem Täter geworden?«

»Staatliche Nervenheilanstalt.«

»Wie lange?«, fragte Josh.

»Er ist seit sechs Wochen wieder draußen«, erwiderte seine Partnerin.

Elises Handy klingelte. Sie klappte es auf. »Jacobs.« Nach kurzem Zuhören versteifte sich ihr Körper, sie zog die Augenbrauen hoch und schaute zu Josh hinüber. »Wir sind gleich da«, sagte sie und ließ das Handy zuschnappen.

»Wo genau sind wir gleich, und weshalb?«, fragte Josh.

»Wir werden zu Ed nach unten gehen, denn er weiß jetzt, warum die Dawkins pleite waren.«

Carl Walter pfiff vor sich hin, als er den Parkplatz betrat. Das Gewitter vom Vorabend hatte klare, frische Luft mit sich gebracht. Gott, es war so schön, in Kalifornien zu leben! Wenn jemand bei ihm gewesen wäre, hätte er eventuell eine Bemerkung darüber fallen lassen, wie glücklich er sich schätzen konnte. Er hätte sich bescheiden und dankbar gegeben, ganz so, wie es erwartet wurde. Tief im Innern war Carl jedoch davon überzeugt, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied war. Er jedenfalls hatte sein Leben selbst in die Hand genommen.

Sein Wagen war ein typisches Beispiel dafür. Er hatte sich schon immer einen sportlichen Klassiker gewünscht. Diesen hier besaß er schon über zehn Jahre und er war noch immer top in Schuss. An Glück lag das nicht. Sondern an guter Planung und daran, dass er stets gut auf ihn geachtet hatte. Er zog das Stofftaschentuch aus seiner Tasche und rieb eine matte Stelle auf dem glänzenden Lack seines grünen Mercury Cougar. Das Tuch wurde nur für den Wagen benutzt. Im Ernst – sich die Nase mit etwas putzen, das man dann zurück in die Tasche steckt und den ganzen Tag mit sich herumträgt? Was für eine widerwärtige Anzahl von Bakterien sich da ansammeln würde! Seine Mutter hatte jedoch immer gepredigt, ein wahrer Gentleman trage stets ein Taschentuch bei sich, und Carl wollte verdammt sein, wenn er kein Gentleman war. Also steckte es zwischen den immer griffbereiten persönlichen Dingen in der Brusttasche seines Anzugs. Diese kleine Ausrüstung half ihm dabei, seinen Alltag zu meistern, ohne sich dabei allzu sehr den Bazillen anderer Menschen auszusetzen.

Carl stieg in den Sportwagen und fuhr vom Parkplatz. Ohne Orrin würde es schwieriger werden, sich ums Geschäft zu kümmern. Einen Gleichgesinnten wie ihn würde er nicht wieder finden. Es gab so wenige Menschen von seinem Kaliber, so wenige, die seine Denkweise verstanden und auch noch die Fähigkeit besaßen, das alles in die Praxis umzusetzen. Orrin zu treffen war ein ähnlicher Glücksfall gewesen, wie einen lange verschollenen Bruder wiederzufinden, nur noch besser.

Immerhin hatte er noch Sean. Das war eine Erleichterung, aber Sean war … schwach, er hatte seine Fehler. Carl gab der Mutter des Jungen die Schuld dafür. Von ihm konnte er das jedenfalls nicht haben; Carl stammte von einer langen Linie starker Männer ab. Doch Sean würde die Lücke so lange füllen, bis Carl jemanden gefunden hatte, dem er die Position des Finanzchefs anvertrauen konnte. Mehr aber auch nicht.

Carl verfluchte die Umstände, die zu alldem geführt hatten. Das Schicksal hatte ihm einen harten Schlag verpasst, aber damit würde er klarkommen. Auf sich selbst konnte er immer noch zählen, wenn auch sonst auf nichts.

Er bog in die Straße ein, die in sein Viertel führte. Sarah und Thomas würden bereits mit dem Mittagessen auf ihn warten. Er wusste, dass Sarah das Essen bereits auf dem Tisch stehen haben würde, wenn er zur Tür hereinkam. Sie tat alles, um ihm zu gefallen, und wusste, wie sehr ihn das freute. Sie zu treffen war ebenfalls großes Glück gewesen. Nein, das stimmte so nicht. Er hatte lange nach einer passenden Frau gesucht. Er wollte auf keinen Fall noch einmal denselben Fehler machen wie bei der Heirat von Seans Mutter. Das war eine Katastrophe gewesen. Wahrscheinlich konnte er noch froh sein, dass sie nicht mehr angerichtet hatte, als ihn zu verlassen und Sean mit sich zu nehmen. Die Tatsache, dass Sarah in sein Leben getreten war, hatte Carl sich hart erarbeitet.

Und dann der kleine Thomas. Er musste ständig an ihn denken. So ein niedlicher Junge! Carl setzte große Hoffnungen in ihn. Es war, als hätte er nach Sean noch eine zweite Chance bekommen, bei der er es besser machen konnte. Er hatte aus seinen Fehlern gelernt. Momentan war er zwar immer noch dabei, das Vertrauen des Kleinen zu gewinnen, doch er machte gute Fortschritte, und wie sehr würde sich das später lohnen. Davon war Carl überzeugt. Es war all die Mühe auf jeden Fall wert.

Carl seufzte. Orrin hatte keine zweite Chance bekommen. Dieses Mädchen von ihm war sogar noch verweichlichter und verkorkster als Sean. Carl konnte kaum glauben, was er gestern in dieser Nervenheilanstalt mit angesehen hatte. Er hatte sich extrem zusammenreißen müssen, um nicht vor Taylor zurückzuweichen, die bis oben mit Tabletten vollgepumpt worden war, bis sie nichts mehr mitbekam und nur noch vor- und zurückschaukelte. Carl bezweifelte, dass sie jemals aus diesem Zustand herausfinden würde. Und wenn – wäre sie dann wohl in der Lage, schlüssig wiederzugeben, was in jener Nacht geschehen war? Bei der Kleinen war doch schon seit Jahren eine Schraube locker. Orrin hatte sich das bloß nicht eingestehen wollen, und Stacey hatte versucht, alles unter den Teppich zu kehren. Carl war es trotzdem nicht entgangen. Er spürte solche Dinge. Er fand immer instinktiv heraus, wer zu den Schwachen gehörte.

Heute Nachmittag würde er noch einmal im Whispering Pines vorbeifahren und nach Taylor sehen. Sich vergewissern, ob es ihr besser ging, und vielleicht auch Sean regelmäßig dort vorbeischicken, um ihre Entwicklung zu überwachen. Auf diese Weise wäre er immer darüber informiert, was auf ihn zukam, und konnte alles dementsprechend regeln.

Ja, Sean zu schicken war der beste Weg. Jetzt, da er einen Plan gefasst hatte, fühlte er sich gleich viel besser. Es tat gut, das Ruder fest in der Hand zu haben. Ihm war nie bewusst gewesen, dass es ihn stören könnte, sich die Macht in der Firma mit Orrin zu teilen. Vielmehr hatte ihm die Arbeitsteilung zwischen ihnen beiden zugesagt – Orrin war für die Finanzen zuständig gewesen und Carl hatte sich um alles Technische gekümmert. Allmählich erkannte er jedoch, dass es ohne Orrin vielleicht sogar noch viel besser laufen würde. Selbstverständlich hätte er das niemals laut vor anderen ausgesprochen. Kaum jemand würde ihn verstehen. Aber er selbst kannte die Wahrheit, und das war alles, was zählte.

Carl parkte in der Einfahrt und stieg aus dem Wagen. Er ließ seinen Blick prüfend durch den Garten schweifen. Heute hätte eigentlich der Rasen gestutzt werden müssen. Hatte die von ihm beauftragte Firma das wegen des Gewitters ausfallen lassen? Er würde später nachmessen. Man musste die Leute wirklich jede verdammte Minute überwachen!

Als Carl die Haustür öffnete, saß Thomas im Wohnzimmer und schaute sich die Sendung über Arthur das Erdferkel im Fernsehen an. Diese Bücher hatte Sean als Kind auch geliebt. »Hey, Kleiner. Was treibt Arthur so?«, fragte Carl.

»Verliert einen Zahn«, sagte Thomas und schaute zu Carl auf. »Gibt es jetzt Mittagessen?«

»Ja, gleich.« Carl nahm den kleinen Jungen hoch, warf ihn in die Luft und prustete ihm einen Kuss auf den Bauch.

Das Kind fing an zu kichern. »Aufhören«, quiekte er. »Aufhören! Das kitzelt!«

»Ach wirklich? Es kitzelt?« Er blies einen weiteren Kuss auf den Bauch.

»Ja! Ja! Das tut es! Hör auf!« Hilflos zappelte der kleine Junge mit den Beinen, bis Carl ihn absetzte.

»Hey, Dad«, hörte er eine viel tiefere Stimme aus dem Flur.

Carl hatte nicht daran gedacht, dass Sean auch zu Hause sein würde. Ihm kam es vor, als ob Sean jedes Mal unvermittelt auftauchte, sobald er Zeit mit Thomas verbringen wollte. Wie lange hatte er da schon gestanden und sie beide beobachtet?

»Hallo, Sean«, sagte Carl. »Ich bin froh, dass du hier bist. Ich hatte gehofft, du könntest heute bei Taylor vorbeischauen und sehen, wie es ihr geht. Ich habe keine Zeit dafür, aber sie soll wissen, dass wir immer in ihrer Nähe sind.«

Sean nickte zustimmend, doch etwas in seinem Blick ließ Carl schaudern. Er hatte diesen Ausdruck schon zuvor bemerkt, wenn er mit Thomas gespielt und sein älterer Sohn in der Nähe gewesen war. Er legte sich wie ein Schatten auf Seans Gesicht, sobald Carl dem kleinen Jungen seine Aufmerksamkeit widmete. Kurz darauf war dieser merkwürdige Ausdruck wie weggeblasen. Aber in diesem flüchtigen Moment fürchtete Carl seinen eigenen Sohn.

»Was hast du rausbekommen, Ed?« Elise kam in Eds Bürokabine spaziert und setzte sich – wie immer – auf die Kante seines Schreibtischs.

»Den Grund, warum euer Opfer so tief in der Kreide stand.« Ed kippelte auf seinem Stuhl zurück und klopfte sich stolz auf die Brust. Seine Augen unter den schweren Lidern strahlten.

»Erzähl«, sagte Josh und lehnte sich an den Eingang der Kabine.

»Der Kerl war ein Tageshändler«, sagte Ed, als erkläre das alles.

»Ein was?«, fragte Elise.

»Ein Tageshändler. Er hat kurzfristig mit Aktien spekuliert. Sie wenige Stunden behalten, ist auf der Welle mitgeritten – oder, wie in Orrins Fall, zumeist von ihr nach unten gezogen worden – und hat dann wieder verkauft.« Ed ließ die Vorderbeine seines Stuhls wieder auf dem Boden aufkommen.

»Ist das rechtlich zulässig?«, fragte Elise.

»Ja. Ich meine, es gibt Bestimmungen, und was die angeht, hat sich euer Mann manchmal etwas riskant verhalten, das war aber nichts, was die Börsenaufsichtsbehörde interessiert hätte. Sein Problem war, dass er mehreren Nachschussaufforderungen nicht nachkommen konnte.« Ed schüttelte den Kopf, wie es Eltern eines Teenagers tun würden, wenn der ein Bußgeld für zu schnelles Fahren zahlen muss.

Elise trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum. »Was zum Teufel ist eine Nachschussaufforderung?«

»Sagen wir mal, du hättest mit geliehenem Geld Wertpapiere gekauft«, begann Ed mit seiner Erklärung.

»Geliehen, woher?«, unterbrach ihn Elise.

Ed schaute zu ihr auf. »Das ist eine interessante Frage und ich werde gleich darauf eingehen, aber ich kann immer nur eine Sache gleichzeitig erklären.«

Elise seufzte. »Na schön. Sprich weiter«, sagte sie, hörte aber nicht mit der Trommelei auf.

»Okay. Nehmen wir also an, du hättest mit geliehenem Geld Wertpapiere gekauft. Deren Kurs wäre in den Keller gerutscht und somit auch ihr Wert. Sobald eine gewisse Grenze unterschritten ist, zwingt dich der Broker – also der Zwischenhändler – dazu, Sicherheitsleistungen einzuzahlen.« Ed blickte zu Josh hinüber, der nickend zu verstehen gab, dass er folgen konnte.

»Aber wenn du dir bereits Geld geliehen hast, um überhaupt erst Aktien kaufen zu können, woher dann noch mehr Geld nehmen, das du als Nachlass-Risikoprämie zahlen musst?« Elises Finger bewegten sich nicht mehr.

»Da liegt der Hase im Pfeffer, meine Liebe.« Ed lächelte traurig. »Du musst dir also für die Nachschussforderung noch mehr Geld leihen. Und weil du bereits bis über beide Ohren verschuldet bist, musst du möglicherweise auch zusätzliche Kredite aufnehmen, um weiterspekulieren zu können, damit die Verluste eventuell wieder ausgeglichen werden.«

»Das erinnert mich langsam an diese Art von Spielern, die am Blackjack-Tisch Haus und Hof verlieren«, sagte Josh.

»Die Ähnlichkeit ist verblüffend«, erwiderte Ed. »Auf einigen Regierungswebsites, die Tagesgeschäfte anbieten, finden sich Frage-und-Antwort-Spiele, mit deren Hilfe man herausfinden kann, ob man ein Spielsuchtproblem hat.«

Elise warf Josh einen Blick zu. »Erinnerst du dich noch an die Fotogalerie im Flur des Dawkin-Hauses? All diese Bilder von Orrin, wie er aus Flugzeugen springt, Felsen erklimmt oder beim Sporttauchen?«

Woran Josh sich erinnerte, war, Aimee Gannon dabei beobachtet zu haben, wie sie sich diese Fotos angeschaut hatte, und dass er gern mit ihrer engen Hose getauscht hätte, die sich an ihren Hintern geschmiegt hatte … aber sie hatte einen Verlobten. Sie sollte einen Ring tragen. Eine Frau sollte deutlich zeigen, dass sie vergeben war. Es war einfach grausam, einen Mann umsonst träumen zu lassen. »Ich erinnere mich.«

»Das sind alles Hobbys für risikofreudige Menschen, die einen Kick suchen. Und was verschafft einem einen größeren Kick, als um Geld zu spielen? Und dann noch um das Geld, das die eigene Familie absichert?«

Josh richtete sich auf und wandte sich an Ed: »Also willst du sagen, dass Orrin Dawkin den Geldwert seines Hauses verzockt und auch sonst alles, was er besaß, beim Tagesgeschäft verloren hat?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, alle Einzelheiten durchzurechnen, aber es sieht verdammt danach aus.«

»Meinst du, er hat sich vielleicht noch woanders Geld geliehen? Vielleicht von jemandem, mit dem er sich besser nicht eingelassen hätte?« Joshs Gedanken überschlugen sich. Geldhaie brachten zwar selten Menschen um, die ihnen Geld schuldeten – das machte es etwas schwierig, die Schulden einzutreiben. Wenn derjenige aber tief genug drinsteckte, würden sie die Summe jedoch vielleicht abschreiben, um ein Exempel zu statuieren.

»Wär möglich«, sagte Ed. »Ich werde weitergraben und mal schauen, ob ich herausfinden kann, wann und aus welchen Kanälen das Geld floss und wohin.«

»Was meinst du«, fragte Josh Elise. »Vielleicht die Russenmafia? Die sind nicht gerade zimperlich.«

»Mit manchen von diesen asiatischen Banden ist auch nicht gut Kirschen essen«, gab sie daraufhin zu bedenken.

Allerdings fühlte sich das irgendwie nicht richtig an. »Durchaus vorstellbar, dass die einem Mann wegen Geldschulden den Kopf einschlagen, aber Stacey so zu quälen kann doch kaum mit einem geplatzten Geschäft zu tun haben. Das war etwas Persönliches.«

»Ich weiß. Derjenige, der mit dem Mord beauftragt wurde, könnte etwas zu viel Gefallen an seinem Job gefunden haben.«

Josh nickte. »Überlassen wir es Ed, herauszubekommen, ob das hier zu einem Fall von organisierter Kriminalität wird, den uns das FBI aus den Händen reißt.«